Zur aktuellen Situation in der Türkei

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MPF RECHTSANWÄLTE
Die Situation in der Türkei
13.08.2016
DIE TÜRKEI BLEIBT EIN ZUVERLÄSSIGER PARTNER FÜR INVESTITIONEN
Dass der Putsch für Präsident Erdoğan und seine Regierung eher ein Vorwand als ein Grund
dafür war, jetzt mit den Säuberungsaktionen gegenüber den Mitgliedern der GülenBewegung zu beginnen, dürfte außer Frage stehen. Denn die Verfassungs- und Rechtslage
erlaubt zwar die Versetzung von Juristen und Beamten unter bestimmten Voraussetzungen,
die vom Rechtsstaatsprinzip gedeckt sind, nicht jedoch deren Entlassung allein wegen des
Verdachts der Mitgliedschaft in einer Vereinigung. Mit dem Putsch, für den die GülenBewegung verantwortlich gemacht wird, hat die Regierung das ihr bisher fehlende
Argument in der Hand, bei der Gülen-Bewegung handele es sich um eine bewaffnete
kriminelle Vereinigung, deren Mitglieder naturgemäß auch ihre Befähigung zum
Beamtentum verloren haben. Ähnlich getroffen hat es zahlreiche Unternehmensführer,
denen vorgeworfen wird, die Bewegung zu finanzieren und damit, nach der Lesart der
Regierung, eine kriminelle bewaffnete Vereinigung zu unterstützen (eine ausführliche
Bewertung findet sich von Günter Seufert hier: in Le Monde diplomatique in deutscher
Sprache).
Manche deutschen Unternehmer verlieren damit ihre Geschäftspartner, obwohl die
Unternehmen prinzipiell durch staatliche Sachwalter (kayyum) weitergeführt werden. Den
deutschen Partnern stehen dann die üblichen Rechte zu, etwa wegen Wegfall der
Geschäftsgrundlage, der Geltung einer change-of-control-Klausel oder gar höhere Gewalt.
Auf jeden Fall ist anzuraten, die Kommunikation mit den zuständigen Mitarbeitern aufrecht
zu erhalten bzw. aufzunehmen.
Alle anderen Dispositionen (Marken, Firmengründungen, Kooperationen, Lizenzen aus dem
Bergbau, dem Energiesektor, Bauwesen etc.) sind von der aktuellen Situation rechtlich
nicht betroffen.
Ungeachtet all dessen werden die durch die Entlassungen gerissenen Lücken in Bürokratie
und Justiz sich auf die Verfahren auswirken, weil die vakant gewordenen Stellen erst
einmal neu besetzt werden müssen. Es kann also zu Verzögerungen kommen. Wir rechnen
damit, dass die Lücken bis spätestens Herbst 2017 bereits wieder gefüllt sein werden. Mit
einzelnen Qualitätsproblemen in der Bürokratie sollte man allerdings auf längere Sicht
rechnen.
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Anlass dafür, die Türkei plötzlich als unsicheren oder unzuverlässigen Partner anzusehen,
gibt es derzeit nicht. Das Regime stützt sich auf eine breite Basis in der Bevölkerung,
zumal infolge des Putsches eine Euphorie der nationalen Einheit entstanden ist. Die
erfolgreiche Abwehr des Putsches wird überwiegend als Sieg der Demokratie gesehen. Den
Verdacht, ein „Despot“ oder „Diktator“ zu sein, weist Präsident Erdoğan zurück.
So bleibt die Türkei – trotz der leider allseits zu beobachtenden politischen Rhetorik –
weiter eines der interessantesten Länder für deutsche Investitionen und ist wie immer als
Standort für Produktion und weitergehende Exporte nach Asien und in den Nahen Osten
bestens geeignet.
Zum politischen Verständnis der Situation erlauben wir uns nachfolgende Hinweise.
DIE AKP UND GÜLEN
Die AKP war ursprünglich eine Sammlungsbewegung aus verschiedenen politischen
Richtungen, wenn auch mit starken islamisch orientierten Zügen. Unter dem Dach
sammelten sich nicht nur gemäßigte Kräfte der alten islamistischen Parteien, sondern auch
Anhänger der bürgerlichen und linken Parteien, die ja dann auch 2002 von der AKP ins
Abseits gedrängt wurden. Die AKP hatte also einen durchaus pluralistischen Charakter, was
ja dann auch maßgeblich den Erfolg der türkischen Politik in jeder Beziehung herbeigeführt
hat. Aber die AKP bot eben auch Fethullah Gülen eine Plattform, über welche die
Karrieren seiner Freunde und Anhänger gefördert wurden. So trug Gülen noch zum
islamischen Charakter der Partei bei, der im Jahre 2007 sogar das Militär mit einer
Warnung auf den Plan rief. Das starke Anwachsen dieser islamischen Gemeinde wurde dann
zur Gefahr für Erdoğan und seine eigenen Seilschaften. Und für die CHP war die Bewegung
schon einfach deshalb suspekt, weil sie islamisch orientiert und nicht über die Institutionen
kontrollierbar war. Zwischen die Mühlen der beiden völlig unterschiedlichen
Persönlichkeiten Erdoğan und Gülen, die im Jahre 2012 miteinander brachen, sind dann
natürlich gemäßigte Geister wie Erdoğans Vorgänger Gül, der frühere Parlamentspräsident
Arınç und der abberufene Ministerpräsident Davutoğlu geraten, die politisch im Augenblick
keine Rolle mehr spielen.
DIE VERANTWORTUNG FÜR DEN PUTSCH
Schon am Abend des Putsches wurde der Putsch als großes Theater bezeichnet. Bis heute
ist im Grunde unklar, wer dahintersteckt. Niemand kennt bis heute den Dramaturgen oder
Autor des Theaterstücks. Es werden nicht einmal die angeblich bekannten Drahtzieher mit
Namen genannt. Die Regie jedenfalls ist gründlich misslungen. Gülen hätte als Motiv die
Gefahr, die ja von den bereits begonnenen Säuberungen für seine Bewegung ausgegangen
ist. Erdoğan fehlte noch eine solide Grundlage, auf welche er seine Säuberungsaktionen
stellen konnte. Und es gab innerhalb des Militärs sicherlich eine Gruppe von Offizieren, die
das Erbe Atatürks in Gefahr sahen und sich aus diesem Grunde zum Putschen entschlossen
haben könnten. Auch wenn die Regierung standhaft Gülen als den Schuldigen bezeichnet,
kann selbst die Regierung nicht den Eindruck vermeiden, sie hätte mehr als nur eine
Verschwörungstheorie. Den Gegnern von Erdoğan, die ihn gerne als Initiator sehen würden,
geht es nicht anders. Auch Kemalisten im Militär dahinter zu vermuten, ist erlaubt. So
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bleibt das Merkwürdige, dass nur eines sicher ist: Es war eine Verschwörung. Und in jedem
Fall hat sie Erdoğan genützt.
DIE SÄUBERUNGEN – WAS STECKT DAHINTER?
Allein der Begriff „Säuberungen“, der auch von der türkischen Presse verwendet wird,
zeigt die aktuelle Stimmung. Es ist Pogrom-Stimmung, die sich gegen alles richtet, was
irgendjemand eventuell vielleicht mit Gülen in Verbindung bringt. Die großen bekannten
Zeitungen schließen sich dem unter Verrat journalistischer Grundsätze wie
Unschuldsvermutung, sorgfältiges Recherchieren und Hinterfragen, an. Mehr als 80.000
Beamte aus allen Bereichen, bis hinauf in die unmittelbaren Berater- und Sicherheitskreise
des Präsidenten und anderer Persönlichkeiten, sind entlassen oder suspendiert worden,
darunter auch mehr als 3.000 Richter und Staatsanwälte. 17.000 Menschen sitzen in
Untersuchungshaft.
Die einzige Verbindung zum Putsch ist der Verdacht und vereinzelte persönliche
Verstrickungen von Personen, die als Gülen-Anhänger gelten. Die konkrete Verbindung
zwischen dem Putsch-Szenario und einem der Gülen-Szene zuzuordnenden Anstifter,
Drahtzieher oder einer namhaft gemachten Gruppe gibt es (noch) nicht. Im Augenblick ist
nur eines sicher: Der Putsch hat die Säuberungsaktionen beschleunigt und wird zu deren
Rechtfertigung herangezogen.
Die Erklärung für diese Maßnahmen ist für uns außerhalb der Türkei nur schwer zu finden.
Fethullah Gülen ist ein Prediger, der als gemäßigt und nicht militant gegolten hat und bei
vielen noch gilt. Wenn er vor den Zeiten der AKP Empfehlungen abgab, dann nicht für
islamische Parteien, sondern für die bürgerliche Mitte. Mit der Gründung der AKP, die als
islamistischen Restbestand früherer islamischer Parteien die fundamentalistische SP
(Saadet Partisi) zurückließ, fand er eine Plattform, über welche Tausende von Abgängern
seiner Schulen und Universitäten, die allesamt bewusst durch den Staat unterstützt
wurden, sich in gute Positionen in Staat und Gesellschaft hocharbeiteten. Während bis
2012 Gülen und seine Anhänger als Stütze der religionsnahen AKP-Politik galten, sieht
Präsident Erdoğan in ihnen jetzt plötzlich eine riesige Seilschaft, die auf einem relativ
engen Zusammenhalt beruht und sich anschickt, die Kontrolle im Staatsapparat zu
übernehmen. Die öffentlich agierende Gülen-Bewegung hat aus der Sicht des Präsidenten
und seiner Umgebung den Charakter eines riesigen Geheimbundes erhalten, der den Staat
unter seine Kontrolle zu bringen sucht, wobei noch nicht einmal das konkrete Ziel dieser
vermeintlichen Übernahme genannt werden kann. Will man einen historischen Vergleich
ziehen, so mag man hier an die Tempelritter Anfang des 14. Jahrhunderts denken oder die
Juden in Deutschland. Wenn aber die sorgfältig und nachhaltig von der türkischen
Regierung kolportierte Theorie vom Parallel-Staat stimmt, ist die Aktion mit einem
enormen Handlungsdruck zu erklären, den Erdoğan auf sich lasten glaubte.
EINHALTUNG RECHTSSTAATLICHER REGELN?
Prinzipiell ist festzustellen, dass zweifelhaft ist, ob Regierung und Polizei rechtsstaatliche
Regeln einhalten. Schon die Ausrufung des Notstandes geht eigentlich zu weit, soweit er
mit dem Putsch begründet wird. Zwar sind die Verfahrensregeln eingehalten worden, doch
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war der Putsch längst erfolgreich niedergeschlagen und für die Ausbreitung von
Gewalthandlungen, wie es Verfassung und Notstandsgesetz verlangen, bestanden und
bestehen keinerlei Anzeichen, sieht man einmal vom Südosten ab. Auch die Beschlagnahme
des gesamten Vermögens der vielen Festgenommenen hat keine ausreichende
Rechtsgrundlage, sondern setzt die Regierung eher dem Verdacht aus, sich an den Gütern
der wirtschaftlich außerordentlich erfolgreichen Gülen-Anhänger bereichern zu wollen.
Dennoch ist bei der Beurteilung der Situation Vorsicht geboten, vorschnelle Urteile sollten
vermieden werden.
Mit den zahlreichen Festnahmen, unter denen auch viele Menschen leiden, die – wie
manche bekannten Journalisten – mit Gülen nichts zu tun haben, wurde ein Klima der
Angst geschaffen. Das braucht den ausländischen Investor nicht zu interessieren, schlägt
sich aber insgesamt auf die Stimmung im Lande nieder. Vor allem aber gefährdet die
aktuelle Regierung den guten Ruf, den sich ihr Land mühsam gegen alle Unkenrufe aus dem
europäischen Ausland aufgebaut hatte.
REAKTIONEN AUS EUROPA
Der Blick auf die Türkei allein reicht aber nicht, um die Situation zu verstehen. Die EU
trägt einen großen Teil der Verantwortung dafür.
Die Reaktionen aus Politik und Medien in Europa sind mal wieder von Unverständnis und
Unkenntnis geprägt, auch wenn die Kritik überwiegend sachlich gerechtfertigt ist.
Präsident Erdoğan ist ein unbequemer Partner, der sowohl in der Türkei als auch außerhalb
der Türkei deutlich macht, wie es um seinen Respekt vor dem Recht und der Justiz bestellt
ist. Dennoch sollte verstanden werden, dass die von Erdoğan ausgehenden Drohungen
tiefgehende Wurzeln haben, die die Europäer zum Teil selbst gelegt haben. Wenn zum
Beispiel mit dem Abbruch der Beitrittsverhandlungen gedroht wird, so ist dies aus zweierlei
Gründen ungeschickt.
Zum einen sind die Beitrittsverhandlungen eine wichtige Plattform, auf der weiterhin
kommuniziert werden kann und muss. Zum anderen ist die Ankündigung des Abbruchs aus
der Sicht der Türken keine Drohung, sondern ganz einfach die Fortsetzung der
herablassenden, manchmal geradezu beleidigenden Türkei-Politik der Europäer.
Die Wende setzen wir mit dem 1. Mai 2004 an, als die EU die Zyperngriechen als “Republik
Zypern” in die EU aufgenommen haben, obwohl der von der Türkei und Griechenland
abgesegnete Friedensplan von Kofi Annan in einer Volksabstimmung abgelehnt worden war.
Das war ein grober Fehler. Aufgenommen wurde der halbe Staat Zypern, mit unklarer
Verfassungslage und umstrittener völkerrechtlicher Position. Die Türkei blieb draußen, der
Annan-Plan war dahin. Von diesem Schlag ins Gesicht haben sich die Türken bis heute nicht
erholt. Die EU steht hier gegenüber der Türkei tief in der Schuld, die sie seither durch
allerlei unwürdige Spielchen, wozu auch der ewige Streit um die Visapflicht gehört, stetig
vergrößert. Nach all den kleinen und großen Demütigungen schlägt Erdoğan jetzt zurück.
Um so wichtiger ist jetzt also, die Vorgänge in der Türkei richtig zu interpretieren. Wir
mögen ja Zweifel am Demokratieverständnis von Erdoğan haben. Tatsächlich aber steht die
Bevölkerung, so viele Kritiker es in ihren Reihen natürlich nach wie vor geben mag, im
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Hinblick auf das Geschehen vom 15. Juli 2016 in plötzlicher nationaler Einheit und im
Glauben, dass es sich um eine großartige Demokratiebewegung handle, hinter dem
Präsidenten – einschließlich der beiden Oppositionsparteien CHP und MHP.
AUSBLICK
Die Türkei muss und wird auch in Zukunft ein wichtiger Partner bleiben. Was die Probleme
mit der Rechtsstaatlichkeit angeht, müssen wir vorsichtig und mit Überzeugungskraft daran
arbeiten, dass das Land den Weg zurück zum demokratischen Rechtsstaat findet. Die
verschlissene Parole “Ein guter Freund muss die Wahrheit sagen können” greift nicht. Jetzt
gilt die Parole “Ein guter Freund behandelt den andern mit Respekt”. Das funktioniert nur,
wenn wir die Rhetorik von Erdoğan nicht mit gleicher Münze heimzahlen.
Wir Europäer haben eine Menge gutzumachen, denn wir haben uns zahlreiche Fehler im
Umgang mit der Türkei vorzuwerfen. Die Türken dagegen sollten es vermeiden,
europäische Kritik als türkeifeindlich zu werten und dies mit eigener Feindseligkeit zu
beantworten.
Im Übrigen kann der Türkei niemand ihre einmalige geostrategische Position nehmen, die
auch für die türkische und europäische Wirtschaft enorm wichtig ist und zahlreiche
Chancen bietet, die durch die aktuellen politischen Verhältnisse eigentlich gar nicht
gefährdet sind.