Lebenszeichen vom 04.09.2016

Stress nervt – und bereichert das
Leben
Von Frank Schüre
Lebenszeichen
O4.09.2016
Anmoderation:
Kaum einer kann sich heute ein Leben ohne Stress vorstellen. Aber immer mehr Menschen sehnen
sich genau danach. Stress scheint das Übel an sich, zugleich ermöglicht er körperliche und geistige
Extreme. Was als Reiz und Push für Ausnahmezustände gesucht wird, führt alltäglich zum
gefürchteten Dauerstress. Kann man Stress dosieren und dirigieren, oder gar meistern? Wie geht
das: Wohlfühlen mitten im Stress? Die gestresste Lehrerin möchte vor allem: weniger, für den
Sterne-Koch führt reiner Stress zu ‚Flow’ in seiner Küche. Die Chefin von ‘Psychologie Heute’
empfiehlt: anstatt weniger Stress – mehr Sinn!
O-Ton Edith Röhrig:
Stau? wenn ich im Stau bin?! Da werde ich aggressiv!
Sprecherin:
Nein, das ist keine Schwarze Mamba, die sich da vor uns aufrichtet. Unter uns dehnt sich weder
Steppe noch Schlaglochpiste, sondern Asphalt. Wir befinden uns nicht in freier Wildbahn, sondern in
einer rollenden Komfortzone aus Polster, Klimaanlage, Soundsystem und Knabberei. Die Schlange,
die sich da hinten bildet und immer näher kommt, ist aus Blech. Mit ihren grell rot aufleuchtenden
und gelb blinkenden Warnzeichen will sie uns nicht angreifen und auffressen. Es ist viel schlimmer sie wird uns aufhalten. Sie wird all unsere dringenden Termine gefährden.
O-Ton Edith Röhrig:
Stau ist ganz schlecht, megaschlecht – den umfahre ich, oder ich werde wahnsinnig. Ja klar,
es muss laufe!
Sprecherin:
Stau ist einer der größten Stressoren des allgemein gestressten Lebens. Langsamer werden, ja
sogar anhalten mitten in voller Fahrt, mitten auf breit ausgebauter Hochgeschwindigkeitspiste – das
jagt den Blutdruck hoch, lässt die Nerven aufbrausen und den Puls ausflippen. Egal ob unterwegs
zum nächsten extrem wichtigen Termin, oder am Wochenende, oder im Urlaub.
O-Ton Edith Röhrig:
Es sei denn, ich bin entspannt, dann geht‘s.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch
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Stress nervt – und bereichert das Leben
Von Frank Schüre
Lebenszeichen
04.09.2016
Wir standen einmal vorm Gotthard im Stau, und wir sind ausgestiegen, und um uns rum sind
alle ausgestiegen, und dann gab es so nette Gespräche, und meine Kinder waren glücklich,
die haben Coca Cola bekommen. Da war der Stau kein Stress.
O-Ton Edith Röhrig:
Der Stress nimmt zu, er wird nicht weniger. Die Arbeiten, die Aufgaben, die ich am Tag
verrichten muss, beruflich oder privat, nehmen zu. Ich hab das Gefühl, ich schaff die nicht
mehr in der mir vorgegebenen Zeit, wie bspw. noch vor fünf, sechs, zehn Jahren.
Sprecherin:
Wir sind verabredet um drei. Weil sie bis eins Schule hat und dann noch Zeit zum Erholen braucht.
Ich bin fünf Minuten vor drei bei ihr und warte noch im Auto. Punkt drei kommt jemand um die Ecke
gebraust, parkt, springt aus dem Auto, und flitzt mit vollem Einkaufskorb an der Hand zur Haustür…
O-Ton Edith Röhrig:
Ja, das Einkaufen jetzt, das war nicht… doch, es war stressig. Weil ich unter Zeitdruck stand,
wahrscheinlich habe ich auch was vergessen. Das ist jetzt keine Ausnahmesituation. So geht
es mit fast tagtäglich. Es ist ein Unvermögen, innezuhalten und zu sagen: okay, jetzt mache
ich noch zehn Handgriffe, und dann entspann ich. Das geht nicht!
Sprecherin:
Edith Röhrig hat sechs Stunden Unterricht hinter sich und einen Nachmittag voll
Unterrichtsvorbereitungen und Korrekturen vor sich. Sie hat vier verschiedene Klassen unterrichtet
mit jeweils fünfundzwanzig zumeist gestressten Schülern und Schülerinnen, die aus einhundert
zumeist gestressten Elternhäusern kommen, in einer zunehmend gestressten Gesellschaft.
Zitator:
Die Weltgesundheitsorganisation hat Stress zu »einer der größten Gesundheitsgefahren des 21.
Jahrhunderts« erklärt… Bei einer Umfrage, was sich die Deutschen für das Jahr 2016 wünschen,
gab es einen klaren »Sieger«. 62 Prozent erhofften sich ein »stressfreieres Leben«. Kein einziges
Anliegen stand häufiger auf den Wunschzetteln. Statistisch betrachtet wünschen sich die Deutschen
also nichts mehr als weniger Stress.
Urs Willmann, Stress. Ein Lebensmittel
O-Ton Raimar Pilz:
Dienstag Viertel vor zwölf, die ersten Gäste stehen bereit, hinten kommt gerade die
Fischlieferung an, hier vorne sieht’s noch aus nach Vorbereitung. Gleichzeitig klingelt das
Telefon wegen Tischreservierung, und ein Mitarbeiter ruft an: er kommt fünf Minuten später.
Das ist purer Stress.
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Stress nervt – und bereichert das Leben
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Sprecherin:
Er beantwortet meine Emails immer erst nach zwei bis drei Tagen. Er besitzt kein Handy. Er wandert
gerne und alpin. Raimar Pilz steht aufmerksam und entspannt im Eingang seiner ‚Genussapotheke‘
und gibt mir die Hand. Er lässt sich Zeit bei der Begrüßung. Man merkt, wie gut er diese Situation
kennt – und dass er sie mag.
O-Ton Raimar Pilz:
Man kann nicht gleichzeitig Fisch annehmen, Gäste begrüßen und mit dem Telefon in der
Hand agieren. Auf einmal sprüht der Gastgeber vor dem Gast vor Hektik. Nichts ist
ansteckender als Hektik. Da zerstört man die ganze Aufbautätigkeit, die man den Tag über
gebraucht hat, um dieses Ambiente zu schaffen, diese Willkommens-Situation.
Sprecherin:
Raimar Pilz ist vielfach prämierter Koch und Gastgeber in einem der besten Restaurants weit und
breit. Es bietet Mittag- und Abendessen, für Pilz bedeutet das: Arbeitsbeginn früh um halb-neun,
Feierabend um Mitternacht.
O-Ton Raimar Pilz:
In dem Moment analytisch durchdenken - was ist wichtiger? Das Telefon hat einen
Anrufbeantworter, der Fischlieferant – hey, wenn er es bis viertel vor zwölf nicht geschafft hat,
kann er auch noch fünf Minuten warten und den Fisch in der Kühlung lassen. Wichtiger ist,
die Gäste willkommen zu heißen, zu platzieren, ehrlich zu sein: wir sind noch nicht fertig, wir
brauchen noch einen Moment. Aber wollen Sie vielleicht einen Apèro?!
Erzählerin:
Pilz hat die ehemalige Apotheke des Kurorts umgebaut für seine Bedürfnisse. Denn der Sterne-Koch
möchte seine Gäste nicht nur willkommen heißen, Pilz bleibt in Kontakt während des ganzen fein
abgeschmeckten Gastmahls. Dafür hat er seine Gourmet-Küche im Gastraum eingerichtet – direkt
neben seinen bequem platzierten Gästen. Womit sich der Stress für ihn nicht verschärft, sondern
verwandelt:
O-Ton Raimar Pilz:
Ich kann mit meinen Gästen kommunizieren durch Blickkontakt. Wo gibt es in einem Beruf
ansonsten dieses Feedback des Gastes prompter, als wenn man so arbeiten kann? Die
Gabel geht in den Mund, man sieht ein Lächeln, dann weiß man schon… Das ist perfekt für
mich. Ohne auf Entertainer zu machen oder kunstvoll die Pfannkuchen zu drehen – es ist
keine Show. Sondern es ist eine Ebene.
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Stress nervt – und bereichert das Leben
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Zitator:
Stress ist eine akute Notfallreaktion des Körpers, die mit dem Ausschütten von Hormonen: Cortisol
und Adrenalin, einhergeht. Diese Stresshormone bewirken insgesamt Maßnahmen, die Energie für
Höchstleistungen mobilisieren und damit im Notfall von extremer Bedeutung sind: Puls, Blutdruck
und Blutzuckerspiegel steigen an, die Muskeln werden straffer, die Aufmerksamkeit steigt, sodass
der Organismus kämpfen oder fliehen kann.
Manfred Spitzer, Der Chef im Stress
O-Ton Edith Röhrig:
In meinem beruflichen Feld erlebe ich, dass die Anforderungen an mich von Jahr zu Jahr
zunehmen. Ich bewältige das, das kriege ich hin. Aber ich zahle einen Preis dafür.
Zitator:
Die akute Stresssituation ist gesund, wird jedoch krankhaft und zum Problem, wenn sie chronisch
vorliegt. Dann kommt es zu Abbau von Muskeleiweiß, neuronalem Zelltod, sowie zu
Verdauungsbeschwerden, Magengeschwüren und vermehrtem Auftreten von Infektionskrankheiten
und Krebs sowie zu psychogenem Zwergwuchs, Libidoverlust und Impotenz…
O-Ton Edith Röhrig:
Das ist ein Gefühl des permanent Getriebenseins, ich muss noch dasdasdasdasdas, es gibt
immer irgendetwas, was mich antreibt, ich vermag das nicht zu stoppen. Ich habe immer
etwas zu tun, immer!
Zitator:
Das Ausmaß von Stress hängt nicht von den objektiven Gegebenheiten der Situation ab, sondern
vom subjektiven Erleben der Kontrolle über die Situation. Wer die Situation im Griff hat, der hat
keinen Stress. Wer sich umgekehrt als Spielball der Umstände oder der Willkür anderer Menschen
erlebt, leidet unter Stress.
O-Ton Edith Röhrig:
Ich bin so sozialisiert, dass ich permanent mich überfordere: man hat das zu tun! Die
Aufgaben, die mir übertragen werden, die habe ich zu erledigen. Die habe ich nicht nur zu
80% zu erledigen, sondern zu MINIMUM 100%.
O-Ton Ursula Nuber:
Wenn ein Tiger vor mir steht, dann weiß ich: nix wie weg! Ich kann nicht anders, kämpfen
kann ich nicht mit ihm. Also: akuter Stress – raus aus der Gefahrensituation – Stress lässt
nach.
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Stress nervt – und bereichert das Leben
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Zitator:
Da Konflikte mit Fressfeinden selten geworden sind, unterscheiden sich unsere Stresserfahrungen
von denen freilaufender Tiere. Stressphasen sind für uns Zeiträume in der Kategorie von Wochen,
Monaten oder Jahren. Die Stressoren sind diffuser als Raubkatzen auf Samtpfoten, sie sind meist
körperlos, heißen Termine, Steuererklärung, Chef oder Kochen für Gäste.
Urs Willmann
O-Ton Ursula Nuber:
Was wir heute bewältigen müssen - diese psychischen Stressoren, das sind unsere modernen
Säbelzahntiger, und die sind unsichtbar. Ich grübele und grübele, am nächsten Tag grübele ich
über was anderes, ich mache mir Sorgen über Gott und die Welt.
O-Ton Ursula Nuber:
Gerade Frauen haben riesige soziale Antennen, die können sich wunderbar Sorgen machen über
alle möglichen Menschen, einschließlich sich selbst. Das sind die Stressoren, die uns fertig
machen. Sie richten sich nach der Erwartung des anderen, schauen auf die Bedürfnisse der
anderen, sie stellen sich selbst zurück. Sie schlucken viel Ärger, Enttäuschung, und bringen nicht
den Mut auf zu sagen: ich will es anders, ICH sehe das anders.
O-Ton Edith Röhrig:
Der innere Stau ist schwierig. Wenn ich innen im Stau bin, meldet sich mein Körper. Diese
Signale habe ich gelernt wahrzunehmen, sag ich erstmal.
Sprecherin:
Ja, das spüren wir richtig, wenn wir es spüren. Anders als die Blechlawine zur Rushhour ist das hier
eine hochgiftige Schlange. Sie richtet sich auf in uns. In uns gibt es keine glatten Bahnen für flottes
Auf- und Davonsausen. In uns spüren wir eher raue Pisten voller Schlaglöcher. In uns fühlen wir
Wildnis. Wir kennen uns nicht aus, wir erkennen uns kaum wieder, fühlen uns unentwegt angegriffen
und infrage gestellt. In uns stecken wir fest. Kampf und Flucht funktionieren hier nicht, jedenfalls nicht
wirklich.
O-Ton Edith Röhrig:
Die Lippe zuckt, oder das Augenlid, oder ich hab vermehrt Herzrhythmus-Störungen, oder ich
bekomm Kopfweh - so signalisiert mir mein Körper, dass es jetzt an der Zeit ist, innehalten
und runterzufahren.
Sprecherin:
Der Stau, das bist Du! Das gilt nicht nur für den Stress da draußen. – Der eigentliche Stau ist in mir,
der bin ich! Das ist ein anderes Kaliber als da draußen auf der verstopften Straße. Der innere Stau ist
der eigentliche Stressor des gestressten Lebens.
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Stress nervt – und bereichert das Leben
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04.09.2016
Die Schlange, die er in uns bildet und die immer größer wird, besteht aus tausend kleinen und
großen, berechtigten und irren Ängsten. Sie winden und verbinden sich, aber am schlimmsten: sie
wiederholen sich endlos, unerbittlich.
O-Ton Edith Röhrig:
Ich versuche dann, damit umzugehen. Aber es gelingt mir zunehmend schlechter.
Sprecherin:
Wie geht Stau ohne Stress? Na wie damals am Gotthard: indem alle einfach aussteigen aus ihren
Blechkisten und es sich miteinander gut gehen lassen! Innerlich heißt das: all die Sorgen und Ängste
und Nöte, all die aufgestauten Stresspakete in mir, die nie genau angeschaut und geduldig angehört
und freundlich gewürdigt werden – bitte alle aussteigen und herkommen und in den Kreis setzen
und: HEY, wie geht’s?!
O-Ton Ursula Nuber:
Weniger Stress ist nicht die Lösung. Wichtig wäre: weniger selbst gemachter, hausgemachter
Stress. Wenn ich zu meinem vollen Alltag, den ich habe, noch diese erwähnten virtuellen
Tiger dazu nehme, dann wird es zu viel. Es ist meine Haltung dem Stress gegenüber. Wenn
ich mit dem Wunsch durchs Leben gehe: ich muss unbedingt meinen Stress reduzieren, ich
bin viel zu gestresst, dann habe ich eine Haltung, die mich hilflos macht diesem Stress
gegenüber.
Sprecherin:
Weniger Arbeit, mehr Zeit, weniger schwelende Konflikte mit Kollegen, besser strukturierte Arbeit –
diese Wünsche richten sich an den Falschen. Die eigentlichen Räuber und Raubtiere leben tief in
uns und gedeihen prächtig, weil sie unentwegt gefüttert werden mit Sorgen und Zweifeln. Stress ist
eigentlich die Alarmanlage, die mahnt: da stimmt was nicht, da droht was – bitte handeln! Handelt
man nicht, oder behandelt das Falsche, dann wird der Alarm schriller. Chronischer Stress heißt: da
staut sich was, und die immer hektischere Aktivität hilft nicht. Da fehlt ein grundlegendes Handeln –
Ursula Nuber:
O-Ton Ursula Nuber:
Warum verharre ich in Situationen, in denen ich gar keinen Sinn finde für mich? Es ist oft sehr
schwer, da auszubrechen, man hat nicht die Freiheiten ab einem bestimmten Alter. Aber
dennoch, ich kann nachdenken, wenn es in meinem Leben an diesem eigenen Sinn fehlt, wo
finde ich den denn dann? Stress bedeutet oft, dass wir in so einer Einbahnstraße gefangen
sind, und immer nur denken: ich bin gestresst, das ist alles Mist - und wir sehen dann gar
nicht, dass es keine Einbahnstraße ist, dass man links und rechts abbiegen kann, und IN sich
was verändern könnte.
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Stress nervt – und bereichert das Leben
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Sprecherin:
In echt kommt der Tiger nur einmal – und auch ein echt nervender Chef stresst nur so lange und so
sehr, wie man sich das gefallen lässt. Also nichts wie weg! – entweder in echt, oder, wenn das
gerade nicht geht, innerlich. Und überhaupt: Muss ich den konkreten Stress wirklich fürchten? Gibt
mir die viele Arbeit nicht auch Energie, bestätigt und beflügelt sie mich nicht auch?
O-Ton Ursula Nuber:
Diesen Stress brauchen wir nicht verringern. Aber diesen selbst gemachten, hausgemachten
Stress, der uns lähmt und die Aufgaben nicht erledigen lässt, die wir haben. Das ist, was in
unseren Köpfen stattfindet: mit welcher Haltung begegne ich den Dingen, die ich tagtäglich
bewältigen muss? Gehe ich damit selbstfürsorglich um, gehe ich nachsichtig damit um? oder
habe ich das Gefühl, ich habe keine Kontrolle über die Situation, ich kann sie nicht
beherrschen, ich sehe auch keinen Sinn darin? Das ist der Kernpunkt: wenn ich in dem, was
ich tagtäglich zu bewältigen habe, keinen Sinn sehe, dann kann ich es nicht bewältigen. Dann
müsste der Satz heißen: nicht weniger Stress, sondern mehr Sinn!
O-Ton Raimar Pilz:
Innerhalb kürzester Zeit füllt sich das Restaurant mit Gästen, alle mit unterschiedlichen
Erwartungshaltungen. Wenn man ein sehr guter Gastgeber sein möchte, dann ist das purer
Stress. Aber man muss das kanalisieren. Man muss diesen Schwall dieser Informationen, der
Aufgaben, die sich übereinander zu stapeln scheinen, die muss man kontinuierlich
abarbeiten, da klar im Kopf und konzentriert dabei sein. Dann ist Stress kalkulierbar, dann
kann man damit umgehen.
Sprecherin:
Raimar Pilz lässt den Stress da, wo er hin gehört, und wo er gut zu händeln ist. In der Küche, beim
konkreten Ablauf, bei den Aufgaben und Zu-tuns, die jetzt anstehen:
O-Ton Raimar Pilz:
Wir haben im Durchschnitt, dass der Gast bei uns fünf Gänge isst. Dazu ‚amuse bouche‘ und
‚pres desert‘, also sieben Gänge im Durchschnitt. Wir haben das Problem in Deutschland,
dass die meisten zwischen 19 und 21 Uhr 30 gegessen haben wollen, d.h. man hat exakt
zweieinhalb Stunden Zeit für jetzt hier in der Genussapotheke fünfundzwanzig Sitzplätze, mal
sieben Gänge, da sind wir bei knapp zweihundert Essen, die in hundertfünfzig Minuten raus
müssen. Das heißt in jeder Minute muss ein Essen in dieser Qualität diese Küche verlassen.
Sprecherin:
Gleiches Arbeitsvolumen, höhere Ansprüche, weniger Personal. Dafür braucht man ‚kulinarische
Intelligenz‘. Damit meint Raimar Pilz einen Mix aus Logik und angewandter Physik.
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Stress nervt – und bereichert das Leben
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Lebenszeichen
04.09.2016
O-Ton Raimar Pilz:
Wenn man etwas in der Pfanne brät: zweimal drehen, draufdrücken (klopft auf den Tisch),
immer noch nicht gut, nochmal drehen, draufdrücken etc… Wir garen bei Niedertemperatur in
Wasserbädern, in Vakuum – wenn man das begreift, gibt es unheimlich viel Zeit, am Herd
etwas anderes zu machen.
Sprecherin:
In der offenen Küche von Raimar Pilz geht es deutlich entspannter zu als im normalen privaten
Haushalt. Ich erinnere mich gut an das komplette Chaos in meiner Küche, als neulich eine Handvoll
Gäste angesagt waren! In der Genussapotheke sitzen fünfundzwanzig davon, jeder bekommt sieben
Gänge, vom Feinsten, innerhalb von gut zwei Stunden, jeden Abend. Und was dem ganz normalen
Nervenkostüm den letzten Stoß versetzen würde: gekocht und zubereitet wird im Angesicht
erwartungsvoller Gäste. Raimar Pilz erlebt auch das noch als Vorteil.
O-Ton Raimar Pilz:
Dass alles in einer Ebene stattfindet. Es gibt nicht den gestressten Kellner, der mit dem Bon
in die Küche flattert und schreit: wo bleibt der Shrimp?! Wir selber aus der Küche sehen: wie
weit sind unsere Gäste, können wir schon anfangen mit dem nächsten Gang? So können wir
den Abend in kleinen Wellen steuern, als das wir in großen Ausschlägen funktionieren
müssen.
Sprecherin:
Nein, ich vergleiche den Sterne-Koch und Chef eines erfolgreichen Restaurants nicht mit einer
gestressten Lehrerin! Ich bin allerdings überzeugt: Stress wird chronisch im betroffenen Menschen,
und nicht in den äußeren Umständen. Im Menschen löst und wandelt sich kranker Stress dann auch
in seine impulsive und produktive und gesunde Variante.
Zitator:
Aber wie?
Sprecherin:
Ich stelle mir eine Lehrerin aus ganzem Herzen vor, eine 'Sterne-Lehrerin'. Sie möchte täglich und
bestens vorbereitet ihre Schüler willkommen heißen, sie sorgfältig platzieren, ihre Wünsche
entgegennehmen, und ihnen am liebsten täglich ein Bildungsmenü vom Feinsten servieren, inklusive
'Amuse Bouche' und 'Pres Desert'. Sie möchte sich mit ihren genauso engagierten Kolleginnen
beraten und austauschen und mit ihnen gemeinsam die beste Schule weit und breit betreiben.
Zitator:
Aber wie?
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Sprecherin:
Indem sie in sich selbst nicht nur den Stress entdeckt, sondern auch ihr Engagement, ihre 'Sterne'.
Indem sie sich selbst nicht noch mehr stresst mit eigenen Ansprüchen – zum Beispiel: sei eine ganz
tolle Lehrerin! Indem sie sich selbst entdeckt. Ja, unglaublich, aber so jemanden gibt es: mich selbst!
Und zwar nicht nur als ein Dauerproblem und Mängelwesen, sondern als den ersten und wichtigsten
lieben Gast!
Zitator:
Aber wie entdeckt man sich selbst und lernt sich selbst versorgen 'vom Feinsten'?!
Sprecherin:
Indem ich mich mir zuwende und mich durch und durch kennenlerne. Ja, auch das geht, und das
macht Sinn. Das ist nicht einfach, aber das kann ich lernen und üben. Dafür sollte ich allerdings
aussteigen aus dem Normalprogramm: unentwegt abhauen von dem was ist und wie ich bin. Und
einsteigen in das Programm von Jon Kabat-Zinn.
Zitator:
Die meiste Zeit sind wir gedanklich mit Dingen beschäftigt, die noch vor uns oder bereits hinter uns
liegen. Von morgens bis abends hetzen wir uns ab, um irgendwo hinzukommen. Aber bevor wir
ankommen, sind wir gedanklich schon längst wieder weg. Das ist nicht gesund auf Dauer. Denn der
Augenblick, das Hier und Jetzt, ist das einzige, was wir haben.
Sprecherin:
Jon Kabat-Zinn ist Initiator und 'Stern' des weltweit erfolgreichsten Trainings zur Reduktion von
Stress. Sein Lebensmittel bei Stress heißt Achtsamkeit. Kabat-Zinns Achtsamkeit-basierte
Stressreduktion ist eine vollkommen stille Revolution in einer total gestressten Welt. In der man
Achtsamkeit wollen und üben muss, denn normalerweise wird sie geradezu systematisch
ausgetrieben. Achtsamkeit ist das Projekt eines gestressten Lebens.
Zitator:
Viele, viele Verbündete stehen uns zur Seite. Doch einer der verlässlichsten und am einfachsten
abrufbare Verbündete ist unser eigener Atem. Ohne ihn können Sie nicht aus dem Haus gehen.
Daher lade ich Sie ein: freunden Sie sich mit diesem Einatmen an – und nun mit diesem Ausatmen.
Probieren wir das in jedem Augenblick, in dem wir uns verloren fühlen, erdrückt oder fortgetragen
von der Angst vor der Zukunft oder der Unzufriedenheit über das, was wir gerade erleben.
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O-Ton Raimar Röhrig:
Ich bin einige Jahre immer im Sommer für drei, vier Tage ins Kloster, zu sogenannten "Stillen
Tagen". Die taten mir sehr gut, das Zurückgeworfen Sein auf mich, den Alltag aus einer
gewissen Distanz zu betrachten. Vor zwei Jahren boten die einen Tag im Schweigen an. Das
war auch mit Meditation – und dieser Tag tat mir unglaublich gut. Das waren ganz fremde
Menschen, das Mittagessen nahmen wir im Schweigen ein. Und ich empfand dieses
Schweigen-können als unglaublich entlastend. Aber ich vermochte das nicht in meinen Alltag
zu übertragen.
Zitator:
Lernen, nichts zu tun. Das ist nicht einfach. Nichts-Tun muss geübt und praktiziert werden. Das ist
kein esoterisches Konzept, keine Philosophie, die man verstehen muss, sondern ein Muskel, der
trainiert werden will. Jeden Tag, immer wieder, auch wenn es schmerzt und man keine Lust hat.
O-Ton Ursula Nuber:
Das ist ein sehr großes Projekt: der eigene Sinn. Den eigenen Sinn zu finden, das ist im
Grunde das Projekt unseres Lebens. Weil wenn wir nicht unseren eigenen Sinn leben, wenn
wir nicht nach dem leben, was WIR für sinnvoll halten. Dann sind wir anfällig für fremden
Sinn, dann sind wir anfällig für Manipulationen und Einflussnahme. Weil die Leere will ja
gefüllt sein.
Sprecherin:
Ursula Nuber hat ein Plädoyer geschrieben für den Eigensinn. Für die erfahrene Psychotherapeutin
weist eine eigensinnige Haltung den Weg ins eigene Leben. Sie ergänzt Achtsamkeit um die wichtige
Funktion eines inneren Leibwächters. Denn neben einer Offenheit für die Welt sollte man sich auch
verschließen und schützen können gegenüber allem, was verführen und ausnutzen will.
O-Ton Ursula Nuber:
Dass ich sagen kann: okay, das ist Dein Sinn, aber nicht meiner. Dass ich das genau
differenzieren kann und nicht hineingezogen werde in diesen Sinn des anderen. Insofern
schützt der Eigensinn unsere seelische und körperliche Gesundheit. Ohne diesen Eigensinn
fehlt uns eine Art seelisches Immunsystem, was die schädlichen Bakterien und Viren von
außen abhält, die tagtäglich auf uns einströmen.
Sprecherin:
Bei einem gut funktionierenden inneren Leibwächter übernimmt auch Stress seine eigentlichen
Funktionen. Normaler Stress erhöht die Widerstandskraft, trainiert den Körper, stärkt Immunsystem
und Denkleistung, und ist das beste Mittel bei chronischem, ungesundem Stress.
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O-Ton Raimar Pilz:
Ich verstehe Stresssituationen als Antrieb, als Ansporn. Um am Abend zufrieden zu sein, aber
ich brauche das Ganze auch, weil mir sonst was fehlen würde. Es ist so in der Küche, wenn
man diesen Kick bekommt, und das Ganze funktioniert auf einmal, und jedes Zahnrad greift in
das nächste ein, dann kommt man in so einen Flow. Und dieser Flow, das ist das Schönste,
was man beim Kochen erreichen kann. Dann scheint es wie von alleine zu funktionieren. Man
muss dann nur noch dirigieren und steuern. Aber das andere, die körperliche Anstrengung,
das tritt auf einmal in den Hintergrund. Das ist ein wahnsinnig schönes Gefühl.
Zitator:
Stress, den ich kennengelernt habe, macht nicht ruppig, sondern fröhlich. Er macht nicht dick,
sondern schlank. Er macht uns nicht blass und müde, sondern frisch und wach. Nicht kurzatmig und
gereizt, sondern fit und entspannt. Und vor allem macht er uns nicht stumm. Sondern richtig schön
laut. Es gibt gute Gründe, ihn als eine Art Würze zu sehen. Ich versichere Ihnen: Stress ist das
Beste, was uns im Leben passieren kann.
Urs Willman Stress. Ein Lebensmittel
O-Ton Raimar Pilz:
Wenn man ausstrahlt, dass man über sein Tun sehr gut Bescheid weiß, dass jeder Handgriff
sitzt, dass am Ende etwas entsteht, was 100% Qualität hat, was es versprochen hat. Dann ist
auch so eine Souveränität ansteckend.
O-Ton Ursula Nuber:
Das ist der Kern, wie wir Stress meistern können, dass wir darauf achten und schauen: wieso
fühle ich mich hilflos, fühle mich dem ausgeliefert? Bin ich wirklich ein Opfer? Kann ich da was
dran ändern? Wenn wir wieder Handelnde werden, wenn wir selbstwirksam uns erleben: also ich
kann was bewirken. Sowohl im Stress, weil ich was tue leiste kann. Als auch dass ich mir den
Stress so zurechtbiege, beeinflusse, wie ich es für richtig halte, nämlich durch einen eigenen
Sinn. Dann bin ich nicht hilflos, bin kein Opfer. Dann führt nicht der Stress die Regie, sondern ich
sitze im Regiestuhl.
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