Manuskript downloaden

2
SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Zwei Vaterländer, ein Schlachtfeld
Eine elsässische Familie im Ersten Weltkrieg
Autorin:
Pascale Hugues
Redaktion:
Nadja Odeh
Sendung:
Freitag, 19.08.16 um 10.05 Uhr in SWR2
Wiederholung aus dem Jahr 2014
__________________________________________________________________
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Mitschnitte der Sendungen SWR2 Tandem auf CD können wir Ihnen zum größten Teil
anbieten.
Bitte wenden Sie sich an den SWR Mitschnittdienst. Die CDs kosten derzeit 12,50 Euro pro
Stück. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030.
Einfacher und kostenlos können Sie die Sendungen im Internet nachhören und als Podcast
abonnieren:
SWR2 Tandem können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter
www.swr2.de oder als Podcast nachhören:
http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml
Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2?
Mit der SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des
SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen.
Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen
Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.
Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
___________________________________________________________________
1
MANUSKRIPT
Ich bin Französin.
Lange Zeit hat der Erste Weltkrieg, den wir „la Grande Guerre/ den Großen Krieg“
nennen, die immer gleichen Szenen in mir hervorgerufen:
Da sind französische Offiziere hoch zu Ross; in neuen Uniformen, den Säbel an der
Seite, die Brust mit Orden gespickt, defilieren sie durch Frankreichs Straßen.
Da ist der Poilu, der französische Frontsoldat, mit seiner schlammbesudelten Capote,
dem weiten Militärmantel. Gekrümmt kauert er im Schützengraben. Auf eine
altmodische Postkarte hat er Liebesschwüre an seine Verlobte geschrieben.
Da ist die lange Prozession von Taxis an die Marne, die tausende Soldaten an die
Front bringen, das Schlachtfeld von Verdun, die Verstümmelten, die Entstellten, da
ist der Seehundschnauzbart des Premierministers Georges Clemenceau, genannt
der „Tiger“ und „Vater des Sieges“.
Da ist der Spiegelsaal von Versailles, wo das besiegte Deutschland gedemütigt und
zu drückenden Reparationszahlungen gezwungen wird. Elsass-Lothringen wird ihm
herausgeschnitten.
Und da ist der Boche, der blutrünstige und kriegslüsterne Deutsche mit seiner
Pickelhaube. Der verhasste Erbfeind.
Wir Franzosen standen historisch immer auf der richtigen Seite. Die Deutschen
waren Monster. Dieses Schwarz-Weiß-Bild vermittelten unsere Geschichtslehrer uns
nach besten Kräften. Nach der Schule flirteten wir und erschufen die Welt neu, in den
Cafés rund um die Avenue de la Liberté, Rue du Maréchal Joffre, Avenue Foch,
Boulevard Messimy: In meiner Heimatstadt Straßburg trugen die Straßen die Namen
der schnauzbärtigen Marschälle, die Frankreich gerettet und das Elsass 1918 vom
„deutschen Joch“ befreit hatten.
Ich bin Französin, aber ich bin auch Elsässerin.
Erst Jahre später entdeckte ich die Risse in dem glatten Mauerwerk, das man uns in
der Schule gezeigt hatte. „Unsere Vorfahren, die Gallier“, lernten die Schüler in den
französischen Kolonien in Afrika. „Unsere Großväter, die Poilus“, lernten die kleinen
Elsässer. Beide Sätze hatten mit der Realität nicht viel zu tun.
2
Denn die Geschichte des Elsass hat sich genauso wenig wie die afrikanische
Geschichte an der Geschichte Frankreichs ausgerichtet, nein, wirklich nicht.
Mehrfach hat sie sogar eine ganz andere Richtung eingeschlagen, besonders
zwischen 1914 und 1918.
Während des Ersten Weltkriegs ist das Elsass deutsch. Seine Hauptstadt heißt
Berlin. Sein Herrscher heißt Kaiser Wilhelm II. Amtssprache ist deutsch. Das
Reichsland wird als Bundesstaat im Berliner Bundesrat vertreten. Sein Amtssitz
befindet sich an der Place de la République in einem sehr schönen Gebäude, das
heute das TNS, das Théâtre National von Straßburg, beherbergt. Zu Beginn des
letzten Jahrhunderts verdankt das Elsass Deutschland viel: seinen Wohlstand,
seinen sozialen Fortschritt, die würdige Pracht seiner großen Städte. Es stimmt nicht,
was die offizielle französische Propaganda uns glauben machen will, dass nämlich
die Elsässer all die Jahre von Frankreich träumen. Im Gegenteil: 1914 haben die
meisten Elsässer sich längst mit dem Anschluss an das Deutsche Reich von 1870
arrangiert. Die große Mehrzahl empfindet sich als Deutsche.
Die zentralistische und schrecklich vereinfachenden Interpretation der französischen
Geschichte, wie sie das Bildungsministerium, die Education Nationale verbreitet,
erwähnt das jedoch mit keiner Silbe. Es fehlt offenbar an Zeit und Lust, die
regionalen Besonderheiten genauer zu betrachten. Das gilt besonders für das
Elsass, die zwischen Deutschland und Frankreich zerrissene Grenzregion mit ihrem
einzigartigen Schicksal.
Mein elsässischer Großvater Joseph wurde 1896 als Deutscher in Colmar geboren,
gegenüber von Breisach und nicht weit von Freiburg. 1918 wurde er Franzose. Dann
alles von vorn: Er wird gewaltsam zum Deutschen gemacht, als die Wehrmacht 1940
den Rhein überschreitet. Eine neue Kehrtwende folgt 1945, als er wieder zum
Franzosen wird. Mein Großvater Joseph hat seine Nationalität vier Mal gewechselt.
Es hätte doch genügt, wenn ein kluger Geschichtslehrer uns aufgefordert hätte,
diese Großväter zu befragen. Mit einem Notizbuch oder einem Tonbandgerät hätten
wir die Klassenzimmer verlassen, um unsere Familiengeschichte zu erkunden. Ich
wäre zu meinem Großvater Joseph gegangen.
3
Von diesem Großvater bleibt mir nur eine statische Erinnerung. Ein schöner alter
Herr, distanziert und wenig redegewandt, der mich einschüchterte. Ich war ihm nie
sehr nahe. Er ließ keine Nähe zu. Ich erinnere mich an seinen elsässischen Akzent
und die Französischfehler, die seine Sätze sprenkelten. Ich erinnere mich, wie er bei
Familienessen am Kopfende saß. Beim Digestif, wenn wir Kinder aufstehen und
spielen gehen durften, erzählte er vom Krieg 14-18. Er wurde plötzlich lebhaft,
gestikulierte mit seinen großen Händen und reihte eine groteske Anekdote an die
andere. Immer dieselben. Wie er damals in Ostpreußen das erste und letzte Mal in
seinem Leben auf ein Pferd stieg. Er spielte eine lustige Pantomime: wie er, Joseph,
auf dem Rücken des Tieres kaum das Gleichgewicht halten konnte und mit den
Armen hin und her ruderte, um bloß nicht runter zu fallen. Oder wie er für seinen
Trupp eine Suppe Kochen sollte und nicht wusste wovon. In seiner Erzählung warf
er alle erdenklichen, noch so unappetitlischen Zutaten in einen riesigen imaginären
Topf und rührte und rührte. Ich kann mich an den Schrecken in seinem Gesicht
erinnern, wenn er an die Stelle kam, als er die Suppe probierte. Wir Kinder zuckten
zusammen und schrien « Encore, Grand-Papa ! Raconte encore !» „Weiter! Erzähl
noch mehr Grand-Papa, s’il te plaît!“ Wir liebten diese Geschichten. Wir liebten den
Grand-Papa Krieg. Grand-Papa gab den Clown. Nie hätten wir geahnt, welche
traumatischen Erlebnisse sich hinter dieser grandiosen Show verbargen. Die ganze
Familie bog sich vor Lachen. Für ihn schien der Krieg sich auf eine Folge von
Abenteuern zu reduzieren, auf Eskapaden, über die man sich kaputtlachte. Der
Krieg? Urkomische Erlebnisse, einzig dazu da, die Tischgesellschaft zu erheitern.
Erst viel später entdeckte ich einen anderen Großvater. Dieser Großvater
unterschied sich sehr von dem scheuen Mann, der seine Gefühle so wenig zeigte
und dem die wortstarken Frauen der Familie nicht viel Raum ließen… Diesen
anderen Großvater habe ich lange nach seinem Tod kennengelernt, als ich seine
Feldpostbriefe las. Gott sei Dank hatte er sie in einem Schuhkarton aufbewahrt;
vielleicht in der Hoffnung, dass ein selbsternannter Familienarchivar sich einmal
dafür interessieren würde. Und das war ich. Als ich 1989 als Korrespondentin der
französischen Tagesszeitung „Libération“ nach Berlin kam, wurden mir erstmals
meine elsässische Wurzeln bewusst, und ich fing an, meine Familie zu befragen.
Meine Großmutter gab mir die Briefe ihres Mannes. Es sind etwa 20, sie sind auf
graublaues und völlig zerknittertes Papier geschrieben. Überlebende.
4
Kostbare Zeugen. Beim Lesen wurde mir zu meinem Erstaunen klar, dass mein
Großvater zu Beginn des vorigen Jahrhunderts kein Französisch sprach. Alle seine
Briefe sind auf Deutsch. Plötzlich verstand ich seinen Akzent, seine langsame
Sprechweise, seine Fehler im Französischen. Vor allem sah ich einen sehr jungen
Mann, völlig verstört durch das Geschehen und beherrscht von einem einzigen
Wunsch: nach Hause kommen und in Frieden leben.
Joseph ist 20 Jahre alt, als er im Jahr 1916 einberufen wird. Er ist Untertan von
Kaiser Wilhelm dem Zweiten. 1871 wurde der Friede von Frankfurt geschlossen und
von der internationalen Gemeinschaft anerkannt, er sprach große Teile von Elsass
und Lothringen dem Deutschen Reich zu. Von 1871 bis 1918 ist das Elsass ein
Reichsland und die Elsässer deutsche Staatsbürger. Im Krieg 1914-18 werden sie
somit ganz regulär in die Armee des Kaisers eingezogen. Ihre Armee. Mein
Großvater Joseph war also nie französischer Frontsoldat, er war nie ein Poilu.
Zunächst wird er dem 2. Litauischen Feld-Regiment Nr. 37 zugeteilt. Er ist in
Insterburg in Ostpreußen stationiert, in einem Instruktionslager für junge Rekruten.
Die „politisch verdächtigen“ Elsass-Lothringer werden an die Ostfront geschickt. So
weit entfernt von Frankreich wie nur irgend möglich. Sie gelten als unzuverlässig.
Womöglich wollen sie desertieren oder für Frankreich spionieren.
Monatelang durchlebt Joseph in Ostpreußen militärischen Drill und Langeweile. Zum
ersten Mal ist er weit weg von seiner Mutter, seiner Schwester, seiner Heimatstadt.
Weit weg von seinem blühenden Elsass.
Am 3. März 1918 verschlechtert sich die Situation für Joseph. Das Deutsche Reich
und das bolschewistische Russland unterzeichnen den Friedensvertrag von BrestLitowsk. Die Elsässer werden nun an die Westfront verlegt. Im Frühjahr nimmt
Joseph an den letzten großen Offensiven der kaiserlichen Armee an der Westfront
teil. Er ist zermürbt. Erschöpft. Verängstigt. Am 26. März 1918 kehrt er nach einigen
Ruhetagen in das Kampfgeschehen zurück und schreibt an seine Mutter:
„Nun sind die schönsten Tage wieder rum, und morgen geht es wieder zur Arbeit
gegen die Engländer. Ich glaube nun voller Zuversicht, dass der Frieden kommt. Die
letzten Schlachten werden geschlagen. Vielleicht ist in 2 Monaten Frieden.
5
Mir ist alles gleich, wenn nur Frieden ist, denn das Leben ist auf die Dauer nicht
auszuhalten. Nun schließe ich mein Schreiben in der Hoffnung auf ein frohes
Wiedersehen.“
„Bin immer noch gesund!“, so eröffnet er jeden Brief wie mit einem Mantra. Hinter
dem euphorischen Ausruf erahnt man das Entsetzen, das er durchlebt, und die
Angst, die ihm den Bauch drückt. Jeden Nachmittag wartet er auf die Post:
„Es macht mir eine kolossale Freude, wenn man abends um 6 bei der Briefausgabe
Nachrichten von zu Hause erhält. Schreibe mir recht oft, bittet er seine Mutter-; es ist
wenigstens ein Trost.“
Am 30. Mai 1918 ist Joseph an der belgischen Front, in Steenwerk in Flandern,
zwischen Lille und Saint Omer.
"Meine Lieben! Es ist hier bald nicht mehr zum aushalten. Wie weit seid Ihr mit dem
Urlaub? Schreib bald Bescheid, denn ich sehne mich sehr nach euch. Ich hoffe, dass
es hier wieder besser wird, da wir noch beim Chemin des Dames 25 000 Gefangene
gemacht haben. Es ist mir alles gleich, wenn es nur zum Schluss kommt, man hat
gerade genug, wenn man dieses Unglück hier sieht. Und du meine liebe Mutter sei
unbesorgt, der Krieg kann nicht mehr lange dauern, dann komm ich wieder zurück
und dann wollen wir noch gute Tage verleben. Sendet mir Geld und Pakete und vor
allem schreibt mir, denn ich brauche viel Mut.“
Nie mehr wird mein Großvater sich zu solchen Gefühlsausbrüchen hinreißen
lassen. Nie mehr wird er sich so nackt zeigen wie in diesen letzten Briefen von der
Front. Nur noch eins will er: dass dieser Krieg endlich aufhört! Am Leben bleiben!
Nicht verwundet werden und nicht verstümmelt! In diesen bescheidenen Briefen
findet sich keine Spur von patriotischem Enthusiasmus. Ob Frankreich oder
Deutschland den Krieg gewinnt? Wen interessiert das schon! Mein Großvater war
kein glühender Patriot. Und das gefällt mir.
Der letzte Brief des Kanoniers Joseph an seine Mutter datiert vom 19. August 1918.
Joseph ist in Château-Salins. Er ist entmutigt, erschöpft. Ein einziger Gedanke
beherrscht ihn: Dieses Gemetzel soll aufhören!
6
„Wie glücklich wäre ich nach all diesen Abenteuern in Russland und Nord Frankreich,
dich liebe Mutter wiederzusehen und meine lieben Geschwister! Jeden Tag bei
klarem Wetter sehe ich die schönen Vogesen. Da denk ich mit Sehnsucht an mein
liebes Mütterchen. Ihr werdet es wohl ein wenig lächerlich finden, dass ein Junge von
22 Jahren so schreibt. Wenn man aber dieses Leben hier draußen mitgemacht hat
und das Unglück gesehen hat, dann ist es leicht zu begreifen. Betet für mich, so Gott
will werden wir in einer glücklichen Zeit wieder froh zusammenleben.“
Als am 11. November 1918 der Waffenstillstand von Compiègne geschlossen wird,
kehrt Joseph nach Hause zurück. Er ist ein besiegter Soldat. Er rollt seine feldgraue
Uniform zusammen und wirft sie ganz hinten in den Kleiderschrank. Die Medaille mit
dem Bild von Kaiser Wilhelm dem Zweiten kommt in einen Schuhkarton zu seinen
Manschettenknöpfen und seinem Erstkommunionskreuz. Und ohne Zögern steigt er
wieder in den Familienbetrieb ein. Seine Mutter ist verwitwet. Sein älterer Bruder
Louis ist am dritten Kriegstag gefallen. Er hat sechs Schwestern. In Colmar wartet
man seit vier Jahren darauf, dass der große Junge, der einzig verbliebene Sohn,
unversehrt von der Front zurückkehrt, um diesen ganzen Schwarm Frauen zu
ernähren.
Und nun nimmt die Geschichte meiner Familie eine seltsame Wendung. Man könnte
sie fast schizophren nennen, wie in so vielen elsässischen Familien, die zwischen
Frankreich und Deutschland zerrissen sind.
Denn mein anderer Großvater, Gaston, hat in französischer Uniform gekämpft.
Gaston ist ein richtiger Franzose. Ein „Innerfranzose“, „un Français de l’intérieur“, wie
man im Elsass sagt. Er stammt aus Ventavon, einem kleinen provençalischen
Gebirgsdorf in den Alpes de Haute Provence. Er ist Berufsoffizier, überzeugter
Soldat, Patriot durch und durch, so sagen es die militärischen Beurteilungen, zu
denen ich Zugang hatte. 1918 nimmt er an der Siegesparade in Colmar teil; sie führt
über den Vogesenwall, der noch nicht Avenue de la Liberté heißt. Dort sieht meine
Großmutter ihn und verliebt sich in ihn.
Es wäre gut möglich und gar nicht so unwahrscheinlich gewesen, dass Joseph und
Gaston auf demselben Schlachtfeld gegeneinander gekämpft hätten.
7
Ein Großvater für das Reich, der andere für die Dritte Republik. Nach meinen
Recherchen standen sie sich glücklicherweise nie von Angesicht zu Angesicht
gegenüber. Joseph stand in Flandern, am Chemin des Dames. Gaston in Verdun,
am Fort Douaumont.
Auf der Place de la République - ehemaliger Kaiserplatz, ehemaliger Adolf Hitler
Platz - mitten in Straßburg steht ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten
Weltkriegs. Eine elsässische Mutter wiegt ihre zwei nackten toten Söhne in den
Armen: Der eine Sohn ist Deutscher. Der andere ist Franzose. Ein Denkmal, das die
ganze Zerrissenheit der elsässischen Geschichte und meiner Familie darstellt.
Ich habe mich oft gefragt, wie es war, wenn meine Großmütter, beide jung
verheiratet, sich besuchten – wie verhielten sich ihre Ehemänner? Was hatten sie
sich zu sagen, Gaston, der Provençale, der seine französische Patrie verteidigt hatte,
und Joseph, der Elsässer, der für sein deutsches Vaterland gekämpft hatte.
Sprachen die beiden Männer über den Krieg? Oder zogen sie es vor zu schweigen,
um einen Eklat zu vermeiden? Gaston, wie er an seiner Pfeife zog. Joseph, wie er
eine Gauloise rauchte.
In vielen Familien kämpften zwei Cousins gegeneinander, zwei Brüder, zwei
Nachbarn. Ein Bruder hatte sich 1871 für Frankreich entschieden und lebte in Paris.
Der andere wollte in seiner Region bleiben und war Untertan des Kaisers geworden.
Diese herzzereißenden Familienkonstellationen symbolisiert die elsässische Pietà
zwischen den Blumenbeeten auf der Place de la République.
Das Schicksal der elsässischen Weltkriegssoldaten illustriert der sogenannte
„elsässische Sonderweg“, „l’exception alsacienne“. Dieser Sonderweg, über den
unsere Geschichtslehrer schwiegen. Während mein Großvater Gaston hoch
erhobenen Hauptes als bejubelter Sieger ins Elsass einzog, machten mein Großvater
Joseph und seine Kameraden aus dem Schützengraben sich ganz klein.
Was soll nach dem Krieg denn nun mit den wieder zu Franzosen gewordenen
Elsässern geschehen, die in der falschen Uniform gekämpft haben? Die Franzosen
denken nicht daran, sie zu verbannen oder sie auszustoßen…
8
Die Republik will sie lieber integrieren. Sie werden als Kriegsveteranen anerkannt.
Sie haben die gleichen Rechte wie die französischen Veteranen. Sie beziehen eine
Kriegsrente. Am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, am 11. November,
wenn der Waffenstillstand nach dem Ersten Weltkrieg gefeiert wird, defilieren sie mit
ihren Fahnen, der Trikolore!, durch die elsässischen Dörfer. Als wenn nichts
gewesen wäre. Das ist das Elsass!
Alle französischen Kriegerdenkmäler tragen die Inschrift: „Morts pour la Patrie !
Gefallen für das Vaterland!“ oder „Morts pour la France ! Gefallen für Frankreich!“
Und auch da hat man im Elsass einen Trick gefunden, um sich mit der Geschichte zu
arrangieren. Auf den elsässischen Denkmälern steht: „A nos Morts ! Für unsere
Toten!“, „A nos enfants ! Für unsere Kinder!“ Das Vaterland, für das sie an der Front
gestorben sind, wird nicht erwähnt. Es war nicht das Richtige. Gestorben für wen?
Gestorben für was? Gestorben für den Feind? Gestorben für den Boche? Den
Fridolin? Den Sprounz? Den Fritz? So wurden die Deutschen in meiner Kindheit in
Frankreich genannt… die Sprache tut sich schwer mit der Versöhnung. In den Zeiten
der europäischen Einigung und des Postnationalismus hat man in vielen
elsässischen Familien kein Recht auf diesen läppischen und etwas lächerlichen
Trost. Die Elsässer können sich nicht sagen, dass ihr Sohn, ihr Mann, ihr Bruder für
eine gute Sache, auf dem Feld der Ehre, gefallen ist.
Aber Frankreichs Großzügigkeit hat ihre Grenzen. Als Jacques Chirac am 11.
November 1995 die höchstens 3000 noch lebenden Veteranen aus dem Ersten
Weltkrieg en bloc in die Ehrenlegion aufnimmt, schließt er die Elsässer aus. Die 145
Veteranen aus Elsass-Lothringen haben kein Recht auf diese letzte Anerkennung
durch die Republik. Sie werden von der Liste des Präsidenten gestrichen. Große
Empörung im Elsass. Der Abgeordnete und Bürgermeister von Colmar protestiert:
„Wenn es in der Tat schwierig scheint, diese Auszeichnung aus militärischen
Gründen zu verleihen, so hätte man es doch wenigstens in einem wiedergefundenen
brüderlichen Geist zwischen Menschen tun können, die am selben Konflikt beteiligt
waren. Es hätte ein zusätzliches Zeichen der Solidarität sein können, die fortan die
Völker Europas verbindet, in einem entschiedenen Willen, dass es nie mehr zu
einem solchen Grauen kommt.“
9
Die Antwort von Präsident Chirac:
„Als unvermeidliche Konsequenz eines Friedens, der Frankreich durch seine
Niederlage im Jahr 1870 aufgedrängt worden war, kann den Betroffenen die
Beteiligung am Krieg von 1914-1918 in der kaiserlichen Uniform nicht zum Vorwurf
gemacht werden. Ihnen kann aber auch nicht die Dankbarkeit der Nation gelten. »
Ein knallhartes „Die nicht!“
Nur eins tut mir heute leid: Dass ich als Schülerin nicht meinen Großvater Joseph
ausgefragt habe. Erst viel später wurde mir klar, dass der Anekdotenkranz, den er
bei den Familienessen über den Tisch hängte, und die Lachsalven, zu denen er sein
Publikum mit seinen Erzählungen aus dem Krieg so gern hinriss, nur eine Schau
waren. So konnte er die Fassung bewahren, um mit einer undurchdringlichen Schicht
von Lustigkeit das Entsetzen zu ersticken, das er als junger Mann empfunden hatte.
Damals hatten die Männer das Sprechen noch nicht gelernt. Ein Mann war stark,
unbesiegbar, er schwieg über seine Gefühle. Er hatte keine Angst. Er war nicht
schwach. Mein Großvater war ein Fels.
Aber wie gern ich ihm die Würmer aus der Nase ziehen würde! Wie gern ich hören
würde, wie sein Krieg wirklich war. Und wie gern ich mir erzählen lassen würde, wie
es ihm in seinem weiteren Leben damit erging, dass er in der Armee dieser
Deutschen gekämpft hatte, die in der Zwischenkriegszeit von den Franzosen so
verabscheut wurden. Was er dachte, als Hitlers Panzer 1940 den Rhein überquerten
und Elsass-Lothringen erneut einnahmen. Mein Großvater wurde im August 1942
nicht in die Wehrmacht eingezogen. Er war zu alt. Er wurde zum Glück nicht das,
was wir im Elsass einen „Malgré Nous“ nennen, einen Zwangsrekrutierten. Ein
weiteres Drama, das wahre Drama der Elsässer.
Ich erinnere mich an die kleine Gipsbüste von General de Gaulle, die im Salon
meiner Großeltern auf dem Bücherregal thronte. Jedes Jahr bekam Joseph zu
Weihnachten von seinen Töchtern einen Band der Memoiren des Generals
geschenkt. De Gaulle war sein Held. Auf diese Art bewies er seine Loyalität
gegenüber Frankreich. Zumindest sein Denken war immer auf der richtigen Seite der
Geschichte, bei den Franzosen.
10
In einer Schublade in Berlin bewahre ich die kleine Eisenmedaille auf, eine
Erinnerung, keine militärische Auszeichnung, wie das Militärhistorische
Forschungsamt der Bundeswehr mich informiert hat:
„Eine nichtoffizielle patriotische Erinnerungsmedaille, heißt es in dem Schreiben.
Derartige Dekorationen wurden zu dieser Zeit in großer Vielfalt in Umlauf gebracht
und waren an keinerlei Verleihungsbedingungen gebunden.“
Diese Medaille ohne Bedeutung bezeugt die merkwürdigen Windungen der
elsässischen Geschichte. Wenn ich sie hin und wieder voller Zärtlichkeit anschaue,
sage ich mir, dass die Geschichte ihre Schattenzonen hat, ihre unentwirrbaren
Schicksale. Und häufig ist sie nur schwer zu erzählen.
Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke
Buchtipp:
Pascale Hugues
Marthe und Mathilde
rororo Verlag
Taschenbuch 288 Seiten für 9,99 Euro
ISBN-13: 978-3499624155
11