1 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Eine Chance geben Alternative

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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Eine Chance geben
Alternative für jugendliche Straftäter
Autor:
Ralf Kröner
Redaktion:
Katrin Zipse
Regie:
Andrea Leclerque
Sendung:
Donnerstag, 25.08.16 um 10.05 Uhr in SWR2
Wiederholung aus dem Jahr 2014
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MANUSKRIPT
Atmo 1 (Turmuhr 6 Uhr)
Atmo 2 (Vorbereitung Jogging)
(Stimmen, „Deine Warnweste…“)
Autor:
Die Uhr im Dachreiter des ehemaligen Zisterzienserinnen-Klosters Frauental hat
sechs geschlagen. Die Jungen und ein Trainer – so heißen die Betreuer hier – wollen
ihre Joggingrunde drehen. Aber ein Junge hat verschlafen. Alle müssen warten, bis
er fertig ist und herunterkommt.
Der Journalist joggt mit. Der Leiter des Projekts ‚Chance‘, Georg Horneber, hat ihm
gemailt, dass er zum morgendlichen Jogging eingeladen ist: „Eine Teilnahme sorgt
für Anerkennung und leichteren Zugang bei den Jugendlichen.“
Ich bin neugierig, was mich erwartet, und auch ein bisschen angespannt, ob
ich die knapp 4 Kilometer durchstehen werde.
Atmo :
Junge:… er hat gefragt, ob er noch auf Toilette kann, weil er dringend muss, dann
hab‘ ich gesagt, „ja ganz kurz!“.
Trainer: Eigentlich nicht … und wieso fragt er keinen Trainer, sondern dich?
Junge: Keine Ahnung!
Trainer: Auf geht’s!
Jungen: Au … erste Mal verschlafen?
Atmo: Beginn Jogging
Also Denis macht letzter Mann, Walid joggt vorn bei mir mit. Also gehen wir los,
oder?
Atmo (Jogger ziehen vorbei)
Autor:
Das Joggen bewältige ich ganz gut, obwohl ich dem Jungen recht geben muss, der
mir deutlich zu verstehen gegeben hat, dass meine Sneaker dafür nicht geeignet
sind.
Das Ziel des Projekts Chance in Creglingen heißt, „Junge Männer nehmen ihr Leben
in die Hand.“ Georg Horneber erklärt, wie das erreicht werden soll:
O-Ton 1 (Horneber)
Es geht darum, dass Jugendliche, die zu Haftstrafen verurteilt sind und ihre Strafe
angetreten haben, dass die sich bewerben können. Und sie verbringen dann ihre Zeit
hier bei uns. Und im Mittelpunkt steht hier: wir gestalten mit den Jugendlichen Projekt
Chance gemeinsam. Sie sind umfassend beteiligt; wir bauen das Kloster aus dem
12. Jahrhundert mit ihnen um – sowas ganz Handwerkliches. Sie sind beteiligt am
Alltag. Sie planen mit, sind an der Ausführung beteiligt. Und ein Jugendlicher wird
immer gefragt: „Bist du bereit, hier mitzuarbeiten?“, nicht, „ bist Du bereit, dir helfen
zu lassen?“. Und wir achten dann besonders auf die Motivation.
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Autor:
Der Tagesablauf ist straff durchgeplant. Nach dem Joggen und Duschen gibt es um
7:05 Uhr Frühstück:
Atmo Frühstück
Wer möchte beten? Gott hab‘ Dank, Speis und Trank. Amen, Amen, einen guten …
Autor:
Nach dem Frühstück werden die Schlafräume in Ordnung gebracht, anschließend
kontrolliert der Tutor Christoph, ob die Zimmer sauber sind:
O-Ton 2 (Christoph / Zimmerkontrolle)
Also ich mach‘ jetzt hier die Zimmerkontrolle und da kontrollier‘ ich halt die
verschiedenen Punkte. Ob das Zimmer sauber ist. Und dementsprechend werden die
Leute dann auch bepunktet. (Klopfen) Ja – oh –Tabak. Ja. Tut Ihr bitte den Tisch
nachmachen? O.k. Klopfen. Jo. Habt ihr schon alles gemacht? Ja! Ja, das passt.
Schritte. Also im ersten Zimmer hatten wir den Tisch nicht sauber, das bedeutet zwei
Punkte Abzug. Im zweiten Zimmer war alles o.k., war alles sauber, gründlich,
ordentlich ...
Autor:
Arbeits- oder Schulbeginn ist um 8:00 Uhr. Dennis und Abbas bereiten sich im Hof
auf ihre Aufgabe vor:
O-Ton 3 (Denis und Abbas)
Autor: Denis, was macht ihr hier?
Dennis: Wir sägen Holz, damit‘s in den verschiedenen Abteilungen, wie z.B.
Maurerabteilung, Schreinerei oder im Malerbetrieb, damit’s dann warm wird im
Winter, und deswegen sägt auch jeder Jugendliche hier auch unter anderem, damit
wir auch über unsere Vergangenheit und über unsere Zukunft nachdenken, und das
Durchhaltevermögen und Disziplin unter anderem auch … ja und deshalb sägen wir
hier das Holz.
Autor: Wie lange sägt ihr hier, Abbas?
Abbas: Ich bin jetzt mittlerweile eine Woche hier. Also, wie gesagt, … also schwer.
Disziplin braucht man auch, Durchhaltevermögen vor allem.
Autor: Wieviel müsst ihr machen?
Abbas: Zwei Kubikmeter.
Autor: Danke.
Abbas: Kein Problem.
Atmo Sägen
Atmo Meeting am Vormittag
Autor:
Um halb 12 findet das erste Treffen der Jungen und ihrer Trainer statt. Meeting heißt
das hier. Es geht um praktische Fragen: von einem beschmierten Tisch über
verschmutze Toiletten bis zur Organisation der Abschiedsfeier für einen Jungen, der
in den nächsten Tagen entlassen wird. Der Tutor Vladislav eröffnet die Sitzung.
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O-Ton 4 (Vladislav)
Vladislav: Ja, also mittags haben wir immer Meeting, da besprechen wir Themen,
Fragen, Infos, so was passiert ist oder sonst so Fragen, verschiedene Sachen halt.
Und einer macht immer Gesprächsführung, das bin ich jetzt und einer protokoliert
halt alles. Da schreibt man alles mit, fasst es zusammen, damit es auch andere lesen
können. Und wir haben verschiedene Wochenauswertungen, die ist zum Beispiel
heute Abend. Das ist, wie die Woche war, unsere Ziele und der Punktedurchschnitt
von allen. Dann haben wir noch Jugenddorfrat. Da bespricht man Regeln,
Regeländerungen, Regelvorschläge. Und dann Tutorenbesprechung gibt es noch,
Tutorenmeeting. Da sitzen die Tutoren zusammen, entscheiden über verschiedene
Sachen, Anträge und Auflagen, wenn jemand im roten Bereich ist. Und ja, wollen wir
beginnen? Wer hat Themen, Fragen Infos? Herr Horneber?
Horneber: Ich hab‘ ein Thema.
Julian: Ich hab‘ eine Frage.
Autor: Wer im Creglinger Projekt Chance als Mitarbeiter oder als straffälliger
Jugendlicher ist, muss ein umfangreiches Regelwerk von Aufgaben und
Verfahrensweisen kennen. Der Journalist, der zwei Tage in Creglingen verbringt und
zur Vorbereitung auch einiges an Literatur gelesen hat, verheddert sich da manchmal
in der Vielzahl der Begriffe und Namen. Christoph kennt als Tutor die Regeln aus
dem ff:
O-Ton 5 (Autor / Christoph)
Als erstes haben wir die Neulingszeit, die geht fünf Tage lang. In der Neulingszeit
haben wir einen Tutor, der den Neuling die ganze Zeit begleitet, mit ihm im Zimmer
wohnt. Der Tutor muss mit dem Neuling lernen, für den Neulingstest. Da kommen
dann unsere Grundnormen, die Grundregeln, das sind acht Stück. Dann kommen ein
paar Sachen vom Tagesablauf …
Autor: Kannst du die gerade mal sagen, die acht Regeln?
Christoph: Ja. „Ich respektiere mich und alle andren, ich respektiere mein Eigentum
und das der anderen, ich bringe mich aktiv und positiv in die Gruppe des Projekts
Chance ein. Ich begegne anderen höflich und mit Achtung. Ich begehe keine
Straftaten, ich trinke keinen Alkohol, ich nehme keine illegalen Drogen. Und ich halte
mich an die im Jugenddorfrat vereinbarten Regelungen.“ Das sind halt unsere 8
Grundnormen, die muss der Neuling alle richtig wissen. Dann muss er die ganzen
Namen von allen Jugendlichen wissen, Namen der Trainer und den Tagesablauf.
Wenn er das alles weiß, dann kann er auch den Test bestehen: Dann kann er
aufsteigen zum Sammler. Als Sammler muss er zehn Wochen sich sozusagen
bewähren. Ein Sammler hat jetzt keine großen Aufgaben, der muss noch keine
Verantwortung übernehmen. Der durchläuft eine Schnupperzeit in allen drei
Werkstätten, die wir hier haben. Dann muss er noch zwei Kubikmeter Holz sägen,
um zu schauen, wie das Durchhaltevermögen von dem Jugendlichen ist. Er muss
fünf Tage in der Küche sein …
Autor:
Die verschiedenen Stufen, die ein Jugendlicher in Creglingen erreichen kann, sind
für einen Außenstehenden nicht einfach auseinanderzuhalten. Christoph erklärt mir,
dass der Sammler zum Kandidaten A, der zum Kandidaten B aufsteigen kann. Für
jeden Aufstieg ist ein aufwendiges Bewerbungsverfahren nötig. Voraussetzung für
das Erreichen einer höheren Stufe ist, dass der Bewerber die Regeln des
Jugenddorfs eingehalten und bestimmte Aufgaben gelöst hat. Dann stimmen die
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Jugendlichen und die Trainer darüber ab, ob sie seinen Antrag annehmen. Die
höchste Stufe, die ein Junge in Creglingen erreichen kann, ist Tutor. Der Tutor muss
Verantwortung übernehmen, er bewertet die Arbeit und das Verhalten der anderen,
verteilt Punkte. Schließlich sind die Tutoren auch daran beteiligt, wenn ein Junge
„zurückgeführt“ werden muss; das heißt, wenn er wegen eines schweren Verstoßes
gegen die Regeln zurück in das große baden-württembergische Jugendgefängnis
Adelsheim geschickt wird.
Auf der anderen Seite haben die Tutoren bestimmte Privilegien. Sie dürfen alle
elektrischen Geräte benutzen, also auch Radio und Fernsehen. Und sie bekommen
ein Handy und ein eigenes Zimmer; Internet gibt es allerdings für die Jugendlichen im
Projekt grundsätzlich nicht.
Der Journalist wundert sich zunächst, dass es in einer Gruppe von maximal 15
Jugendlichen eine so starke Hierarchie geben muss. Als ich länger darüber
nachdenke, wird mir aber auch bewusst, dass die meisten Jugendlichen hier sind,
weil sie in Konflikt mit Autoritäten geraten sind; und dass sie mit Unter- und
Überordnung zurecht kommen müssen, wenn sie wieder draußen sind. Schließlich
erinnere ich mich daran, was ich auf einer Pressefahrt ins Jugendgefängnis
Adelsheim erfahren habe. Dort bilden Gefangene Gruppen, deren Innenleben nicht
vom Personal kontrolliert werden kann. Auch diese Gruppen haben eine strenge
Hierarchie. Sie beruht aber auf physischer Gewalt und ist durch Willkür geprägt.
Georg Horneber bringt das Prinzip des Projekts Chance auf den Punkt. Die positive
Peer-Group, also eine Gruppe Gleichaltriger, organisiert das Zusammenleben
zunehmend in eigener Verantwortung.
O-Ton 6 (Horneber)
Die Jugendlichen – je nachdem wie zuverlässig sie sich gezeigt haben – bekommen
mehr Verantwortung und ihnen wird mehr Verantwortung zunächst für sich und das
eigene Verhalten gegeben, dann für das anderer, und dann später auch für die
Regeln der Gruppe, dass alle die einhalten.
Atmo Mittagsläuten
Atmo Mittagessen
Autor:
Um 12:05 Uhr wird zu Mittag gegessen. Danach ist wieder Schule oder es wird
wieder gearbeitet. Ich gehe in einen wunderschönen hellen Saal im 1. Stock des
Klostergebäudes, der zum Freizeitraum ausgebaut wird. Erst jetzt wird mir bewusst,
dass es hier vor den Fenstern keine Gitter gibt und dass das Gelände nicht von
unüberwindbaren Zäunen oder Mauern umgeben ist. Jeder kann rein und raus.
Allerdings gibt es eine unsichtbare Grenze: Wenn ein Jugendlicher das Gelände
unerlaubt verlässt, muss er zurück nach Adelsheim.
Atmo (Arbeit im Freizeitraum, Kreissäge)
Autor:
Christoph und Julian verlegen hier die Sockelleisten, was sich als eine
ausgesprochen schwierige Aufgabe entpuppt; nicht nur, weil alle Wände im Kloster
krumm und schief sind. Hier mit Sockelleisten zu arbeiten, geht überhaupt nur, weil
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der Leiter der Schreinerei des Projekts, Reinhold Hinkelmann, eine gute Idee hatte,
nämlich die Leisten nicht hochkant, sondern liegend anzubringen.
O-Ton 7 (Christoph / Autor, Sockelleisten)
Christoph: Ja, wir tun die Leisten mit einem Parallelanreißer, also mit einem Stift,
anreißen und dann sägen wir die mit der Stichsäge zu und dann wird das
drangeschoben – je nachdem, wo’s halt hinpasst, nochmal ausbessern und dann
werden die ganz normal drangeschraubt.
Autor: Aber das ist relativ kompliziert, weil halt die Steinwand total unregelmäßig ist,
geht rein und raus. Da muss man die Leisten auch so sägen, dass das da reinpasst.
Das kann ich mir – gar nicht so einfach vorstellen.
Christoph: Ja, das brauchte eben auch ein bisschen Übung. Also am Anfang bei der
Leiste hab ich’s auch nicht hingekriegt, aber jetzt mittlerweile geht’s. Die Steine
stehen halt auch schräg und dann muss man halt unten auch noch was schräg
wegschneiden, da muss man halt immer wieder anpassen, bis es halt ganz hinpasst
Autor:
Wer seine Zeit im Projekt Chance planmäßig abschließt, kann dort einen
berufsbezogenen Hauptschulabschluss machen und das erste Lehrjahr in der
Schreinerei, in der Malerwerkstatt oder als Maurer absolvieren.
Um 16:55 Uhr ist Arbeitsende und die Jungen haben eine Viertel Stunde Zeit, um
sich auf das Abendmeeting vorzubereiten, in dem ein gruppendynamisches Training
stattfindet. Pünktlich um 17:15 Uhr geht es los. Es ist Montag und die Tutoren
Christoph und Vladislav geben bekannt, wie viele Punkte jeder in der vergangenen
Woche bekommen hat:
O-Ton 8 (Meeting 2)
Vladislav: So, Walid: Sozialverhalten 59, gelb. Wohnen: 70, grün, Arbeit-Küche, 60,
gelb, und Pünktlichkeit 98, grün. Gesamt. 67 grün. Was war Dein Ziel für die letze
Woche?
Walid: Zehn Punkte beim Joggen.
Vladislav: Erreicht?
Walid: Nein.
Vladislav: Was ist Dein Ziel für die nächste Woche?
Walid: wieder 10 Punkte beim Joggen und auf jeden Fall jetzt weiß ich, ich bin ganz
ganz unten. Ich bin, glaub ich, der Schlechteste, bin der Schlechteste. Auf jeden Fall,
das will ich ändern, mein Sozialverhalten auch und Arbeit – Küche – genauso.
Vladislav: Wer möchte Walid eine Rückmeldung geben? … Dann geb‘ ich erstmal Dir
eine. Ja, Walid, Sozialverhalten ist nicht so gut. Kannst dich noch steigern, bist ja bis
jetzt am neuesten, kriegen wir schon noch hin. Guckst halt ein bisschen drauf, nicht
zu diskutieren und sowas. Ansonsten: Joggen und so – machst deine Sache gut. Es
sind halt die Diskussionen, was stört bei jedem Punkt. Arbeit: du bist momentan in
der Küche. Hausputz habe ich mit dir gemacht. Du hast gut geputzt, eigentlich ohne
Probleme. Ja, Wohnen: du bist auf der Gruppe, du erzählst Geschichten, bist witzig.
Du tust die Gruppe immer aufmuntern und sowas, echt cool. Mach weiter so, gib ‘n
bisschen mehr Gas, Leistung zeigen, ja!
Walid: Dankeschön.
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Autor:
Der Journalist ist beeindruckt, wie offen die Jungen zu einander sind und wie
ernsthaft sie diese Diskussion führen. Wobei die Punktezahl nicht nur symbolische
Bedeutung hat, sondern sich ganz praktisch im Taschengeld niederschlägt. Wer im
roten Bereich ist, bekommt 9, im gelben gibt‘s 12 und im grünen 17 € in der Woche.
Es kann bei einem schweren Regelverstoß auch passieren, dass ein Junge in der
Hierarchie absteigt, vom Tutor wieder zum Kandidaten wird oder vom Kandidaten
zum Sammler.
Ich bin ein wenig irritiert, wie akribisch alles, was innerhalb einer Woche passiert,
festgehalten und bewertet wird.
O-Ton 9 (Horneber)
Also von der Idee her ist es, den anderen und sich selber Rückmeldung zu geben,
Rückmeldung zu erhalten. Eine Bewertung sagt etwas aus über die Person. Das ist
eigentlich nicht im Sinne des Erfinders; natürlich sind unsere Jugendlichen nichts
anderes gewöhnt wie Wertaussagen – und die waren in der Vergangenheit meist
negativ.
Es sind verschiedene Bereiche beschrieben, wo’s eben Punkte gibt, und so und so
viele Punkte zwischen null und 10 werden vergeben. Und ein Jugendlicher bewertet
dies dann und dann sieht jeder Jugendliche, in welchem Bereich er ist, wie er sich
hier verhält und ob sein Verhalten so ankommt. Spannend ist, wenn man mit
Jugendlichen spricht, die entlassen werden und sagen, „aha, da hab‘ ich ganz wenig
Punkte erhalten … ja, da lief’s nicht gut. Ich hatte Sorgen und Probleme, manchmal
zuhause.“ Oder auch die Antwort kommt, „das war aber die Zeit, wo ich am meisten
gelernt habe“.
Aber es gibt, zwei Sachen zu verhindern. Einmal, dass diese Bewertungsfunktion
auch missbraucht wird als Macht oder mit Freundschaft und Kumpanei. Macht muss
kontrolliert werden wie in allen anderen gesellschaftlichen Bezügen oder
menschlichen Bezügen auch. Und das geschieht, indem Mitarbeiter drauf schauen,
dass Jugendliche sich untereinander austauschen, auch in verschiedenen Gremien
und Besprechungen, und dann nachgefragt wird, „werdet ihr gerecht benotet?“. Ja
und dann wir immer schon auch so Bereiche schaffen, wo sich Jugendliche angstfrei,
ohne diejenigen, die Aufgabenpunkte vergeben, dann sich zusammensetzen und
dann rückkoppeln, „geschieht das denn gerecht?“
Atmo (Abendessen)
Autor:
Das Meeting dauert etwas über eine Stunde, danach ist eine kurze Pause und um
halb sieben gibt es Abendessen. Ab fünf vor sieben müssen die Spül- und
Putzdienste erledigt werden.
Atmo (Turmuhr 8:00 Uhr)
Autor:
Um acht Uhr abends ist Freizeit. Normalerweise müssten die Schüler jetzt noch
lernen, aber als ich dort bin, sind Ferien. 20 nach 9 Uhr heißt es dann „Licht aus!“ für
die Neulinge. Die anderen dürfen länger aufbleiben, je nach Stufe: die Sammler bis
um 20 nach zehn, die Kandidaten müssen zwischen halb 11 und viertel vor 11 das
Licht löschen. Um viertel vor 11 sind die Tutoren auf ihren Zimmern. Aber wann sie
das Licht ausmachen, wird nicht kontrolliert.
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Christoph, Tutor und Meister der Sockelleiste, wird 10 Tage nach meinem Besuch
entlassen. Er ist bereit, noch einmal ausführlich mit mir zu sprechen und wir suchen
uns einen ruhigen Raum:
O-Ton 10 (Christoph, beginnt mit Tür schließen)
Autor: Christoph, erinnerst du dich noch an den ersten Tag, den du hier warst?
Christoph: Ja, mein erster Tag war für mich eigentlich schwer, weil ich am Anfang
sehr ruhig war. Und viele haben halt gedacht, dass irgendwas mit mir nicht stimmt.
Ich hab‘ mir die Leute halt ein bisschen angeguckt und mit der Zeit wurde ich auch
offener und jetzt red‘ ich auch mehr.
Kröner: Kannst du dich noch an Deine Gefühle erinnern, als du hier in diesen Hof
gekommen bist, mit der Kirche, mit den Fachwerkhäusern. Christoph: Ja, im ersten
Moment dachte ich, oh jeh, Kirche! (lacht). Aber es war eigentlich gar nicht so
schlimm. Und ich hab‘ mich auf jeden Fall gefreut, aus Adelsheim rauszukommen.
Kröner: Kannst du erzählen, was sich in deiner Zeit hier in Creglingen bei Dir so
entwickelt hat?
Christoph: Bei mir hat sich entwickelt: ich bin hier sportlich geworden, ich hab‘
draußen nicht wirklich Sport gemacht. Ich hab‘ hier auch viel gelernt, was Verhalten
betrifft und andere Leute unterstützen. Ja, von Anfang an war ich in der Schreinerei,
bin eine Woche später zum Polier geworden, und holzhandwerklich begabt war ich
früher auch schon, und hier konnte ich das Ganze dann noch weiterbilden. Ja, bei
uns ist der Polier so, der verteilt die ganzen Aufgaben. Also ich bekomm‘ die
Aufgaben von unserem Trainer, von dem Bautrainer, dann verteil‘ ich die unter den
ganzen Jugendlichen, die in der Schreinerei arbeiten. Ich bepunkte die dann am
Abend, der Leistung entsprechend, und da wird mir halt ein riesen Vertrauen
gegeben, dass ich das auch richtig mach‘. Und ich glaub, ich hab‘ das Vertrauen jetzt
auch noch nie enttäuscht.
Autor:
Christoph und ich müssen das Interview unterbrechen, weil in dem Raum eine
Besprechung stattfindet. Schließlich finden wir unter dem Dach ein anderes Zimmer,
in dem wir ungestört weitermachen können.
Ich frage Christoph, warum er überhaupt nach Creglingen gekommen ist.
O-Ton 11 (Christoph)
Ja, ich bin, kann ich mal sagen, durch einen falschen Freundeskreis – aber auch
teilweise meine Schuld – bin ich in die ganzen Sachen reingekommen. Ich hab‘
früher Diebstähle gemacht, ich hab‘ Roller geklaut, bin ohne Führerschein gefahren.
Ich hab‘ Drogen genommen und das Ganze wollte halt irgendwie nicht aufhören. Das
war halt diese Sucht, die hat mich dann irgendwie verfolgt, bis dann halt vom Richter
ein Strich gezogen wurde: dann wurde ich halt verurteilt zu einem Jahr und 10
Monaten. Und dann wurde ich auch direkt nach der Gerichtsverhandlung
festgenommen und seitdem bin ich jetzt auch hier.
Autor: Und dann bist du erst nach Adelsheim gekommen, kannst Du kurz erzählen,
wie das war?
Christoph: In Adelsheim war das so, ich war erst zwei Wochen im Zugang. Dann war
das Projekt schon mal bei mir und hat sich vorgestellt. Aber ich hab‘ das erst
abgelehnt, weil ich dachte, den Sport, das ganze Joggen, das halt‘ ich nicht alles
aus. Dann wurde ich verlegt in einen anderen Bau und dort hatte ich dann massive
Probleme mit anderen Jugendlichen, hab‘ mich dann wieder zurückverlegen lassen
in den Zugang und hab‘ dann mit der Sozialarbeiterin dort geredet, ob ich nicht
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vielleicht doch noch in das Projekt kann. Und ich find‘, das war auch die richtige
Entscheidung. Ja, ich bin auf jeden Fall froh, dass ich hier bin.
Autor: Die Schwierigkeiten, die du da in diesem anderen Bau hattest, worin
bestanden die?
Christoph: Die Jugendlichen in Adelsheim, die sind halt so, die müssen erstmal die
Neuen, die da kommen, irgendwie austesten. Die wollen rausprovozieren, dass man
irgendwelche Straftaten macht und versuchen auch, die Leute dort abzuzocken. Bei
mir waren das fünf Leute, die sind zu fünft in meine Zelle reingekommen und
natürlich, da kann man nicht viel machen, alleine, hat man keine Chance.
Letztendlich ist doch nichts passiert, da bin ich auch froh drum. Ja!
Autor: Ja, jetzt 10 Tage bist du noch hier, dann frei. Wie siehst du die Perspektive?
Christoph: Im Moment seh‘ ich die Perspektive eigentlich sehr gut. Ich hab hier im
Projekt meinen Abschluss gemacht mit einer 1,3, ich hab‘ ‘n Schulplatz jetzt für eine
weiterführende Schule, also ne zweijährige Elektrofachschule und wenn ich die
absolviert habe, dann habe‘ ich eine Realschulabschluss; und hab‘ dann vor, eine
Ausbildung anzufangen als Elektriker.
Autor: Wird das wieder in deinem Heimatort sein?
Christoph: Nicht ganz, ich wohn‘ ja in der Nähe von der Schweiz und ich werd‘ jetzt
zu meinem Vater ziehen, der wohnt in der Schweiz und dort werde ich jetzt meine
weitere Laufbahn machen.
Autor:
Gerade als ich mich intensiv mit dem Projekt Chance in Creglingen befasse, sorgt
das Gefängnis für jugendliche Straftäter in Adelsheim, im Norden von BadenWürttemberg, für Schlagzeilen: Ende August kam es dort zu einer Massenschlägerei
zwischen zwei Gruppen von Gefangenen, in deren Verlauf sechs Beamte verletzt
wurden. Mitte September ist ein 17-Jähriger unter bisher ungeklärten Umständen in
Adelsheim gestorben und vor zwei Wochen hat dort ein 19-jähriger Gefangener
versucht, sich das Leben zu nehmen.
Im Gegensatz zum Strafvollzug bei Erwachsenen steht bei Jugendlichen nicht die
Sühne im Vordergrund, sondern der Erziehungsgedanke. So heißt es im Gesetz zum
Jugendstrafvollzug von Baden-Württemberg: „Im Vollzug der Jugendstrafe sollen die
jungen Gefangenen dazu erzogen werden, in sozialer Verantwortung ein Leben ohne
Straftaten zu führen.“
Ob so große Anstalten wie Adelsheim geeignet sind, diesen Grundsatz in die Praxis
umzusetzen, sollte diskutiert werden. Auf jeden Fall kann sich Baden-Württemberg
zu Gute halten, dass jugendliche Straftäter im Land nicht nur wie üblich einen
geschlossenen oder einen offenen Vollzug durchlaufen müssen, sondern dass es
eben auch noch einen „Vollzug in freien Formen“ gibt, wie in Creglingen.
Einrichtungen, die eine dafür notwendige gruppenpädagogische Intensivbetreuung
anbieten, gibt es übrigens außer in Baden-Württemberg nur noch in Brandenburg
und Sachsen.
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