Manuskript

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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Die behinderten Abenteuer des Herrn P.
David Paulitschek erzählt über sich und seinen Aufenthalt in einer Rehaklinik
Autor:
David Paulitschek
Redaktion:
Petra Mallwitz
Regie:
Maria Ohmer
Sendung:
Mittwoch, 31.08.16 um 10.05 Uhr in SWR2
Wiederholung aus dem Jahr 2014
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MANUSKRIPT:
Ansage:
David Paulitschek sitzt im Rollstuhl. Er ist jetzt 29 Jahre alt, die Krankheit begann mit
14. Muskelschwund. Sein Alltag ist dadurch ziemlich eingeschränkt und die
Sehnsucht nach einem Ort, der Entspannung bietet, umso größer. Während sich
andere auf ihren Urlaub freuen, freut er sich auf vier Wochen Rehaklinik. Doch zu
früh gefreut. Den letzen Aufenthalt hat er nur überstanden, indem er darüber
geschrieben hat.
Die behinderten Abenteuer des Herrn P.
David Paulitschek erzählt über sich und seinen Aufenthalt in einer Rehaklinik
Erzähler:
Herr P. sitzt in seinem Rollstuhl auf dem Parkplatz der Klinik und wählt die Nummer
der Aufnahme. Er sei jetzt angekommen und könne wie vereinbart abgeholt werden.
Die Dame an der Rezeption meint, er solle doch einfach reinkommen. Herr P. erklärt,
dass er mit seinem Rollstuhl nur kurze Strecken selbst fahren kann. Achso, sagt die
Dame, als höre sie davon zum ersten Mal. Das sei allerdings ein Problem. Um ihn
herum wirbelt der von einem Gärtner aufgewehte Staub. Zehn Minuten passiert gar
nichts. Der Laubbläser verstummt und beginnt erneut zu dröhnen. Nochmal fünf
Minuten. Dann sieht Herr P., wie sich die Schiebetüren öffnen und eine kleine Frau
im Kittel erscheint. Die Putzfrau. Sie schiebt ihn zur Aufnahme.
Petra Mallwitz:
Herr Paulitschek, Herr P. das sind Sie, oder?
David Paulitschek:
Ja, würde ich schon sagen.
Petra Mallwitz:
Warum haben Sie in der dritten Person geschrieben?
David Paulitschek:
Also, die Entscheidung in der dritten Person zu schreiben war, glaube ich, keine
bewusste. Es schien mir aber, nach diesen Erlebnissen, also als ich wieder zuhause
war und die Notizen durchgesehen hatte, der einzige Weg mich der Situation noch
mal zu nähern. Weil ich auch ein Mittel gesucht habe, irgendwas zwischen mich und
diese Erlebnisse zu schieben, die mir schon sehr nahe gegangen sind.
Petra Mallwitz:
Das war ja, wenn wir jetzt mal auf den ersten Text eingehen, kein ganz optimaler
Start. Was war denn da los? Warum konnten die Sie nicht einfach abholen?
David Paulitschek:
Mir wurde gesagt, am Telefon, dass die Pfleger nicht befugt sind außerhalb der Klinik
einen Rollstuhl zu schieben. Ich gehe davon aus, dass das ein
versicherungstechnisches Problem war. Und dieser Versicherungsschutz, der
herrscht offensichtlich nur innerhalb der Klinik.
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Petra Mallwitz:
Und Sie haben sich zum ersten Mal gewundert, in diesem Klinikaufenthalt.
David Paulitschek:
Ja, ich habe mich eigentlich, vor diesem Klinikaufenthalt zum ersten Mal gewundert,
denn diese Szene fand ja auf dem Parkplatz statt, bevor ich überhaupt mich
angemeldet hatte. Und das, obwohl ich Wochen vorher schon in Gesprächen
versucht habe herauszufinden, ob diese Klinik eben dafür ausgerüstet ist und ob das
möglich ist, dass da jemand kommt, der selbst im Rollstuhl nicht ganz so fit und
selbstständig ist. Und von jeder Stelle hieß es, das sei alles kein Problem „und das
hätten wir öfters hier und darum kümmern wir uns schon“.
Petra Mallwitz:
Und so war’s dann aber nicht. Wie kamen Sie eigentlich auf diesen Parkplatz?
Fahren Sie selbst noch Auto?
David Paulitschek:
Ich fahre Auto, ich habe ein umgerüstetes Auto, bei dem ich eigentlich alles mit den
Händen machen kann. Habe hinter dem Fahrersitz so einen kleinen Kran, der
meinen Rollstuhl rein lädt. Also ich bin selbstständig mobil mit dem Auto und bin
natürlich angewiesen auf Behindertenparkplätze und so weiter.
Petra Mallwitz:
Und dann fuhren Sie also mit ziemlich großen Erwartungen in diese Klinik.
David Paulitschek:
Zumindest meine Hoffnung war nicht ganz klein, dass ich dort an einen Ort geraten
könnte, an dem ich, na ja, mir mal so die Sorgen des Alltags ersparen kann, also
dass mir bestimmte Dinge, die mich im Alltag anstrengen, abgenommen werden,
gewisse Hilfen geleistet werden, die mich unterstützen. Ja, dass ich so aus der
Abhängigkeit von dieser Krankheit so ein stückweit mich befreien kann. Also
vielleicht sogar ein bisschen Urlaub machen könnte, von der Krankheit.
Erzähler:
Mit 20 hat Herr P. seine erste Reha gemacht, in einer Klinik für Jugendliche. Die
schönste Erinnerung daran ist das Gefühl der Normalität, weil in der Klinik seine
Krankheit selbstverständlich war. Jetzt, mit 27, ist er zum ersten Mal in einer Klinik für
Erwachsene. Hier sind die meisten Patienten über siebzig: Schlaganfall;
Oberschenkelhalsbruch; Demenz; und immer wieder Hüfte.
Herr P. ist der einzige mit Muskelschwund. Das heißt, auch unter den Kranken nicht
normal. Aber deswegen ist er doch hierhergekommen, auf der Suche nach
Normalität. Natürlich, etwas besonderes sein, hervorstechen, das gefällt auch ihm.
Aber eben nicht, wenn es aufgrund seiner Krankheit ist.
Der nächste Tag, und wieder wundert sich Herr P. Ihm wird mitgeteilt, dass man ihn
nicht in den Speisesaal schieben könne. Er habe ja keine Pflegestufe. Und Leute aus
der Geriatrie essen sowieso nicht im Speisesaal. In der Geriatrie ist er gelandet, weil
nur hier ein Zimmer frei war, in das seine eigene, mitgebrachte Matratze passte. Erst
Mal muss er auf Station essen, zwischen stummen Mitpatienten, die langsam kleine
Bissen zum Munde führen oder gefüttert werden.
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Am Nachmittag würde er gerne schwimmen gehen. Ob Schwimmen denn auf seinem
Therapieplan stehe? fragt die Pflegerin. Der Therapieplan würde vom behandelnden
Arzt erstellt. Ohne ärztliche Beurteilung kein Versicherungsschutz. Und ohne
Versicherungsschutz Schwimmbadverbot. Im Fall von Herrn P. dauert es eine
Woche, bis der Plan kommt. Eine Woche nicht nur kein Schwimmen, sondern auch
keine Therapien, weder für den Körper noch für den Geist.
Petra Mallwitz:
Eine ganze Woche hat es gedauert bis Sie Ihre erste Anwendung bekommen haben.
Das kann man sich gar nicht vorstellen.
David Paulitschek:
Nein, das kann man sich nicht vorstellen, zumal wenn man weiß, dass diese Woche
die Krankenkasse jeden Tag Geld kostet. Also das war eine Sache, die mich fast
wütend gemacht hat, und mir auch ein schlechtes Gewissen bereitet hat, dass ich da,
na ja, in dieses Krankenhaus komme und Geld koste, ohne dass irgendwer was
davon hat, außer vielleicht der Klinik, die eben für diese Tage und für dieses gefüllte
Bett, das ich dort belegt habe, na ja, die 230 bis 260 Euro pro Tag erhält.
Petra Mallwitz:
Also wirklich eine Anklage, jetzt speziell dieser Klinik oder passiert sowas öfters?
David Paulitschek:
Ich glaube, dass so was sehr häufig vorkommt. Ich glaube aber auch, dass diese
Klinik ein extremes Negativbeispiel darstellt, ganz einfach weil ich mich, na ja, wegen
meiner relativ seltenen Erkrankung dort Leuten ausgesetzt sah, die damit eigentlich
nichts anfangen konnten.
Petra Mallwitz:
Obwohl Sie versucht haben vorher sich auch zu erkundigen?
David Paulitschek:
Genau. ((Also das Problem ist, dass man im Vorfeld nur ganz selten von Kliniken
eine Absage bekommt. Also ich habe Ärzte angerufen und so weiter, und nur ganz
wenige sind so ehrlich zu sagen: „Nein, also tut uns leid, Herr P. mit Ihnen können
wir nichts anfangen oder hier sind Sie nicht richtig.)) (evt. kürzen. Die Info kommt am
Ende noch mal)
Die Klinik, in der ich gelandet bin, die hatte im Internet so ein ganz gutes Standing.
Da hieß es die hätten im Jahr 50 bis 100 muskelkranke Patienten, was eigentlich ein
relativ hoher Wert ist und als ich dann dahin gekommen bin, habe ich gehört, dass
die meisten Krankengymnasten noch nie so einen Fall oder so einen Körper wie mich
in den Händen hatten und dass die Klinik in diesem Jahr, wenn es hoch kam zwei
vergleichbare Fälle aufgenommen hatte.
Petra Mallwitz:
Reden wir mal über Ihre Krankheit.
Sie haben Muskelschwund, diese Krankheit, wann hat die bei Ihnen begonnen?
David Paulitschek:
Meine Krankheit ist genetisch, ich habe sie von der väterlichen Seite vererbt
bekommen und ausgebrochen bei mir ist sie im Alter von 13, 14 Jahren.
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Petra Mallwitz:
Ihr Vater hat auch Muskelschwund?
David Paulitschek:
Rein genetisch gesehen, ja, allerdings ist es bei dieser Form so, dass sie sehr
unterschiedliche Ausprägungen haben kann. Das heißt, mein Vater ist weit davon
entfernt als Behinderter zu gelten. Er hat höchstens Probleme eine Glühbirne über
dem Kopf einzudrehen, kann aber ansonsten alles machen.
Petra Mallwitz:
Das heißt, er wusste nicht, dass er eventuell an seine Kinder etwas vererben kann,
oder jedenfalls nicht das Ausmaß in dem, was er vererben kann?
David Paulitschek:
Also Anfang der 80er wusste man auch noch nicht so viel darüber. Sein Vater, also
mein Opa, ist selbst Arzt und dennoch sind sie von Praxis zu Praxis gegangen, und
keiner wusste so recht was das ist.
Petra Mallwitz:
Was ist es denn? Was ist Muskelschwund? Also ich glaube, viele setzen das mit
Multiple Sklerose gleich und genau das ist falsch, oder?
David Paulitschek:
Genau das ist falsch.
Also es ist ganz interessant, wenn ich sage: „Ich habe Muskelschwund“, dann
antworten die meisten Leute, die keine Ahnung haben: „Ah, MS, gell.“ Und dann
habe ich eben von MS-Patienten gehört, dass wenn sie sagen, sie haben MS, dann
antworten die Leute: „Ah, Muskelschwund.“ Und tatsächlich unterscheiden die beiden
sich aber ganz erheblich. Also MS ist eine entzündliche Erkrankung des
Rückenmarks und ich habe eine Muskeldystrophie, die im Prinzip, verkürzt gesagt,
ein Stoffwechselproblem in jeder einzelnen Muskelzelle ist. Das heißt, ein
bestimmtes Enzym kann nicht ganz korrekt umgesetzt werden, das zum
Muskelaufbau verwendet wird.
Petra Mallwitz:
Und eine Zeitlang Ihres Lebens hatten Sie ganz normale Muskeln und dann
irgendwann hat das angefangen?
David Paulitschek:
Genau. Also, ich war eigentlich bis ich 12, 13 war frei von Symptomen und bei mir ist
man eigentlich überhaupt nicht davon ausgegangen, dass da irgendwas ist, weil ich
ein ganz normaler Junge war, der vielleicht ein bisschen überdurchschnittlich
körperlich begabt war, was Sport und so weiter angeht.
Petra Mallwitz:
Sogar überdurchschnittlich begabt.
David Paulitschek:
Ja.
Ja, das würde ich schon sagen. Aber das ist vielleicht sogar weniger wichtig, wie der
Umstand, dass ich die Bewegung und alle körperliche Aktivität sehr geliebt habe.
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Petra Mallwitz:
Und woran haben Sie dann gemerkt, dass sich da was verändert?
David Paulitschek:
Also, es hat zunächst angefangen im Schultergürtel. Ich kann mich erinnern, wie mir
irgendwann schwer gefallen ist einen Handstand zu machen und
Handstandüberschlag. Das sind Sachen, die ich immer so wie selbstverständlich
konnte. Und irgendwann hat die eine Schulter angefangen da so leicht einzuknicken.
Und dann ging es so allmählich vorwärts oder rückwärts, je nachdem wie man’s
sieht. Und irgendwann ist es mir schwerer gefallen zu rennen und irgendwann konnte
ich gar nicht mehr rennen. Und das ging aber alles über einen Zeitraum von
bestimmt fünf, sechs Jahren. Und, na ja, heute bin ich bei längeren Gehstrecken auf
den Rollstuhl angewiesen.
Petra Mallwitz:
Mit 14 wurde es diagnostiziert. Wie hat das Ihr Leben verändert?
David Paulitschek:
Die Antwort ist nicht ganz so einfach, weil ich nicht durch irgendwie einen Unfall aus
dem Leben gerissen wurde.Ich habe, glaube ich, gespürt da ist immer was, was mich
zurückhält. Und das hat mir auch Angst gemacht. Also dass ich als 14- oder
15-Jähriger darüber nachdenken musste plötzlich: Wie komme ich mit einer
Krankheit klar, die mich eventuell irgendwann an den Rollstuhl fesselt? Und solche
Fragen, die kann man, dafür braucht man ein ganzes Leben, wenn man überhaupt
eine Antwort findet, aber als 14-Jähriger oder 16-Jähriger, da ist das schon eher
schwierig. Und deswegen habe ich das nicht so unbedingt an mich rangelassen. Also
ich habe mich eher darauf konzentriert, was zu finden, bei dem ich, na ja, ein
ähnliches Glücksgefühl erreichen könnte wie bei der Bewegung.
Petra Mallwitz:
Und was war das?
David Paulitschek:
Ich bin noch auf der Suche.
Aber das Suchen macht Spaß.
Petra Mallwitz: Sie haben nach dem Abitur studiert: Philosophie und Geschichte,
und Ihr Studium 2009 abgeschlossen. Was haben Sie seitdem beruflich gemacht?
David Paulitschek:
Ich habe eine ganze Menge, also ich habe mich in allen möglichen Richtungen
ausprobiert und das sind so inzwischen, haben sich drei davon raus kristallisiert, das
ist das Sprechen, also das stimmliche Gestalten von Texten, das Schreiben und
ganz aktuell auch noch das Choreografieren.
Petra Mallwitz:
Choreographieren, das ist ja was sehr Besonderes, wenn man im Rollstuhl sitzt.
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David Paulitschek:
Auf der einen Seite ja, auf der anderen auch nicht, weil ich natürlich einen sehr
konsequenten Blick auf den Körper habe und auch eine sehr große Abhängigkeit
vom Körper habe. Und ich habe gemerkt, dass das Denken, in gesunden Körpern,
also wenn ich versuche in gesunden Körpern zu denken und in gesunden
Bewegungen oder in natürlichen Bewegungen, die übrigens auch von einem
behinderten Körper gemacht werden können, dass das meinem Körper unheimlich
gut tut und ihm ein Stück des, na ja, lange verloren geglaubten Glücks zurückgeben
kann.
Erzähler:
Es sind nicht Herrn Ps. Beschwerden, die den Oberarzt bei der Visite interessieren,
sondern der halbnackte Körper. Dr. Barmer findet nämlich, das sei ein
„faszinierender Fall. Ein absolut untypischer Krankheitsverlauf“ und er möchte gerne
wissen, ob Herr P. nicht vielleicht auch andere Krankheiten hat, denn so etwas hätte
er noch nie gesehen. Mit großen Augen betrachtet er die Schulterblätter, eine
lehrbuchartige scapula alata. Jetzt erst bemerkt Herr P. die kleine Dame hinter dem
Arzt. Sie wagt sich nun aus der Deckung und erklärt mit hoch erhobenem
Kugelschreiber, der Terminus bedeute so viel wie „Engelsflügel“. Herr P. lächelt
wegen der niedlichen Übersetzung, und erklärt sich bereit, als Anschauungsobjekt zu
dienen.
Petra Mallwitz:
Was meint der Arzt mit einem ungewöhnlichen Krankheitsverlauf?
David Paulitschek:
Ja, die Frage ist echt gut, weil gerade die Diversität in dieser Art von Krankheit sehr
groß sein kann.
Petra Mallwitz:
Aber, dass ein Arzt fasziniert sein kann, von einem Krankheitsbild, was er so jetzt
noch nicht gesehen hat, können Sie schon nachvollziehen, oder?
David Paulitschek:
Ja, das kann ich sehr gut nachvollziehen und ich find’s auch schön, wenn Ärzte, oder
überhaupt Menschen, in ihrem Beruf neugierig und begeistert oder
begeisterungsfähig sind. Was mich hier so sehr irritiert hat, ist einfach, dass ich ja in
eine Klinik gekommen bin, von der ich gehofft hatte, dass ich dort nicht zum ersten
Mal ein Patient mit Muskelschwund bin, sondern dass da schon eine gewisse
Erfahrung herrscht. Und das war nicht der Fall.
Das heißt, ich bin dahin gekommen und war etwas ganz Besonderes. Und das
möchte man eigentlich nicht sein, wenn man hofft sich in wissende Hände zu
begeben.
Petra Mallwitz:
Wie selbstständig können Sie heute eigentlich leben? Wie leben Sie?
David Paulitschek:
Ich lebe alleine, in meiner eigenen Wohnung, habe aber jemand, der mir den
Haushalt macht und einkauft, so.
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Bin aber sonst, ansonsten noch sehr selbstständig, habe mir, ich habe mir letztens
eine Waschmaschine gekauft, und das hat mich sehr erfreut. Also der Grat zwischen
Abhängigkeit und Unabhängigkeit ist sehr schmal. Und man möchte jedes kleine
Fitzelchen, das einem die Unabhängigkeit noch oder die Selbstständigkeit
aufrechterhält, am Leben erhalten so lange wie’s irgendwie geht. Aber man möchte
sich natürlich darin auch nicht überanstrengen. Also es hat keinen Wert, wenn einem
dann keine Kraft mehr für irgendwas anderes bleibt.
Petra Mallwitz:
Wie funktioniert das finanziell?
David Paulitschek:
Hartz IV. Und einen ganz kleinen Betrag, sogenannte Eingliederungshilfe.
Erzähler:
In der Autorität des Krankenhauses hat er nun einen Fürsprecher und wird auf
Station nicht mehr belächelt, sondern respektiert. Ein Zeichen dafür gibt es am
vierten Tage: Man präsentiert ihm einen Elektrorollstuhl, mit dem er sich nun selbst
durch die Gänge bewegen und hinunter in den Speisesaal fahren kann. Er nimmt
darin Platz, gibt Gas, und für die Zeit eines Wimpernschlags blüht die Erinnerung an
fast vergessene Geschwindigkeiten. Rennen, Springen, Skifahren.
Herr P. zögert keine Sekunde. Das Ziel seiner Jungfernfahrt ist das verbotene
Schwimmbad. Er parkt neben den Umkleidekabinen und steht langsam auf. Die
Fliesen sind spiegelglatt. Er denkt an eine Ente, die über einen zugefrorenen Teich
watschelt. Mit jedem Schritt misst er den Energiehaushalt, der ihm für das Gekraxel
zur Verfügung steht. Langsam schrumpft die Entfernung zum warmen Wasser, und
mit ihr auch die Bedrohung des Wortes Versicherungsschutz. Beschwipst vor Freude über das Unerlaubte kehrt er zurück.
Schwester Gertrud merkt nichts von seinem Ausflug. Die nassen Haare hat er mit
einer Mütze bedeckt. Streng sieht sie ihn an und sagt, dass sie angesichts seiner
neuen Mobilität nun „wirklich keine Klagen mehr hören möchte“. Herr P. braust
davon. Die Stimme in seinem Kopf aber fordert etwas ganz anderes:
„Fahr ihr in die Hacken! Komm! Voll rein, in die Hacken!“
Wenige Tage später steuert Herr P. sein Rettungsboot meisterhaft durch den Strom
der Rehabilitanden. Vor allem die alten Leute sind fasziniert von der technischen
Raffinesse, die durch die glatten Flure gleitet und sich geräuschlich nur ankündigt,
wenn man ihr auch in den Kurven die Sporen gibt. Dann lächeln die meisten
Zuschauer ihm nach. Obwohl er sich selbst nicht bewegt, ist sein Körper nun
schneller unterwegs als die meisten Fußgänger. Er ist hier der einzige mit
Elektrorollstuhl.
Auf dem langen Gang drückt Herr P. den schwarzen Stick an seiner rechten
Armlehne ganz nach vorne und will das äußerste aus dem 120 Kilo-Panzer
herausholen, die ultimativen sechs km/h. Davonbrausen vor den Blicken. Und vor
dieser Angst, die ihn als hilflosen, im besten Falle fahrenden Knochenhaufen
darstellen will. Ein Mann kommt ihm strammen Schrittes entgegen und sagt, verblüfft
ob der Geschwindigkeit: „Mensch, ich beneide Sie!“ „Ich Sie auch!“ antwortet Herr P.
Petra Mallwitz:
Der Mann hat in dem Moment offenbar nicht realisiert, dass Sie keine Wahl haben,
oder?
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David Paulitschek:
Ich glaube, dass er’s gerade in dem Moment realisiert hat, als er’s gesagt hatte. Aber
der Mann war trotzdem so nett sich am nächsten Tag beim Frühstücksbuffet dafür zu
entschuldigen.
Petra Mallwitz:
Ach, schön. Sie sitzen jetzt hier vor mir im E-Rolli. Kam die Inspiration dafür aus der
Klinik?
David Paulitschek:
Ich saß ja damals zum ersten Mal in so einem Teil und habe gemerkt, dass es
ziemlich viele Vorteile hatte, weil ich dadurch Kraft sparen konnte, auf Wegen.
Insofern hat’s vielleicht ein bisschen von dem Schrecken genommen, vor dem ich
mich gefürchtet habe. Also, weil das ist ja ein Riesenschritt, sich in einen
Elektrorollstuhl zu setzen und nicht mehr, also sich überhaupt nicht mehr, körperlich
zu betätigen, beim Fortbewegen.
Petra Mallwitz:
Und jetzt schätzen Sie ihn aber und würden ihn nicht mehr missen wollen?
David Paulitschek:
Ja, ich schätzte ihn. Weil er mir einfach ermöglicht mich draußen auf die Dinge zu
konzentrieren, zu denen ich gerne hin möchte. Also im Museum von einem Bild zum
nächsten zu fahren ohne drüber nachzudenken wie viel Kraft ich dafür aufwende.
Erzähler:
Herr P. möchte in der Reha auch ein bisschen über sich und seine Krankheit
sprechen. In den vier Wochen, die er hier verbringt, hat er dafür eine viertel Stunde
beim Psychologen und eine halbe Stunde bei Herrn Adam vom Sozialdienst. Dieser
sitzt da mit zusammen gekniffenen Augen, neigt leicht seinen Kopf, trägt ein
irgendwie spöttisches Lächeln auf den Lippen und konfrontiert seinen Besucher mit
allerlei Fragen zu dessen Lebensverhältnissen. Herr P. hat den Eindruck, Herr Adam
wolle ganz bestimmte Antworten erhalten und frage deshalb immer weiter. Ob er
denn wirklich noch alleine leben könne? Ob er seine Wohnung wirklich sauber halten
könne? Wie er sich das denn vorstelle, in seiner Zukunft? Und ob er eigentlich in
seinem Studium, denn das sei ja schon anstrengend, „so à la Guttenberg“
geschummelt habe.
Herrn P. entweicht das innere Lachen nach außen, und Herr Adam schaut ziemlich
böse drein. Schnell sagt Herr P., dass sie doch auch ein ganz normales Gespräch
führen können.
Am Ende der Sitzung ist Herr Adam nicht mehr ganz so patzig, und rechtfertigt seine
gut gemeinten Sticheleien: „Tja, wissen Sie, 90 % meiner Besucher sind doppelt oder
dreimal so alt wie Sie, manchmal verwirrt und deprimiert und kommen aus einer
einschneidenden Veränderung, die sie, nicht unbedingt annehmen wollen. Ich wollte
also auch Sie ein wenig aus der Reserve locken...“
Petra Mallwitz:
Gibt es irgendetwas, was Sie aus dieser Zeit gelernt haben?
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David Paulitschek:
Ich bin im Bewusstsein da weggefahren, dass das vielleicht jetzt physiotherapeutisch
nicht unbedingt so sinnvoll war, aber dass es mir auf einer sozialen oder
psychologischen Ebene eine ganze Menge gegeben hat, einfach … Also, es lag vor
allem an den Mitpatienten, die die Situation dort vor Ort sehr ähnlich wahrgenommen
haben. Also, ich glaube, wenn ich der Einzige gewesen wäre, der das System da
kritisiert hätte, dann hätte ich mich ganz stark hinterfragen müssen, ob das vielleicht
nicht nur an mir liegt und ob ich der ewige Nörgler bin, der sich einfach da nicht
einpassen will. Ich bin bestimmt ein aufmüpfiger Charakter, aber ich bin auch bereit,
ja, oder sagen wir mal, ich bin nicht bereit einen Zustand zu akzeptieren, von dem ich
weiß, dass er viel, viel besser sein könnte.
Petra Mallwitz:
Sie hatten ja relativ hohe Erwartungen oder Hoffnungen, was diesen Klinikaufenthalt
betraf. Hat sich das für den nächsten Klinikaufenthalt geändert? Was würden Sie
anders machen?
David Paulitschek:
Also ich würde meine Erwartungen runter schrauben. Aber in der Auswahl der Klinik
könnte ich nicht viel anders machen, weil das System so unübersichtlich und schwer
zu durchschauen ist, für einen Patienten – und ich halte mich für einen, der sich
relativ gut auskennt und auch, na ja, die Fähigkeit besitzt zu recherchieren – aber
von außen hat man ganz schwer die Möglichkeit wirklich wahrzunehmen was
hinterher in der Klinik passiert. Also es kommt ganz selten vor, dass mal ein Arzt am
Telefon sagt: „Wir sind für Ihren Fall nicht ausgestattet.“ Und so eine Ehrlichkeit, die
wünscht man sich eigentlich.
Erzähler:
Für Herrn P. sind die vier Wochen Reha um. Der Rückweg über die Autobahn führt
ihn vorbei an einer unendlichen Schlange aus Blech; langsam schieben sich die
Sommerurlauber auf der Gegenseite nach Hause. Herr P. kommt sich vor wie ein
Geisterfahrer. Aber das ist schon in Ordnung. Er bewegt sich zwar in eine andere
Richtung, aber doch auf der gleichen Straße. Er ist ein Teil vom Ganzen - ein kleines
bisschen normal.
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