1 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Für mich bist du gestorben

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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Für mich bist du gestorben
Kontaktabbruch in der Familie. Eine Tochter erzählt
AutorIn:
Petra Palmer
Redaktion:
Petra Mallwitz
Regie:
Iris Drögekamp
Sendung:
Donnerstag, 18.08.2016 um 10.05 Uhr in SWR2
Wiederholung aus dem Jahr 2014
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MANUSKRIPT
Atmo
Schritte auf knirschendem Kies, die näher kommen – Vogelgezwitscher,
Glockengeläut aus der Ferne, dann bleibt Person stehen
Erzählerin
(wie wenn sie es jemandem erzählen würde, der neben ihr am Grab steht)
Es müssen mehr als 25 Jahre her sein, dass ich zuletzt hier stand, am Grab meiner
Großeltern. Es sieht noch genauso aus wie damals, mit Efeu bewachsen und einer
großen grauen Marmorplatte in der Mitte. Das Dunkelgrau erinnert mich an die
Anzüge, die mein Opa immer trug. Er war sehr ernst und steif. Meine ältere
Schwester meinte damals, „der war doch bestimmt mal so ein Nazi-Offizier“. Bei uns
zuhause scheuchte er uns Kinder wie Fliegen weg, bei ihm zuhause bekam er einen
Wutausbruch, wenn wir uns mucksten. Seine Frau – also meine Oma – brachte uns
dann in Windeseile in ein anderes Zimmer.
Mein Vater lächelte immer viel, wenn wir bei Opa waren und gab sich ganz
sanftmütig. Zuhause, da lächelte er nicht so viel. Da ließ er seinen Aggressionen uns
Kindern gegenüber freien Lauf. Unsere Mutter hielt zu ihm und stellte sich selten
schützend vor uns.
Meine Eltern sind jetzt über 80 Jahre alt. Nicht mehr lange, dann werden auch sie
hier auf dem Friedhof liegen. Sie werden ihre unbeschreiblich große Enttäuschung
über drei missratene Kinder mit ins Grab nehmen. Die Verletzungen, all das
Unausgesprochene, Jahrzehnte des Schweigens – Hass, Wut, Traurigkeit ...
vielleicht aber auch eine wie auch immer geartete Zuneigung für ihre Kinder.
Was jetzt zwischen uns steht, wird dann das Erbe sein, mit dem ich leben muss.
Wenn es nicht doch noch eine Annäherung geben sollte, nach der nun unglaubliche
23 Jahre währenden Funkstille ...
Atmo:
Sich entfernende Schritte auf Kies
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Erzählerin spricht beim Gehen:
Wo meine Großmutter mütterlicherseits wohl begraben liegt? Da meine Mutter weder
zu ihr noch zu ihren Brüdern Kontakt hatte, erfuhr sie vom Tod ihrer eigenen Mutter
nur aus der Zeitung. Diese Brüder - meine Onkel - habe ich nie gesehen. Eisernes
Schweigen überall: Mein Neffe hat seine Großeltern nicht kennengelernt. Er
wiederum hat den Kontakt zu seinem Vater abgebrochen. Dieser – mein Bruder - hat
sich von mir und meiner Schwester abgewendet. Kontaktabbrüche wohin man guckt,
in unserer Familie.
Atmo:
Kurze Stille
Dann: fröhliches Lachen von spielenden Kindern weht vom Kinderspielplatz herüber,
in der Nähe Eltern, die „Engelchen, Engelchen, flieg“ mit ihrem glucksenden Kind
spielen
Erzählerin
Wenn ich ein Kind hätte, wie würde ich es ihm erklären, dass es ohne Großeltern
aufwachsen würde? Vielleicht so:
In einer Stimme, in der man mit kleinen Kindern spricht, später vielleicht auch etwas
„surreal“
Sieh mal, mein Schatz, als ich noch so klein war wie Du, da hat mein Vater auch
„Engelchen, Engelchen, flieg“ mit mir gespielt. Aber dann hat er mir dabei
versehentlich den Arm ausgerenkt. Da habe ich sehr geweint. Und später dann, da
hat er mir immer wieder weh getan, mit bösen Wörtern und jeden Tag so laut
geschrien, dass das ganze Haus gebebt hat ... Aber vielleicht war das alles gar nicht
seine Absicht, weißt Du, so wie beim Engelchenspiel ... In seinem Bücherregal stand
schließlich der Ratgeber „Die glückliche Familie“, ich denke, das wollte er doch
bestimmt auch – eine glückliche Familie.
Vielleicht ist eines Nachts ein böser Dämon in ihn hineingeschlüpft und es war gar
nicht mein Papa, der so schrecklich war. Als ich noch klein war und ihn bewunderte,
da war er ja lieb zu mir. Da war ich sein Nesthäkchen. – Allerdings war er da schon
böse zu meinen beiden größeren Geschwistern ...
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Jedenfalls war es so schlimm, dass wir es nicht mehr ausgehalten haben und
ausgezogen sind. Alle drei Kinder sind nie wieder nach Hause zurückgekehrt.
Atmo
Meeresrauschen, Schiffssignal „MAYDAY! Mayday! Mayday!“
Sprecher 1 (männlich)
Wenn diese Worte über Funk zu hören sind, dann ist jemand in Lebensgefahr und
braucht dringend Hilfe. Das in Not geratene Schiff kann mit der Anordnung HALTEN
SIE FUNKSTILLE - MAYDAY / STOP TRANSMITTING - MAYDAY / SILENCE MAYDAY allen oder bestimmten anderen Funkstellen Funkstille auferlegen.
Erzählerin
Ist es nicht endlich an der Zeit, den Kontakt zu meinen Eltern wieder aufnehmen?
Was steckt hinter dieser Kommunikationsunfähigkeit, die wie ein Familienerbe bei
uns weitergereicht wird? In dem Buch „Funkstille“ von Tina Soliman finde ich einige
Überlegungen zum Kontaktabbruch, die mich nachdenklich machen:
Sprecher 2 (weiblich)
Wie stellt man sich schmerzhaften Auseinandersetzungen, wenn man verunsichert
und verletzt ist, nicht weiß, was man wirklich fühlt, keine Kraft für den Konflikt hat,
sich schämt oder enttäuscht ist? Bietet es sich da nicht an, das Schweigen als Mittel
zu wählen, um gehört zu werden?“
Erzählerin
Es seien weitaus mehr Menschen von einem Kontaktabbruch betroffen als vermutet,
schreibt Soliman. Die wenigsten wollten oder könnten darüber reden.
Auch mir ist es sehr unangenehm, wenn ich nach meinen Eltern gefragt werde. Nein,
ich habe Weihnachten nicht mit meinen Eltern verbracht. Nein, meine Eltern waren
nicht bei meiner Hochzeit. Ja, sie leben noch ... denk ich mal ... Traurigkeit,
Hilflosigkeit, Ohnmacht in der Stimme – seltsamerweise spüre ich keine Wut, keinen
Zorn.
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Ich streue schnell die Information ins Gespräch, dass ja alle drei Kinder keinen
Kontakt haben. Denn ich möchte nicht, dass die Kontaktlosigkeit wie ein Stigma an
mir klebt, dass die Leute denken: mit der muss ja was nicht stimmen, dass sie ihre
Eltern alleine lässt. Auch möchte ich auf gar keinen Fall das arme Opfer mit der
schlimmen Kindheit sein und erzähle deshalb normalerweise nicht, wie es bei uns
zuhause zuging. Die Vergangenheit ist vergangen. Aber die Kontaktlosigkeit gehört
zu meiner Gegenwart. Ein unsichtbares, schmerzhaftes Band, das mich mit meinen
Eltern verbindet.
Atmo:
Meeresrauschen
Erzählerin
Den Menschen in Solimans Buch geht es nicht anders. Sie können trotz der
eingestellten Kommunikation, der Funkstille, mit dem anderen nicht abschließen. Es
fehlen die Aussprache, das Wissen um die Ursachen – und ein Abschiednehmen.
Zum anderen, so der Hamburger Psychotherapeut Robert Stracke, den Solimann
zitiert, seien da starke Emotionen für den anderen.
Sprecher 3 (männlich)
„Ich denke, dass bei vielen Abbrechern sehr heftige Gefühle für denjenigen da sind,
zu dem der Kontakt abgebrochen worden ist. Das zeigt schon die Art und Weise, wie
der Kontakt eingestellt wurde. Wenn es mir egal wäre, welche Gefühle ich diesem
Menschen gegenüber hätte, könnte ich ja einfach anrufen und sagen ´Ach, weißt Du
was, Du interessierst mich einfach nicht mehr.´“
Erzählerin
Ja, denke ich beim Lesen, und dann würden auch die Emotionen nicht so
hochkochen, wenn man sich doch einmal zufällig begegnet.
Vor rund 7 Jahren war das einmal der Fall. Da sehe ich meine Eltern in der
Fußgängerzone vor einer Dönerbude sitzen. „Tach, Petra. So, bist Du also in
Koblenz“, knurrt mein Vater leise – während meine Mutter mir einen Platz anbietet
und beginnt, stoisch die Speisekarte von oben nach unten herunterzulesen –
vielleicht um das drohende Unheil abzuwenden.
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Aber es nützt nichts. Mein Vater setzt gleich mit Vorwürfen ein, uns Kindern seien die
Eltern ja egal, keiner melde sich bei ihnen, dabei hätten wir ihnen das Leben ja so
schwer gemacht, uns unmöglich zuhause aufgeführt, in keiner anderen Familie gäbs
sowas ... Dann sagt er: Wie geht es denn Deiner Schwester, letztens habe ich sie im
Radio singen gehört, das war ganz bestimmt ihre Stimme. Ich hätte sie ja damals
schon groß rausgebracht, aber bei diesem schlechten Benehmen auf der Bühne, wie
die sich angestellt hat ...“ Ich entgegne bemüht ruhig, dass ich finde, dass meine
Schwester ein ganz wunderbarer Mensch sei und es ihr nicht gut gehe. Sie habe mit
Problemen zu kämpfen, für die die Ärzte die Gründe in der Kindheit sähen. Ehe ich
mich versehe, stiehlt sich noch leise ein weiterer Satz über meine Lippen: „ ... und die
Kindheit war für uns alle größtenteils die Hölle.“
Jetzt krallt sich die Wut in seinem Gesicht fest, färbt es violett – so violett wie die
Druckstellen an meiner Hand waren, wenn ich sie mit der ganzen Kraft eines Kindes
gegen die Klinke meiner Zimmertür stemmte, während er von außen versuchte, sie
herunterzudrücken und dabei schrie „Wart nur, bis ich Dich krieg, ich schlag Dich in
Grund und Boden, dass Du nicht mehr aufstehst, Du missratenes Luder, du dummes
Stück Mist“.
Er schreit auch jetzt. Ich stehe auf, eine Tränenflut auf meinem Gesicht. Tränen der
enttäuschten Hoffnung und der Erkenntnis: Es hat sich in all den Jahren nichts
verändert. Ich will nur noch weg.
Da höre ich seine wuchtigen Schritte hinter mir. „Petra, Petra, so warte doch“. Mein
Vater, der sagt, es tue ihm leid. Dass bei ihm damals die Nerven blank lagen. Ob ich
denn nicht wüsste, dass er und Mutter ihre Kinder doch gern haben. Selten gehörte
Worte aus dem Mund eines Mannes, der sich jederzeit in ein Monster verwandeln
konnte. Der mir, als ich noch klein war, nach seinen Wutausbrüchen eine Tafel
Schokolade vor die Zimmertür legte. Ich bin gerührt bis ins Mark.
Wir verbleiben so, dass ich mich das nächste Mal melde, wenn ich wieder in Koblenz
bin.
Noch tagelang rüttelt mich diese Begegnung durch. Warum kann mein Vater mir
nicht zuhören und sich der Vergangenheit und seiner Verantwortung stellen? Ich
schlage wieder das Buch von Soliman auf.
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Sprecher 2 (weiblich)
„Der Verlassene leidet unter der Kränkung des Zurückgelassen-Seins. Das Gefühl
der Verletzung trübt auf beiden Seiten die Wahrnehmung. Das Bedürfnis, das
Verhalten und die Beweggründe des jeweils anderen zu verstehen, und das
Vermögen, ihm auch „negative“ Gefühle zuzugestehen, sind in Mitleidenschaft
gezogen.
Atmo:
Meeresrauschen mit MAYDAY MAYDAY
Erzählerin
Wir verabreden telefonisch ein Treffen. Ich habe vor, meinen Eltern einige Fragen zu
stellen. Ich will sie besser kennenlernen und verstehen, warum das „Projekt Familie“
so erbärmlich scheiterte.
Sie entscheiden sich für ein Kaufhausbistro als Treffpunkt. Zur Begrüßung
überreichen sie mir eine Handvoll Gutscheine, die demnächst ablaufen, zum Beispiel
für ein Freigetränk in der Nordsee bei einer Essensbestellung. Obwohl ich solche
kuriosen Eigenheiten von früher kenne, bin ich doch für einen Moment fassungslos,
nehme sie dann aber dankend entgegen.
Mir gelingt es tatsächlich mit den mitgebrachten Musikbroschüren von der Arbeit,
meinen Vater für kurze Zeit für mein Leben zu interessieren. Dann frage ich, ob er
noch Geige spiele. Nein, das sei ja wegen der Familie und dem Beruf alles vor die
Hunde gegangen. Meine Mutter erzählt, er habe sogar Konzerte mit
Klavierbegleitung gegeben. Ob er denn lieber Musiker geworden wäre oder
Schriftsteller – Ja, natürlich, was meinst Du denn? – knurrt er mich an. Aber die
Familie habe ihm da ja einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er musste ja Geld
herbeischaffen, habe sich krummgelegt, jeden Tag.
Später hat er offenbar versucht, seine Träume durch die Kinder zu leben – meine
Schwester, die Sängerin, ich, die Schriftstellerin ... In diesem einen Bereich erfuhr ich
seine Zuwendung, wurde sogar auf einen Sockel gestellt – was im krassen
Gegensatz zur alltäglichen Abwertung stand.
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Dann sagt meine Mutter noch: Er habe uns Kinder, als wir klein waren, mit der Geige
in den Schlaf gespielt.
Atmo:
Kurze Stille
Dann unbeschwertes Kinderlachen aus der Ferne, nah: Gesang Lied Maikäfer flieg:
„Maykäfer, flieg! Der Vater ist im Krieg. Die Mutter ist im Pommerland. Und
Pommerland ist abgebrandt.“
Stell Dich nicht so an, haben meine Eltern häufig zu mir gesagt. Wie oft haben sie
das wohl von ihren Eltern zu hören bekommen, damals im Krieg? Als sie dem
Bombenhagel ausgesetzt waren, dem Hunger, den seelisch und körperlich
verstümmelten Menschen. Nur die allerwenigsten Erwachsenen waren damals wohl
– in dieser Welt aus Angst, Terror und Tod – in der Lage, den Kindern Geborgenheit
und Sicherheit zu geben.
Der Psychiater und Familientherapeut Peter Heinl beschreibt in seinem Buch
„Maikäfer flieg, Dein Vater ist im Krieg“, dass die meisten Eltern die innere Not ihrer
Kinder einfach ausblendeten.
Sprecher 1 (männlich)
„Offenbar war es ihnen nicht nur früher, während der Kriegsjahre, unmöglich
gewesen, sich in ihre Kinder hineinzuversetzen, sondern der Mangel an
Aufmerksamkeit hatte sich über Jahrzehnte danach erhalten.“
Erzählerin
Kein Wunder, dass diese Kriegskinder, die in ihrem Leid nicht wahrgenommen
wurden und sich selbst nicht spürten, als Eltern für für ihre eigenen Töchter und
Söhne gefühlstaub sind. Ich will mehr über diese Generation erfahren und besorge
mir das Buch „Kriegskinder“ von Sabine Bode. In vielem erkenne ich meine Eltern
wieder:
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Diese extreme Sparsamkeit, ja Geiz, und der unbedingte Wille, sich etwas
aufzubauen. Die Prägung durch das nationalsozialistische Erziehungsideal einer
distanzierten „Aufzucht“. Der Jähzorn der kriegstraumatisierten Väter. Das
Verschweigen der Schrecken der Kriegskindheit. - Nur eine Geschichte erzählte
meine Mutter immer wieder. Als kleines Mädchen, das kläglich hungerte, bekam sie
eines Tages eine Butterstulle geschenkt. Ihre Mutter kratzte jedoch die Butter
herunter und gab sie dem kranken Brüderchen.
Vielleicht hofften meine Eltern, als sie eine Familie gründeten, tief in ihrem Inneren,
dass die Kinder sie glücklich machen und ihre verletzten Seelen heilen würden.
Atmo
Meeresrauschen
Atmo
Kurz Stille.
Dann Kinderlachen von ferne, Eltern, die mit ihrem glucksenden Kind „Engelchen,
Engelchen, flieg“ spielen
Sprecherin:
Nach dem Treffen im Kaufhaus-Bistro begleite ich meine Eltern noch bis ans Auto.
Mein Vater links, meine Mutter rechts gehen so dicht neben mir, dass sich unsere
Schultern ab und an berühren.
Am Auto angekommen, brechen dann doch wieder die Vorwürfe aus meinem Vater
heraus: „Schon in der Bibel steht, Du sollst Vater und Mutter ehren. Ich hätte es nie
gewagt, mich meinen Eltern gegenüber so zu benehmen wie ihr. Wie ihr Euch
damals aufgeführt habt!“
Ich entgegne: „Ja, zu dem Thema könnte ich auch einiges sagen, aber ich finde, wir
haben es gut geschafft, uns einmal zu begegnen ohne Streit und Wutausbrüche,
damit würde ich gerne auseinandergehen.“
Ich dachte, mit diesem Treffen hätten wir einen guten Anfang gemacht. Im Abstand
von einigen Monaten rufe ich noch mehrmals an, um eine weitere Begegnung zu
vereinbaren.
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Meine Eltern berichten mir am Telefon jedesmal von Ärgernissen, Sorgen und
Krankheiten, aber sie winden sich wie Aale, wenn es um ein Treffen geht. Mal ist es
die Steuererklärung, mal ein verletzter Fuß.
Warum gebe ich nicht einfach auf? Warum kann ich nicht loslassen? Ich führe doch
mittlerweile – nach Therapie und mit einem verständnisvollen Partner an meiner
Seite – auch ohne sie ein gutes Leben. Auch wenn ich mich oft – ohne familiäre
Wurzeln und Rückhalt, ohne Urvertrauen – etwas verloren in der Welt fühle und hin
und wieder mit Angstzuständen zu kämpfen habe ...
Wieso sehne ich mich nach einer heilen Familienwelt, die es doch nie gegeben hat?
Sind die jahrelang eingeimpften Schuldgefühle am Wirken? Will ich meine Eltern aus
ihrem offensichtlich einsamen Leben erretten?
Die Jahre vergehen, das Leben meiner Eltern neigt sich ihrem Ende zu und die
Gefühle zerren nun schon seit langer, langer Zeit an mir. Wie geht es denn eigentlich
anderen in einer ähnlichen Situation? Ich google im Internet nach „Kontaktabbruch in
der Familie“ - und finde viele hochemotionale Foreneinträge von Eltern wie Kindern.
Und ich stoße auf einen Artikel in dem Blog „zeitgeistlos.de“, der sich wohltuend
abhebt. Der Autor nennt sich Epikur ...
Atmo
Tastengeklapper mit Text darüber
Erzählerin
„Lieber Epikur, ich habe gerade Deinen Artikel über den Kontaktabbruch zwischen
Kindern und Eltern gelesen und bin ganz begeistert, weil er so klar ist in der Analyse
der Gründe und der Konsequenzen. Obwohl Du selbst ja offenbar betroffen bist, ist
da keine Verbitterung oder Verzweiflung zu spüren. Es sieht so aus, als wärest Du im
Reinen mit dem Kontaktabbruch. Ich würde mich gerne einmal mit Dir austauschen
...“
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Erzählerin
Epikur willigt ein, wir treffen uns. Er ist 36 Jahre alt, Politologe, Redakteur und
Blogger und heißt im realen Leben Markus. Markus hat seit einem großen Streit vor
zwei Jahren mit seiner Mutter und ihrem Lebensgefährten keinen Kontakt mehr mit
ihr. Auch zu den Schwestern herrscht Funkstille, da sie eng mit der Mutter verbandelt
sind. Als philosophisch interessierter, reflektierter Mensch mit klaren
Wertvorstellungen erwartet Markus heute von jedem und eben auch von seiner
Mutter einen respektvollen Umgang. Er ist zum Beispiel nicht mehr bereit
hinzunehmen, dass sie sich weigert zu lüften, wenn sie ihn bei sich zuhause
vollqualmt, und lehnt auch ihre Forderung nach Hilfe im Haushalt ab.
Markus (OT1, 0´45)
Ich hab ihr versucht zu erklären, ich kann nicht einem Menschen helfen, der mich im
Grunde als Mensch so wie ich bin nicht akzeptiert und man kann Hilfsbereitschaft
auch nicht einfordern, man kann darum bitten, man kann danach fragen, das wurde
aber komplett so vom Tisch gewischt. Da ist dieses Denken: sie hat mich in die Welt
gesetzt, so nach dem Motto, sie wird älter, ich bin der Sohn und ich bin verpflichtet,
sie zu unterstützen. Wie das Verhältnis ist, das spielt überhaupt keine Rolle für sie.
Das geht nicht. Ich kann nicht für meine Mutter einkaufen gehen oder Fenster
putzen, wenn ich gleichzeitig weiß, sie interessiert sich für mich, für mein Leben
überhaupt nicht. Wenn ich etwas Privates erzähle und sie nach einem halber Stunde
das Gesicht verzieht, weil es sie überhaupt nicht interessiert. Das geht nicht.
Erzählerin
Sind wir unseren Eltern denn nicht auch etwas schuldig?
Markus (OT2)
Das hat für mich immer wieder, läuft für mich immer am Ende auf ein Besitzdenken
hinaus. Kinder zu lieben, ist ja genauso wie in der Beziehung oder in der
Freundschaft, kann nur dann wahrhaftig und ehrlich sein, dann sie selbstlos ist, und
nicht wenn ich immer denke, was habe ich davon. Und ich glaube, dass Kinder eben
kein Besitz sind, dass sie einem nicht gehören. Und das hat Erich Fromm auch oft
gesagt, von dem ich eine großer Anhänger bin. Die Autorität kriegt man dadurch, als
Erwachsener, als Eltern, weil man ein Vorbild ist, wenn man das Kind akzeptiert,
respektiert und inspiriert, wenn man den Horizont erweitern kann und wenn man das
Kind dann einfach auch so nimmt, wie es ist.
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Erzählerin
Wenn die Eltern es aber selbst schwer hatten und diese selbstlose Liebe nicht geben
können – müssen wir ihnen dann nicht ihre Schwächen nachsehen?
Markus (OT3)
Da würde von mir erwartet werden, dass ich halt ganz ganz viel Verständnis
gegeüber meiner Mutter habe, ganz ganz viel. So, und sie dann faktisch irgendwann
so mehr oder weniger als Opfer sehen würde oder als jemand, der seine Gefühle
nicht ausdrücken kann, also jedenfalls muss ich da ganz viel Verständnis dafür
aufbringen – ((und ich bin dazu erstens nicht in der Lage und selbst wenn weiß ich
das auch nicht, ob ich das wollen würde.)) Das hat dann auch wieder nix mit
Augenhöhe zu tun, letztlich, dann ist es nämlich irgendwann umgekehrt.
((Und ähm, man kann nicht, wenn man seine Kindern 20 Jahre da irgendwie lang
schlecht behandelt hat, oder keine Wärme gegeben hat, kein gutes harmonisches
Familienhaus hat, dann einfach ein so n Satz dahin sagen und dann ist wieder alles
tutti.)) Es muss der Versuch dahinterstehen, es besser machen zu wollen. Wenn man
nur diesen Satz sagt „Ich hatte es auch schlecht und deshalb war ich auch schlecht“,
ganz grob zusammengefasst, und dann aber alle so bleibt wie vorher alles, dann
kommt das nicht so ehrlich und authentisch rüber.
Erzählerin
Wenn Deine Mutter sich nun aber nicht verändert, bleibst Du dann beim
Kontaktabbruch – für immer, bis an ihr Lebensende?
Markus (OT4)
Klar ist das schon ne komische Vorstellung, aber ähm, puh, also ehrlich gesagt, auch
wenn es jetzt voll hart klingt, ehrlich gesagt, vermiss ich sie da irgendwie auch gar
nicht, es gab immer nur Streit und Konflikte, dass es sich so verfestigt hat, dass ich
halt nur noch glaube, also wenn sie ihre Grundeinstellung ... so diese
Grundeinstellung, ich hab Interesse, meinen Sohn auch einfach nur kennenzulernen,
so einfach, absurd wies klingt, so banal, dann kanns auch funktionieren. Aber wenn
sie zu allem auch dicht macht, dann eben nicht.
Erzählerin
Ist der Kontaktabbruch bei schwierigen Familienverhältnissen also der richtige Weg?
Markus (OT 5)
Es muss von Fall zu Fall austariert werden. Aber wenn man mit sich im Reinen ist,
und sagt, es geht nicht mehr anders, die Differenzen sind einfach zu groß ohne jetzt
so als Werkzeug oder Methode, Strafmittel zu benutzen, um die Eltern zu bestrafen
oder irgendetwas zu erwarten, sondern nur aus eigener Überzeugung, dass man
sagt, es geht einfach nicht anders und mir gehts besser dabei – ja, dann würde ich
das so empfehlen, ja.
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Erzählerin
Die Begegnung mit Markus hat mir bewusst gemacht, dass ich ein Recht darauf
habe, von meinen Eltern respektvoll behandelt zu werden und auch an sie
Erwartungen stellen darf. Warum sollte ich in Kauf nehmen, angeschrien und mit
Vorwürfen malträtiert zu werden, nur um des Kontakt willens? Was würde ich
bekommen außer Agressionen und Gejammer über die böse Welt und die
zurechtgeschusterten Heldengeschichten meines Vaters? Dann ist es eben so. Dann
lebe ich eben ohne Kontakt zu meinen Eltern – und das ist gut so. Danke, Markus.
Atmo:
Engelchen, Engelchen flieg – Kinderlachen, Eltern spielen mit ihrem glucksenden
Kind
Erzählerin
Drei Monate sind seit dem Gespräch mit Markus vergangen. Nach der anfänglichen
inneren Ruhe bin ich wieder hin- und hergerissen.
Wäre es nicht doch möglich, sich neu und anders zu begegnen, auf einer Ebene, die
man gemeinsam erschafft?
Es sind ja doch die Eltern! Einen Versuch will ich noch wagen.
Atmo
Vogelzwitschern
Erzählerin
An einem schönen Sonnentag setze ich mich auf eine Bank unter einen alten
Apfelbaum, mit weitem Blick über Wiesen und Reben ins Tal. Ich möchte das
Telefonat ruhig und besonnen angehen.
Meine Mutter hebt ab, ja, es ginge soweit ganz gut. Ob wir uns am kommenden
Wochenende in Koblenz treffen könnten, frage ich ... Oh, am kommenden
Wochenende, oh, das ist ja ganz, ganz, schlecht, nein, das geht nicht.
Schon wieder blocken sie ab. Dann möchte ich wenigstens am Telefon einige
Anworten bekommen. Wie war das damals, als die Kinder klein waren?
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Ich erfahre einiges Neues. Sie wäre gerne weiter arbeiten gegangen, aber mit mir
war das nicht mehr möglich, den Großeltern war es zuviel, drei Kinder zu betreuen.
„Heute ist das ja viel einfacher mit den Kitas“, sagt sie, „da kann man dann alle
Kinder weggeben, ja, das hätte ich gerne so gemacht.“
Mein Vater kommt ans Telefon. Die ganze Welt ist mal wieder schlecht: die Baustelle
vor der Tür, die Nachbarn, die Chemikalien im Garten versprühen, die Anwälte, die
Ärzte. Und wie mühsam das alles war, mit wenig Geld, drei Kindern und immer Druck
auf der Arbeit. Ich zeige Verständnis: „Ja, das kann ich mir gut vorstellen, dass es für
Euch damals sehr schwierig war“. Dann fragt er: Wie geht es denn Deinen
Geschwistern, ich höre ja von keinem was, ich verstehe nicht, dass sich keiner
meldet.
Ich möchte nichts von meinen Geschwistern preisgeben und sage ihm, er könne ja
mal überlegen, ob und wie er in Kontakt mit ihnen treten möchte.
Und schon gerät er wieder in Rage. Er rollt die Geschichte des Kontaktabbruchs
zwischen ihm und meinem Bruder aus, in der er sich als das unschuldige Opfer
darstellt. Ich kann das so nicht stehen lassen und sage, mit sanfter Stimme, dass
auch er oft getrickst habe.
Jetzt flippt er total aus. „Wie kannst Du mir so etwas sagen, eine Unverschämtheit.
Ihr habt uns das ganze Leben ruiniert. Auf einen Kontakt mit solchen Menschen, da
verzicht ich drauf. Für uns seid ihr gestorben. Ins Krankenhaus habt ihr mich
gebracht, schwer krank gemacht. Denk da mal drüber nach!“
Und knallt den Hörer auf.
Atmo:
Tür fällt zu
Erzählerin
Von Markus gibt es Neuigkeiten: Seine Schwester habe um ein Treffen gebeten,
nach zwei Jahren Funkstille.
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Sie erschien hochschwanger, die Begegnung verlief richtig gut. Sie war wirklich
offen, hat ihm zugehört. Ja, und bei mir? In diesem Jahr gab es keine
Weihnachtskarte und keine Geburtstagskarte von meinen Eltern – das waren die
einzigen Zeichen, die wir uns in den vergangenen Jahren immer gesendet hatten.
Es ist nun die totale Funkstille eingetreten.
Atmos
Meeresrauschen / Wellen mit Mayday, Mayday ... ... Mayday Mayday .... Mayday
Mayday ... Maday Mayday ...
In der Sendung werden folgende Bücher erwähnt:





Tina Soliman: Funkstille. Wenn Menschen den Kontakt abbrechen, 2011
(Internetseite zum Buch www.funkstille-buch.de/)
Sabine Bode: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr
Schweigen, 2004
Peter Heinl: „Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg ...“ – Seelische Wunden
aus der Kriegskindheit, 1994

... sowie der Blog:
www.zeitgeistlos.de bzw. der Blogartikel von "Epikur"
www.zeitgeistlos.de/zgblog/2013/kinder-in-deutschland-teil-27-verlassene-eltern/
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