Zur aktuellen Situation in der Türkei

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MPF RECHTSANWÄLTE
DieSituationinderTürkei
2.10.2016
EINFÜHRUNG
Dieser Bericht schreibt einen Text fort, der erstmals am 13.8.2016 in das Netz gestellt und
am 28.9.2016 aktualisiert worden ist. Die Entwicklungen seit dem 15.7.2016 haben eine
Situation aufgezeigt, wie sie die Türkei noch nie erlebt hat. Es gibt in der Vergangenheit
der bald 100 Jahre alten Republik keine vergleichbare Situation. Selbst der kläglich
gescheiterte Putsch hat mit den bisherigen Putsch-Erfahrungen der Türkei nichts gemein,
auch nicht die zivile Reaktion hierauf.
Die aktuelle Situation in der Türkei scheint unsere Medien noch immer zu verwirren, mit
fatalen Folgen. Entweder recherchieren unsere Medien nicht ordentlich, oder es steckt
Absicht hinter ihrer Berichterstattung.
N-TV 2.10.2016:
„Der Nationale Sicherheitsrat der Türkei will den nach dem gescheiterten
Putschversuch verhängten Ausnahmezustand über den Oktober hinaus verlängern.
"Die Entscheidung wurde gefällt, die Verlängerung des Ausnahmezustands zu
empfehlen", erklärte das Gremium unter Vorsitz von Staatschef Recep Tayyip
Erdogan nach einer Sitzung in Ankara. Dies solle zum wirksamen "Schutz unserer
Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Rechte und Freiheiten unserer Bürger" geschehen.
Nach der Verfassung muss zunächst der Sicherheitsrat beraten. Die Verlängerung
des Ausnahmezustands durch das Kabinett unter Erdogan ist dann nur noch
Formsache. Während des Ausnahmezustands kann der Staatspräsident per
Notstandsdekret regieren.“
Richtig muss die Nachricht lauten:
„Der unter dem Vorsitz von Staatspräsident Erdogan zusammengetretene Nationale
Sicherheitsrat der Türkei hat die Verlängerung des nach dem gescheiterten
Putschversuch verhängten Notstandes über den Oktober hinaus empfohlen. Dies
solle zum wirksamen "Schutz unserer Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Rechte und
Freiheiten unserer Bürger" geschehen, so die Erklärung.
Nach der Verfassung muss zunächst der Sicherheitsrat beraten. Dieser gibt dann
eine Empfehlung ab, die durch den Ministerrat, der im Notstand unter dem Vorsitz
des Staatspräsidenten tagt, umgesetzt werden kann. Beschließt der Ministerrat die
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Verhängung oder Verlängerung des Notstandes, ist der Beschluss umgehend dem
Parlament zur Zustimmung vorzulegen. Das Parlament kann die Zustimmung
verweigern. Stimmt es zu, kann die Regierung zunächst weiter mit
Gesetzesdekreten regieren.“
Hinzuzufügen wäre noch, dass Gesetzesdekrete eine verkürzte Form der Gesetzgebung
darstellen, die von Verfassungs wegen nur solche Gegenstände regeln darf, die auch
tatsächlich mit der Ausrufung des Notstandes zusammenhängen (siehe Art. 120, 121 der
Verfassung).
Die Säuberungen nach dem Putschversuch haben inzwischen geradezu unvorstellbare
Dimensionen erreicht. Die Hetze erfasst Tausende von Menschen, bei denen schlicht nicht
nachvollziehbar ist, worin eigentlich ihr Verhältnis zu Herrn Gülen bestehen soll,
abgesehen davon, dass sie vielleicht ein Bankkonto bei der falschen Bank hatten. Es ist
auch durchaus unklar, ob Präsident Erdoğan die Situation überhaupt noch unter Kontrolle
hat, oder ob er hier einen Sturm entfesselt hat, den er sich ursprünglich einmal eher als
neuen Wind vorgestellt hatte.
Selbst erfahrene Türkei-Spezialisten stehen vor völlig neuen Herausforderungen bei der
Interpretation und Bewertung der Vorgänge.
DIE TÜRKEI - WEITER EIN ZUVERLÄSSIGER PARTNER FÜR INVESTITIONEN?
Dass der Putsch für Präsident Erdoğan und seine Regierung eher ein Vorwand als ein Grund
dafür war, jetzt mit den Säuberungsaktionen gegenüber den Mitgliedern der GülenBewegung zu beginnen, dürfte außer Frage stehen. Denn die Verfassungs- und Rechtslage
erlaubt zwar die Versetzung von Juristen und Beamten unter bestimmten Voraussetzungen,
die vom Rechtsstaatsprinzip gedeckt sind, nicht jedoch deren Entlassung allein wegen des
Verdachts der Mitgliedschaft in einer Vereinigung. Noch weniger erlaubt die Verfassung,
einen Notstand dazu zu nutzen, gleich die ganze Rechtsordnung auf neue Füße zu stellen.
Neben mehr als 100.000 Beamten hat es auch 200 Unternehmen aller Größen getroffen,
denen vorgeworfen wird, die Bewegung zu finanzieren und damit, nach der Lesart der
Regierung, eine kriminelle bewaffnete Vereinigung zu unterstützen (eine ausführliche
Bewertung findet sich von Günter Seufert hier: in Le Monde diplomatique in deutscher
Sprache).
Manche deutschen Unternehmer verlieren damit ihre Geschäftspartner, obwohl die
Unternehmen prinzipiell durch staatliche Sachwalter (kayyum) weitergeführt werden,
übrigens auf unklarer Rechtsgrundlage. Den deutschen Partnern stehen dann die üblichen
Rechte zu, etwa die Beendigung von Verträgen wegen Wegfall der Geschäftsgrundlage, der
Geltung einer change-of-control-Klausel oder gar wegen höherer Gewalt. Auf jeden Fall ist
anzuraten, die Kommunikation mit den zuständigen Mitarbeitern aufrecht zu erhalten bzw.
aufzunehmen.
Alle anderen Dispositionen (Marken, Firmengründungen, Kooperationen, Lizenzen aus dem
Bergbau, dem Energiesektor, Bauwesen etc.) sind von der aktuellen Situation rechtlich
nicht betroffen.
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Ungeachtet all dessen werden die durch die Entlassungen gerissenen Lücken in Bürokratie
und Justiz sich auf die Verfahren auswirken, weil die vakant gewordenen Stellen erst
einmal neu besetzt werden müssen. Es kann also zu Verzögerungen kommen. Wir rechnen
damit, dass die Lücken bis spätestens Herbst 2017 bereits wieder gefüllt sein werden. Mit
einzelnen Qualitätsproblemen in der Bürokratie sollte man allerdings auf längere Sicht
rechnen. Auch berichtet die Presse bereits von einzelnen Beamten, die wieder auf ihre
Posten zurückkehren, weil die Staatsanwaltschaften offenbar überhaupt keine
Anhaltspunkte für irgendeinen Zusammenhang gefunden haben. Es kann durchaus sein,
dass der Aufruf zur Denunziation hier ungesunde Wirkung entfaltet. Darüber hinaus sind
auch pensionierte Richter/innen und Staatsanwälte/innen eingeladen worden, in den
aktiven Dienst zurückzukehren. Von einem großen Ansturm der Pensionäre wird allerdings
bislang nicht berichtet.
Auch im Militär wurde nach dem Putsch erst einmal gesäubert – dies so intensiv, dass
zahlreiche Offiziere bis zum Generalsrang wieder zum Dienstantritt gerufen wurden, die in
den berüchtigten Ergenekon- und Balyoz-Verfahren ihre Posten verloren hatten, jahrelang
in Untersuchungshaft saßen, wegen Hochverrats verurteilt und dann auf Anordnung des
Kassationshofs zu einem großen Teil doch wieder freigesprochen oder zumindest auf freien
Fuß gesetzt wurden. Die Luftwaffe stand kurz vor dem Kollaps, weil es ihr plötzlich an
Piloten für die Kampfeinsätze fehlte, die nicht nur gegen die PKK, sondern neuerdings auch
in Syrien zu fliegen waren.
Und schließlich musste eine Teilamnestie erlassen werden, mit welcher Kriminelle mit
Verurteilungen unter fünf Jahren Gefängnis mit sofortiger Wirkung in den offenen Vollzug
überstellt wurden, um Platz für die Zehntausenden Untersuchungshäftlinge aus der GülenBewegung zu schaffen.
Anlass dafür, die Türkei plötzlich als unsicheren oder unzuverlässigen Partner anzusehen,
gibt es derzeit nicht. Das Regime stützt sich auf eine breite Basis in der Bevölkerung,
zumal infolge des Putsches eine Euphorie der nationalen Einheit entstanden ist. Die
erfolgreiche Abwehr des Putsches wird überwiegend als Sieg der Demokratie gesehen. Den
Verdacht, ein „Despot“ oder „Diktator“ zu sein, weist Präsident Erdoğan zurück.
So bleibt die Türkei – trotz der leider allseits zu beobachtenden politischen Rhetorik –
weiter eines der interessantesten Länder für deutsche Investitionen und ist wie immer als
Standort für Produktion und weitergehende Exporte nach Asien und in den Nahen Osten
bestens geeignet.
Tatsächlich tut die türkische Regierung derzeit alles, um das Investitionsklima weiter zu
verbessern (vgl. dazu unsere Newsletter).
Zum politischen Verständnis der Situation erlauben wir uns nachfolgende Hinweise.
DIE AKP UND GÜLEN
Die AKP war ursprünglich eine Sammlungsbewegung aus verschiedenen politischen
Richtungen, wenn auch mit starken islamisch orientierten Zügen. Eigentlich verdankt sie
ihre Existenz genau derjenigen Verfassungsordnung, die sie jetzt unbedingt ändern will,
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einer Verfassungsordnung, da zu Beginn als durch das Militär 1982 diktiert beschimpft
wurde, sich dann aber zu einer funktionstüchtigen Verfassung emanzipiert hat, die sich in
ihrem rechtsstaatlichen und demokratischen Wesen im Einklang mit den meisten
Verfassungen europäischer Staaten befindet. Unter dem Dach der AKP sammelten sich seit
2001 nicht nur gemäßigte Kräfte der alten islamistischen Parteien, sondern auch Anhänger
der bürgerlichen und linken Parteien, die ja dann auch 2002 von der AKP ins Abseits
gedrängt wurden. Vor allem die ANAP des Turgut Özal und die konservative DYP flogen aus
dem Parlament und verschwanden im Nichts. Die kemalistische CHP und die
nationalistische MHP behaupteten sich nur mühsam und mussten sich noch die Opposition
mit der offensichtlich nicht klein zu bekommenden kurdischen HDP (als Nachfolgepartei
einer ganzen Kette von Parteien, die nacheinander verboten wurden) teilen.
Die AKP hatte also einen durchaus pluralistischen Charakter, was ja dann auch maßgeblich
den Erfolg der türkischen Politik in jeder Beziehung herbeigeführt hat, weil es erstmals
seit Jahrzehnten eine Partei schaffte, ohne Koalitionspartner Regierungsverantwortung zu
übernehmen und damit Politik und Gesellschaft zu stabilisieren. Zumindest vordergründig.
Denn die AKP bot eben auch Fetullah Gülen eine Plattform, über welche die Karrieren
seiner Freunde und Anhänger gefördert wurden. Gülen war mit seinen Anhängern in den
1980er Jahren aus vielschichtigen und verzweigten religiösen Strömungen hervorgegangen,
die die religiösen Bedürfnisse der Gesellschaft besser bedienten als der Staatsislam des
Präsidiums für Religionsangelegenheiten. Gülens Anhänger erlangten die Strukturen einer
riesigen Gemeinde mit starkem Zusammenhalt und loyalen Seilschaften in allen
gesellschaftlichen Bereichen. Dabei war Gülen nie als Unterstützer eines politischen Islam
aufgefallen, hatte seine Wahlempfehlungen zuletzt vor allem auf die bürgerliche DYP
konzentriert. Mit der Gründung der AKP fand Gülen mit seiner Bewegung dann eine neue
Plattform bzw. ein neues Dach, unter welchem es ihm gelang, wichtige Positionen in allen
Bereichen von Verwaltung, Justiz und Militär zu besetzen.
Die AKP verdankt ihre Stärke also nicht nur ihrer Qualität als Sammlungsbewegung, sondern
einer starken Organisation, die sie stützte: der Gülen-Bewegung.
DER NOTWENDIGE BRUCH
Das starke Anwachsen dieser islamischen Gemeinde – oder besser: Gemeinschaft – wurde
dann zur Gefahr für Erdoğan und seine eigenen Seilschaften. Sie drohte, so darf man die
Vorgänge heute interpretieren, unter der Leitung des „Khomeini von Pennsylvania“,
Fetullah Gülen, den Staatsapparat so zu durchsetzen, dass die Gefahr bestand, dass sich
dieser Apparat verselbstständigte und einer vernünftigen Kontrolle durch die Regierung
entzog. So gesehen hat der vom Präsidenten Erdoğan selbst formulierte Satz, der Putsch
sei ein Geschenk Gottes gewesen, eine besondere Bedeutung, die man nur in der Frage
formulieren kann: Was wäre eigentlich passiert, wenn der Präsident nicht – in vieler
Hinsicht unter groben Verstößen gegen die Verfassung – als starker Mann die Fäden in die
Hand genommen hätte? Hätte dann doch eine Art Iranisierung nach dem Vorbild Khomeinis
stattgefunden? Hätte eine islamische Scientology namens „Gülen-Bewegung“ oder
(türkisch:) „Fetullahçılar“ die Kontrolle über Staat und Gesellschaft übernommen,
vielleicht mit schlimmeren Folgen als denen einer Erdoğan-Diktatur?
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Derzeit sehen wir nur, wie eine AKP-Regierung eine Hexenjagd betreibt – türkische Kritiker
haben diesen Begriff inzwischen in einem für türkische Verhältnisse neuen Begriff
übernommen: çadı avı. Aber sehr viele Verhaftete sind ja gerade Anhänger oder gar
Mitglieder der AKP oder Spitzenbürokraten wie Polizeipräsidenten, Präfekten und hohe
Richter, die auf „AKP-Tickets“ (wenn auch nicht, bedingt durch das türkische ParteienRecht, als AKPMitglieder) in ihre Positionen gelangt sind. Es werden Personen ausgebootet,
suspendiert, verhaftet, von denen (wir) alle glaubten, das seien jetzt diejenigen, mit
denen Erdoğan seine Islamisierungspolitik vorantreibt. Erdoğan wird jetzt möglicherweise
gezwungen, seinen Frieden mit dem Säkularismus zu schließen, weil er als Zauberlehrling
die Geister, die er gerufen hat, anders nicht loswird.
DIE VERANTWORTUNG FÜR DEN PUTSCH
Schon am Abend des Putsches wurde der Putsch als großes Theater bezeichnet. Aber
niemand kennt bis heute den Dramaturgen oder Autor des Theaterstücks. Die Regie
jedenfalls ist gründlich misslungen. Gülen hätte als Motiv die Gefahr, die ja von den
bereits begonnenen Säuberungen für seine Bewegung ausgegangen ist. Erdoğan fehlte noch
eine solide Grundlage, auf welche er seine Säuberungsaktionen stellen konnte. Und es gab
innerhalb des Militärs sicherlich eine Gruppe von Offizieren, die das Erbe Atatürks in
Gefahr sahen und aus diesem Grunde sich zum Putschen entschlossen. Gülen oder Erdoğan
– wir werden in beiden Fällen von Verschwörungstheorien sprechen müssen. Es spricht aber
auch viel für die These, dass sich hier eine Gruppe von Offizieren mit ihren Möglichkeiten
überschätzt, vor allem auch nicht mit diesem geradezu abgeklärten Widerstand von Teilen
der Bevölkerung gerechnet hat, und Erdoğan die Gunst der Stunde nutzt. Aber vielleicht
steckt doch die Gülen-Bewegung hinter dem Putsch-Versuch, die sich einfach mit ihren
Möglichkeiten überschätzt hat oder, nachdem die Verfolgung der Gülen-Anhänger ja
eigentlich bereits begonnen hatte, die Flucht nach vorne antreten musste. Jedenfalls trägt
Gülen nicht zur Klarheit bei, wenn er neuerdings selbst Erdoğan der Inszenierung des
Putsches bezichtigt.
Jedenfalls bastelt die Regierung weiter an einer stichhaltigen Begründung dafür, dass die
Gülen-Bewegung eben doch eine bewaffnete kriminelle Vereinigung war, nur eben die
Waffen noch nicht zum Einsatz gebracht hat. Oder eben den Putsch angezettelt hat.
Die Wahrheit wird am Ende sein, was derjenige als solche definiert, dem es gelingt, die
nächsten Jahre die türkische Politik zu kontrollieren.
DIE SÄUBERUNGEN – WAS STECKT DAHINTER?
Allein der Begriff Säuberungen, der auch von der türkischen Presse verwendet wird,
erinnert an die stalinistischen Säuberungen. Die Verwendung des Begriffs ist ein
unglückliches Signal für fehlende Rechtsstaatlichkeit. Gut 100.000 Beamte aus allen
Bereichen, bis hinauf in die unmittelbaren Berater- und Sicherheitskreise des Präsidenten
und anderer Persönlichkeiten, sind entlassen oder suspendiert worden, darunter auch mehr
als 4.000 Richter und Staatsanwälte. Mehr als 30.000 Menschen dürften inzwischen in
Untersuchungshaft sitzen: Journalisten, Beamte, Lehrer, Professoren, Offiziere, Ärzte,
Rechtsanwälte ...
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Der Zusammenhang der Säuberungen mit dem Putsch ist schwer zu definieren. Denn sie
waren bereits vor dem Putsch vorbereitet worden. Anders ist das Tempo des Geschehens
nicht zu erklären. Erst die Entlassungen, Festnahmen und Verhaftungen nach Mitte August
dürften eine Folge von Informationen sein, die in der ersten Welle erlangt wurden.
Jedenfalls hatte der Putsch die Wirkung eines Brandbeschleunigers. Und das Feuer greift
auf Flächen über, für die es nicht gelegt worden war. Es wird nicht nur das Krebsgeschwür
(Präsidenten-Terminologie) entfernt, sondern gleich das ganze Organ.
Die Erklärung für diese Maßnahmen dürfte im Charakter der Gülen-Bewegung zu suchen
sein. Einerseits steht sie für einen aufgeklärten Islam. Fetullah Gülen hatte früher nicht die
islamistischen, sondern die bürgerlichen Parteien unterstützt. Andererseits fand er in der
AKP eine Plattform, über welche Tausende von Abgängern seiner Schulen und Universitäten
sich in gute Positionen in Staat und Gesellschaft hocharbeiteten. Und es wäre naiv zu
glauben, dass die Seilschaften sich an die gegebenen Regeln gehalten und nicht auch die
Funktion gehabt hätten, eben die richtigen Anhänger und Sympathisanten in die richtigen
Positionen zu bringen, Prüfungsmanipulationen inbegriffen. Während bis vor drei vier
Jahren Gülen und seine Anhänger als Stütze der religionsnahen AKP-Politik galten, sieht
Präsident Erdoğan in ihnen nunmehr eine Gemeinschaft, die auf einem engen
Zusammenhalt beruht und sich anschickt, die Kontrolle über den gesamten Staatsapparat
zu übernehmen. Die Gülen- Bewegung, obwohl durchaus offen agierend, hat aus Sicht des
Präsidenten und seiner Umgebung den Charakter eines riesigen Geheimbundes erhalten,
der sich an die Stelle der eigentlichen Regierung zu setzen anschickt. Dabei sind Vergleiche
mit dem Exilanten Khomeini, der nach seiner Rückkehr in den Iran Ende 1978 einen
radikalen Umschwung zugunsten eines islamisch-konservativen Gottesstaat herbeigeführt
hatte, nicht selten. Aus deutscher Sicht kaum nachvollziehbar, wäre die Bewegung
vielleicht auch mit der Loge P2 in Italien zu vergleichen, der man ja ebenfalls eine
verbrecherische
Unterwanderung
staatlicher
Institutionen
zuschreibt.
Die
Säuberungsaktionen wieder erinnern eher an die Vernichtung des Tempelritter-Ordens
1307, durch den sich der französische König bedroht glaubte. Oder an die Säuberungen
Stalins – nur dass eben nach wie vor versucht zu werden scheint, halbwegs rechtsstaatliche
Verfahren einzuhalten, sich jedenfalls an Recht und Gesetz zu halten. Auch wenn man
dazu die „Terrorismus“-Definition des Gesetzes eventuell ein wenig verbiegen muss.
Jedenfalls muss verstanden werden, dass, wenn denn die Theorie vom Parallel-Staat
stimmt, auf dem Establishment hinter und unter Erdoğan ein enormer Handlungsdruck
lastete, dem es sich nach dem gescheiterten Putsch nun hingibt.
GEFAHR FÜR DEN RECHTSSTAAT?
Prinzipiell ist festzustellen, dass zweifelhaft ist, ob Regierung und Polizei rechtsstaatliche
Regeln einhalten. Schon die Ausrufung des Notstandes geht eigentlich zu weit, soweit er
mit dem Putsch begründet wird. Zwar sind die Verfahrensregeln eingehalten worden, doch
war der Putsch längst erfolgreich niedergeschlagen und für die Ausbreitung von
Gewalthandlungen bestanden und bestehen keinerlei Anzeichen, sieht man einmal vom
Südosten ab, wo ohnehin Krieg mit der PKK herrscht. Auch die Beschlagnahme des
gesamten Vermögens der vielen Festgenommenen hatte keine ausreichende
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Rechtsgrundlage
und
musste
durch
Rechtsverordnungen
mit
Gesetzeskraft
(Gesetzesdekrete), die ohne Mitwirkung des Parlaments (nur nachträgliche Kontrolle)
durch die Regierung erlassen werden, verbessert oder gar geschaffen werden. Die GülenBewegung erfüllt die Definition des „Terrorismus“, wie wir sie aus den einschlägigen
Konventionen des Europarats und der UN oder dem türkischen Strafrecht kennen, nicht
schon deshalb, weil täglich hundertfach in allen Medien, selbst durch Persönlichkeiten aus
der Justiz, von der Bewegung gar nicht mehr ohne das Attribut „terroristisch“ gesprochen
wird. Es gibt noch immer kein Gerichtsurteil, das dies rechtsmittelfest oder rechtskräftig
festgestellt hat. Das Attribut wird buchstäblich herbeigeredet – so lange, bis man
irgendetwas in der Hand hat (z.B. enge Verbindungen zu den Putschisten), die eine
Rechtfertigung erlauben. Aber weder mit der Behauptung noch mit dem Bestreiten ihres
terroristischen Charakters erfasst man das Phänomen dieser Bewegung – einer Bewegung,
die möglicherweise, auch ohne Gewalt, den Umsturz über den Marsch durch die
Institutionen herbeigeführt hätte. Möglicherweise haben wir es hier tatsächlich mit einem
Fall zu tun, in dem – vergessen wir für diesen Moment den Putschversuch – eine große und
starke Bewegung für die Verfolgung des Ziels eines autokratischen, religiös orientierten
Staates eine Strategie verwendet hat, die unter die klassischen Definitionen wichtiger
Staatsschutzdelikte nicht zu subsumieren ist.
Traurig ist aber jedenfalls der Umgang mit der Presse. Die Regierung hat ein unerträgliches
Klima der Angst geschaffen, teilweise bereits ausgelöst durch die Flut von
Beleidigungsklagen, die Präsident Erdoğan gerade auch gegen Journalisten hat einleiten
lassen, die Kritik an seiner Person und seiner Politik geübt haben. Es mag sein, dass bei
einzelnen, auch renommierten Journalisten überraschend enge Verbindungen zur GülenBewegung nachgewiesen werden können. Trotzdem haben die vielen, oft immer noch nicht
nachvollziehbaren Aktionen gegen Zeitungen und Journalisten, von denen inzwischen
Hunderten die Presselizenzen entzogen worden sind, den bitteren Beigeschmack, dass es
eben doch nur darum geht, kritische Stimmen mundtot zu machen. Dabei trifft es auch
gleich solche Journalisten, deren kritische Kommentare zur türkischen Politik bezüglich des
türkischen Südostens sie als „PKK-Unterstützer“ in die Gefängnisse bringt. Der Tod der
Pressefreiheit als Kolateralschaden der Hexenjagd gegen die Gülen-Bewegung ... Oder die
Hexenjagd als Vorwand, regierungskritische Medien auszuschalten ... Aber selbst hier
wissen wir nichts Genaues, geht das Meiste in allseitiger politischer Polemik unter, an der
sich deutsche und andere europäische Medien munter beteiligen.
Dennoch können wir feststellen, dass auch die Stromlinienpresse vereinzelt kritischer
berichtet. Sie kommt an bestimmten Enthüllungen nicht vorbei, wie etwa diejenige über
eine Hacker-Gruppe, die sich Zugang zu Tausenden von Nachrichten von Spitzenbürokraten
und Regierungsmitgliedern verschafft haben.
Zudem hat die CHP den Mut gefunden, gegen einen Teil der Rechtsverordnungen mit
Gesetzeskraft vor das Verfassungsgericht zu ziehen. Die Begründung dafür ist der Bezug auf
ein Urteil aus dem Jahre 1991, in welchem das Verfassungsgericht gesagt hatte: „Gegen
eine Rechtsverordnung mit Gesetzeskraft im Notstand ist der Weg zum Verfassungsgericht
nur dann verschlossen, wenn sie tatsächlich notstandsrelevante Gegenstände regelt.“ Jetzt
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darf man gespannt sein, ob das Verfassungsgericht diese richtige Rechtsprechung
aufrechterhält.
REAKTIONEN AUS EUROPA
Wie üblich sind die Reaktionen aus Politik und Medien in Europa aber von Unverständnis
und Unkenntnis geprägt, auch wenn die Kritik oft sachlich gerechtfertigt sein mag. Eines
der wichtigsten Missverständnisse ist die Annahme, dass hinter jeder gravierenden
Entscheidung, Verhaftung, Entlassung oder sonstigen Maßnahme der Präsident persönlich
steckt. Haftbefehle gehen von den zuständigen Justizorganen aus, die Entlassung von
Richtern und Staatsanwälten erfolgt durch das unabhängige – ja, unabhängige –
Selbstverwaltungsorgan der Justiz, nämlich durch den Hohen Richter- und
Staatsanwälterat. Es mag sein, dass auch die Angst um die eigene Karriere und Existenz
eine Rolle bei solchen Entscheidungen spielt. Dennoch sollte man ohne Kenntnis der
tatsächlichen und rechtlichen Situation nicht jeglichen Vorgang dem Präsidenten
zuschreiben. Der Hauptfehler, den sich europäische Medien leisten, ist die Titulierung als
„Diktator“, die auf die egomanische und allgegenwärtige Präsenz des Präsidenten
zurückgeht, aber mit den ihm tatsächlich zustehenden Kompetenzen nichts zu tun hat.
Jedenfalls derzeit noch schwimmt der Präsident auf einer hohen Welle politischer
Akzeptanz durch seine ehemalige Partei, der AKP, und ihrer Anhänger. Dort, wo man heute
seine Unterschrift findet, hätte man auch die Unterschrift jedes anderen Präsidenten
gefunden, weil sie dort kraft der Kompetenzordnung hingehört. Wenn er den Vorsitz im
Ministerrat hat, so bestimmt er – jedenfalls der geltenden Rechtslage zufolge – nicht die
Richtlinien der Politik. Er stützt „seine“ Maßnahmen nicht auf ihm allein zustehende
Kompetenzen, sondern bedient sich der ganzen Regierung und der AKP, bleibt also
innerhalb desjenigen Legitimationsrahmen, den ihm die Verfassung gezogen hat. So
gesehen ist die aktuelle Situation also nicht nur Ausdruck der Stärke dieses Mannes,
sondern vor allem auch der Schwäche der AKP-Führung.
Präsident Erdoğan ist ein unbequemer Partner, der sowohl in der Türkei als auch außerhalb
der Türkei deutlich macht, wie es um seinen Respekt vor dem Recht und der Justiz bestellt
ist. Dennoch sollte verstanden werden, dass die von Erdoğan ausgehenden Drohungen
tiefgehende Wurzeln haben, die die Europäer zum Teil selbst gelegt haben. Wenn zum
Beispiel mit dem Abbruch der Beitrittsverhandlungen gedroht wird, so ist dies aus zweierlei
Gründen ungeschickt. Zum einen sind die Beitrittsverhandlungen eine wichtige Plattform,
auf der weiterhin kommuniziert werden kann und muss. Zum anderen ist die Ankündigung
des Abbruchs aus der Sicht der Türken keine Drohung, sondern ganz einfach die
Fortsetzung der herablassenden, manchmal geradezu beleidigenden Türkei-Politik der
Mitteleuropäer. Die Wende können wir mit dem 1. Mai 2004 ansetzen, als die EU die
Zyperngriechen als “Republik Zypern” in die EU aufgenommen haben, obwohl der von der
Türkei und Griechenland abgesegnete Friedensplan von Kofi Annan in einer
Volksabstimmung der Zyperngriechen abgelehnt worden war – einfach, weil nicht
vorgesehen war, dass die Zyperngriechen den Plan ablehnen. Zypern, ein Staat mit
unklarer Verfassungslage und umstrittener völkerrechtlicher Position. Von diesem Schlag
ins Gesicht haben sich die Türken bis heute nicht erholt. Die EU steht hier gegenüber der
Türkei tief in der Schuld, die sie durch ihre Spielchen um die Aufhebung der Visapflicht
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noch vergrößert. Die Voraussetzungen für die Aufhebung der Visa-Pflicht seien noch nicht
erfüllt? Das hört man regelmäßig wiederholt von höchsten Stellen aus Berlin, Brüssel oder
Wildbad-Kreuth – aber welche Voraussetzungen sind hier angeblich nicht erfüllt? Europa
hat, was die Türkei angeht, ziemlich viel Dreck am Stecken. Jedenfalls soweit es um
Aufrichtigkeit und ehrliche Politik geht. Auch wenn die respektable wirtschaftliche
Entwicklung in der Türkei nicht allein Verdienst einer erfolgreichen AKP ist, sondern
unmittelbar mit einer erfolgreichen Umsetzung der Zollunion zusammenhängt, die die
heutige Türkei Turgut Özal verdankt. Es sind vor allem die politische Rhetorik und ständig
wiederholte Missverständnisse, welche die Situation derzeit in einem so unglücklichen
Licht erscheinen lassen.
Um so wichtiger ist jetzt also, die Vorgänge in der Türkei richtig zu interpretieren. Wir
mögen ja Zweifel am Demokratieverständnis von Erdoğan haben. Tatsächlich aber steht die
Bevölkerung, so viele Kritiker es in ihren Reihen natürlich nach wie vor geben mag, im
Hinblick auf das Geschehen vom 15. Juli 2016 in plötzlicher nationaler Einheit und im
Glauben, dass es sich um eine großartige Demokratiebewegung handle, hinter dem
Präsidenten. Wenn Umfragen nach wie vor von einer Unterstützerquote von 55% sprechen,
so mag man eine solche Statistik kritisch sehen. Aber es wird auch der größte ErdoğanKritiker mit statistischen Tricks allenfalls geringfügig unter die 50%-Marke kommen. Es ist
müßig darüber zu sprechen, welche Folgen das für die Sitzverteilung im Parlament hat. Es
gibt jedenfalls europaweit kaum eine Partei mit solch klarer Wählerbasis.
Aber auch der Präsident hat etwas gemerkt. Nämlich dass man es sich auch oder gerade als
geostrategisch wichtiger Staat nicht leisten kann, sich Freunde zu Feinden zu machen,
wenn man selbst mitten im Haifischbecken schwimmt. So hat er sich Putin angenähert und
Herrn Johnson aus England empfangen, der sich überraschend als Ur-Urenkel eines
Oppositionellen im Osmanischen Reich vorgestellt hat. Und auch mit Deutschland wird –
zum Glück – nicht nur auf denkbar niedrigem Niveau gestritten, sondern doch auch hin und
wieder gesprochen.
AUSBLICK
Die Türkei muss und wird auch in Zukunft ein wichtiger Partner bleiben. Was die Probleme
mit der Rechtsstaatlichkeit angeht, haben wir ja auch in der EU mindestens zwei
Problemkinder, nämlich Ungarn und Polen. Wir haben den Brexit, verursacht durch eine
völlig irrational, geradezu idiotisch anberaumte und durchgeführte Volksabstimmung in
Großbritannien. Über die anderen Balkanländer wissen wir kaum etwas. Wir müssen also
alles im Rahmen freundschaftlichen Anstands tun, um weiterhin Einfluss auf die
rechtsstaatlichen Verhältnisse in der Türkei zu nehmen.
Und was die Kommunikation angeht, müssen wir Europäer genauso aufpassen wie Präsident
Erdoğan – und uns davor hüten, unsere notorischen Fehler mit geradezu penetranter
Kontinuität zu wiederholen. Wir müssen endlich lernen, Türkei-Politik zu betreiben. Und
die Türken sollten den derzeit herrschenden Tonfall, dessen sich zum Teil auch
Präsidenten-Berater befleißigen, auf ein vernünftiges Maß zurückfahren.
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Im Übrigen kann der Türkei niemand ihre einmalige geostrategische Position nehmen, die
auch für die türkische und europäische Wirtschaft enorm wichtig ist und zahlreiche
Chancen bietet, die durch die aktuellen politischen Verhältnisse eigentlich gar nicht
gefährdet sind.
Heute früh – 2.10.2016 – wurde bekannt, dass Erdoğan keine Geduld mehr mit der EU habe,
sie solle sich jetzt entscheiden, ob die Türkei aufgenommen werden solle oder nicht. Er sei
bereit. Wieder eine Situation, die sich nahtlos an die gemachten Fehler anschließt.
LINKS UND HINWEISE
In ihren Newslettern berichtet unsere Kanzlei über aktuelle Entwicklungen in der Türkei.
Dr. Rolf Gutmann in einem Editorial zur Neuen Zeitschrift für Verwaltungsrecht über
mögliche Gefahren der aktuellen Situation für das Assoziationsverhältnis EU-Türkei.
Dr. Günther Seufert, SWP, in Le Monde Diplomatique: Anatomie des Putsches.