2 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Für mich bist du gestorben Kontaktabbruch in der Familie. Eine Tochter erzählt AutorIn: Petra Palmer Redaktion: Petra Mallwitz Regie: Iris Drögekamp Sendung: Donnerstag, 18.08.2016 um 10.05 Uhr in SWR2 Wiederholung aus dem Jahr 2014 __________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte der Sendungen SWR2 Tandem auf CD können wir Ihnen zum größten Teil anbieten. Bitte wenden Sie sich an den SWR Mitschnittdienst. Die CDs kosten derzeit 12,50 Euro pro Stück. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030. 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Mein Vater lächelte immer viel, wenn wir bei Opa waren und gab sich ganz sanftmütig. Zuhause, da lächelte er nicht so viel. Da ließ er seinen Aggressionen uns Kindern gegenüber freien Lauf. Unsere Mutter hielt zu ihm und stellte sich selten schützend vor uns. Meine Eltern sind jetzt über 80 Jahre alt. Nicht mehr lange, dann werden auch sie hier auf dem Friedhof liegen. Sie werden ihre unbeschreiblich große Enttäuschung über drei missratene Kinder mit ins Grab nehmen. Die Verletzungen, all das Unausgesprochene, Jahrzehnte des Schweigens – Hass, Wut, Traurigkeit ... vielleicht aber auch eine wie auch immer geartete Zuneigung für ihre Kinder. Was jetzt zwischen uns steht, wird dann das Erbe sein, mit dem ich leben muss. Wenn es nicht doch noch eine Annäherung geben sollte, nach der nun unglaubliche 23 Jahre währenden Funkstille ... Atmo: Sich entfernende Schritte auf Kies 2 Erzählerin spricht beim Gehen: Wo meine Großmutter mütterlicherseits wohl begraben liegt? Da meine Mutter weder zu ihr noch zu ihren Brüdern Kontakt hatte, erfuhr sie vom Tod ihrer eigenen Mutter nur aus der Zeitung. Diese Brüder - meine Onkel - habe ich nie gesehen. Eisernes Schweigen überall: Mein Neffe hat seine Großeltern nicht kennengelernt. Er wiederum hat den Kontakt zu seinem Vater abgebrochen. Dieser – mein Bruder - hat sich von mir und meiner Schwester abgewendet. Kontaktabbrüche wohin man guckt, in unserer Familie. Atmo: Kurze Stille Dann: fröhliches Lachen von spielenden Kindern weht vom Kinderspielplatz herüber, in der Nähe Eltern, die „Engelchen, Engelchen, flieg“ mit ihrem glucksenden Kind spielen Erzählerin Wenn ich ein Kind hätte, wie würde ich es ihm erklären, dass es ohne Großeltern aufwachsen würde? Vielleicht so: In einer Stimme, in der man mit kleinen Kindern spricht, später vielleicht auch etwas „surreal“ Sieh mal, mein Schatz, als ich noch so klein war wie Du, da hat mein Vater auch „Engelchen, Engelchen, flieg“ mit mir gespielt. Aber dann hat er mir dabei versehentlich den Arm ausgerenkt. Da habe ich sehr geweint. Und später dann, da hat er mir immer wieder weh getan, mit bösen Wörtern und jeden Tag so laut geschrien, dass das ganze Haus gebebt hat ... Aber vielleicht war das alles gar nicht seine Absicht, weißt Du, so wie beim Engelchenspiel ... In seinem Bücherregal stand schließlich der Ratgeber „Die glückliche Familie“, ich denke, das wollte er doch bestimmt auch – eine glückliche Familie. Vielleicht ist eines Nachts ein böser Dämon in ihn hineingeschlüpft und es war gar nicht mein Papa, der so schrecklich war. Als ich noch klein war und ihn bewunderte, da war er ja lieb zu mir. Da war ich sein Nesthäkchen. – Allerdings war er da schon böse zu meinen beiden größeren Geschwistern ... 3 Jedenfalls war es so schlimm, dass wir es nicht mehr ausgehalten haben und ausgezogen sind. Alle drei Kinder sind nie wieder nach Hause zurückgekehrt. Atmo Meeresrauschen, Schiffssignal „MAYDAY! Mayday! Mayday!“ Sprecher 1 (männlich) Wenn diese Worte über Funk zu hören sind, dann ist jemand in Lebensgefahr und braucht dringend Hilfe. Das in Not geratene Schiff kann mit der Anordnung HALTEN SIE FUNKSTILLE - MAYDAY / STOP TRANSMITTING - MAYDAY / SILENCE MAYDAY allen oder bestimmten anderen Funkstellen Funkstille auferlegen. Erzählerin Ist es nicht endlich an der Zeit, den Kontakt zu meinen Eltern wieder aufnehmen? Was steckt hinter dieser Kommunikationsunfähigkeit, die wie ein Familienerbe bei uns weitergereicht wird? In dem Buch „Funkstille“ von Tina Soliman finde ich einige Überlegungen zum Kontaktabbruch, die mich nachdenklich machen: Sprecher 2 (weiblich) Wie stellt man sich schmerzhaften Auseinandersetzungen, wenn man verunsichert und verletzt ist, nicht weiß, was man wirklich fühlt, keine Kraft für den Konflikt hat, sich schämt oder enttäuscht ist? Bietet es sich da nicht an, das Schweigen als Mittel zu wählen, um gehört zu werden?“ Erzählerin Es seien weitaus mehr Menschen von einem Kontaktabbruch betroffen als vermutet, schreibt Soliman. Die wenigsten wollten oder könnten darüber reden. Auch mir ist es sehr unangenehm, wenn ich nach meinen Eltern gefragt werde. Nein, ich habe Weihnachten nicht mit meinen Eltern verbracht. Nein, meine Eltern waren nicht bei meiner Hochzeit. Ja, sie leben noch ... denk ich mal ... Traurigkeit, Hilflosigkeit, Ohnmacht in der Stimme – seltsamerweise spüre ich keine Wut, keinen Zorn. 4 Ich streue schnell die Information ins Gespräch, dass ja alle drei Kinder keinen Kontakt haben. Denn ich möchte nicht, dass die Kontaktlosigkeit wie ein Stigma an mir klebt, dass die Leute denken: mit der muss ja was nicht stimmen, dass sie ihre Eltern alleine lässt. Auch möchte ich auf gar keinen Fall das arme Opfer mit der schlimmen Kindheit sein und erzähle deshalb normalerweise nicht, wie es bei uns zuhause zuging. Die Vergangenheit ist vergangen. Aber die Kontaktlosigkeit gehört zu meiner Gegenwart. Ein unsichtbares, schmerzhaftes Band, das mich mit meinen Eltern verbindet. Atmo: Meeresrauschen Erzählerin Den Menschen in Solimans Buch geht es nicht anders. Sie können trotz der eingestellten Kommunikation, der Funkstille, mit dem anderen nicht abschließen. Es fehlen die Aussprache, das Wissen um die Ursachen – und ein Abschiednehmen. Zum anderen, so der Hamburger Psychotherapeut Robert Stracke, den Solimann zitiert, seien da starke Emotionen für den anderen. Sprecher 3 (männlich) „Ich denke, dass bei vielen Abbrechern sehr heftige Gefühle für denjenigen da sind, zu dem der Kontakt abgebrochen worden ist. Das zeigt schon die Art und Weise, wie der Kontakt eingestellt wurde. Wenn es mir egal wäre, welche Gefühle ich diesem Menschen gegenüber hätte, könnte ich ja einfach anrufen und sagen ´Ach, weißt Du was, Du interessierst mich einfach nicht mehr.´“ Erzählerin Ja, denke ich beim Lesen, und dann würden auch die Emotionen nicht so hochkochen, wenn man sich doch einmal zufällig begegnet. Vor rund 7 Jahren war das einmal der Fall. Da sehe ich meine Eltern in der Fußgängerzone vor einer Dönerbude sitzen. „Tach, Petra. So, bist Du also in Koblenz“, knurrt mein Vater leise – während meine Mutter mir einen Platz anbietet und beginnt, stoisch die Speisekarte von oben nach unten herunterzulesen – vielleicht um das drohende Unheil abzuwenden. 5 Aber es nützt nichts. Mein Vater setzt gleich mit Vorwürfen ein, uns Kindern seien die Eltern ja egal, keiner melde sich bei ihnen, dabei hätten wir ihnen das Leben ja so schwer gemacht, uns unmöglich zuhause aufgeführt, in keiner anderen Familie gäbs sowas ... Dann sagt er: Wie geht es denn Deiner Schwester, letztens habe ich sie im Radio singen gehört, das war ganz bestimmt ihre Stimme. Ich hätte sie ja damals schon groß rausgebracht, aber bei diesem schlechten Benehmen auf der Bühne, wie die sich angestellt hat ...“ Ich entgegne bemüht ruhig, dass ich finde, dass meine Schwester ein ganz wunderbarer Mensch sei und es ihr nicht gut gehe. Sie habe mit Problemen zu kämpfen, für die die Ärzte die Gründe in der Kindheit sähen. Ehe ich mich versehe, stiehlt sich noch leise ein weiterer Satz über meine Lippen: „ ... und die Kindheit war für uns alle größtenteils die Hölle.“ Jetzt krallt sich die Wut in seinem Gesicht fest, färbt es violett – so violett wie die Druckstellen an meiner Hand waren, wenn ich sie mit der ganzen Kraft eines Kindes gegen die Klinke meiner Zimmertür stemmte, während er von außen versuchte, sie herunterzudrücken und dabei schrie „Wart nur, bis ich Dich krieg, ich schlag Dich in Grund und Boden, dass Du nicht mehr aufstehst, Du missratenes Luder, du dummes Stück Mist“. Er schreit auch jetzt. Ich stehe auf, eine Tränenflut auf meinem Gesicht. Tränen der enttäuschten Hoffnung und der Erkenntnis: Es hat sich in all den Jahren nichts verändert. Ich will nur noch weg. Da höre ich seine wuchtigen Schritte hinter mir. „Petra, Petra, so warte doch“. Mein Vater, der sagt, es tue ihm leid. Dass bei ihm damals die Nerven blank lagen. Ob ich denn nicht wüsste, dass er und Mutter ihre Kinder doch gern haben. Selten gehörte Worte aus dem Mund eines Mannes, der sich jederzeit in ein Monster verwandeln konnte. Der mir, als ich noch klein war, nach seinen Wutausbrüchen eine Tafel Schokolade vor die Zimmertür legte. Ich bin gerührt bis ins Mark. Wir verbleiben so, dass ich mich das nächste Mal melde, wenn ich wieder in Koblenz bin. Noch tagelang rüttelt mich diese Begegnung durch. Warum kann mein Vater mir nicht zuhören und sich der Vergangenheit und seiner Verantwortung stellen? Ich schlage wieder das Buch von Soliman auf. 6 Sprecher 2 (weiblich) „Der Verlassene leidet unter der Kränkung des Zurückgelassen-Seins. Das Gefühl der Verletzung trübt auf beiden Seiten die Wahrnehmung. Das Bedürfnis, das Verhalten und die Beweggründe des jeweils anderen zu verstehen, und das Vermögen, ihm auch „negative“ Gefühle zuzugestehen, sind in Mitleidenschaft gezogen. Atmo: Meeresrauschen mit MAYDAY MAYDAY Erzählerin Wir verabreden telefonisch ein Treffen. Ich habe vor, meinen Eltern einige Fragen zu stellen. Ich will sie besser kennenlernen und verstehen, warum das „Projekt Familie“ so erbärmlich scheiterte. Sie entscheiden sich für ein Kaufhausbistro als Treffpunkt. Zur Begrüßung überreichen sie mir eine Handvoll Gutscheine, die demnächst ablaufen, zum Beispiel für ein Freigetränk in der Nordsee bei einer Essensbestellung. Obwohl ich solche kuriosen Eigenheiten von früher kenne, bin ich doch für einen Moment fassungslos, nehme sie dann aber dankend entgegen. Mir gelingt es tatsächlich mit den mitgebrachten Musikbroschüren von der Arbeit, meinen Vater für kurze Zeit für mein Leben zu interessieren. Dann frage ich, ob er noch Geige spiele. Nein, das sei ja wegen der Familie und dem Beruf alles vor die Hunde gegangen. Meine Mutter erzählt, er habe sogar Konzerte mit Klavierbegleitung gegeben. Ob er denn lieber Musiker geworden wäre oder Schriftsteller – Ja, natürlich, was meinst Du denn? – knurrt er mich an. Aber die Familie habe ihm da ja einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er musste ja Geld herbeischaffen, habe sich krummgelegt, jeden Tag. Später hat er offenbar versucht, seine Träume durch die Kinder zu leben – meine Schwester, die Sängerin, ich, die Schriftstellerin ... In diesem einen Bereich erfuhr ich seine Zuwendung, wurde sogar auf einen Sockel gestellt – was im krassen Gegensatz zur alltäglichen Abwertung stand. 7 Dann sagt meine Mutter noch: Er habe uns Kinder, als wir klein waren, mit der Geige in den Schlaf gespielt. Atmo: Kurze Stille Dann unbeschwertes Kinderlachen aus der Ferne, nah: Gesang Lied Maikäfer flieg: „Maykäfer, flieg! Der Vater ist im Krieg. Die Mutter ist im Pommerland. Und Pommerland ist abgebrandt.“ Stell Dich nicht so an, haben meine Eltern häufig zu mir gesagt. Wie oft haben sie das wohl von ihren Eltern zu hören bekommen, damals im Krieg? Als sie dem Bombenhagel ausgesetzt waren, dem Hunger, den seelisch und körperlich verstümmelten Menschen. Nur die allerwenigsten Erwachsenen waren damals wohl – in dieser Welt aus Angst, Terror und Tod – in der Lage, den Kindern Geborgenheit und Sicherheit zu geben. Der Psychiater und Familientherapeut Peter Heinl beschreibt in seinem Buch „Maikäfer flieg, Dein Vater ist im Krieg“, dass die meisten Eltern die innere Not ihrer Kinder einfach ausblendeten. Sprecher 1 (männlich) „Offenbar war es ihnen nicht nur früher, während der Kriegsjahre, unmöglich gewesen, sich in ihre Kinder hineinzuversetzen, sondern der Mangel an Aufmerksamkeit hatte sich über Jahrzehnte danach erhalten.“ Erzählerin Kein Wunder, dass diese Kriegskinder, die in ihrem Leid nicht wahrgenommen wurden und sich selbst nicht spürten, als Eltern für für ihre eigenen Töchter und Söhne gefühlstaub sind. Ich will mehr über diese Generation erfahren und besorge mir das Buch „Kriegskinder“ von Sabine Bode. In vielem erkenne ich meine Eltern wieder: 8 Diese extreme Sparsamkeit, ja Geiz, und der unbedingte Wille, sich etwas aufzubauen. Die Prägung durch das nationalsozialistische Erziehungsideal einer distanzierten „Aufzucht“. Der Jähzorn der kriegstraumatisierten Väter. Das Verschweigen der Schrecken der Kriegskindheit. - Nur eine Geschichte erzählte meine Mutter immer wieder. Als kleines Mädchen, das kläglich hungerte, bekam sie eines Tages eine Butterstulle geschenkt. Ihre Mutter kratzte jedoch die Butter herunter und gab sie dem kranken Brüderchen. Vielleicht hofften meine Eltern, als sie eine Familie gründeten, tief in ihrem Inneren, dass die Kinder sie glücklich machen und ihre verletzten Seelen heilen würden. Atmo Meeresrauschen Atmo Kurz Stille. Dann Kinderlachen von ferne, Eltern, die mit ihrem glucksenden Kind „Engelchen, Engelchen, flieg“ spielen Sprecherin: Nach dem Treffen im Kaufhaus-Bistro begleite ich meine Eltern noch bis ans Auto. Mein Vater links, meine Mutter rechts gehen so dicht neben mir, dass sich unsere Schultern ab und an berühren. Am Auto angekommen, brechen dann doch wieder die Vorwürfe aus meinem Vater heraus: „Schon in der Bibel steht, Du sollst Vater und Mutter ehren. Ich hätte es nie gewagt, mich meinen Eltern gegenüber so zu benehmen wie ihr. Wie ihr Euch damals aufgeführt habt!“ Ich entgegne: „Ja, zu dem Thema könnte ich auch einiges sagen, aber ich finde, wir haben es gut geschafft, uns einmal zu begegnen ohne Streit und Wutausbrüche, damit würde ich gerne auseinandergehen.“ Ich dachte, mit diesem Treffen hätten wir einen guten Anfang gemacht. Im Abstand von einigen Monaten rufe ich noch mehrmals an, um eine weitere Begegnung zu vereinbaren. 9 Meine Eltern berichten mir am Telefon jedesmal von Ärgernissen, Sorgen und Krankheiten, aber sie winden sich wie Aale, wenn es um ein Treffen geht. Mal ist es die Steuererklärung, mal ein verletzter Fuß. Warum gebe ich nicht einfach auf? Warum kann ich nicht loslassen? Ich führe doch mittlerweile – nach Therapie und mit einem verständnisvollen Partner an meiner Seite – auch ohne sie ein gutes Leben. Auch wenn ich mich oft – ohne familiäre Wurzeln und Rückhalt, ohne Urvertrauen – etwas verloren in der Welt fühle und hin und wieder mit Angstzuständen zu kämpfen habe ... Wieso sehne ich mich nach einer heilen Familienwelt, die es doch nie gegeben hat? Sind die jahrelang eingeimpften Schuldgefühle am Wirken? Will ich meine Eltern aus ihrem offensichtlich einsamen Leben erretten? Die Jahre vergehen, das Leben meiner Eltern neigt sich ihrem Ende zu und die Gefühle zerren nun schon seit langer, langer Zeit an mir. Wie geht es denn eigentlich anderen in einer ähnlichen Situation? Ich google im Internet nach „Kontaktabbruch in der Familie“ - und finde viele hochemotionale Foreneinträge von Eltern wie Kindern. Und ich stoße auf einen Artikel in dem Blog „zeitgeistlos.de“, der sich wohltuend abhebt. Der Autor nennt sich Epikur ... Atmo Tastengeklapper mit Text darüber Erzählerin „Lieber Epikur, ich habe gerade Deinen Artikel über den Kontaktabbruch zwischen Kindern und Eltern gelesen und bin ganz begeistert, weil er so klar ist in der Analyse der Gründe und der Konsequenzen. Obwohl Du selbst ja offenbar betroffen bist, ist da keine Verbitterung oder Verzweiflung zu spüren. Es sieht so aus, als wärest Du im Reinen mit dem Kontaktabbruch. Ich würde mich gerne einmal mit Dir austauschen ...“ 10 Erzählerin Epikur willigt ein, wir treffen uns. Er ist 36 Jahre alt, Politologe, Redakteur und Blogger und heißt im realen Leben Markus. Markus hat seit einem großen Streit vor zwei Jahren mit seiner Mutter und ihrem Lebensgefährten keinen Kontakt mehr mit ihr. Auch zu den Schwestern herrscht Funkstille, da sie eng mit der Mutter verbandelt sind. Als philosophisch interessierter, reflektierter Mensch mit klaren Wertvorstellungen erwartet Markus heute von jedem und eben auch von seiner Mutter einen respektvollen Umgang. Er ist zum Beispiel nicht mehr bereit hinzunehmen, dass sie sich weigert zu lüften, wenn sie ihn bei sich zuhause vollqualmt, und lehnt auch ihre Forderung nach Hilfe im Haushalt ab. Markus (OT1, 0´45) Ich hab ihr versucht zu erklären, ich kann nicht einem Menschen helfen, der mich im Grunde als Mensch so wie ich bin nicht akzeptiert und man kann Hilfsbereitschaft auch nicht einfordern, man kann darum bitten, man kann danach fragen, das wurde aber komplett so vom Tisch gewischt. Da ist dieses Denken: sie hat mich in die Welt gesetzt, so nach dem Motto, sie wird älter, ich bin der Sohn und ich bin verpflichtet, sie zu unterstützen. Wie das Verhältnis ist, das spielt überhaupt keine Rolle für sie. Das geht nicht. Ich kann nicht für meine Mutter einkaufen gehen oder Fenster putzen, wenn ich gleichzeitig weiß, sie interessiert sich für mich, für mein Leben überhaupt nicht. Wenn ich etwas Privates erzähle und sie nach einem halber Stunde das Gesicht verzieht, weil es sie überhaupt nicht interessiert. Das geht nicht. Erzählerin Sind wir unseren Eltern denn nicht auch etwas schuldig? Markus (OT2) Das hat für mich immer wieder, läuft für mich immer am Ende auf ein Besitzdenken hinaus. Kinder zu lieben, ist ja genauso wie in der Beziehung oder in der Freundschaft, kann nur dann wahrhaftig und ehrlich sein, dann sie selbstlos ist, und nicht wenn ich immer denke, was habe ich davon. Und ich glaube, dass Kinder eben kein Besitz sind, dass sie einem nicht gehören. Und das hat Erich Fromm auch oft gesagt, von dem ich eine großer Anhänger bin. Die Autorität kriegt man dadurch, als Erwachsener, als Eltern, weil man ein Vorbild ist, wenn man das Kind akzeptiert, respektiert und inspiriert, wenn man den Horizont erweitern kann und wenn man das Kind dann einfach auch so nimmt, wie es ist. 11 Erzählerin Wenn die Eltern es aber selbst schwer hatten und diese selbstlose Liebe nicht geben können – müssen wir ihnen dann nicht ihre Schwächen nachsehen? Markus (OT3) Da würde von mir erwartet werden, dass ich halt ganz ganz viel Verständnis gegeüber meiner Mutter habe, ganz ganz viel. So, und sie dann faktisch irgendwann so mehr oder weniger als Opfer sehen würde oder als jemand, der seine Gefühle nicht ausdrücken kann, also jedenfalls muss ich da ganz viel Verständnis dafür aufbringen – ((und ich bin dazu erstens nicht in der Lage und selbst wenn weiß ich das auch nicht, ob ich das wollen würde.)) Das hat dann auch wieder nix mit Augenhöhe zu tun, letztlich, dann ist es nämlich irgendwann umgekehrt. ((Und ähm, man kann nicht, wenn man seine Kindern 20 Jahre da irgendwie lang schlecht behandelt hat, oder keine Wärme gegeben hat, kein gutes harmonisches Familienhaus hat, dann einfach ein so n Satz dahin sagen und dann ist wieder alles tutti.)) Es muss der Versuch dahinterstehen, es besser machen zu wollen. Wenn man nur diesen Satz sagt „Ich hatte es auch schlecht und deshalb war ich auch schlecht“, ganz grob zusammengefasst, und dann aber alle so bleibt wie vorher alles, dann kommt das nicht so ehrlich und authentisch rüber. Erzählerin Wenn Deine Mutter sich nun aber nicht verändert, bleibst Du dann beim Kontaktabbruch – für immer, bis an ihr Lebensende? Markus (OT4) Klar ist das schon ne komische Vorstellung, aber ähm, puh, also ehrlich gesagt, auch wenn es jetzt voll hart klingt, ehrlich gesagt, vermiss ich sie da irgendwie auch gar nicht, es gab immer nur Streit und Konflikte, dass es sich so verfestigt hat, dass ich halt nur noch glaube, also wenn sie ihre Grundeinstellung ... so diese Grundeinstellung, ich hab Interesse, meinen Sohn auch einfach nur kennenzulernen, so einfach, absurd wies klingt, so banal, dann kanns auch funktionieren. Aber wenn sie zu allem auch dicht macht, dann eben nicht. Erzählerin Ist der Kontaktabbruch bei schwierigen Familienverhältnissen also der richtige Weg? Markus (OT 5) Es muss von Fall zu Fall austariert werden. Aber wenn man mit sich im Reinen ist, und sagt, es geht nicht mehr anders, die Differenzen sind einfach zu groß ohne jetzt so als Werkzeug oder Methode, Strafmittel zu benutzen, um die Eltern zu bestrafen oder irgendetwas zu erwarten, sondern nur aus eigener Überzeugung, dass man sagt, es geht einfach nicht anders und mir gehts besser dabei – ja, dann würde ich das so empfehlen, ja. 12 Erzählerin Die Begegnung mit Markus hat mir bewusst gemacht, dass ich ein Recht darauf habe, von meinen Eltern respektvoll behandelt zu werden und auch an sie Erwartungen stellen darf. Warum sollte ich in Kauf nehmen, angeschrien und mit Vorwürfen malträtiert zu werden, nur um des Kontakt willens? Was würde ich bekommen außer Agressionen und Gejammer über die böse Welt und die zurechtgeschusterten Heldengeschichten meines Vaters? Dann ist es eben so. Dann lebe ich eben ohne Kontakt zu meinen Eltern – und das ist gut so. Danke, Markus. Atmo: Engelchen, Engelchen flieg – Kinderlachen, Eltern spielen mit ihrem glucksenden Kind Erzählerin Drei Monate sind seit dem Gespräch mit Markus vergangen. Nach der anfänglichen inneren Ruhe bin ich wieder hin- und hergerissen. Wäre es nicht doch möglich, sich neu und anders zu begegnen, auf einer Ebene, die man gemeinsam erschafft? Es sind ja doch die Eltern! Einen Versuch will ich noch wagen. Atmo Vogelzwitschern Erzählerin An einem schönen Sonnentag setze ich mich auf eine Bank unter einen alten Apfelbaum, mit weitem Blick über Wiesen und Reben ins Tal. Ich möchte das Telefonat ruhig und besonnen angehen. Meine Mutter hebt ab, ja, es ginge soweit ganz gut. Ob wir uns am kommenden Wochenende in Koblenz treffen könnten, frage ich ... Oh, am kommenden Wochenende, oh, das ist ja ganz, ganz, schlecht, nein, das geht nicht. Schon wieder blocken sie ab. Dann möchte ich wenigstens am Telefon einige Anworten bekommen. Wie war das damals, als die Kinder klein waren? 13 Ich erfahre einiges Neues. Sie wäre gerne weiter arbeiten gegangen, aber mit mir war das nicht mehr möglich, den Großeltern war es zuviel, drei Kinder zu betreuen. „Heute ist das ja viel einfacher mit den Kitas“, sagt sie, „da kann man dann alle Kinder weggeben, ja, das hätte ich gerne so gemacht.“ Mein Vater kommt ans Telefon. Die ganze Welt ist mal wieder schlecht: die Baustelle vor der Tür, die Nachbarn, die Chemikalien im Garten versprühen, die Anwälte, die Ärzte. Und wie mühsam das alles war, mit wenig Geld, drei Kindern und immer Druck auf der Arbeit. Ich zeige Verständnis: „Ja, das kann ich mir gut vorstellen, dass es für Euch damals sehr schwierig war“. Dann fragt er: Wie geht es denn Deinen Geschwistern, ich höre ja von keinem was, ich verstehe nicht, dass sich keiner meldet. Ich möchte nichts von meinen Geschwistern preisgeben und sage ihm, er könne ja mal überlegen, ob und wie er in Kontakt mit ihnen treten möchte. Und schon gerät er wieder in Rage. Er rollt die Geschichte des Kontaktabbruchs zwischen ihm und meinem Bruder aus, in der er sich als das unschuldige Opfer darstellt. Ich kann das so nicht stehen lassen und sage, mit sanfter Stimme, dass auch er oft getrickst habe. Jetzt flippt er total aus. „Wie kannst Du mir so etwas sagen, eine Unverschämtheit. Ihr habt uns das ganze Leben ruiniert. Auf einen Kontakt mit solchen Menschen, da verzicht ich drauf. Für uns seid ihr gestorben. Ins Krankenhaus habt ihr mich gebracht, schwer krank gemacht. Denk da mal drüber nach!“ Und knallt den Hörer auf. Atmo: Tür fällt zu Erzählerin Von Markus gibt es Neuigkeiten: Seine Schwester habe um ein Treffen gebeten, nach zwei Jahren Funkstille. 14 Sie erschien hochschwanger, die Begegnung verlief richtig gut. Sie war wirklich offen, hat ihm zugehört. Ja, und bei mir? In diesem Jahr gab es keine Weihnachtskarte und keine Geburtstagskarte von meinen Eltern – das waren die einzigen Zeichen, die wir uns in den vergangenen Jahren immer gesendet hatten. Es ist nun die totale Funkstille eingetreten. Atmos Meeresrauschen / Wellen mit Mayday, Mayday ... ... Mayday Mayday .... Mayday Mayday ... Maday Mayday ... In der Sendung werden folgende Bücher erwähnt: Tina Soliman: Funkstille. Wenn Menschen den Kontakt abbrechen, 2011 (Internetseite zum Buch www.funkstille-buch.de/) Sabine Bode: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, 2004 Peter Heinl: „Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg ...“ – Seelische Wunden aus der Kriegskindheit, 1994 ... sowie der Blog: www.zeitgeistlos.de bzw. der Blogartikel von "Epikur" www.zeitgeistlos.de/zgblog/2013/kinder-in-deutschland-teil-27-verlassene-eltern/ 15
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