Stress nervt – und bereichert das Leben Von Frank Schüre Lebenszeichen O4.09.2016 Anmoderation: Kaum einer kann sich heute ein Leben ohne Stress vorstellen. Aber immer mehr Menschen sehnen sich genau danach. Stress scheint das Übel an sich, zugleich ermöglicht er körperliche und geistige Extreme. Was als Reiz und Push für Ausnahmezustände gesucht wird, führt alltäglich zum gefürchteten Dauerstress. Kann man Stress dosieren und dirigieren, oder gar meistern? Wie geht das: Wohlfühlen mitten im Stress? Die gestresste Lehrerin möchte vor allem: weniger, für den Sterne-Koch führt reiner Stress zu ‚Flow’ in seiner Küche. Die Chefin von ‘Psychologie Heute’ empfiehlt: anstatt weniger Stress – mehr Sinn! O-Ton Edith Röhrig: Stau? wenn ich im Stau bin?! Da werde ich aggressiv! Sprecherin: Nein, das ist keine Schwarze Mamba, die sich da vor uns aufrichtet. Unter uns dehnt sich weder Steppe noch Schlaglochpiste, sondern Asphalt. Wir befinden uns nicht in freier Wildbahn, sondern in einer rollenden Komfortzone aus Polster, Klimaanlage, Soundsystem und Knabberei. Die Schlange, die sich da hinten bildet und immer näher kommt, ist aus Blech. Mit ihren grell rot aufleuchtenden und gelb blinkenden Warnzeichen will sie uns nicht angreifen und auffressen. Es ist viel schlimmer sie wird uns aufhalten. Sie wird all unsere dringenden Termine gefährden. O-Ton Edith Röhrig: Stau ist ganz schlecht, megaschlecht – den umfahre ich, oder ich werde wahnsinnig. Ja klar, es muss laufe! Sprecherin: Stau ist einer der größten Stressoren des allgemein gestressten Lebens. Langsamer werden, ja sogar anhalten mitten in voller Fahrt, mitten auf breit ausgebauter Hochgeschwindigkeitspiste – das jagt den Blutdruck hoch, lässt die Nerven aufbrausen und den Puls ausflippen. Egal ob unterwegs zum nächsten extrem wichtigen Termin, oder am Wochenende, oder im Urlaub. O-Ton Edith Röhrig: Es sei denn, ich bin entspannt, dann geht‘s. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Stress nervt – und bereichert das Leben Von Frank Schüre Lebenszeichen 04.09.2016 Wir standen einmal vorm Gotthard im Stau, und wir sind ausgestiegen, und um uns rum sind alle ausgestiegen, und dann gab es so nette Gespräche, und meine Kinder waren glücklich, die haben Coca Cola bekommen. Da war der Stau kein Stress. O-Ton Edith Röhrig: Der Stress nimmt zu, er wird nicht weniger. Die Arbeiten, die Aufgaben, die ich am Tag verrichten muss, beruflich oder privat, nehmen zu. Ich hab das Gefühl, ich schaff die nicht mehr in der mir vorgegebenen Zeit, wie bspw. noch vor fünf, sechs, zehn Jahren. Sprecherin: Wir sind verabredet um drei. Weil sie bis eins Schule hat und dann noch Zeit zum Erholen braucht. Ich bin fünf Minuten vor drei bei ihr und warte noch im Auto. Punkt drei kommt jemand um die Ecke gebraust, parkt, springt aus dem Auto, und flitzt mit vollem Einkaufskorb an der Hand zur Haustür… O-Ton Edith Röhrig: Ja, das Einkaufen jetzt, das war nicht… doch, es war stressig. Weil ich unter Zeitdruck stand, wahrscheinlich habe ich auch was vergessen. Das ist jetzt keine Ausnahmesituation. So geht es mit fast tagtäglich. Es ist ein Unvermögen, innezuhalten und zu sagen: okay, jetzt mache ich noch zehn Handgriffe, und dann entspann ich. Das geht nicht! Sprecherin: Edith Röhrig hat sechs Stunden Unterricht hinter sich und einen Nachmittag voll Unterrichtsvorbereitungen und Korrekturen vor sich. Sie hat vier verschiedene Klassen unterrichtet mit jeweils fünfundzwanzig zumeist gestressten Schülern und Schülerinnen, die aus einhundert zumeist gestressten Elternhäusern kommen, in einer zunehmend gestressten Gesellschaft. Zitator: Die Weltgesundheitsorganisation hat Stress zu »einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts« erklärt… Bei einer Umfrage, was sich die Deutschen für das Jahr 2016 wünschen, gab es einen klaren »Sieger«. 62 Prozent erhofften sich ein »stressfreieres Leben«. Kein einziges Anliegen stand häufiger auf den Wunschzetteln. Statistisch betrachtet wünschen sich die Deutschen also nichts mehr als weniger Stress. Urs Willmann, Stress. Ein Lebensmittel O-Ton Raimar Pilz: Dienstag Viertel vor zwölf, die ersten Gäste stehen bereit, hinten kommt gerade die Fischlieferung an, hier vorne sieht’s noch aus nach Vorbereitung. Gleichzeitig klingelt das Telefon wegen Tischreservierung, und ein Mitarbeiter ruft an: er kommt fünf Minuten später. Das ist purer Stress. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 2 Stress nervt – und bereichert das Leben Von Frank Schüre Lebenszeichen 04.09.2016 Sprecherin: Er beantwortet meine Emails immer erst nach zwei bis drei Tagen. Er besitzt kein Handy. Er wandert gerne und alpin. Raimar Pilz steht aufmerksam und entspannt im Eingang seiner ‚Genussapotheke‘ und gibt mir die Hand. Er lässt sich Zeit bei der Begrüßung. Man merkt, wie gut er diese Situation kennt – und dass er sie mag. O-Ton Raimar Pilz: Man kann nicht gleichzeitig Fisch annehmen, Gäste begrüßen und mit dem Telefon in der Hand agieren. Auf einmal sprüht der Gastgeber vor dem Gast vor Hektik. Nichts ist ansteckender als Hektik. Da zerstört man die ganze Aufbautätigkeit, die man den Tag über gebraucht hat, um dieses Ambiente zu schaffen, diese Willkommens-Situation. Sprecherin: Raimar Pilz ist vielfach prämierter Koch und Gastgeber in einem der besten Restaurants weit und breit. Es bietet Mittag- und Abendessen, für Pilz bedeutet das: Arbeitsbeginn früh um halb-neun, Feierabend um Mitternacht. O-Ton Raimar Pilz: In dem Moment analytisch durchdenken - was ist wichtiger? Das Telefon hat einen Anrufbeantworter, der Fischlieferant – hey, wenn er es bis viertel vor zwölf nicht geschafft hat, kann er auch noch fünf Minuten warten und den Fisch in der Kühlung lassen. Wichtiger ist, die Gäste willkommen zu heißen, zu platzieren, ehrlich zu sein: wir sind noch nicht fertig, wir brauchen noch einen Moment. Aber wollen Sie vielleicht einen Apèro?! Erzählerin: Pilz hat die ehemalige Apotheke des Kurorts umgebaut für seine Bedürfnisse. Denn der Sterne-Koch möchte seine Gäste nicht nur willkommen heißen, Pilz bleibt in Kontakt während des ganzen fein abgeschmeckten Gastmahls. Dafür hat er seine Gourmet-Küche im Gastraum eingerichtet – direkt neben seinen bequem platzierten Gästen. Womit sich der Stress für ihn nicht verschärft, sondern verwandelt: O-Ton Raimar Pilz: Ich kann mit meinen Gästen kommunizieren durch Blickkontakt. Wo gibt es in einem Beruf ansonsten dieses Feedback des Gastes prompter, als wenn man so arbeiten kann? Die Gabel geht in den Mund, man sieht ein Lächeln, dann weiß man schon… Das ist perfekt für mich. Ohne auf Entertainer zu machen oder kunstvoll die Pfannkuchen zu drehen – es ist keine Show. Sondern es ist eine Ebene. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 3 Stress nervt – und bereichert das Leben Von Frank Schüre Lebenszeichen 04.09.2016 Zitator: Stress ist eine akute Notfallreaktion des Körpers, die mit dem Ausschütten von Hormonen: Cortisol und Adrenalin, einhergeht. Diese Stresshormone bewirken insgesamt Maßnahmen, die Energie für Höchstleistungen mobilisieren und damit im Notfall von extremer Bedeutung sind: Puls, Blutdruck und Blutzuckerspiegel steigen an, die Muskeln werden straffer, die Aufmerksamkeit steigt, sodass der Organismus kämpfen oder fliehen kann. Manfred Spitzer, Der Chef im Stress O-Ton Edith Röhrig: In meinem beruflichen Feld erlebe ich, dass die Anforderungen an mich von Jahr zu Jahr zunehmen. Ich bewältige das, das kriege ich hin. Aber ich zahle einen Preis dafür. Zitator: Die akute Stresssituation ist gesund, wird jedoch krankhaft und zum Problem, wenn sie chronisch vorliegt. Dann kommt es zu Abbau von Muskeleiweiß, neuronalem Zelltod, sowie zu Verdauungsbeschwerden, Magengeschwüren und vermehrtem Auftreten von Infektionskrankheiten und Krebs sowie zu psychogenem Zwergwuchs, Libidoverlust und Impotenz… O-Ton Edith Röhrig: Das ist ein Gefühl des permanent Getriebenseins, ich muss noch dasdasdasdasdas, es gibt immer irgendetwas, was mich antreibt, ich vermag das nicht zu stoppen. Ich habe immer etwas zu tun, immer! Zitator: Das Ausmaß von Stress hängt nicht von den objektiven Gegebenheiten der Situation ab, sondern vom subjektiven Erleben der Kontrolle über die Situation. Wer die Situation im Griff hat, der hat keinen Stress. Wer sich umgekehrt als Spielball der Umstände oder der Willkür anderer Menschen erlebt, leidet unter Stress. O-Ton Edith Röhrig: Ich bin so sozialisiert, dass ich permanent mich überfordere: man hat das zu tun! Die Aufgaben, die mir übertragen werden, die habe ich zu erledigen. Die habe ich nicht nur zu 80% zu erledigen, sondern zu MINIMUM 100%. O-Ton Ursula Nuber: Wenn ein Tiger vor mir steht, dann weiß ich: nix wie weg! Ich kann nicht anders, kämpfen kann ich nicht mit ihm. Also: akuter Stress – raus aus der Gefahrensituation – Stress lässt nach. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 4 Stress nervt – und bereichert das Leben Von Frank Schüre Lebenszeichen 04.09.2016 Zitator: Da Konflikte mit Fressfeinden selten geworden sind, unterscheiden sich unsere Stresserfahrungen von denen freilaufender Tiere. Stressphasen sind für uns Zeiträume in der Kategorie von Wochen, Monaten oder Jahren. Die Stressoren sind diffuser als Raubkatzen auf Samtpfoten, sie sind meist körperlos, heißen Termine, Steuererklärung, Chef oder Kochen für Gäste. Urs Willmann O-Ton Ursula Nuber: Was wir heute bewältigen müssen - diese psychischen Stressoren, das sind unsere modernen Säbelzahntiger, und die sind unsichtbar. Ich grübele und grübele, am nächsten Tag grübele ich über was anderes, ich mache mir Sorgen über Gott und die Welt. O-Ton Ursula Nuber: Gerade Frauen haben riesige soziale Antennen, die können sich wunderbar Sorgen machen über alle möglichen Menschen, einschließlich sich selbst. Das sind die Stressoren, die uns fertig machen. Sie richten sich nach der Erwartung des anderen, schauen auf die Bedürfnisse der anderen, sie stellen sich selbst zurück. Sie schlucken viel Ärger, Enttäuschung, und bringen nicht den Mut auf zu sagen: ich will es anders, ICH sehe das anders. O-Ton Edith Röhrig: Der innere Stau ist schwierig. Wenn ich innen im Stau bin, meldet sich mein Körper. Diese Signale habe ich gelernt wahrzunehmen, sag ich erstmal. Sprecherin: Ja, das spüren wir richtig, wenn wir es spüren. Anders als die Blechlawine zur Rushhour ist das hier eine hochgiftige Schlange. Sie richtet sich auf in uns. In uns gibt es keine glatten Bahnen für flottes Auf- und Davonsausen. In uns spüren wir eher raue Pisten voller Schlaglöcher. In uns fühlen wir Wildnis. Wir kennen uns nicht aus, wir erkennen uns kaum wieder, fühlen uns unentwegt angegriffen und infrage gestellt. In uns stecken wir fest. Kampf und Flucht funktionieren hier nicht, jedenfalls nicht wirklich. O-Ton Edith Röhrig: Die Lippe zuckt, oder das Augenlid, oder ich hab vermehrt Herzrhythmus-Störungen, oder ich bekomm Kopfweh - so signalisiert mir mein Körper, dass es jetzt an der Zeit ist, innehalten und runterzufahren. Sprecherin: Der Stau, das bist Du! Das gilt nicht nur für den Stress da draußen. – Der eigentliche Stau ist in mir, der bin ich! Das ist ein anderes Kaliber als da draußen auf der verstopften Straße. Der innere Stau ist der eigentliche Stressor des gestressten Lebens. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 5 Stress nervt – und bereichert das Leben Von Frank Schüre Lebenszeichen 04.09.2016 Die Schlange, die er in uns bildet und die immer größer wird, besteht aus tausend kleinen und großen, berechtigten und irren Ängsten. Sie winden und verbinden sich, aber am schlimmsten: sie wiederholen sich endlos, unerbittlich. O-Ton Edith Röhrig: Ich versuche dann, damit umzugehen. Aber es gelingt mir zunehmend schlechter. Sprecherin: Wie geht Stau ohne Stress? Na wie damals am Gotthard: indem alle einfach aussteigen aus ihren Blechkisten und es sich miteinander gut gehen lassen! Innerlich heißt das: all die Sorgen und Ängste und Nöte, all die aufgestauten Stresspakete in mir, die nie genau angeschaut und geduldig angehört und freundlich gewürdigt werden – bitte alle aussteigen und herkommen und in den Kreis setzen und: HEY, wie geht’s?! O-Ton Ursula Nuber: Weniger Stress ist nicht die Lösung. Wichtig wäre: weniger selbst gemachter, hausgemachter Stress. Wenn ich zu meinem vollen Alltag, den ich habe, noch diese erwähnten virtuellen Tiger dazu nehme, dann wird es zu viel. Es ist meine Haltung dem Stress gegenüber. Wenn ich mit dem Wunsch durchs Leben gehe: ich muss unbedingt meinen Stress reduzieren, ich bin viel zu gestresst, dann habe ich eine Haltung, die mich hilflos macht diesem Stress gegenüber. Sprecherin: Weniger Arbeit, mehr Zeit, weniger schwelende Konflikte mit Kollegen, besser strukturierte Arbeit – diese Wünsche richten sich an den Falschen. Die eigentlichen Räuber und Raubtiere leben tief in uns und gedeihen prächtig, weil sie unentwegt gefüttert werden mit Sorgen und Zweifeln. Stress ist eigentlich die Alarmanlage, die mahnt: da stimmt was nicht, da droht was – bitte handeln! Handelt man nicht, oder behandelt das Falsche, dann wird der Alarm schriller. Chronischer Stress heißt: da staut sich was, und die immer hektischere Aktivität hilft nicht. Da fehlt ein grundlegendes Handeln – Ursula Nuber: O-Ton Ursula Nuber: Warum verharre ich in Situationen, in denen ich gar keinen Sinn finde für mich? Es ist oft sehr schwer, da auszubrechen, man hat nicht die Freiheiten ab einem bestimmten Alter. Aber dennoch, ich kann nachdenken, wenn es in meinem Leben an diesem eigenen Sinn fehlt, wo finde ich den denn dann? Stress bedeutet oft, dass wir in so einer Einbahnstraße gefangen sind, und immer nur denken: ich bin gestresst, das ist alles Mist - und wir sehen dann gar nicht, dass es keine Einbahnstraße ist, dass man links und rechts abbiegen kann, und IN sich was verändern könnte. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 6 Stress nervt – und bereichert das Leben Von Frank Schüre Lebenszeichen 04.09.2016 Sprecherin: In echt kommt der Tiger nur einmal – und auch ein echt nervender Chef stresst nur so lange und so sehr, wie man sich das gefallen lässt. Also nichts wie weg! – entweder in echt, oder, wenn das gerade nicht geht, innerlich. Und überhaupt: Muss ich den konkreten Stress wirklich fürchten? Gibt mir die viele Arbeit nicht auch Energie, bestätigt und beflügelt sie mich nicht auch? O-Ton Ursula Nuber: Diesen Stress brauchen wir nicht verringern. Aber diesen selbst gemachten, hausgemachten Stress, der uns lähmt und die Aufgaben nicht erledigen lässt, die wir haben. Das ist, was in unseren Köpfen stattfindet: mit welcher Haltung begegne ich den Dingen, die ich tagtäglich bewältigen muss? Gehe ich damit selbstfürsorglich um, gehe ich nachsichtig damit um? oder habe ich das Gefühl, ich habe keine Kontrolle über die Situation, ich kann sie nicht beherrschen, ich sehe auch keinen Sinn darin? Das ist der Kernpunkt: wenn ich in dem, was ich tagtäglich zu bewältigen habe, keinen Sinn sehe, dann kann ich es nicht bewältigen. Dann müsste der Satz heißen: nicht weniger Stress, sondern mehr Sinn! O-Ton Raimar Pilz: Innerhalb kürzester Zeit füllt sich das Restaurant mit Gästen, alle mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen. Wenn man ein sehr guter Gastgeber sein möchte, dann ist das purer Stress. Aber man muss das kanalisieren. Man muss diesen Schwall dieser Informationen, der Aufgaben, die sich übereinander zu stapeln scheinen, die muss man kontinuierlich abarbeiten, da klar im Kopf und konzentriert dabei sein. Dann ist Stress kalkulierbar, dann kann man damit umgehen. Sprecherin: Raimar Pilz lässt den Stress da, wo er hin gehört, und wo er gut zu händeln ist. In der Küche, beim konkreten Ablauf, bei den Aufgaben und Zu-tuns, die jetzt anstehen: O-Ton Raimar Pilz: Wir haben im Durchschnitt, dass der Gast bei uns fünf Gänge isst. Dazu ‚amuse bouche‘ und ‚pres desert‘, also sieben Gänge im Durchschnitt. Wir haben das Problem in Deutschland, dass die meisten zwischen 19 und 21 Uhr 30 gegessen haben wollen, d.h. man hat exakt zweieinhalb Stunden Zeit für jetzt hier in der Genussapotheke fünfundzwanzig Sitzplätze, mal sieben Gänge, da sind wir bei knapp zweihundert Essen, die in hundertfünfzig Minuten raus müssen. Das heißt in jeder Minute muss ein Essen in dieser Qualität diese Küche verlassen. Sprecherin: Gleiches Arbeitsvolumen, höhere Ansprüche, weniger Personal. Dafür braucht man ‚kulinarische Intelligenz‘. Damit meint Raimar Pilz einen Mix aus Logik und angewandter Physik. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 7 Stress nervt – und bereichert das Leben Von Frank Schüre Lebenszeichen 04.09.2016 O-Ton Raimar Pilz: Wenn man etwas in der Pfanne brät: zweimal drehen, draufdrücken (klopft auf den Tisch), immer noch nicht gut, nochmal drehen, draufdrücken etc… Wir garen bei Niedertemperatur in Wasserbädern, in Vakuum – wenn man das begreift, gibt es unheimlich viel Zeit, am Herd etwas anderes zu machen. Sprecherin: In der offenen Küche von Raimar Pilz geht es deutlich entspannter zu als im normalen privaten Haushalt. Ich erinnere mich gut an das komplette Chaos in meiner Küche, als neulich eine Handvoll Gäste angesagt waren! In der Genussapotheke sitzen fünfundzwanzig davon, jeder bekommt sieben Gänge, vom Feinsten, innerhalb von gut zwei Stunden, jeden Abend. Und was dem ganz normalen Nervenkostüm den letzten Stoß versetzen würde: gekocht und zubereitet wird im Angesicht erwartungsvoller Gäste. Raimar Pilz erlebt auch das noch als Vorteil. O-Ton Raimar Pilz: Dass alles in einer Ebene stattfindet. Es gibt nicht den gestressten Kellner, der mit dem Bon in die Küche flattert und schreit: wo bleibt der Shrimp?! Wir selber aus der Küche sehen: wie weit sind unsere Gäste, können wir schon anfangen mit dem nächsten Gang? So können wir den Abend in kleinen Wellen steuern, als das wir in großen Ausschlägen funktionieren müssen. Sprecherin: Nein, ich vergleiche den Sterne-Koch und Chef eines erfolgreichen Restaurants nicht mit einer gestressten Lehrerin! Ich bin allerdings überzeugt: Stress wird chronisch im betroffenen Menschen, und nicht in den äußeren Umständen. Im Menschen löst und wandelt sich kranker Stress dann auch in seine impulsive und produktive und gesunde Variante. Zitator: Aber wie? Sprecherin: Ich stelle mir eine Lehrerin aus ganzem Herzen vor, eine 'Sterne-Lehrerin'. Sie möchte täglich und bestens vorbereitet ihre Schüler willkommen heißen, sie sorgfältig platzieren, ihre Wünsche entgegennehmen, und ihnen am liebsten täglich ein Bildungsmenü vom Feinsten servieren, inklusive 'Amuse Bouche' und 'Pres Desert'. Sie möchte sich mit ihren genauso engagierten Kolleginnen beraten und austauschen und mit ihnen gemeinsam die beste Schule weit und breit betreiben. Zitator: Aber wie? © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 8 Stress nervt – und bereichert das Leben Von Frank Schüre Lebenszeichen 04.09.2016 Sprecherin: Indem sie in sich selbst nicht nur den Stress entdeckt, sondern auch ihr Engagement, ihre 'Sterne'. Indem sie sich selbst nicht noch mehr stresst mit eigenen Ansprüchen – zum Beispiel: sei eine ganz tolle Lehrerin! Indem sie sich selbst entdeckt. Ja, unglaublich, aber so jemanden gibt es: mich selbst! Und zwar nicht nur als ein Dauerproblem und Mängelwesen, sondern als den ersten und wichtigsten lieben Gast! Zitator: Aber wie entdeckt man sich selbst und lernt sich selbst versorgen 'vom Feinsten'?! Sprecherin: Indem ich mich mir zuwende und mich durch und durch kennenlerne. Ja, auch das geht, und das macht Sinn. Das ist nicht einfach, aber das kann ich lernen und üben. Dafür sollte ich allerdings aussteigen aus dem Normalprogramm: unentwegt abhauen von dem was ist und wie ich bin. Und einsteigen in das Programm von Jon Kabat-Zinn. Zitator: Die meiste Zeit sind wir gedanklich mit Dingen beschäftigt, die noch vor uns oder bereits hinter uns liegen. Von morgens bis abends hetzen wir uns ab, um irgendwo hinzukommen. Aber bevor wir ankommen, sind wir gedanklich schon längst wieder weg. Das ist nicht gesund auf Dauer. Denn der Augenblick, das Hier und Jetzt, ist das einzige, was wir haben. Sprecherin: Jon Kabat-Zinn ist Initiator und 'Stern' des weltweit erfolgreichsten Trainings zur Reduktion von Stress. Sein Lebensmittel bei Stress heißt Achtsamkeit. Kabat-Zinns Achtsamkeit-basierte Stressreduktion ist eine vollkommen stille Revolution in einer total gestressten Welt. In der man Achtsamkeit wollen und üben muss, denn normalerweise wird sie geradezu systematisch ausgetrieben. Achtsamkeit ist das Projekt eines gestressten Lebens. Zitator: Viele, viele Verbündete stehen uns zur Seite. Doch einer der verlässlichsten und am einfachsten abrufbare Verbündete ist unser eigener Atem. Ohne ihn können Sie nicht aus dem Haus gehen. Daher lade ich Sie ein: freunden Sie sich mit diesem Einatmen an – und nun mit diesem Ausatmen. Probieren wir das in jedem Augenblick, in dem wir uns verloren fühlen, erdrückt oder fortgetragen von der Angst vor der Zukunft oder der Unzufriedenheit über das, was wir gerade erleben. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 9 Stress nervt – und bereichert das Leben Von Frank Schüre Lebenszeichen 04.09.2016 O-Ton Raimar Röhrig: Ich bin einige Jahre immer im Sommer für drei, vier Tage ins Kloster, zu sogenannten "Stillen Tagen". Die taten mir sehr gut, das Zurückgeworfen Sein auf mich, den Alltag aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Vor zwei Jahren boten die einen Tag im Schweigen an. Das war auch mit Meditation – und dieser Tag tat mir unglaublich gut. Das waren ganz fremde Menschen, das Mittagessen nahmen wir im Schweigen ein. Und ich empfand dieses Schweigen-können als unglaublich entlastend. Aber ich vermochte das nicht in meinen Alltag zu übertragen. Zitator: Lernen, nichts zu tun. Das ist nicht einfach. Nichts-Tun muss geübt und praktiziert werden. Das ist kein esoterisches Konzept, keine Philosophie, die man verstehen muss, sondern ein Muskel, der trainiert werden will. Jeden Tag, immer wieder, auch wenn es schmerzt und man keine Lust hat. O-Ton Ursula Nuber: Das ist ein sehr großes Projekt: der eigene Sinn. Den eigenen Sinn zu finden, das ist im Grunde das Projekt unseres Lebens. Weil wenn wir nicht unseren eigenen Sinn leben, wenn wir nicht nach dem leben, was WIR für sinnvoll halten. Dann sind wir anfällig für fremden Sinn, dann sind wir anfällig für Manipulationen und Einflussnahme. Weil die Leere will ja gefüllt sein. Sprecherin: Ursula Nuber hat ein Plädoyer geschrieben für den Eigensinn. Für die erfahrene Psychotherapeutin weist eine eigensinnige Haltung den Weg ins eigene Leben. Sie ergänzt Achtsamkeit um die wichtige Funktion eines inneren Leibwächters. Denn neben einer Offenheit für die Welt sollte man sich auch verschließen und schützen können gegenüber allem, was verführen und ausnutzen will. O-Ton Ursula Nuber: Dass ich sagen kann: okay, das ist Dein Sinn, aber nicht meiner. Dass ich das genau differenzieren kann und nicht hineingezogen werde in diesen Sinn des anderen. Insofern schützt der Eigensinn unsere seelische und körperliche Gesundheit. Ohne diesen Eigensinn fehlt uns eine Art seelisches Immunsystem, was die schädlichen Bakterien und Viren von außen abhält, die tagtäglich auf uns einströmen. Sprecherin: Bei einem gut funktionierenden inneren Leibwächter übernimmt auch Stress seine eigentlichen Funktionen. Normaler Stress erhöht die Widerstandskraft, trainiert den Körper, stärkt Immunsystem und Denkleistung, und ist das beste Mittel bei chronischem, ungesundem Stress. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 10 Stress nervt – und bereichert das Leben Von Frank Schüre Lebenszeichen 04.09.2016 O-Ton Raimar Pilz: Ich verstehe Stresssituationen als Antrieb, als Ansporn. Um am Abend zufrieden zu sein, aber ich brauche das Ganze auch, weil mir sonst was fehlen würde. Es ist so in der Küche, wenn man diesen Kick bekommt, und das Ganze funktioniert auf einmal, und jedes Zahnrad greift in das nächste ein, dann kommt man in so einen Flow. Und dieser Flow, das ist das Schönste, was man beim Kochen erreichen kann. Dann scheint es wie von alleine zu funktionieren. Man muss dann nur noch dirigieren und steuern. Aber das andere, die körperliche Anstrengung, das tritt auf einmal in den Hintergrund. Das ist ein wahnsinnig schönes Gefühl. Zitator: Stress, den ich kennengelernt habe, macht nicht ruppig, sondern fröhlich. Er macht nicht dick, sondern schlank. Er macht uns nicht blass und müde, sondern frisch und wach. Nicht kurzatmig und gereizt, sondern fit und entspannt. Und vor allem macht er uns nicht stumm. Sondern richtig schön laut. Es gibt gute Gründe, ihn als eine Art Würze zu sehen. Ich versichere Ihnen: Stress ist das Beste, was uns im Leben passieren kann. Urs Willman Stress. Ein Lebensmittel O-Ton Raimar Pilz: Wenn man ausstrahlt, dass man über sein Tun sehr gut Bescheid weiß, dass jeder Handgriff sitzt, dass am Ende etwas entsteht, was 100% Qualität hat, was es versprochen hat. Dann ist auch so eine Souveränität ansteckend. O-Ton Ursula Nuber: Das ist der Kern, wie wir Stress meistern können, dass wir darauf achten und schauen: wieso fühle ich mich hilflos, fühle mich dem ausgeliefert? Bin ich wirklich ein Opfer? Kann ich da was dran ändern? Wenn wir wieder Handelnde werden, wenn wir selbstwirksam uns erleben: also ich kann was bewirken. Sowohl im Stress, weil ich was tue leiste kann. Als auch dass ich mir den Stress so zurechtbiege, beeinflusse, wie ich es für richtig halte, nämlich durch einen eigenen Sinn. Dann bin ich nicht hilflos, bin kein Opfer. Dann führt nicht der Stress die Regie, sondern ich sitze im Regiestuhl. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 11
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