ERFAHRUNGSBERICHT (Clara v. Harling, Rechtswissenschaften) University of Helsinki, Finnland Betreuungspersonen: Sybille Schneiders (Freiburg), Mervi Muru (Helsinki) Vor dem Auslandsaufenthalt Ich war mir lange nicht sicher, ob ich überhaupt Erasmus machen möchte, geschweige denn, in welchem Land und in welcher Stadt. Letztlich war wohl das entscheidende Handlungsmotiv, dass ich mich nicht nicht trauen wollte, dass das im-Ausland-gelebt-haben eben mittlerweile dazugehört und dass es eine Erfahrung ist, die ich persönlich in meinem Leben gebraucht habe. Wenn man für sich die große Entscheidung getroffen hat, steht man vor der nächsten Wahl, nämlich derjenigen des Zielortes, und diese Wahl hat vermutlich den bedeutendsten Einfluss auf das Auslandsjahr. In Freiburg werden einem extrem viele Möglichkeiten in ganz Europa geboten, aber auch nicht-EU-Mitglieder wie die Türkei oder Norwegen halten Plätze an ihren Universitäten für uns bereit. Das bedeutet einerseits, dass man eine große Freiheit bei dieser wichtigen Entscheidung hat, andererseits, dass man sich mit den verschiedenen Auswahlmöglichkeiten mehr auseinandersetzen sollte, um eine optimale Wahl zu treffen. Helsinki war meine Erstwahl. Ich wollte in Europa bleiben, aber möglichst weit weg von Deutschland leben, ich wollte in ein Land, über das ich nicht viel wusste und das anders war als das, was ich kannte, aber nicht so anders, dass man völlig verloren sein würde. Finnland war für mich die perfekte Wahl. Die geographische Lage zwischen Skandinavien, Russland und den baltischen Staaten ist hochinteressant und bietet sehr unterschiedliche Reiseziele in der Umgebung. Das Land selbst hat eine unheimlich faszinierende Landschaft, Sprache und Kultur, krasse Kontraste zwischen den Jahreszeiten und Stadt und Land, schweigsame, aber absolut verrückte Menschen und einige gewöhnungsbedürftige Eigenarten wie die Karaoke-Bars, die Saunas oder einfach die kehlig-weiche Sprache, die sonst niemand versteht. Zur Einstimmung habe ich mir zwei Bücher über Finnland durchgelesen, die „Gebrauchsanweisung für Finnland“ von Roman Schatz und den „Fettnäppchenführer Finnland“ von Gudrun Söffker, wobei ich besonders ersteres sehr empfehlen kann. Außerdem habe ich versucht, mir Finnisch anhand eines Lehrbuches („Yksi, Kaksi, kolme“) und mit einem finnischen Freund selber beizubringen, was aber nur mäßig funktionierte. Aber zu der Sprache später mehr. Zu der sonstigen organisatorischen Vorbereitung kann ich sagen, dass alles sehr viel und sehr unübersichtlich erschien, im Endeffekt aber doch gut zu machen war. Erasmus ist einfach ein Bürokratie-Monster, damit muss man sich leider abfinden. Dafür hat es andere Vorteile. Immer dem Auslandsbüro folgen. Etwas ärgerlich war die Wohnheimplatzvergabe. Mithilfe des Erasmus-Programmes kann man relativ einfach einen Wohnheimplatz in Helsinki bekommen, bei diesem handelt es sich allerdings mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9% um einen Platz im Studierendenwohnheim „Domus Academica“, selbst wenn man angibt, in eine WG außerhalb der Stadt ziehen zu wollen. Das Wohnheim hat eine super Lage, man ist in einer Viertelstunde in der Uni, das Zentrum, das Shoppingcenter „Kamppi“ (in dem sich auch ein überlebenswichtiger LIDL befindet!) und auch das Meer sind fußläufig zu erreichen, aber in dem Wohnheim sind nur Einzelappartements zum Preis von 600€ pro Monat beziehbar und es wohnen auch nur andere Erasmus-Studierenden (die im Zweifel auch noch Jurist*innen sind) im Haus. Das ist einerseits nett, andererseits verstärkt es aber den Erasmus-Bubble-Effekt, nach dem man kaum finnische Studierende kennenlernt und nur mit anderen Austausch-Studierenden rumhängt (was ja auch nett sein kann). Trotzdem würde ich empfehlen, sich irgendeine andere Wohnmöglichkeit zu suchen, die billiger und finnischer ist, am besten vielleicht in Kallio, dem „Kreuzberg von Helsinki“. Ich hatte das Glück, auf einer WG-Party in Freiburg einen finnischen Jurastudenten kennenzulernen, der zu dieser Zeit Erasmus in Freiburg gemacht hat. Wie bereits erwähnt hat er mir erste Brocken Finnisch beigebracht und versucht, mich etwas darauf vorzubereiten, was da auf mich zukommen würde. Dieser Finne war schließlich auch zur selben Zeit wie wir wieder in Helsinki, war dort sehr aktiv in der Fachschaft und hat uns andauernd zu finnischen Partys, aber auch in die Sauna und zum großen Vappu-Feiern mitgenommen, sodass wir im Gegensatz zu vielen, vielen anderen Erasmus-Menschen nicht nur Finnen und Finninnen kennenlernen, sondern auch die finnische Kultur von einer ganz anderen Seite sehen konnten, was ohne finnische Freund*innen aus der „Erasmus-Bubble“ heraus doch schwieriger ist. Wenn ihr schon wisst, dass ihr nach Finnland geht, kann ich euch nur dringendst anraten, nach finnischen ErasmusMenschen in Freiburg zu suchen. Es macht einen himmelweiten Unterschied, wenn man dort schon Freunde oder Freundinnen hat. In Helsinki Ich habe meinen Platz an der Uni und im Wohnheim bekommen, den Flug gebucht und schließlich ging es Ende August los. Auch hier war die Koordination etwas ungeschickt, denn obwohl die verpflichtende Orientierungswoche bereits Ende August begann, konnten wir die Appartements im „Domus“ erst ab September beziehen. Statt für horrende Preise schon früher einzu- ziehen schlief ich also erstmal acht Tage im Hostel „Erottajanpuisto“ in einem Mehrbett-Zimmer, was einerseits etwas anstrengend sein kann, wo man andererseits aber auch sofort ganz viele andere gestrandete Domus-Bewohner*innen traf. Das Hostel kann ich nur weiterempfehlen. Während der Orientierungswoche lernt man dann allmählich die neuen Leute kennen, erhält viele nützliche Infos zur Uni und dem Alltag und wird allgemein sehr gut betreut. In Helsinki habe ich generell sehr gute Erfahrungen als Erasmus-Studentin gemacht. Alle sprechen perfektes Englisch, sind sehr hilfsbereit und es wird sich sehr um uns bemüht. Gerade zu Anfang gab es einige Ausflüge, Partys und finnische Abende, außerdem hat man einen Tutor oder eine Tutorin, die sich (optimalerweise) während des gesamten Jahres um einen kümmern, und auch sonst ist alles (nicht zuletzt durch die übersichtlichen Online-Dienste) sehr organisiert. Leider mussten wir bei der Kurswahl viele Änderungen vornehmen, da sich der Studienplan im Vergleich zum letzten Jahr sehr verändert hatte, die Kurse waren aber alle sehr informativ und spannend, die Lehrkräfte extrem charismatisch und hilfsbereit und auch die Lehrinhalte von klassischen „Human Rights“ bis zu „International Film and Television Agreements“ sehr vielfältig. Als Dozent*innen kann ich Jarna Petman, Eleonora del Gaudio, Matti Joutsen und Kevin Frazier empfehlen. In Helsinki muss man sich klar sein, dass der Arbeitsaufwand womöglich deutlich höher liegt als bei anderen Partnerunis. Fast jeder Kurs hat Anwesenheitspflicht, eine Abschlussklausur und/oder Learning Diaries, Take-Home-Examen oder sonstige Prüfungen. Die Kurse sind unterschiedlich anspruchsvoll, jedoch alle (bis auf den oben genannten FilmKurs) „nicht ohne“. Dafür kommt man wesentlich gebildeter als zuvor zurück, ganz besonders in Bereichen, die ein klassisches deutsches Jura-Studium vielleicht nicht so sehr abdeckt, und fühlt sich auch im Fach-Englischen deutlich sicherer. Natürlich habe ich versucht, in Finnland auch Finnisch zu lernen, ich war sogar hochmotiviert, musste jedoch relativ schnell einsehen, dass dieses Unternehmen hoffnungslos sein würde. Die Sprache ist einfach wahnsinnig schwierig und (außer vielleicht für absolute Sprach-Genies?) in der kurzen Zeit nicht lernbar. Stattdessen habe ich allerdings Schwedisch, also die offizielle zweite Amtssprache Finnlands, gelernt, und das kann ich nur allen empfehlen. Ich habe zwei Semester lang einen Kurs beim Sprachlehrinstitut belegt, der ungefähr fünf Stunden pro Woche fordert, und als Endergebnis habe ich das Sprachlevel B2 – als Deutsch- und Englisch-Sprachige kann einem die Sprache nur leicht fallen. In Finnland ist alles auf beiden Sprachen geschrieben, bei jedem Bäcker, in jedem Supermarkt, Städte, Straßen und Parks haben auch einen schwedischen Namen, insofern hilft einem die Sprache durchaus weiter. Mit den Menschen sollte man aber trotzdem lieber auf Englisch sprechen, die haben noch gewisse Komplexe gegenüber den Schweden. Genau wie man sich eines Tages der Wahrheit stellen muss, dass Finnisch unlernbar ist, darf man die Lebenshaltungskosten in Finnland nicht unterschätzen. Finnland ist einfach teuer. Indem man in der Mensa (z.B. Porthania) für 2,80€ isst, sich für das Handy eine billige DNAPrepaid Karte besorgt (unlimited Internet!) und regelmäßig mit der Fähre nach Tallinn (Estland) fährt, um dort billigen Alkohol en masse zu kaufen, kann man die Ausgaben etwas reduzieren, ebenso durch die strikte Begrenzung der Einkäufe auf den LIDL in Kamppi. Nichtsdestotrotz wird man in Finnland wesentlich mehr ausgeben als normalerweise, nicht zuletzt schon für die Miete. Finnland ist ein toller Ausgangspunkt zum Reisen. Sowohl das Land selber bietet mit seinen unzähligen Nationalparks, 200.000 Seen und dem arktischen Lappland tolle Reiseziele, als auch die nähere Umgebung, so z.B. Schweden und Norwegen für das wirklich skandinavische Feeling, Russland mit seinen östlichen Juwelen wie Moskau oder St. Petersburg oder den (nicht zu unterschätzenden!) baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die etwas heruntergekommen, aber billig und aufregend und schön sind. Ich bin viel gereist, habe dabei aber keinen einzigen ESN Trip mitgemacht. Wenn man sich die Reisen selber organisiert, mit anderen Erasmus-Studierenden in Hostels oder gemieteten Hütten im finnischen Wald schläft und sich mit Bus/Fähre/gemietetem Auto fortbewegt, kommt man nicht nur billiger weg, sondern hat auch viel mehr Spaß. Die ESN Trips erfordern zwar nicht so viel Aufwand, dafür sind sie überteuert, man bewegt sich nur in einer riesen Gruppe und wird nicht viel von den verschiedenen Kulturen mitbekommen. Insbesondere Russland ist ohne ESN machbar, empfehlen kann ich nur, mit dem Bus zu fahren, sich das Visum zu holen und zu schauen, dass man am 9. Mai in St. Petersburg oder Moskau ist, wenn sie den „Victory Day“ feiern. Auch Helsinki selbst ist eine tolle Stadt, die unzählige Inseln (insbesondere Suomenlinna und Seurasaari), Nationalparks und Museen bietet. Zum Trinken geht man am besten nach Kallio, wo das Bier nur drei Euro kostet (ansonsten kann man schon mal acht dafür bezahlen) und die Kneipen etwas dreckiger und gemütlicher sind. Das größte Fest der Finnen findet übrigens zum 1. Mai statt, „Vappu“, zu dem die ganze Stadt ausflippt. Das sollte man auf keinen Fall verpassen! Besuchen sollte man auch das „Café Regatta“, eine urige, winzige Hütte am Meer, die fußläufig vom Domus zu erreichen ist. Noch ein paar Worte zum Wetter: Bis Dezember hat es viel geregnet und wurde immer dunkler, bis kurz vor Weihnachten gegen halb drei mittags bereits die Sonne unterging. Im Januar hatten wir -30°C und Schnee, so hoch, dass er Autos unter sich begrub und man über das zugefrorene Meer laufen konnte. Gegen Ende meines Erasmus Jahres, also im Mai, war es dafür schon ganz früh hell und so warm, dass sich alle Finnen und Finninnen nur noch draußen aufhielten, was in den ganzen Parks und am Meer oder auf den Inseln oder an den Seen ja sehr schön funktioniert. Das Wetter in Helsinki ist also nicht ganz einfach, aber dafür abwechslungsreich. Man sollte es schon rau mögen. Fazit Ich kann nicht allen uneingeschränkt empfehlen, nach Helsinki zu gehen, denn man muss schon der Typ dafür sein. Man muss das Nordische mögen, das Urige, muss Wind und Wetter aushalten und einen langen Winter. Helsinki ist teurer und die Arbeit aufwendiger als an anderen Orten. Aber wenn man über diese Dinge hinwegsehen kann, dann bietet Helsinki, dann bietet Finnland eine unheimlich aufregende und vielseitige Zeit, einen Einblick in eine fremdartige, widersprüchige, raue Kultur, in ein Land mit wunderschöner Natur und absoluten verrückten Menschen. Finnland wird irgendwie unterschätzt und muss erstmal verstanden werden, wenn man ihm aber eine Chance gibt, dann kann man vielleicht überrascht werden. Ich würde mich jedenfalls immer wieder für Finnland entscheiden, ich meine, ich habe die Nordlichter aus meiner Wohnung heraus gesehen und ich denke, allein dafür war es das schon wert, nach Helsinki zu gehen.
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