1 Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Dewotschka und toter Mann. Ein friesischer Seebestatter und seine sowjetische Seele Von Paula Schneider Produktion: DLF 2010 (Wiederholung vom 26.02.2010) Redaktion: Ulrike Bajohr Sendung: Freitag, 17.02.2017, 20:10-21:00 Uhr Regie: Leonhard Koppelmann Sprecherin: Marita Breuer Sprecher: Michael Wittenborn Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - 1 2 ATMO/MUSIK MANN Klingelte das Telefon: - Hier ist Wolodja Putin. -Ach so? wie geht’s denn so… - Ja die haben mich hier eingeladen zu ner Hafenrundfahrt. Ich dachte du machst das. - Gern. Und denn kam der mit seiner Frau und zwei hübschen Töchtern an Bord. Und da waren 4 Polizeiboote: voraus, backbord, steuerbord, und achtern. Wunderbar, dachte ich, kannste noch einen trinken dabei, und er auch. Sind wir durch `n Hafen geschippert. Drumrum die Boote, mit Blaulicht und so. Besser kann `s gar nicht sein. ATMO / MUSIK 01 Jetzt habe ich ihn das letzte Mal gesehen, da war ich zufällig dort. Da war Schröder noch Kanzler. Und die sind ja befreundet Und ich saß zufällig auf meinem Hocker... MANN Frag ich die Milizleute: was macht ihr denn hier? - Ja, nasch president budjet… ff Und da kam er dann auch, mit Schröder im Schlepptau. Und da sagte er: kennst du deinen Bundeskanzler eigentlich persönlich? Nee. Na, hier ist er. Und da sagte der Schröder: mein Name ist Schröder. Mein Name ist Drees. Oh, schon viel von Ihnen gehört. ATMO / MUSIK ERZÄHLERIN /Ansage Dewotschka und toter Mann. Ein friesischer Seebestatter und seine sowjetische Seele Ein Feature von Paula Schneider. ATMO /MUSIK hoch und weg 2 3 ERZÄHLERIN Eben noch ist Opa auf den Balkon gegangen: Die Winterjacke überm Bademantel zugezurrt, nachmittägliche Spatzen oder gefrorene Pfützen mit schwachen Augen fixierend. Hat den Aschenbecher auf dem Klapptisch zu sich herangezogen, und langsam, fast ganz zufrieden, die dritte und letzte Zigarette des Tages geraucht. ATMO /MUSIK ERZÄHLERIN Und dann? Ein fremder dünner Mann... MANN Wir, die Seebestattungsreederei des Broder Drees, wissen aus langer Erfahrung, wie Menschen sich fühlen, die einen Angehörigen verloren haben. Die Reaktionen auf diesen Einschnitt können so unterschiedlich sein wie die Menschen selbst. ATMO /MUSIK ERZÄHLERIN Stoisch blickt der dünne Mann die paar Rentner an, die sich zwischen dem altmodischen Zweimaster und den zugeknöpften Gestalten am Bug verirren. Sein Bart überm Mund passt zum Haarschopf: schlohweiß gegen die dunkle Jacke. Broder Drees, so heißt er. Getauft in Nordfriesland, als der Krieg eben vorbei war. ATMO ERZÄHLERIN Ein Oktobertag wie aus Bernstein gemacht. Kein Windstoß zerfetzt den sonnengelben Teppich aus Laub da hinten auf der Kurpromenade. Das dunkel-beplankte Schiff lässt auch den dicken Kolberger Leuchtturm hinter sich, der seine Spitze im deutschen Krieg verloren hat. 3 4 ATMO ERZÄHLERIN Jetzt steht der Turm schon lange in Polen: in Kolobrzeg. Aber die kleine Trauergesellschaft auf dem Schiff ist aus Berlin. Witwe und zwei erwachsene Enkel von Herrn S. Der war auf dem dicken Leuchtturm Funker in Kolbergs chaotischen letzten deutschen Tagen, erzählt die Witwe: viele habe er gerettet. Herr S. hat in seinen späten Jahren für deutsch-polnische Freundschaft gekämpft. ATMO ERZÄHLERIN Kurz hinter der Hafenmauer frischt der Wind auf, er schlägt mit der Segelschnur Signale gegen den Mast, wie mit der Takelage eines alten Piratenschoners. ATMO 03 OT D: Die Ostsee war wie n Ententeich… ERZ Und nun Wellen-Hänge, Wellen-Schluchten. 04 OT D: die Wellen bauen sich auf urplötzlich mit dem plötzlichen Wind… Das kam genau - oder fast zeitgleich mit unserem Verlassen des Hafens. Wir wären auch gar nicht losgefahren wenn wir das gewusst hätten. ATMO ERZÄHLERIN Der Seegang zwingt an den Schiffsrand. Wirft das schmale Schiff herum wie ein Spielzeug. 05 OT D: Die See braucht ganz kurze Zeit, bis sie sich aufbaut, dann bleibt sie erstmal stehen. Kentern kann jedes Schiff. 4 5 ATMO ERZÄHLERIN Bald lässt die wütende Ostsee niemanden mehr frei an Bord stehen. Vorwärts geht es nur kriechend, oder man bleibt gleich auf den Seitenbänken sitzen. Aber die Witwe an der Reling hält stand. Steht aufrecht im nassen Wind, wie ein Mast, die Jacke hochgeschlossen bis zum Kinn; und lächelt sogar. 06 OT Witwe: Mein Mann musste sowas auch alles aushalten, und viel schlimmeres. ATMO ERZÄHLERIN Drees, vom auf und ab geworfenen Schiff im Heckwinkel auf den Boden gedrängt, stemmt die langen Beine gegen Mast und Planken. Hält die Urne fest zwischen den Knien. 07 OT D: Jo, wenn die runter fällt, dann geht sie kaputt... Das ist wie Zwieback. ATMO ERZÄHLERIN Die Ostsee schluckt den Kranz, schluckt die Urne, schluckt dreieinhalb Kilo Asche.. ATMO 08 OT D: Ich wollte noch weiter raus, aber ich hab gesagt, das ist zu gefährlich jetzt, Es ist gestern eigentlich alles schief gelaufen was schief laufen konnte. ERZÄHLERIN Eigentlich soll sich die See im Zentrum von drei Ehrenrunden um die Urne wundersam beruhigen. ATMO 5 6 ERZÄHLERIN Aber heute ist sie untreu, die Freundin, die See. Zankt wie nie. MANN (enttäuscht) Dabei ist Würde so wichtig. Im Leben... Und Tod gehört ja auch zum Leben. ERZÄHLERIN Drees-Wetter: Erst unverfänglich, und plötzlich dramatischer, als man´s glauben will. ATMO 09 OT Witwe: Also wenn er sein richtiges Ritual durchziehen kann, könnte ich mir vorstellen, doch, ist schon recht feierlich. Ja, auch mit diesem Glasen. ERZÄHLERIN Glasen: Vier mal die Schiffsglocke schlagen. Ein Seemannsbrauch wie der Rasmus-Schluck, bei dem man wortlos einen Schluck Wodka aus dem kleinen Plastikbecher trinkt, und den zweiten ins Meer gießt, der Urne hinterher. 10 OT W: Das muss sein, wenn man diese Beziehung hat zum Meer und zu den Schiffen. Die werden ja auch mit diesem Dings da geweckt. Dit is ja eben auch: Wachablösung. Und Wachablösung war ja im Grunde genommen: aufwachen, ihr Anderen. Jetzt können die mal in die Koje. Das kannte er ja alles. ATMO 11 OT W: Der eine Enkel, der fährt auch so gern zur Ostsee. Und jedes Mal, wenn du ins Wasser gehst, kannste sagen: Opachen! ERZÄHLERIN (leise) Na? ATMO 6 7 MANN Die Seeleute sagen: „Das Leben ist eine große Reise, und der Tod ist das Einlaufen in den Heimathafen. 12 OT Drees: ... hab ich Ihnen erzählt von der Mönkemeier Geschichte in Hamburg? Mönkemeier war 30 Jahre lang Hafendirektor in Hamburg. 2,20 groß. Ein Riesen Mann. „Und krieg keinen Schreck, ich hab ne neue Braut“, sagt er. Der, die Beine auf seinem Tisch, klopfte auf seine Lunge. Und sagt: hier sitzt die Scheiße, sagt er. Ich hab Lungenkrebs. Und da ist nichts mehr zu machen. Aber, weißt du, mein ganzes Leben hab ich immer Entscheidungen getroffen, hab mein Leben in die Hand genommen. Und das soll jetzt so bleiben. Bis zum Ende. Und das soll nicht so bitter sein. Das hab ich sonst nicht im Programm. Und sagt er: du weißt, wie Weiber sind. Dann verlieren sie wieder die Nerven. Ich möchte lieber, du bist auch dabei. ATMO 13 OT D: Und dann bin ich in Bangkok, da hat mir ein Elefant auf den Fuß getreten. Die laufen ja da durch die Straßen, ne. Und, aber Fuß ist heil geblieben. Die haben ja ganz weiche Füße. Na ja, hab ich mich gleich gemeldet, als ich wieder in Hamburg war. Sagt er: komm sofort. Und ich gleich hin. Er wieder, Füße auf dem Tisch, sagt: so, geht los jetzt. Und dann kommt die da an mit `m großen Apfelsaftglas. Und da sagt sie: das schmeckt so bitter, ich hab schon probiert. Ich tu da noch n bisschen O-Saft rein. Dann sagt sie: mach schon, mach schon. Und dann nimmt er n tiefen Schluck, das ganze Glas ausgetrunken. Und dann fallen ihm seine Augen zu. Und dann war das das. Dann haben wir noch 4 Stunden gesessen, und ihm immer mit Stecknadeln in die Beine gepiekt, ob er reagiert. Hat er aber nicht mehr. Und dann haben wir n Arzt gerufen. Und der hat den Tod festgestellt. Und dann haben wir ne tolle Seebestattung gemacht. Und eine schöne Gedenkfeier. ATMO MANN Besteht die Urne aus Salz wird sie mit einem Tampen zu Wasser gefiert.-Übrigens: Der jüngste Tote hier bei meinen Seebestattungen war ein totgeborenes Kind. ATMO /MUSIK 7 8 ERZÄHLERIN Heute sitzt Drees in seinem Hamburger Parterrebüro. An der Wand über sich ein Gemälde: Er selbst, Broder Drees, in jüngeren Tagen. Thronend in einem Sessel. Mit volleren Wangen und frecherem Lächeln. Die Lederweste des Wirts umspannt seinen Leib. Am Haar, hellblond noch statt weiß, erkennt man den Friesen. ATMO ERZÄHLERIN Der Drees unter dem Bild wirkt um ein Drittel leichter, erschöpft. Schmerzen plagen ihn, sein langer Körper sitzt verdreht auf dem antiken Sofa. Die Knie in der schmalen Anzughose stehen eckig vor. Gäbe es nicht ein paar fahle rötliche Flecke auf den Wangen, das Gesicht wäre bleich wie Haare und Schnauzbart. ATMO MANN (murmelt) Zum Arzt? Das macht alles nur schlimmer. Ich schau mir `ne schöne Frau an, dann geht’s mir schon viel besser. ATMO 14 OT D: Es gibt ja da auch Leute, die im Krankenhaus sind, und um die sich niemand kümmert, die sind ja einsam. Keiner bringt mal ne Blume vorbei oder n bisschen Obst. Bitter. ERZÄHLERIN Wenn er aufsteht, um eine Paar-Urne - eigene Erfindung -, oder Zeilen von Putin oder das Foto einer lachenden Dewotschka zu suchen, schlägt ihm sein Schmerz in die Seite. Er ächzt, verharrt zwei Sekunden, und richtet sich endlich mühsam vollständig auf. Dann zeigt er mir ein Foto von einem der Schiffe, die er, der Käptn, früher mal besaß. Und jetzt: Seebestatter also. ATMO 8 9 15 OT D: Ich mache das jetzt schon seit 12 Jahren. Und mit den Behörden hab ich nur insofern was zu tun, ich muss ihnen die Bescheinigung schicken, dass die Bestattung durchgeführt wurde, mit dem und dem Datum. Stempel, Unterschrift, das wars. Mehr brauchen die nicht. ATMO 16 OT D: Hab ich erzählt von diesen Bestattungen aus der Luft? 17 OT D: Nach dem Muster: Gebt meine Asche dem Wind. 18 OT D: Also das hat mich bewegt und begeistert. Sie müssen sich vorstellen: rechts sitzt der Pilot. Links sitzt der Seebestatter. Und dann die Urne zwischen den Kniescheiben. Und die ganzen Blumen, mit dem Kränzchen usw., viel Platz ist ja da nicht - ringsherum. Alles eine Riesen Blumenpracht, ne. Und dann sag ich dem Piloten, geh mal runter jetzt. Und dann mach ich die Tür auf. Und dann wird die Asche ausgegossen aus der Urne. MANN Ich war wieder mal der erste, der das angeboten hat. 19 OT Jetzt ist der Alarm vorbei, jetzt machen die andern das auch. Das kann gar keiner verbieten, weil wir machen das außerhalb der 12-Meilen-Zone. Da kann jeder machen was er will. AT ... 20 OT D: Außerdem ist es doch Quatsch. Es handelt sich hier um deutsche Asche, die ein deutsches Krematorium verlassen hat. Die ist garantiert ökologisch sauber. Die Elbe wird ganz anders verschmutzt. ERZÄHLERIN Aber Bestattungen im Wasser sind vielen unheimlich Für Postboten zum Beispiel, die sich weigern, Päckchen auszuliefern, auf denen Vorsicht Urne steht. MANN Schreit der Grenzer: „What about this? Say me!” - Hab ich gesagt: this is ash. -“What about ash? For what?“ 9 10 Ich schreibe auf diese Bögen bei der Einreise immer „Künstler“. Hab ich dem gesagt: ich mache Skulpturen, aus Asche. Da hat er mich durchgelassen. ATMO /MUSIK ERZÄHLERIN Dass Broder Drees drei Stunden vor einer Bestattung in einem Hafen in Thailand steht und noch das passende Schiff sucht? Kann sein. Aber Panik gibt es nicht beim Nordfriesen. Welche Hindernisse auch den Weg blockieren, die Urne wird ihr Wasser finden. Auch Nachts. 21 OT D:. Hat auch was, besonders am Hafen. Wenn die ganzen Lichter da brennen... Und jede Nacht hat auch ihre gewisse Ruhe. Ist anders als am Tage. Und das hat ja auch was zu tun mit ewiger Ruhe. ATMO /MUSIK ERZÄHLERIN Vielleicht ist Drees der Bestattungsritter von der müden Gestalt. Doch wenn, dann auch der mit dem farbigen Geist. Hat schließlich früher Kunst studiert, und Werbung. 22 OT D: Sie wissen doch, wie man so `n Zeitungsschiff macht. Und wir haben gebaut so `n Riesending. Aus Japanpapier. Dann schön verstärkt. Und haben die Asche da rein getan, in das Schiffchen. Und dann haben wir das schwimmen lassen. ATMO /MUSIK 23 OT Das ist offiziell natürlich nicht erlaubt. Aber deswegen fühl ich mich ja nicht als Verbrecher, wenn ich das nicht so mache, wie es in den Vorschriften steht. Das ist auch unlogisch. Warum wird da so ´ne Urne vorgeschrieben. Das kostet nur Geld. ATMO /MUSIK ERZÄHLERIN Und wenn schon Urnenpflicht herrscht, und Wasserlöslichkeits-Pflicht, muss die Urne nicht immer aus Salz sein. 10 11 Broder hatte die Idee einer Urne aus Brot. Also: Gerstenteig. Ein Hamburger Bäcker bäckt nach Bedarf. ATMO /MUSIK 24 OT D: Hab ich Ihnen erzählt von der Bestattung vor Gibraltar, mit den Delphinen?… Hab ich gesagt, das machen wir vor Gibraltar. Und dann hab ich n Katamaran gechartert, Zweirumpfschiff, ne. Und dann die Mutter mit ihrer Tochter, beide haben so auf dem Bauch gelegen. Die Delphine kamen immer zwischen diesen beiden Rümpfen nach oben, da haben sie die gestreichelt... Die Urne war aus Pappe. Damals gab `s diese Broturne noch nicht. Und dann habe ich die Urne beigesetzt, und da kam ein Delphin. Die haben ja diesen langen Schnabel, nicht. Uund die sind ja so verspielt, die Delphine. Und haut die Urne, -weg-. Ja, da hab ich gesagt, jetzt ist Peter bei seinen Freunden. ATMO /MUSIK ERZÄHLERIN Freunde! Manchmal ganz plötzlich! Laden Drees, obwohl sie ihn noch nie gesehen haben, zum Beispiel nach Bangkok ein. MANN Da kommt `ne wunderhübsche Thailänderin rein. Begrüßt mich mit Namen: ich bin Ihr Geschenk... und dann sollte ich ihr einen Gefallen tun auf meinen Wegen zwischen Australien, USA und Europa. ERZÄHLERIN Doch dann fragt sich Broder Drees, was die vielen Tausendmarkscheine im Koffer machen? MANN Die wollten mich als Drogenkurier! ATMO /MUSIK MANN Aber illegale Sachen mach ich nicht. 11 12 ATMO /MUSIK ERZÄHLERIN Drees lehnt sich ins Sofa zurück, ächzt, greift sich an den Rücken. Zieht umständlich das dunkle Jackett aus. Auf der ausgewaschenen T-ShirtBrust stehen Buchstaben: C C C P. Kyrillisch für UdSSR. Ein Sowjetshirt? MANN Ja! ATMO /MUSIK MANN 20 Jahre hab ich das. ATMO /MUSIK ERZÄHLERIN Vor über 20 Jahren war Drees Besitzer von 13 Hamburger Kneipen. Bier, Jazz, Lustigsein; ein ganzes Viertel vor dem Abriss gerettet… Aber ihm war ´s nicht mehr genug. Es musste wieder weitergehen. Seit seiner Kindheit ist er am liebsten gegen den Strom geschwommen. 26 OT D: Da war ich sogar der Präsident vom Mickymaus Club. Und dann haben wir alles andere gemacht als Mickymaushefte zu lesen und zu diskutieren. Ich hab damals Raketen gebaut. Und Schießpulver gemacht und son Kram. ERZÄHLERIN Also: Warum nicht in den Osten ziehen! Mitten im großen Go West. ATMO /MUSIK ERZÄHLERIN 1987, 1988… Alles schien möglich! 12 13 27 OT D: .... Ja, weil ich damals der Erste war. Also im gastronomischen Bereich im Handelsregister Nummer 1. Das ist geschichtliche Wahrheit, das lässt sich auch nicht mehr wegdiskutieren. Da hieß es: jetzt dreht er total durch, jetzt spinnt er wieder. Das war natürlich auch ne hochinteressante Geschichte: Wie betreibt man eine Gaststätte nach westlichem Muster in der damaligen Soviet Union. Da gab es keine Experten die man fragen konnte. Nichts, null Komma null. ERZÄHLERIN Da konnte eine neue Idee abheben: die „Tschaika“. Tschaika heißt Möwe. Und Tschaika die Möwe war ein brüchiges staatliches Kellerrestaurant. Ein Jahr lang wurden ihr in Hamburg neue Federn verpasst, also Möbel gebaut. MANN Ein sozialistisches Joint Venture! 28 OT D: Meine Partnerin war damals die Stadt Leningrad. MANN Die erste Westkneipe in Leningrad. Die erste mit Hamburger Bier. 29 OT D: (leise) Da waren doch auch diese ganzen Wände voller kommunistischer Parolen. Und ich war so kess u habe einfach die Parolen abgerissen und meine Reklame drübergehängt. AT russ. TV ERZÄHLERIN Auch Leningrad war aufgeregt. Aufbruchsstimmung lauerte in den Straßen. Hatte doch Gorbatschow selbst mehr Gastronomie gefordert. ATMO /MUSIK 30 OT D: Die russische oder sowjetische Seite wollten immer einen Bisnes Club machen. Das wird anders geschrieben als im englischen, Bisnes, mit i. 13 14 Und dann hab ich gesagt, wir müssen erst mal dafür sorgen, dass hübsche Mädels herkommen. Weil, das schönste Möbelstück, habe ich gesagt, ist nicht so schön wie ein hübsches Mädchen. 31 OT -Ja, aber die ganzen Geschäftsleute, auf die wir jetzt warten...? Ich sage: genau die. Die machen ihre Geschäfte am Tage. Und abends wollen sie sich amüsieren, sich unterhalten, und zwar gesellig unterhalten. AT / MU hoch, russ. TV ERZÄHLERIN Auch in Leningrad war Drees Wirt. Wirt mit einem Thron. Und zierte sich nicht, da draufzusitzen, und, mit roter Generalsjacke, oder blauer Admiralsmütze, den lustigen Mann zu machen. ATMO /MUSIK ERZÄHLERIN Alles schien so leicht! MANN Die leichten Mädchen liebe ich - gerade, wenn sie leicht sind; denn ich trage sie gern auf Händen. 32 OT „Ja, aber was macht das für `n Bild..“ Ich sage: wir reden jetzt von Geldverdienen. Na ja, und das hab ich mit Putin abgesprochen. Da sagt er: ja, recht hast du. ERZÄHLERIN Besprochen - mit Putin? ATMO /MUSIK 33 OT Ja, den hab ich mal kennen gelernt über Biertrinken.MANN In meiner Möwe, ´89 oder so... 14 15 34 OT -Die ganzen alten Stasisocken trafen sich da auch. Der hatte ja ne Jahre lang in Dresden gelebt, Putin. Vom KGB da war er ja einer. Und die waren ja Kollegen, die Stasis und die KGBs. Da war er stellvertretender Bürgermeister von Leningrad. Schon mal was, ne. Ja und dann. Der Oberbürgermeister damals hieß Anatoli Sobtschak. Und der ist dann verstorben. Viele sagen: umgebracht worden. In Königsberg. Kaliningrad. Er war der Ziehvater von Putin. 35 OT Jetzt bin ich ja nicht mehr in Leningrad. Da haben wir uns jede Woche einmal gesehen, mindestens. MANN Weil: Putin trinkt leidenschaftlich gern Bier. Schnaps nicht: Bier. 36 OT D: Und das ist eben in der Gastronomie, in der geselligen Gastronomie so üblich, dass man „du“ zueinander sagt. Und so ist das auch gelaufen. Da spricht man über alles mögliche. Ob es um die Qualität des Bieres geht, oder Weiber, oder irgendwas. MANN Putin ist nicht so kühl wie man denkt. 37 OT D: Sogar sehr umgänglich, wenn man seinen Draht gefunden hat. Da spielen so viele Sachen mit. Vertrauen und Gefühl, und -- Blickkontakt und die ganzen sinnlichen Verhältnisse spielen da ne große Rolle. 38 OT D: er hat mir auch geholfen. – Gib mir mal einen Brief. Ja, was soll denn da drinstehen. Ich wollte mit meinem Schiff , Baltikavera, eine Reise machen von Leningrad nach Hamburg. Über verschiedene Häfen. Und die Häfen sind immer so teuer. Und da hat er mir den Brief vorbeigebracht. Da stand drin, dass Herr Drees ein hochgeschätzter Bürger der Stadt sei. Und erfolgreich usw. Und der macht jetzt eine good-will-tour mit dem Schiff Baltikavera, durch verschiedene Hafenstädte. Äh, wir bitten die zuständigen Behörden im Sinne von Frieden, Freundschaft und - äh, was auch immer, ihn ordentlich zu behandeln. Und ihm alles mögliche zu gewähren. Und so kam es dann, dass wir in jedem zweiten Hafen ‚ n Rathausempfang bekamen für die ganze Mannschaft. Nur in Hamburg hörte das auf, obwohl das Partnerstädte sind. ATMO /MUSIK MANN So war das in der Tschaika. Alles vom Feinsten. 39 OT D: Die Küche war sehr überzeugend. Von rustikal, regional bis fein. 15 16 ERZÄHLERIN Das schwere dunkelrote Gästebuch stammte von einem sowjetischen Atom-U-Boot. MANN „Für die Gäste der Sowjetunion.“ ERZÄHLERIN Leute wie Henning Voscherau haben sich eingetragen, Liza Minelli… MANN Oder Joseph Brodsky, Nobelpreisträger der Literatur 1987, mit dem ich bis zuletzt freundschaftlich verbunden war. ERZÄHLERIN Oder UNO-Generalsekretär Perez de Cuellar. MANN Seine Frau ist selbst hinter den Tresen geschossen, hat Wodka eingeschenkt für ihre Gäste, fand ich kess. Irgendwann: - Maybe we would like some Hamburger.” - Bitte schön. Wir hatten aber vor allem Labskaus aus Hamburg, haben sie das gekriegt. Am nächsten Tag kamen sie wieder: Sie müssten heute Nachmittag um vier am Flughafen sein. Und ob ich das ganze Flugzeug voll machen könnte mit Labskaus, äh, Hamburgern. (lacht) ATMO /MUSIK 40 OT D: Ich brauchte ja vernünftiges Personal. Was meine Sowjetrussen da angeschleppt haben an Personal… Das ging immer nach Parteizugehörigkeit und nichts anderem. Können Sie sich vorstellen, was das für Tanten da waren. Ich habe gesagt, ich brauche schöne Mädchen. Und fleißige, wenn’s geht auch ehrliche. ERZÄHLERIN Als Kellnerinnen. 42 OT D: Erst mal geguckt, wie sehn die aus. Und was reden sie. Und dann hab ich der einen oder andern gesagt, komm mal rein, ja. Was möchtste trinken. ATMO /MUSIK 16 17 43 OT Und dann haben sie so `ne Karte gekriegt mit Foto, von sich. Und dann hab ich an der Rezeption so `ne Liste, auch mit Foto. Und mit Name, Anschrift und Telefonnummer. Und auf dem Ausweis stand dann, dass sie reindarf, ne. Und dann gehörte sie, wenn man so will, zu unserm erweiterten Kollektiv. ERZÄHLERIN Schließlich herrschte noch Kollektivismus! 44 OT Ich hab dann auch ab und zu mal so `ne Versammlung abgehalten, die alle eingeladen. Und die kamen auch alle. Und dann hab ich besprochen mit denen, wie das so weitergeht. Und was nicht so schön ist, und was sie besser lassen sollten. Und ich hatte zu denen ein prächtiges Verhältnis. Und ich hab ihnen erklärt, dass wir uns freuen, dass sie da sind. Weil sie helfen uns durchaus, den Betrieb wach zu halten, und zu fördern. ATMO /MUSIK MANN Das waren Mädchen, überwiegend Hausfrauen, und die brauchten alle Geld. So, dann haben die ihr Getränk genommen und auch bezahlt. Die anderen Gäste haben sich voller Interesse umgeguckt. Und dann sind sie vielleicht nach Hause gewackelt. Da gab `s kein Bordell, nichts. Aber die haben für Geld gevögelt. ATMO /MUSIK MANN Ich hatte damals 40 Mädels an der Leine. ATMO /MUSIK 45 OT D: So und dann hab ich da diesen Sparclub-Kasten gemacht. Jede, die dann mit `m Freier nach Hause ging, musste da 10 Dollar reindrücken. Und da kam einiges zusammen. Und die Milizleute hatten die Aufgabe, schön aufzupassen, dass denen nichts passiert, und dass da keine Zuhälter reinkommen. MANN Das hätte alles verdorben. Deshalb war das Geld aus dem SparclubKasten für die Miliz. 17 18 ATMO /MUSIK 46 OT Und diese Mädels die nannten sich auch nicht, oder wurden nicht genannt, Prostituierte oder Nutten, nein, nein. Die wurden ganz normal Dewotschki, also Fräuleins-. Die waren auch nicht so wie hier die beruflichen. Nee, nee. MANN (zärtlich) Dewotschka. ATMO /MUSIK MANN ... Dewotschki… ERZÄHLERIN Anfang der 80er Jahre war Broder mit dem Hamburger Bürgermeister das erste Mal nach Leningrad gekommen. Hatte die Russen sein Bier kosten lassen. Und, viel wichtiger, in die Augen des ersten Fräuleins Dewotschka geguckt. Danach hatte es eigentlich jedes Jahr eine Reise in den rauen Osten gegeben. Und viele schöne Augen… 48 OT Damals lief es in Leningrad anders. Die Mädels, die haben sich n schönen Abend gemacht. So, und wenn dann einer vorbeikam, der ihnen ein Getränk ausgegeben hat, haben sie sich gefreut. Das war aber keineswegs so, dass jetzt damit der Rest des Abends eingeleitet ist, nein nein. Und wenn man sich sympathisch fand, dann ist man gemeinsam nach Hause gegangen 47 OT D: Ich bin ja auch nicht krösch, ich hab ja auch mal zugegriffen, nich. 49 OT Aber wenn Sie da zu denen nach Hause kommen und sehen die Umstände da, und vergleichen das dann mit Ihren eigenen Umständen, dann zieht man gern `n Schein raus. Und wenn da noch kleine Kinder rumlaufen, dann, beim nächsten Mal, wenn man wiederkommt, dann bringt man denen auch Schokolade mit. Mein Schrank war immer voller Kosmetika und Nylons und Kinderartikel... ATMO /MUSIK ERZ Für die russischen Seele..... Ja? MUSIK Listen People... my name is Bella 18 19 50 OT D: Es gab natürlich diese Intourist Hotels. Zwei, drei gab `s in dieser 6 Millionen Stadt. Und dann gab `s diese Bar im Keller, eine sogenannte Valutabar. Und deswegen saßen die Mädels da im Keller. Und sind auch mit den, na ja, Männern mitgegangen, die da bereit waren, n paar Mark, n paar Dollar hinterher hinzulegen. Und, ja, das gab es vor meiner Zeit schon. Und daher kannte ich auch die besten Mädels. MANN Von der Bar. Nicht dass Sie `n falsches Bild kriegen. ATMO /MUSIK 51 OT D: Das war sehr – ist sehr, sehr gepflegt bis heute. Und da kommt Publikum aus der ganzen Welt. 52 OT Ich war damals eine sehr prominente Persönlichkeit. In dem Land da. Und das war bekannt und gewollt, auch politisch gewollt. (… russ. TV) 53 OT D: Der Präsident machte dann immer zu Silvester eine Neujahrsansprache. Punkt Null Uhr. An das sowjetische Volk damals. Und dann fragte die Tanja mich: sag mal, bist du bereit, 5 Minuten vor Gorbatschow eine Ansprache zu halten, an das russische Volk? Ich hab gedacht, ich hör nicht richtig. Na mach ich doch. AT dramat. TV-Ton /russ. Putsch MANN Dann kam der Putsch, dann Jelzin 54 OT ff Dann kam der Wechsel zu Jelzin. Da ruft die Tanja an: du, wir haben ja den neuen Präsidenten. Der macht ja um null Uhr die Ansprache. Gleich nach ihm, machst du da auch noch mal so `ne Ansprache? ATMO dramatischer TV-Reportageton ERZ Russland bebte, aber die Möwe Tschaika flog ruhig weiter. 55 OT Die Tanja hat dann auch so Jugendsendungen gemacht.: ...Mädchen u Jungs, was haltet ihr davon, dass er jetzt weg will hier? Dann wurde buh gerufen. 19 20 AT russ. TV 56 OT Ich war damals in gewisser Weise ein Hoffnungsträger für die Jugend. MANN Zum Beispiel als ich die Stellen ausgeschrieben hatte. 57 OT Und da stand auch ein Termin drin, wann sie sich melden können. und dann bin ich aufgewacht, durch so n komisches Geräusch im Hinterhof, was ich nicht kannte. Und ich gucke aus dem Fenster. Der ganze Hof - schwarz. Mit jungen Leuten. 58 OT D: Erzählen Sie doch mal, warum möchten sie denn nicht woanders arbeiten.. Und dann haben die, die meisten hatten ja einen Job, erzählt, was da so los ist. Da habe ich die aufregendsten Sachen erlebt, gehört meine ich. Da ging es viel um sexuelle Nötigung, und ja, unglaubliche Sachen. Ich sag Ihnen das nur, weil ich sagen wollte, warum ich ein Hoffnungsträger war für viele Menschen. MANN Ich war der erste, der normale Prinzipien der Arbeitswelt, wie in Deutschland üblich, nach Leningrad verfrachtet hat. Egal wie anders sonst alles lief. 59 OT Da ging es also nicht nach den Qualitätsmerkmalen, die man braucht, in einem normalen Betrieb. Da ging es eben, ja, hab ich eben schon gesagt. Wer zieht da wen übers Kopfkissen. Und.. ach so, dann war das noch üblich, das ist heute noch so: - wir reden jetzt von der Gastronomie-. Die Kellner und die Barleute, die müssen einen Teil ihres Gehaltes abgeben an den Direktor. Der kriegt sowieso schon bezahlt, aber die anderen werden auch noch mal geplündert. Das müssen sie machen. darüber spricht keiner. Das läuft automatisch. Überall. MANN Der Direktor steckt sich ein was er will. 1988 war das so und auch `92. Heute wird das nicht anders sein. ATMO 61 OT D: Meine Putzfrau, Lena. Das ist ein gutes Beispiel. `ne sehr sympathische, gebildete Frau. Ich hatte noch so `n Eiscafé, da hat sie gearbeitet. Dein sowjetischer Kollege, der will mir immer an die Wäsche. Und vielleicht kannst du mir helfen. 20 21 Da hab ich ihm gesagt: Boris Michailowitsch. Da haben Sie was falsch verstanden. Ich kontrolliere nicht nur den geschäftlichen Ablauf… ATMO ERZÄHLERIN Die Lena, die fast Fast-Ehefrau Nr. 4 geworden wäre? MANN Lena, war damals wissenschaftliche Mitarbeiterin des Kulturhistorischen Museums in Tblissi. Svetlana war Fotomodell. Die dritte: eine andere Lena, beste Freundin meiner Kassiererin. Ist jetzt verheiratet in England und hat ganz viele Kinder... Und dann Rosa, Prinzess of Leningrad, Miss Leningrad. War so gierig auf Deutschland! Ich konnte terminlich nicht zur Hochzeit, sie ist allein geflogen... Hat einen reichen Mann getroffen gleich in Frankfurt und lebt mit ihm bis heute! 62 OT D: Zweimal war ich auf dem Standesamt, da hat das nicht geklappt. Gott sei Dank. Und das andere mal war ich mit einer Russin in Dänemark auf dem Standesamt. Das hat dann geklappt. Und 7 Jahre gedauert immerhin . Olga, Olga. Und die Mutter meiner Tochter heißt auch Olga. ATMO /MUSIK /TV ERZÄHLERIN Broder Drees - eine Skandalnudel, ständig in den Medien aufgewärmt wie Blini und Piroggen? 63 OT D: Die einfachen Leute, die hatten damit sowieso nix zu tun. Die hatten andere Sorgen. ATMO MANN Hab ich erzählt von der Suppenküche? 21 22 64 OT Also anfangs konnte ich nur Valuta kassieren, also Devisen. Und dann hab ich natürlich gesehen, wie die Russen, die auf der Straße da jeden Tag längs liefen, immer reingeguckt haben, und die schöne Einrichtung gesehen, das schöne Bier und so. Und die schönen Knackwürste, die da übrigens begehrter waren als Kaviar. Nemetzki sausitzki. Na ja, und so geht das ja auch nicht; da hab ich irgendwann n schlechtes Gewissen. Und da hab ich bei der Hamburger Feuerwehr angerufen, den Pressechef den kannte ich gut. Ihr habt da bei euch auf dem Hof `n paar Gulaschkanonen stehen. Die stehen da immer nur rum. Gebt mir eine, leihweise. Nach Leningrad. Und dann musste ja auch was rein in die Suppe, und das hat Langnese Iglu großenteils gemacht. Die haben das geschenkt. Und so haben wir jeden Tag bis zu 800 Leute mit kalorienreicher Suppe beköstigt, umsonst. Das waren natürlich arme Leute, die kamen dann alle mit Konservendosen oder Milchkannen, und dann wurde das umgefüllt mit `ner Kelle. Und dann haben sie das mit nachhause genommen. ATMO MANN Trotzdem... 65 OT Damals zu kommunistischen Zeiten, da war die Welt in Ordnung. Aus meiner Sicht jedenfalls. Und nun kam die Privatisierung dazu, und da witterten die Leute Geld. Und wenn sie Geld wittern, dann werden sie ganz anders, ganz komisch manchmal. ATMO 66 OT Na ja, und dann sollte der Laden privatisiert werden, so nannte sich das da. Da kam auch der Erlass vom Präsidenten, der sah das vor. Und das hab ich dann verhindern können. und das hat verschiedenen Leuten nicht gepasst. Aus meinem eigenen Umfeld, ne. Dann haben wir nachher das dadurch verhindert, dass wir eine Aktiengesellschaft gegründet haben. ERZ Trotzdem schlug die sowjet-russische Bürokratie zu. Steuern von 60, 80 oder, Importsteuer!, auch 3000 Prozent. Oder Buchhalterallmacht. Oder eben Präsidentenerlasse. 67 OT D: Nischnigolonbank war das, Staatliche Außenhandelsbank der damaligen UDSSR. Das war zu Präsident Jelzins Zeit. Die hatten kein Geld mehr. und es gab einen Präsidentenerlass, so nennt sich das da. Ukas Präsident Jelzina. Dass alle Vermögen von Ausländern eingefroren werden. 22 23 Juristisch sind sie aus dem Schneider. Weil als ich das Geld abgegeben hatte bei der Bank, da war der Kurs 1 zu 4. Das Konto musste in Rubel geführt werden. ...Und als dann die ganze Einfrieraktion gelaufen war nach ein paar Jahren, da war 1: 1700. MUSIK MANN Anderthalb Millionen Mark, zack, ein großer Eisblock. ATMO /MUSIK 69 OT D: Ich musste aber weiter Gelder nach Deutschland schaffen, weil ich hatte Bier zu bezahlen, und Knackwürste und Technik. Und da haben wir, hab ich das Geld mit Bierfässern geschmuggelt. Mit ner ganz feinen Säge den oberen Teil abgesägt. `ne halbe Million deutsche Mark in 12 verschiedenen Währungen da rein getan, mit m Gummiband gebündelt. Und dann Luftballons halb mit Wasser gefüllt, die Luftballons draufgelegt. Das Fass wieder zugemacht. Und oben ist doch dieser Kickkopf, zugeschraubt. Und dieses schwarze Gummiplättchen wieder draufgetan, alles mit feinem Händchen. Und dann zurückgeschickt nach Hamburg, als schlecht gewordenes Bier. Und dann haben die Zöllner das fass genommen, gerüttelt: aha, schlechtes Bier, aha. Ging noch mal gut. MANN Und einmal hatte ich 40 000 Mark auf der Zollerklärung verzeichnet. Ganz korrekt, dachte ich. 70 OT Und soviel Geld darf man offiziell auch ausführen. Ich zur finnischen Grenze, gestoppt, nachgeguckt, was überhaupt in diesen Tüten drin ist, die die mir von meinem Betrieb mitgegeben haben. Es war eine halb Million etwa, Deutsche Mark. Und dann: Gospodin Broder... haben Sie denn was zu verzollen. Ich hier: 40 000 Mark. Nicht mehr? Nee. Sind Sie denn ganz sicher. Ja, ganz sicher. MANN Die haben den LKW total auseinandergenommen 71 OT Die können ja nur n Tipp bekommen haben von meinen eigenen Leuten. Von den Buchhaltern. Oder von meinem Co-Direktor. So. dann habe ich mir natürlich auch die Überlegung gemacht, was wäre da passiert, wenn sie das Geld gefunden hätten. Tja, die hätten vielleicht 10 000 Mark offiziell 23 24 beschlagnahmt. Und den Rest hätten sie sich geteilt. Der Zoll, und meine Jungs da. ERZÄHLERIN Trotzdem… Das fünfjährige Jubiläum der Tschaika wurde zwar eben noch mit Bürgermeisterehre und Konzert im goldenen Spiegelsaal gefeiert, mit Feuerwerk und Pferdeschlitten voller Wodka... Aber... 72 OT Einer von den Chefs von intourist. Mich begrüßt. Und da sagt er, jetzt muss ich dich leider mit den Herren allein lassen. Die sagten dann, gospodin broder Sie sind sehr gefährdet. Passen Sie auf, und denken Sie mal nach, was sie alles falsch machen. Und da habe ich gesagt: Sie können mich ja gar nicht schrecken, ich mach nichts falsch. Sie sind nicht in Deutschland. Sie sind in Sowjet Union. Da laufen die Regeln anders. Wir wollen Sie nur warnen. So. und dann bin ich zur Tür, Tür war zu, verschlossen. Und dann bin ich fast durchgedreht. ERZÄHLERIN Die Lippen spannen trotziger; sonst verzieht Broder Drees, Seebestatter, Ex-Kneipier, keine Miene. MANN Brave Leute schlafen nachts. Ich bin aber nicht brav. MUSIK 73 OT D: So und ich hatte in dieser Nacht zwei Damen bei mir. Und die waren eingeschlafen. Ich kam gerade aus dem Bad, hatte `n Slip an und da hörte ich im Flur so komische Geräusche. Nun hatte ich, der kluge Mann baut vor, die Tür mit Panzerstahl bauen lassen. Die war von außen und von innen mit Holz verkleidet, dass es nicht so blöd aussieht, mit dem Stahl da, ne. Guck ich auf den Monitor. Und da macht es BUMM, und im selben Moment seh ich, da haut einer mit der riesen blanken Axt gegen meine Tür. 24 25 MANN Das war so ... Mitte der 90er Jahre. ATMO 74 OT Und auf einmal war das ganze Licht aus. Und dann wollte ich die Polizei anrufen, die Miliz, die unten waren. Ging nicht mehr, Telefon war auch abgehackt, alles war tot.-Und dann so BUMM, und da hat einer gegen geschossen, mit Gewehr oder Pistole, das weiß ich nicht. und da hab ich Angst gekriegt. MANN Naja, hab ich mein Hemd angezogen und eine Socke und bin aus dem Fenster gesprungen. 75 OT Und draußen waren 19 grad minus. Wie ein geölter Blitz bin ich um die Ecke geschossen vom Newski Prospekt zum Grand Hotel Europa. Die kannten mich natürlich. Und haben mir mit fester Stimme erklärt, dass ich in diesem Aufzug da nicht rein käme. Ja, zufällig kam dann `n Polizeiauto um die Ecke. So n Geländewagen. Die kannten mich auch: Broder, was ist los? 77 OT Komm ich am nächsten Tag, die Galina von der Bank sitzt da, und mein sowjetischer Kollege. Und ich. Da sagt sie: Hast du denn ne Ahnung wer das war?“ Und dann hab ich mit`m Finger, mit`m Zeigefinger: Kann sein, dass er das war. Auf meinen Kollegen, ja. Da wurde der innerhalb von Sekunden ganz grün im Gesicht. Dem ist die Galle übergelaufen. Und der hat nicht tschüß gesagt, der hat sich umgedreht und ist gegangen. Das heißt der hat sich möglicherweise ertappt gefühlt. ERZÄHLERIN Felsen im Weg. Steine in der Suppe. Hagel am Kopf. Immer, immer, immer wieder. Wer hält das aus? 79 OT D: 4 Mordversuche waren für mich ausreichend. Da fiel bei mir der Groschen. Habe ich gesagt, jetzt geh ich nach Hause. Bin ich wieder ausgewandert, nach Deutschland. 25 26 MANN 4 Mordversuche. Zum Beispiel: Mein Milizmann, der ausnahmsweise meinen Wagen fuhr, und von zwei Volvos voller Wucht gegen `n Laternenpfahl gedrängt wurde. Sein Kopf war ab. Oder: Als mir mein Technikexperte zeigte, dass die Duschbrause, die Badarmatur in meiner Wohnung, elektrisch geladen war. Wenn ich in die Wanne gestiegen wäre.... wär ich tot gewesen. ATMO 80 OT D: Also irgendwann gewöhnt man sich auch interessanterweise an diese Mordversuche, und da habe ich dann auch gesagt: machste jetzt lieber die Fliege. Sieh, zu dass du wieder zurückkommst nach Hamburg, weil irgendwann geht das mal schief. leise russ. TV (Jugend)Sendung 81 OT Und dann habe ich mich ordentlich verabschiedet. Und - ne ganze Reihe Mädels hinter mir hergelaufen. Tatsächlich. 82 OT D: Ich habe schöne hochinteressante Erinnerungen an die Zeit. Und ich möchte sie nicht missen. Aber ich will auch nicht wieder hin. Nee. das ist nicht mehr mein Russland. ATMO /MUSIK 83 OT Drees: ...Dann hab ich `ne zeitlang `n russisches Restaurant, Tschaika, in Hamburg gemacht. Und dachte, das würde laufen, weil es in der Vorstellung der Leute so interessant war. Aber Zitrone. Da lasen Leute diese russische Reklame, und haben gedacht: nee, also das ist `n Mafialaden. Da gehen wir nicht rein. ATMO /MUSIK MANN Aber- mir geht `s ja gut. Kennen Sie, das, das - Buch… 26 27 84 OT Das eine heißt: „Achtung Feuer. Wir löschen mit Benzin“. Da sind Geschichten auch von mir drin. Über mich, ja. Sie kennen das Lied doch: Ich möchte so gern am Fließband stehn, am Fließband stehn, das fließt so schön? Kennen sie das? (singt) Ich bin Künstler, können Sie mir glauben... ATMO /MUSIK 85 OT D: Ich freue mich auch jeden Morgen, wenn ich aufwache, dass ich allein bin. Dass ich den Tag frei gestalten kann, ich kann machen was ich will. Und das tu ich auch. Ich weiß morgens nicht, was im Laufe des Tages passiert. Und wie der Tag dann enden wird, ich weiß nicht. Aber in so `ner Familie, da weiß man das überwiegend genau. MANN Ich bin frei. 86 OT D: Also ich finde es aufregen. Frei, ich bin ganz frei, fühle mich jedenfalls so. ERZÄHLERIN Frei wie das Meer, ja? Und keine Sehnsucht danach, dass eine Frau mit eingecremten Händen am Tisch wartet, durchgewischt hat, Blini und Piroggen auf den Tisch stellt? 89 OT Und ich kann ruhig laut sagen, je weiter ich in die Jahre komme, desto mehr Gedanken mache ich mir über Frauen-aber nicht, weil ich diese Frauen begehre, sondern, nein. Jeden Tag nahezu denke ich: nee, das will ich gar nicht mehr. Das will ich gar nicht mehr. das ist mir zu kompliziert, Frauen sind kompliziert. Da sind Hunde einfacher. Ich finde, Frauen sehen sehr schön aus. Und sind auch überwiegend sehr angenehme, interessante, äh... gesellige Menschen. MANN Weiber bleiben Weiber - international! Gott sei Dank. ATMO /MUSIK 90 OT Ich trink gern Bier, wie Sie wissen. Und Wodka auch. Und dann sitz ich gern mit hübschen Mädels zusammen. Ich bin n geselliger Mensch eher und spreche gern. Und höre auch gern zu übrigens. 27 28 ATMO /MUSIK 92 OT D: Ich unterhalte mich ungern mit meiner Stehlampe. Und als Alleinleber, oder –lebender gehe ich demzufolge ab u zu, oder oft, in die Kneipe. Weil da Menschen sind. Ich brauche das Gespräch. Ich brauche das, irgendeine Form von sozialem Umfeld. Ich brauche auch manchmal Kritik. ATMO /MUSIK 93 OT Ich will noch lernen, dazulernen, was erleben. Und das kann ich zu Hause nicht, weil da ist keiner. Nicht mal `ne Katze habe ich da. Es gibt Gedanken, die muss man einfach mal loswerden. MANN Ich habe ein Mittel gegen Öltankerunglücke gefunden, und gegen das Kentern von Booten. Vier Patente habe ich. Noch viel mehr ohne Stempel und Unterschrift. Ich denke eben manchmal was als erster. Und die ewigen Zweiten machen große ungläubige Augen. 94 OT Also mir geht es so, dass ich immer auf die besten Ideen komme, wenn ich beim geselligen Bier, oder Glas Wodka n bisschen schnacke und dazulerne. Passieren tut nur etwas da, wo andere Menschen sind. Richtig? ERZÄHLERIN Wie er so dasitzt, mit den eckigen Knien in der Anzughose, dem rauchverhüllten müden Gesicht, dem Haar, altweiß wie das Shirt, und auf der Brust steht „S S S R“. Wie er sich manchmal wegduckt unterm eisernen Griff von Bruder Schmerz; und so geduldig die Kneipe verteidigt - - sieht er wie ein Priester aus. ATMO 28 29 ERZÄHLERIN Waren die Bänke der Leningrader Tschaika nicht auch aus alten Kirchenbänken gemacht?! MANN Kneipe als Religion? Gefällt mir. ATMO /MUSIK 97 OT Aus Hamburg kriege ich wenig Aufträge komischerweise. Sie kennen doch das Sprichwort, dass der Prophet im eigenen Land nichts gilt. D: Also ich war lange Zeit Stammgast in einer Rentnerkneipe. Bei mir gleich um die Ecke. Und da hab ich aus Scherz gesagt, als mich einer fragte, was willst `n in dieser Kneipe: Ja, ich warte auf Kundschaft. Die starben nachher so, alle paar Tage starb da einer weg. Sie glauben doch wohl nicht, dass ich da einen einzigen Auftrag gekriegt hätte. ATMO ERZÄHLERIN Den Auftrag, meinen Opa zu bestatten, hat er bekommen. Dabei habe ich Broder Drees kennen gelernt, auf einem polnischen Schiff, vor Stettin. Sein Mietwagen hatte einen ungültigen Vertrag, und er hatte von der Grenze her trampen müssen, mit dem großen Kasten fürs Schifferklavier - MANN Meine Quetschkommode. ERZÄHLERIN - Und mit Urne und „Blumenpracht“ in einer Tüte von der Pennymarktfiliale am Ende der Straße. So ist eben das Drees-Wetter: Scheint oft seemannslatein-wolkig. Aber dann klart es auf. Meistens. ATMO /MUSIK 29 30 Absage Dewotschka und toter Mann. Ein friesischer Seebestatter und seine sowjetische Seele Sie hörten ein Feature von Paula Schneider. 21 OT D: Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Der uns beschützt, uns hilft zu leben... Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten.... Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen... Des Lebens Ruf wird niemals enden! Wohlan denn Herz, nimm Abschied, und gesunde Es sprachen: Marita Breuer und Michael Wittenborn Ton und Technik: Gunther Rose und Hanna Steger Regie: Leonhard Koppelmann Redaktion: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2010 30
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