RU MPF RECHTSANWÄLTE DieSituationinderTürkei 2.10.2016 EINFÜHRUNG Dieser Bericht schreibt einen Text fort, der erstmals am 13.8.2016 in das Netz gestellt und am 28.9.2016 aktualisiert worden ist. Die Entwicklungen seit dem 15.7.2016 haben eine Situation aufgezeigt, wie sie die Türkei noch nie erlebt hat. Es gibt in der Vergangenheit der bald 100 Jahre alten Republik keine vergleichbare Situation. Selbst der kläglich gescheiterte Putsch hat mit den bisherigen Putsch-Erfahrungen der Türkei nichts gemein, auch nicht die zivile Reaktion hierauf. Die aktuelle Situation in der Türkei scheint unsere Medien noch immer zu verwirren, mit fatalen Folgen. Entweder recherchieren unsere Medien nicht ordentlich, oder es steckt Absicht hinter ihrer Berichterstattung. N-TV 2.10.2016: „Der Nationale Sicherheitsrat der Türkei will den nach dem gescheiterten Putschversuch verhängten Ausnahmezustand über den Oktober hinaus verlängern. "Die Entscheidung wurde gefällt, die Verlängerung des Ausnahmezustands zu empfehlen", erklärte das Gremium unter Vorsitz von Staatschef Recep Tayyip Erdogan nach einer Sitzung in Ankara. Dies solle zum wirksamen "Schutz unserer Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Rechte und Freiheiten unserer Bürger" geschehen. Nach der Verfassung muss zunächst der Sicherheitsrat beraten. Die Verlängerung des Ausnahmezustands durch das Kabinett unter Erdogan ist dann nur noch Formsache. Während des Ausnahmezustands kann der Staatspräsident per Notstandsdekret regieren.“ Richtig muss die Nachricht lauten: „Der unter dem Vorsitz von Staatspräsident Erdogan zusammengetretene Nationale Sicherheitsrat der Türkei hat die Verlängerung des nach dem gescheiterten Putschversuch verhängten Notstandes über den Oktober hinaus empfohlen. Dies solle zum wirksamen "Schutz unserer Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Rechte und Freiheiten unserer Bürger" geschehen, so die Erklärung. Nach der Verfassung muss zunächst der Sicherheitsrat beraten. Dieser gibt dann eine Empfehlung ab, die durch den Ministerrat, der im Notstand unter dem Vorsitz des Staatspräsidenten tagt, umgesetzt werden kann. Beschließt der Ministerrat die RUMPFRECHTSANWÄLTE Lenzhalde68–D-70192Stuttgart Fon+49(0)711997977-0–Fax+49(0)711997977-20 [email protected] www.rumpf-legal.com 2 Verhängung oder Verlängerung des Notstandes, ist der Beschluss umgehend dem Parlament zur Zustimmung vorzulegen. Das Parlament kann die Zustimmung verweigern. Stimmt es zu, kann die Regierung zunächst weiter mit Gesetzesdekreten regieren.“ Hinzuzufügen wäre noch, dass Gesetzesdekrete eine verkürzte Form der Gesetzgebung darstellen, die von Verfassungs wegen nur solche Gegenstände regeln darf, die auch tatsächlich mit der Ausrufung des Notstandes zusammenhängen (siehe Art. 120, 121 der Verfassung). Die Säuberungen nach dem Putschversuch haben inzwischen geradezu unvorstellbare Dimensionen erreicht. Die Hetze erfasst Tausende von Menschen, bei denen schlicht nicht nachvollziehbar ist, worin eigentlich ihr Verhältnis zu Herrn Gülen bestehen soll, abgesehen davon, dass sie vielleicht ein Bankkonto bei der falschen Bank hatten. Es ist auch durchaus unklar, ob Präsident Erdoğan die Situation überhaupt noch unter Kontrolle hat, oder ob er hier einen Sturm entfesselt hat, den er sich ursprünglich einmal eher als neuen Wind vorgestellt hatte. Selbst erfahrene Türkei-Spezialisten stehen vor völlig neuen Herausforderungen bei der Interpretation und Bewertung der Vorgänge. DIE TÜRKEI - WEITER EIN ZUVERLÄSSIGER PARTNER FÜR INVESTITIONEN? Dass der Putsch für Präsident Erdoğan und seine Regierung eher ein Vorwand als ein Grund dafür war, jetzt mit den Säuberungsaktionen gegenüber den Mitgliedern der GülenBewegung zu beginnen, dürfte außer Frage stehen. Denn die Verfassungs- und Rechtslage erlaubt zwar die Versetzung von Juristen und Beamten unter bestimmten Voraussetzungen, die vom Rechtsstaatsprinzip gedeckt sind, nicht jedoch deren Entlassung allein wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Vereinigung. Noch weniger erlaubt die Verfassung, einen Notstand dazu zu nutzen, gleich die ganze Rechtsordnung auf neue Füße zu stellen. Neben mehr als 100.000 Beamten hat es auch 200 Unternehmen aller Größen getroffen, denen vorgeworfen wird, die Bewegung zu finanzieren und damit, nach der Lesart der Regierung, eine kriminelle bewaffnete Vereinigung zu unterstützen (eine ausführliche Bewertung findet sich von Günter Seufert hier: in Le Monde diplomatique in deutscher Sprache). Manche deutschen Unternehmer verlieren damit ihre Geschäftspartner, obwohl die Unternehmen prinzipiell durch staatliche Sachwalter (kayyum) weitergeführt werden, übrigens auf unklarer Rechtsgrundlage. Den deutschen Partnern stehen dann die üblichen Rechte zu, etwa die Beendigung von Verträgen wegen Wegfall der Geschäftsgrundlage, der Geltung einer change-of-control-Klausel oder gar wegen höherer Gewalt. Auf jeden Fall ist anzuraten, die Kommunikation mit den zuständigen Mitarbeitern aufrecht zu erhalten bzw. aufzunehmen. Alle anderen Dispositionen (Marken, Firmengründungen, Kooperationen, Lizenzen aus dem Bergbau, dem Energiesektor, Bauwesen etc.) sind von der aktuellen Situation rechtlich nicht betroffen. 3 Ungeachtet all dessen werden die durch die Entlassungen gerissenen Lücken in Bürokratie und Justiz sich auf die Verfahren auswirken, weil die vakant gewordenen Stellen erst einmal neu besetzt werden müssen. Es kann also zu Verzögerungen kommen. Wir rechnen damit, dass die Lücken bis spätestens Herbst 2017 bereits wieder gefüllt sein werden. Mit einzelnen Qualitätsproblemen in der Bürokratie sollte man allerdings auf längere Sicht rechnen. Auch berichtet die Presse bereits von einzelnen Beamten, die wieder auf ihre Posten zurückkehren, weil die Staatsanwaltschaften offenbar überhaupt keine Anhaltspunkte für irgendeinen Zusammenhang gefunden haben. Es kann durchaus sein, dass der Aufruf zur Denunziation hier ungesunde Wirkung entfaltet. Darüber hinaus sind auch pensionierte Richter/innen und Staatsanwälte/innen eingeladen worden, in den aktiven Dienst zurückzukehren. Von einem großen Ansturm der Pensionäre wird allerdings bislang nicht berichtet. Auch im Militär wurde nach dem Putsch erst einmal gesäubert – dies so intensiv, dass zahlreiche Offiziere bis zum Generalsrang wieder zum Dienstantritt gerufen wurden, die in den berüchtigten Ergenekon- und Balyoz-Verfahren ihre Posten verloren hatten, jahrelang in Untersuchungshaft saßen, wegen Hochverrats verurteilt und dann auf Anordnung des Kassationshofs zu einem großen Teil doch wieder freigesprochen oder zumindest auf freien Fuß gesetzt wurden. Die Luftwaffe stand kurz vor dem Kollaps, weil es ihr plötzlich an Piloten für die Kampfeinsätze fehlte, die nicht nur gegen die PKK, sondern neuerdings auch in Syrien zu fliegen waren. Und schließlich musste eine Teilamnestie erlassen werden, mit welcher Kriminelle mit Verurteilungen unter fünf Jahren Gefängnis mit sofortiger Wirkung in den offenen Vollzug überstellt wurden, um Platz für die Zehntausenden Untersuchungshäftlinge aus der GülenBewegung zu schaffen. Anlass dafür, die Türkei plötzlich als unsicheren oder unzuverlässigen Partner anzusehen, gibt es derzeit nicht. Das Regime stützt sich auf eine breite Basis in der Bevölkerung, zumal infolge des Putsches eine Euphorie der nationalen Einheit entstanden ist. Die erfolgreiche Abwehr des Putsches wird überwiegend als Sieg der Demokratie gesehen. Den Verdacht, ein „Despot“ oder „Diktator“ zu sein, weist Präsident Erdoğan zurück. So bleibt die Türkei – trotz der leider allseits zu beobachtenden politischen Rhetorik – weiter eines der interessantesten Länder für deutsche Investitionen und ist wie immer als Standort für Produktion und weitergehende Exporte nach Asien und in den Nahen Osten bestens geeignet. Tatsächlich tut die türkische Regierung derzeit alles, um das Investitionsklima weiter zu verbessern (vgl. dazu unsere Newsletter). Zum politischen Verständnis der Situation erlauben wir uns nachfolgende Hinweise. DIE AKP UND GÜLEN Die AKP war ursprünglich eine Sammlungsbewegung aus verschiedenen politischen Richtungen, wenn auch mit starken islamisch orientierten Zügen. Eigentlich verdankt sie ihre Existenz genau derjenigen Verfassungsordnung, die sie jetzt unbedingt ändern will, 4 einer Verfassungsordnung, da zu Beginn als durch das Militär 1982 diktiert beschimpft wurde, sich dann aber zu einer funktionstüchtigen Verfassung emanzipiert hat, die sich in ihrem rechtsstaatlichen und demokratischen Wesen im Einklang mit den meisten Verfassungen europäischer Staaten befindet. Unter dem Dach der AKP sammelten sich seit 2001 nicht nur gemäßigte Kräfte der alten islamistischen Parteien, sondern auch Anhänger der bürgerlichen und linken Parteien, die ja dann auch 2002 von der AKP ins Abseits gedrängt wurden. Vor allem die ANAP des Turgut Özal und die konservative DYP flogen aus dem Parlament und verschwanden im Nichts. Die kemalistische CHP und die nationalistische MHP behaupteten sich nur mühsam und mussten sich noch die Opposition mit der offensichtlich nicht klein zu bekommenden kurdischen HDP (als Nachfolgepartei einer ganzen Kette von Parteien, die nacheinander verboten wurden) teilen. Die AKP hatte also einen durchaus pluralistischen Charakter, was ja dann auch maßgeblich den Erfolg der türkischen Politik in jeder Beziehung herbeigeführt hat, weil es erstmals seit Jahrzehnten eine Partei schaffte, ohne Koalitionspartner Regierungsverantwortung zu übernehmen und damit Politik und Gesellschaft zu stabilisieren. Zumindest vordergründig. Denn die AKP bot eben auch Fetullah Gülen eine Plattform, über welche die Karrieren seiner Freunde und Anhänger gefördert wurden. Gülen war mit seinen Anhängern in den 1980er Jahren aus vielschichtigen und verzweigten religiösen Strömungen hervorgegangen, die die religiösen Bedürfnisse der Gesellschaft besser bedienten als der Staatsislam des Präsidiums für Religionsangelegenheiten. Gülens Anhänger erlangten die Strukturen einer riesigen Gemeinde mit starkem Zusammenhalt und loyalen Seilschaften in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dabei war Gülen nie als Unterstützer eines politischen Islam aufgefallen, hatte seine Wahlempfehlungen zuletzt vor allem auf die bürgerliche DYP konzentriert. Mit der Gründung der AKP fand Gülen mit seiner Bewegung dann eine neue Plattform bzw. ein neues Dach, unter welchem es ihm gelang, wichtige Positionen in allen Bereichen von Verwaltung, Justiz und Militär zu besetzen. Die AKP verdankt ihre Stärke also nicht nur ihrer Qualität als Sammlungsbewegung, sondern einer starken Organisation, die sie stützte: der Gülen-Bewegung. DER NOTWENDIGE BRUCH Das starke Anwachsen dieser islamischen Gemeinde – oder besser: Gemeinschaft – wurde dann zur Gefahr für Erdoğan und seine eigenen Seilschaften. Sie drohte, so darf man die Vorgänge heute interpretieren, unter der Leitung des „Khomeini von Pennsylvania“, Fetullah Gülen, den Staatsapparat so zu durchsetzen, dass die Gefahr bestand, dass sich dieser Apparat verselbstständigte und einer vernünftigen Kontrolle durch die Regierung entzog. So gesehen hat der vom Präsidenten Erdoğan selbst formulierte Satz, der Putsch sei ein Geschenk Gottes gewesen, eine besondere Bedeutung, die man nur in der Frage formulieren kann: Was wäre eigentlich passiert, wenn der Präsident nicht – in vieler Hinsicht unter groben Verstößen gegen die Verfassung – als starker Mann die Fäden in die Hand genommen hätte? Hätte dann doch eine Art Iranisierung nach dem Vorbild Khomeinis stattgefunden? Hätte eine islamische Scientology namens „Gülen-Bewegung“ oder (türkisch:) „Fetullahçılar“ die Kontrolle über Staat und Gesellschaft übernommen, vielleicht mit schlimmeren Folgen als denen einer Erdoğan-Diktatur? 5 Derzeit sehen wir nur, wie eine AKP-Regierung eine Hexenjagd betreibt – türkische Kritiker haben diesen Begriff inzwischen in einem für türkische Verhältnisse neuen Begriff übernommen: çadı avı. Aber sehr viele Verhaftete sind ja gerade Anhänger oder gar Mitglieder der AKP oder Spitzenbürokraten wie Polizeipräsidenten, Präfekten und hohe Richter, die auf „AKP-Tickets“ (wenn auch nicht, bedingt durch das türkische ParteienRecht, als AKPMitglieder) in ihre Positionen gelangt sind. Es werden Personen ausgebootet, suspendiert, verhaftet, von denen (wir) alle glaubten, das seien jetzt diejenigen, mit denen Erdoğan seine Islamisierungspolitik vorantreibt. Erdoğan wird jetzt möglicherweise gezwungen, seinen Frieden mit dem Säkularismus zu schließen, weil er als Zauberlehrling die Geister, die er gerufen hat, anders nicht loswird. DIE VERANTWORTUNG FÜR DEN PUTSCH Schon am Abend des Putsches wurde der Putsch als großes Theater bezeichnet. Aber niemand kennt bis heute den Dramaturgen oder Autor des Theaterstücks. Die Regie jedenfalls ist gründlich misslungen. Gülen hätte als Motiv die Gefahr, die ja von den bereits begonnenen Säuberungen für seine Bewegung ausgegangen ist. Erdoğan fehlte noch eine solide Grundlage, auf welche er seine Säuberungsaktionen stellen konnte. Und es gab innerhalb des Militärs sicherlich eine Gruppe von Offizieren, die das Erbe Atatürks in Gefahr sahen und aus diesem Grunde sich zum Putschen entschlossen. Gülen oder Erdoğan – wir werden in beiden Fällen von Verschwörungstheorien sprechen müssen. Es spricht aber auch viel für die These, dass sich hier eine Gruppe von Offizieren mit ihren Möglichkeiten überschätzt, vor allem auch nicht mit diesem geradezu abgeklärten Widerstand von Teilen der Bevölkerung gerechnet hat, und Erdoğan die Gunst der Stunde nutzt. Aber vielleicht steckt doch die Gülen-Bewegung hinter dem Putsch-Versuch, die sich einfach mit ihren Möglichkeiten überschätzt hat oder, nachdem die Verfolgung der Gülen-Anhänger ja eigentlich bereits begonnen hatte, die Flucht nach vorne antreten musste. Jedenfalls trägt Gülen nicht zur Klarheit bei, wenn er neuerdings selbst Erdoğan der Inszenierung des Putsches bezichtigt. Jedenfalls bastelt die Regierung weiter an einer stichhaltigen Begründung dafür, dass die Gülen-Bewegung eben doch eine bewaffnete kriminelle Vereinigung war, nur eben die Waffen noch nicht zum Einsatz gebracht hat. Oder eben den Putsch angezettelt hat. Die Wahrheit wird am Ende sein, was derjenige als solche definiert, dem es gelingt, die nächsten Jahre die türkische Politik zu kontrollieren. DIE SÄUBERUNGEN – WAS STECKT DAHINTER? Allein der Begriff Säuberungen, der auch von der türkischen Presse verwendet wird, erinnert an die stalinistischen Säuberungen. Die Verwendung des Begriffs ist ein unglückliches Signal für fehlende Rechtsstaatlichkeit. Gut 100.000 Beamte aus allen Bereichen, bis hinauf in die unmittelbaren Berater- und Sicherheitskreise des Präsidenten und anderer Persönlichkeiten, sind entlassen oder suspendiert worden, darunter auch mehr als 4.000 Richter und Staatsanwälte. Mehr als 30.000 Menschen dürften inzwischen in Untersuchungshaft sitzen: Journalisten, Beamte, Lehrer, Professoren, Offiziere, Ärzte, Rechtsanwälte ... 6 Der Zusammenhang der Säuberungen mit dem Putsch ist schwer zu definieren. Denn sie waren bereits vor dem Putsch vorbereitet worden. Anders ist das Tempo des Geschehens nicht zu erklären. Erst die Entlassungen, Festnahmen und Verhaftungen nach Mitte August dürften eine Folge von Informationen sein, die in der ersten Welle erlangt wurden. Jedenfalls hatte der Putsch die Wirkung eines Brandbeschleunigers. Und das Feuer greift auf Flächen über, für die es nicht gelegt worden war. Es wird nicht nur das Krebsgeschwür (Präsidenten-Terminologie) entfernt, sondern gleich das ganze Organ. Die Erklärung für diese Maßnahmen dürfte im Charakter der Gülen-Bewegung zu suchen sein. Einerseits steht sie für einen aufgeklärten Islam. Fetullah Gülen hatte früher nicht die islamistischen, sondern die bürgerlichen Parteien unterstützt. Andererseits fand er in der AKP eine Plattform, über welche Tausende von Abgängern seiner Schulen und Universitäten sich in gute Positionen in Staat und Gesellschaft hocharbeiteten. Und es wäre naiv zu glauben, dass die Seilschaften sich an die gegebenen Regeln gehalten und nicht auch die Funktion gehabt hätten, eben die richtigen Anhänger und Sympathisanten in die richtigen Positionen zu bringen, Prüfungsmanipulationen inbegriffen. Während bis vor drei vier Jahren Gülen und seine Anhänger als Stütze der religionsnahen AKP-Politik galten, sieht Präsident Erdoğan in ihnen nunmehr eine Gemeinschaft, die auf einem engen Zusammenhalt beruht und sich anschickt, die Kontrolle über den gesamten Staatsapparat zu übernehmen. Die Gülen- Bewegung, obwohl durchaus offen agierend, hat aus Sicht des Präsidenten und seiner Umgebung den Charakter eines riesigen Geheimbundes erhalten, der sich an die Stelle der eigentlichen Regierung zu setzen anschickt. Dabei sind Vergleiche mit dem Exilanten Khomeini, der nach seiner Rückkehr in den Iran Ende 1978 einen radikalen Umschwung zugunsten eines islamisch-konservativen Gottesstaat herbeigeführt hatte, nicht selten. Aus deutscher Sicht kaum nachvollziehbar, wäre die Bewegung vielleicht auch mit der Loge P2 in Italien zu vergleichen, der man ja ebenfalls eine verbrecherische Unterwanderung staatlicher Institutionen zuschreibt. Die Säuberungsaktionen wieder erinnern eher an die Vernichtung des Tempelritter-Ordens 1307, durch den sich der französische König bedroht glaubte. Oder an die Säuberungen Stalins – nur dass eben nach wie vor versucht zu werden scheint, halbwegs rechtsstaatliche Verfahren einzuhalten, sich jedenfalls an Recht und Gesetz zu halten. Auch wenn man dazu die „Terrorismus“-Definition des Gesetzes eventuell ein wenig verbiegen muss. Jedenfalls muss verstanden werden, dass, wenn denn die Theorie vom Parallel-Staat stimmt, auf dem Establishment hinter und unter Erdoğan ein enormer Handlungsdruck lastete, dem es sich nach dem gescheiterten Putsch nun hingibt. GEFAHR FÜR DEN RECHTSSTAAT? Prinzipiell ist festzustellen, dass zweifelhaft ist, ob Regierung und Polizei rechtsstaatliche Regeln einhalten. Schon die Ausrufung des Notstandes geht eigentlich zu weit, soweit er mit dem Putsch begründet wird. Zwar sind die Verfahrensregeln eingehalten worden, doch war der Putsch längst erfolgreich niedergeschlagen und für die Ausbreitung von Gewalthandlungen bestanden und bestehen keinerlei Anzeichen, sieht man einmal vom Südosten ab, wo ohnehin Krieg mit der PKK herrscht. Auch die Beschlagnahme des gesamten Vermögens der vielen Festgenommenen hatte keine ausreichende 7 Rechtsgrundlage und musste durch Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft (Gesetzesdekrete), die ohne Mitwirkung des Parlaments (nur nachträgliche Kontrolle) durch die Regierung erlassen werden, verbessert oder gar geschaffen werden. Die GülenBewegung erfüllt die Definition des „Terrorismus“, wie wir sie aus den einschlägigen Konventionen des Europarats und der UN oder dem türkischen Strafrecht kennen, nicht schon deshalb, weil täglich hundertfach in allen Medien, selbst durch Persönlichkeiten aus der Justiz, von der Bewegung gar nicht mehr ohne das Attribut „terroristisch“ gesprochen wird. Es gibt noch immer kein Gerichtsurteil, das dies rechtsmittelfest oder rechtskräftig festgestellt hat. Das Attribut wird buchstäblich herbeigeredet – so lange, bis man irgendetwas in der Hand hat (z.B. enge Verbindungen zu den Putschisten), die eine Rechtfertigung erlauben. Aber weder mit der Behauptung noch mit dem Bestreiten ihres terroristischen Charakters erfasst man das Phänomen dieser Bewegung – einer Bewegung, die möglicherweise, auch ohne Gewalt, den Umsturz über den Marsch durch die Institutionen herbeigeführt hätte. Möglicherweise haben wir es hier tatsächlich mit einem Fall zu tun, in dem – vergessen wir für diesen Moment den Putschversuch – eine große und starke Bewegung für die Verfolgung des Ziels eines autokratischen, religiös orientierten Staates eine Strategie verwendet hat, die unter die klassischen Definitionen wichtiger Staatsschutzdelikte nicht zu subsumieren ist. Traurig ist aber jedenfalls der Umgang mit der Presse. Die Regierung hat ein unerträgliches Klima der Angst geschaffen, teilweise bereits ausgelöst durch die Flut von Beleidigungsklagen, die Präsident Erdoğan gerade auch gegen Journalisten hat einleiten lassen, die Kritik an seiner Person und seiner Politik geübt haben. Es mag sein, dass bei einzelnen, auch renommierten Journalisten überraschend enge Verbindungen zur GülenBewegung nachgewiesen werden können. Trotzdem haben die vielen, oft immer noch nicht nachvollziehbaren Aktionen gegen Zeitungen und Journalisten, von denen inzwischen Hunderten die Presselizenzen entzogen worden sind, den bitteren Beigeschmack, dass es eben doch nur darum geht, kritische Stimmen mundtot zu machen. Dabei trifft es auch gleich solche Journalisten, deren kritische Kommentare zur türkischen Politik bezüglich des türkischen Südostens sie als „PKK-Unterstützer“ in die Gefängnisse bringt. Der Tod der Pressefreiheit als Kolateralschaden der Hexenjagd gegen die Gülen-Bewegung ... Oder die Hexenjagd als Vorwand, regierungskritische Medien auszuschalten ... Aber selbst hier wissen wir nichts Genaues, geht das Meiste in allseitiger politischer Polemik unter, an der sich deutsche und andere europäische Medien munter beteiligen. Dennoch können wir feststellen, dass auch die Stromlinienpresse vereinzelt kritischer berichtet. Sie kommt an bestimmten Enthüllungen nicht vorbei, wie etwa diejenige über eine Hacker-Gruppe, die sich Zugang zu Tausenden von Nachrichten von Spitzenbürokraten und Regierungsmitgliedern verschafft haben. Zudem hat die CHP den Mut gefunden, gegen einen Teil der Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft vor das Verfassungsgericht zu ziehen. Die Begründung dafür ist der Bezug auf ein Urteil aus dem Jahre 1991, in welchem das Verfassungsgericht gesagt hatte: „Gegen eine Rechtsverordnung mit Gesetzeskraft im Notstand ist der Weg zum Verfassungsgericht nur dann verschlossen, wenn sie tatsächlich notstandsrelevante Gegenstände regelt.“ Jetzt 8 darf man gespannt sein, ob das Verfassungsgericht diese richtige Rechtsprechung aufrechterhält. REAKTIONEN AUS EUROPA Wie üblich sind die Reaktionen aus Politik und Medien in Europa aber von Unverständnis und Unkenntnis geprägt, auch wenn die Kritik oft sachlich gerechtfertigt sein mag. Eines der wichtigsten Missverständnisse ist die Annahme, dass hinter jeder gravierenden Entscheidung, Verhaftung, Entlassung oder sonstigen Maßnahme der Präsident persönlich steckt. Haftbefehle gehen von den zuständigen Justizorganen aus, die Entlassung von Richtern und Staatsanwälten erfolgt durch das unabhängige – ja, unabhängige – Selbstverwaltungsorgan der Justiz, nämlich durch den Hohen Richter- und Staatsanwälterat. Es mag sein, dass auch die Angst um die eigene Karriere und Existenz eine Rolle bei solchen Entscheidungen spielt. Dennoch sollte man ohne Kenntnis der tatsächlichen und rechtlichen Situation nicht jeglichen Vorgang dem Präsidenten zuschreiben. Der Hauptfehler, den sich europäische Medien leisten, ist die Titulierung als „Diktator“, die auf die egomanische und allgegenwärtige Präsenz des Präsidenten zurückgeht, aber mit den ihm tatsächlich zustehenden Kompetenzen nichts zu tun hat. Jedenfalls derzeit noch schwimmt der Präsident auf einer hohen Welle politischer Akzeptanz durch seine ehemalige Partei, der AKP, und ihrer Anhänger. Dort, wo man heute seine Unterschrift findet, hätte man auch die Unterschrift jedes anderen Präsidenten gefunden, weil sie dort kraft der Kompetenzordnung hingehört. Wenn er den Vorsitz im Ministerrat hat, so bestimmt er – jedenfalls der geltenden Rechtslage zufolge – nicht die Richtlinien der Politik. Er stützt „seine“ Maßnahmen nicht auf ihm allein zustehende Kompetenzen, sondern bedient sich der ganzen Regierung und der AKP, bleibt also innerhalb desjenigen Legitimationsrahmen, den ihm die Verfassung gezogen hat. So gesehen ist die aktuelle Situation also nicht nur Ausdruck der Stärke dieses Mannes, sondern vor allem auch der Schwäche der AKP-Führung. Präsident Erdoğan ist ein unbequemer Partner, der sowohl in der Türkei als auch außerhalb der Türkei deutlich macht, wie es um seinen Respekt vor dem Recht und der Justiz bestellt ist. Dennoch sollte verstanden werden, dass die von Erdoğan ausgehenden Drohungen tiefgehende Wurzeln haben, die die Europäer zum Teil selbst gelegt haben. Wenn zum Beispiel mit dem Abbruch der Beitrittsverhandlungen gedroht wird, so ist dies aus zweierlei Gründen ungeschickt. Zum einen sind die Beitrittsverhandlungen eine wichtige Plattform, auf der weiterhin kommuniziert werden kann und muss. Zum anderen ist die Ankündigung des Abbruchs aus der Sicht der Türken keine Drohung, sondern ganz einfach die Fortsetzung der herablassenden, manchmal geradezu beleidigenden Türkei-Politik der Mitteleuropäer. Die Wende können wir mit dem 1. Mai 2004 ansetzen, als die EU die Zyperngriechen als “Republik Zypern” in die EU aufgenommen haben, obwohl der von der Türkei und Griechenland abgesegnete Friedensplan von Kofi Annan in einer Volksabstimmung der Zyperngriechen abgelehnt worden war – einfach, weil nicht vorgesehen war, dass die Zyperngriechen den Plan ablehnen. Zypern, ein Staat mit unklarer Verfassungslage und umstrittener völkerrechtlicher Position. Von diesem Schlag ins Gesicht haben sich die Türken bis heute nicht erholt. Die EU steht hier gegenüber der Türkei tief in der Schuld, die sie durch ihre Spielchen um die Aufhebung der Visapflicht 9 noch vergrößert. Die Voraussetzungen für die Aufhebung der Visa-Pflicht seien noch nicht erfüllt? Das hört man regelmäßig wiederholt von höchsten Stellen aus Berlin, Brüssel oder Wildbad-Kreuth – aber welche Voraussetzungen sind hier angeblich nicht erfüllt? Europa hat, was die Türkei angeht, ziemlich viel Dreck am Stecken. Jedenfalls soweit es um Aufrichtigkeit und ehrliche Politik geht. Auch wenn die respektable wirtschaftliche Entwicklung in der Türkei nicht allein Verdienst einer erfolgreichen AKP ist, sondern unmittelbar mit einer erfolgreichen Umsetzung der Zollunion zusammenhängt, die die heutige Türkei Turgut Özal verdankt. Es sind vor allem die politische Rhetorik und ständig wiederholte Missverständnisse, welche die Situation derzeit in einem so unglücklichen Licht erscheinen lassen. Um so wichtiger ist jetzt also, die Vorgänge in der Türkei richtig zu interpretieren. Wir mögen ja Zweifel am Demokratieverständnis von Erdoğan haben. Tatsächlich aber steht die Bevölkerung, so viele Kritiker es in ihren Reihen natürlich nach wie vor geben mag, im Hinblick auf das Geschehen vom 15. Juli 2016 in plötzlicher nationaler Einheit und im Glauben, dass es sich um eine großartige Demokratiebewegung handle, hinter dem Präsidenten. Wenn Umfragen nach wie vor von einer Unterstützerquote von 55% sprechen, so mag man eine solche Statistik kritisch sehen. Aber es wird auch der größte ErdoğanKritiker mit statistischen Tricks allenfalls geringfügig unter die 50%-Marke kommen. Es ist müßig darüber zu sprechen, welche Folgen das für die Sitzverteilung im Parlament hat. Es gibt jedenfalls europaweit kaum eine Partei mit solch klarer Wählerbasis. Aber auch der Präsident hat etwas gemerkt. Nämlich dass man es sich auch oder gerade als geostrategisch wichtiger Staat nicht leisten kann, sich Freunde zu Feinden zu machen, wenn man selbst mitten im Haifischbecken schwimmt. So hat er sich Putin angenähert und Herrn Johnson aus England empfangen, der sich überraschend als Ur-Urenkel eines Oppositionellen im Osmanischen Reich vorgestellt hat. Und auch mit Deutschland wird – zum Glück – nicht nur auf denkbar niedrigem Niveau gestritten, sondern doch auch hin und wieder gesprochen. AUSBLICK Die Türkei muss und wird auch in Zukunft ein wichtiger Partner bleiben. Was die Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit angeht, haben wir ja auch in der EU mindestens zwei Problemkinder, nämlich Ungarn und Polen. Wir haben den Brexit, verursacht durch eine völlig irrational, geradezu idiotisch anberaumte und durchgeführte Volksabstimmung in Großbritannien. Über die anderen Balkanländer wissen wir kaum etwas. Wir müssen also alles im Rahmen freundschaftlichen Anstands tun, um weiterhin Einfluss auf die rechtsstaatlichen Verhältnisse in der Türkei zu nehmen. Und was die Kommunikation angeht, müssen wir Europäer genauso aufpassen wie Präsident Erdoğan – und uns davor hüten, unsere notorischen Fehler mit geradezu penetranter Kontinuität zu wiederholen. Wir müssen endlich lernen, Türkei-Politik zu betreiben. Und die Türken sollten den derzeit herrschenden Tonfall, dessen sich zum Teil auch Präsidenten-Berater befleißigen, auf ein vernünftiges Maß zurückfahren. 10 Im Übrigen kann der Türkei niemand ihre einmalige geostrategische Position nehmen, die auch für die türkische und europäische Wirtschaft enorm wichtig ist und zahlreiche Chancen bietet, die durch die aktuellen politischen Verhältnisse eigentlich gar nicht gefährdet sind. Heute früh – 2.10.2016 – wurde bekannt, dass Erdoğan keine Geduld mehr mit der EU habe, sie solle sich jetzt entscheiden, ob die Türkei aufgenommen werden solle oder nicht. Er sei bereit. Wieder eine Situation, die sich nahtlos an die gemachten Fehler anschließt. LINKS UND HINWEISE In ihren Newslettern berichtet unsere Kanzlei über aktuelle Entwicklungen in der Türkei. Dr. Rolf Gutmann in einem Editorial zur Neuen Zeitschrift für Verwaltungsrecht über mögliche Gefahren der aktuellen Situation für das Assoziationsverhältnis EU-Türkei. Dr. Günther Seufert, SWP, in Le Monde Diplomatique: Anatomie des Putsches.
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