DIE WELT - Die Onleihe

DONNERSTAG, 18. AUGUST 2016
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B
Nr. 193
Zippert zappt
THEMEN
SPORT
Fabian Hambüchen
bekommt sein
Gold-Reck geschenkt
Seite 22
POLITIK
Hassprediger in
London verurteilt
Seite 7
FINANZEN
Ikea stoppt
lebenslanges
Rückgaberecht
Seite 15
KULTUR
Ewiger Rebell:
Robert Redford
wird 80
Seite 19
DAX
Im Minus
Seite 15
Dax
Schluss
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Sigmar Gabriel bei einem
Wahlkampfauftritt in Salzgitter
am vergangenen Freitag
Darf das
ein Vizekanzler?
Ja, findet Oliver Rasche. Sigmar Gabriel wehrt sich mit dem
Mittelfinger, weil gegen Rechtsextreme keine Fakten helfen
B
ravo, Herr Vizekanzler! Statt dem rechten
Mob appeasend die Hand zu reichen, halten
Sie ihm nur rund ein Fünftel davon entgegen,
Ihren Mittelfinger. Das tut aus so vielen Gründen
richtig gut, erfrischt geradezu. Denn es ist die ehrliche, ungeschminkte Reaktion auf provozierende Unverschämtheiten einiger Verbalpöbler. Diese ist erlaubt; auch denen, die Kanzler werden wollen. Denn
natürlich muss gleiches Recht für alle gelten – und
ein Kanzler ist am Ende hoffentlich eben auch nur ein
Mensch. Gabriel war bereits vor einem Jahr zum
Hassobjekt der rechten Szene geworden, nachdem er
Krawallmacher, die im sächsischen Örtchen Heidenau gegen Flüchtlinge demonstrierten, als „rechtes
Pack“ bezeichnet hatte. Seitdem haben sie den SPDChef besonders auf dem Kieker.
Sigmar Gabriels Vater war sein Leben lang überzeugter Nationalsozialist; gerade bei diesem Thema
mischt sich bei Gabriel also das Politische, der Job,
mit dem ganz privaten Leben. Genau damit zogen sie
ihn auf; maskiert, anonym, feige.
Und seine Reaktion ist nicht nur menschlich, sie
ist zudem auch sehr deutlich. Hochpolitisch und dabei sehr persönlich. Wenn wir immer wieder fordern, dass Politiker den ewig einlullenden Gestus ablegen, Klartext sprechen und Authentizität zeigen,
dann ist es fast ein Feiertag für die mediale Demokratie, wenn einer der höchsten Vertreter unseres
Staates auf seine ganz eigene Art zeigt, was er von
rechten Spinnern – und eben auch von persönlichen
Beleidigungen – hält.
Und überhaupt: Wenn schon Universalgenie Goethe seinem Götz von Berlichingen den „schwäbischen Gruß“ an den Kaiser in den Mund legt („Vor Ihro Kaiserliche Majestät hab ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber, sag’s ihm, er kann mich im Arsche lecken!“), was ist da schon ein kleines, hochgerecktes Wurstfingerchen?
Dabei muss man gar nicht so weit in der Geschichte zurückgehen. Gabriels Parteifreund Steinbrück
hob vor zwei Jahren zu Wahlkampfzwecken diesen
Finger als Zeichen der Coolness und Unabhängigkeit
auf einem Magazintitel – und wirkte eher bemüht bis
albern. Nationalspieler und Hitzkopf Stefan Effenberg zeigte ihn den Fußballfans – und musste die WM
1994 vorzeitig verlassen, noch vorzeitiger als seine
durchs Turnier stolpernden Mannschaftskollegen.
SCREENSHOT UND MONTAGE: DIE WELT; JULIO CORTEZ
Immer mehr Kinder leiden an
ADHS, das ist die Abkürzung für
Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung. Die aktuellen
Zahlen gab das Wissenschaftliche Institut der AOK bekannt,
das ist möglicherweise die Abkürzung für AufmerksamkeitsOrts-Krankenkasse. Die Folgen
sind gravierend: Die Ritalin verarbeitende Industrie muss bereits Sonderschichten fahren,
Urlaube wurden gestrichen. Im
Moment leben über 300.000
Kinder mit einer ADHS-Diagnose, wahrscheinlich sind es sehr
viel mehr, aber die wenigsten
Kinder können sich auf den Test
konzentrieren. Millionen Erwachsene haben ADHS und
wissen es gar nicht oder waren
gerade abgelenkt, als man ihnen
die Diagnose mitgeteilt hatte.
ADHS ist allerdings auch eine
relativ neue Krankheit, die nicht
immer ganz eindeutig zu diagnostizieren ist. Ein Beispiel:
Das Kind reagiert jähzornig, fügt
sich schlecht in die Gemeinschaft ein und reagiert in einer
Weise, die nicht in den sozialen
Kontext passt. Mit diesen Symptomen wird man einerseits zum
Krankheitsfall erklärt, andererseits kann man damit aber auch
problemlos Präsidentschaftskandidat in den USA werden.
Nein, sagt Ulf Poschardt. Die SPD legte bisher Wert auf die
Würde ihrer Vertreter. Sigmar Gabriel fehlt das Gespür dafür
A
Warum wird überhaupt eine so große Sache aus dieuch wenn die SPD in ihrer Geschichte meist eisem einen Finger gemacht? Natürlich, die Symbolik –
ne linke, auch liberale Partei des Fortschritts
aber ist diese nicht längst zu einem allgemeinen „Ich
und der Emanzipation war, hatte das kernsozilass mir das von dir nicht gefallen, und DAS halte ich
aldemokratische Milieu konstant einen auch konservon deiner Art“ abstrahiert? Was hätte Gabriel denn
vativen Blick auf ihre Partei. Gerade klassisch sozialsonst zeigen sollen? Eine lange Nase? Hasenohren?
demokratische Haushalte und Familien definierten
Natürlich könnte man das Vorbildargument anfühsich über ihren Stolz auf diese Partei, deren Tradition
ren, Stinkefinger gehört sich einfach nicht, schon gar
und Geschichte – und natürlich auf deren Spitzenpernicht für einen Vizekanzler, Chef einer großen Partei
sonal, die jene glorreiche Historie verkörpern sollten.
– womöglich bald Kanzlerkandidat! Ja, eigentlich
Der Arbeiter war stolz auf Willy Brandt, die oft genug
richtig. Eigentlich. Wenn nämlich der Umgang so
bemühte Krankenschwester oder – aktuell – Putzfrau
hart, so respektlos, ja erniedrigend ist wie in diesem
strahlte ob der Würde eines Helmut Schmidt.
Fall, dann wäre es geradezu lächerlich zu beschwichMit Gerhard Schröder wichen Pathos und Ernst der
tigen und andererseits unerträglich devot, es einfach
klassischen Sozialdemokratie einer eher postmodern
zu ignorieren.
augenzwinkernden Verspieltheit, wenn auch Schröder
Und das sollte auch die Hürde sein, das Kriterium,
als political animal und Instinktvirtuose stets ungeab wann eine spontane Geste, die sich unter der Gürheuer fokussiert war. Er trat weniger seriös auf als ein
tellinie abspielt, goutiert werden kann: Wer derart
Kurt Schumacher, Brandt oder Schmidt. Aber dieser
feige und respektlos mit Menschen umgeht – egal ob
Teil der Geschichte war ihm oft auch grad egal. Auf der
mit dem Vizekanzler oder mit Opa Kasupke von neanderen Seite hatte seine Aufsteigerbiografie und auch
benan –, der hat es nicht besser verdient. Völlig gleich
sein sinnlicher Parvenü-Hedonismus einen Zeitgeist
übrigens, ob die verbalen Angriffe von rechts, links,
getroffen und viele Leute überzeugt. Seinen Dienstoben oder unten kommen.
Audi A 8 auf die Bühne von „Wetten, dass..?“ zu fahren,
Der Mittelfinger als kleine, aber wirksame Abwehrum eine Rentnerin nach Hause zu chauffieren, war
waffe für alle, die eben nicht immer die andere Wanpeinlich und großer SPD-Pop zugleich.
ge hinhalten wollen. Und in diesem Fall reagiert GaKommen wir zu Sigmar Gabriel. Seit knapp sieben
briel als Mensch, das steht ihm zu, es steht jedem zu.
Jahren Parteichef und eigentlich designierter KanzlerUnbeherrscht? Vielleicht. Übertrieben? Ganz sikandidat – wenn, ja wenn sich die SPD nicht in den
cher nicht. Bestünde auch nur ansatzkommenden Monaten vor dieser Idee erweise die Hoffnung, den Schreihälsen
schreckt. Gabriel ist von vielen unterEine kleine
argumentativ beizukommen, dann wäschätzt worden, nicht nur in der Partei,
Kulturgeschichte
re das sicher die bessere Lösung gewesondern auch in den Medien. In vielen
des Stinkefingers
sen. Leider muss man kein Politologe
Momenten blitzt auf, was Gabriel an
sein, um inzwischen begriffen zu ha- von Dirk Schümer auf
Wissen, Erfahrung, klassischer Bildung
ben, dass man den Hasskappen nicht
und auch intuitivem Humor zu bieten
Seite 18
mit Fakten, Gedanken oder gar Respekt
hat. Leider ist er ein denkbar schlechter
beikommen kann. Warum also Perlen
Manager seiner Ressourcen. Er hat viel,
vor die … nun ja Leute, die mit Perlen nichts anfandas ihn zum großen Politiker qualifiziert, er hat wohl
gen können, werfen?
noch mehr, was ihm diese Berufung versperrt.
Bleibt die nonverbale, quasi manuelle KommuniGabriel hat sich oft nicht im Griff. Er wirkt wankelkation. Statt der versöhnenden Raute ein deutlicher
mütig und fahrig. Er redet heute so und morgen so.
Mittelfinger – ist so jemand auch reif, hat er das ForDas mag bei allen Politikern aus Pragmatismus im
mat für den Chefsessel des Kanzleramtes? Ja, denn
Trend so sein, aber bei Gabriel ist dieses Unstete zu
niemand will einen emotionslosen Roboter. Hätte
einem Erkennungsmerkmal in der Öffentlichkeit geGabriel nicht reagiert, wäre das viel armseliger geweworden. Nun hat er in der Sommerpause in dichter
sen. Das Einzige, was man ihm vorwerfen kann: WaFrequenz wieder einmal seinem umfassenden Authenrum hat er nicht gleich beide Hände benutzt?
tizitätsbedürfnis Raum gegeben. Er hat den Monatsbe-
richt der Bundesbank und deren Rentenüberlegungen
als „bekloppt“ bezeichnet und wenig später einem versprengten Haufen rechtsextremer, zugegebenermaßen unappetitlicher Demonstranten bei einem SPDTermin den Mittelfinger gezeigt. Dies mag besonders
verzeihlich sein, weil die Pöbler Gabriels Nazivater
thematisierten und damit eine wichtige Grenze überschritten, aber dennoch war diese Reaktion eines Vizekanzlers der Bundesrepublik Deutschland nicht angemessen. Es war ungezogen. Stefan Effenberg wurde
dafür 1994 aus der Nationalmannschaft geworfen.
Auch die Bemerkungen zu den Überlegungen der
Bundesbank, das Renteneintrittsalter auf 69 zu erhöhen, sind in ihrem Sound schrill und respektlos. Das
ist genau die Expertenverachtung (so Jan Fleischhauer), die auch die SPD der AfD vorwirft. Die Gutsherrenart hat in der machistisch geprägten SPD eine Tradition, aber sie steht und fällt mit der Stilhöhe des
Gutsbesitzers. Die ist bei Gabriel nicht gegeben. Dazu
muss man nicht einmal den jüngsten Auftritt in der
„Bunten“ bemühen, der nicht vorteilhaft war für einen
Politiker, der ernst genommen werden will.
Das untrügliche Gespür für Stimmungen allerdings
hat Gabriel nicht verloren. Sein Impuls, auch mit Pegida-Anhängern zu sprechen, mag unüberlegt und wenig
staatsmännisch gewesen sein, aber an ganz vielen
Stammtischen machte er damit den Punkt. Als er bei
einer klassisch öden Buchvorstellung der etwas erwartet agierenden Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft die neoliberale Konsensstimmung lustvoll zerstörte, hat das nicht nur die „taz“ gefreut, die jubelte:
„Manchmal ist Sigmar Gabriel wirklich eine coole
Sau.“ Doch der Grat zwischen „zu schlecht gelaunter
Rotzigkeit“ (ebenfalls „taz“) und rüder Unbeherrschtheit ist schmal. Als er die mega-unappetitlichen Fremdenfeinde als „Pack“ beschimpfte und die Frauenmisshandler der Kölner Silvesternacht als „Arschlöcher“
bezeichnete, war von einem spannungsvollen Einsatz
verschiedener Jargons oder gar raffinierter Sprachspiele nichts übrig geblieben.
Auch der treue, die SPD liebende Stammwähler
wird sich nächstes Jahr fragen, ob er einem derart unbeherrschten, fahrigen Stimmungssurfer das Schicksal
des Landes in Zeiten von Unruhe, Krisen und globaler
Verwerfungen in seine Hände legen will. Sie werden es
klar beantworten: Nein. Mit Sigmar Gabriel hat die
SPD bei den Wahlen 2017 keine Chance.
Auswärtiges Amt distanziert sich von brisanter Türkei-Analyse
D
as Auswärtige Amt nimmt Abstand von einer kritischen Bewertung der Bundesregierung
zur Verbindung der türkischen Regierung mit Islamisten. Das Ministerium
mache sich die von Medien berichteten
Aussagen „in dieser Pauschalität“ nicht
zu eigen, sagte eine Sprecherin von Ressortchef Frank-Walter Steinmeier (SPD)
in Berlin. Die Türkei bleibe in der Nato
und auch beim Konflikt in Syrien ein
wichtiger Partner. Auf die Inhalte der Be-
wertung ging sie mit dem Hinweis nicht
im Detail ein, dass diese teilweise als vertraulich eingestuft seien. Weiter teilte
die Sprecherin mit, dass der deutsche
Gesandte in der Türkei schon am Dienstag ein Gespräch mit der türkischen Regierung zu den Vorgängen gehabt habe.
Eine offizielle diplomatische Reaktion
Ankaras habe es aber nicht gegeben.
Der Sprecher von Kanzlerin Angela
Merkel (CDU), Steffen Seibert, sagte:
„Ich habe hier keine eigene Beurteilung
vorzunehmen.“ Auch er verwies in der
Regierungspressekonferenz auf die Vertraulichkeit
bestimmter
Passagen.
Gleichwohl räumte er ein, dass auch das
Kanzleramt an der Beantwortung der
parlamentarischen Anfrage durch das
Bundesinnenministerium mitwirkte. Es
seien verschiedene Akteure der Regierung beteiligt gewesen. „Das Kanzleramt war einer davon“, sagte Seibert.
In der Antwort auf eine Anfrage der
Linksfraktion hatte die Bundesregierung
erklärt, die Türkei habe sich schrittweise
„zur zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen“ entwickelt.
Diese Einschätzung stieß in der Türkei auf scharfe Kritik. Sie sei „ein neuer
Beweis für die schräge Einstellung, mit
der seit einiger Zeit versucht wird, unser Land zu zermürben, indem unser
Staatspräsident und unsere Regierung
zum Ziel genommen werden“, teilte das
türkische Außenministerium am Mittwoch in Ankara mit. Wegen des Berichts
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DW-2016-08-18-zgb-ekz- c5fd329e9d9583a142f9e454d7df729f
werde man die „bundesdeutschen Instanzen“ um Aufklärung ersuchen,
heißt es in der Erklärung. Die Türkei sei
ein Land, „das den Terror welcher Herkunft auch immer aufrichtig bekämpft“.
Dies erwarte sie auch von ihren Partnern und Verbündeten. Das Außenministerium in Ankara sprach zudem von
„bestimmten politischen Kreisen“ in
Deutschland, die „ganz offensichtlich“
hinter den aufgestellten Behauptungen
stünden.
Seiten 3 und 4
ISSN 0173-8437
193-33
ZKZ 7109