DONNERSTAG, 18. AUGUST 2016 KUNDENSERVICE 0 8 0 0 / 9 3 5 8 5 3 7 ** D 2,50 E URO B Nr. 193 Zippert zappt THEMEN SPORT Fabian Hambüchen bekommt sein Gold-Reck geschenkt Seite 22 POLITIK Hassprediger in London verurteilt Seite 7 FINANZEN Ikea stoppt lebenslanges Rückgaberecht Seite 15 KULTUR Ewiger Rebell: Robert Redford wird 80 Seite 19 DAX Im Minus Seite 15 Dax Schluss Euro EZB-Kurs Dow Jones 17.40 Uhr 10.537,67 1,1276 18.476,16 Punkte US-$ Punkte –1,30% ↘ –0,16% ↘ –0,41% ↘ ANZEIGE Norwegian Breakaway: Bau eines KreuzfahrtGiganten Heute um 21.05 Uhr Wir twittern Diskutieren live aus dem Sie mit uns Newsroom: auf Facebook: twitter.com/welt facebook.com/welt „Die Welt“ digital Lesen Sie „Die Welt“ digital auf allen Kanälen – mit der „Welt“-App auf dem Smartphone oder Tablet. Attraktive Angebote finden Sie auf welt.de/digital oder auch mit den neuesten Tablets auf welt.de/bundle Sigmar Gabriel bei einem Wahlkampfauftritt in Salzgitter am vergangenen Freitag Darf das ein Vizekanzler? Ja, findet Oliver Rasche. Sigmar Gabriel wehrt sich mit dem Mittelfinger, weil gegen Rechtsextreme keine Fakten helfen B ravo, Herr Vizekanzler! Statt dem rechten Mob appeasend die Hand zu reichen, halten Sie ihm nur rund ein Fünftel davon entgegen, Ihren Mittelfinger. Das tut aus so vielen Gründen richtig gut, erfrischt geradezu. Denn es ist die ehrliche, ungeschminkte Reaktion auf provozierende Unverschämtheiten einiger Verbalpöbler. Diese ist erlaubt; auch denen, die Kanzler werden wollen. Denn natürlich muss gleiches Recht für alle gelten – und ein Kanzler ist am Ende hoffentlich eben auch nur ein Mensch. Gabriel war bereits vor einem Jahr zum Hassobjekt der rechten Szene geworden, nachdem er Krawallmacher, die im sächsischen Örtchen Heidenau gegen Flüchtlinge demonstrierten, als „rechtes Pack“ bezeichnet hatte. Seitdem haben sie den SPDChef besonders auf dem Kieker. Sigmar Gabriels Vater war sein Leben lang überzeugter Nationalsozialist; gerade bei diesem Thema mischt sich bei Gabriel also das Politische, der Job, mit dem ganz privaten Leben. Genau damit zogen sie ihn auf; maskiert, anonym, feige. Und seine Reaktion ist nicht nur menschlich, sie ist zudem auch sehr deutlich. Hochpolitisch und dabei sehr persönlich. Wenn wir immer wieder fordern, dass Politiker den ewig einlullenden Gestus ablegen, Klartext sprechen und Authentizität zeigen, dann ist es fast ein Feiertag für die mediale Demokratie, wenn einer der höchsten Vertreter unseres Staates auf seine ganz eigene Art zeigt, was er von rechten Spinnern – und eben auch von persönlichen Beleidigungen – hält. Und überhaupt: Wenn schon Universalgenie Goethe seinem Götz von Berlichingen den „schwäbischen Gruß“ an den Kaiser in den Mund legt („Vor Ihro Kaiserliche Majestät hab ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber, sag’s ihm, er kann mich im Arsche lecken!“), was ist da schon ein kleines, hochgerecktes Wurstfingerchen? Dabei muss man gar nicht so weit in der Geschichte zurückgehen. Gabriels Parteifreund Steinbrück hob vor zwei Jahren zu Wahlkampfzwecken diesen Finger als Zeichen der Coolness und Unabhängigkeit auf einem Magazintitel – und wirkte eher bemüht bis albern. Nationalspieler und Hitzkopf Stefan Effenberg zeigte ihn den Fußballfans – und musste die WM 1994 vorzeitig verlassen, noch vorzeitiger als seine durchs Turnier stolpernden Mannschaftskollegen. SCREENSHOT UND MONTAGE: DIE WELT; JULIO CORTEZ Immer mehr Kinder leiden an ADHS, das ist die Abkürzung für Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung. Die aktuellen Zahlen gab das Wissenschaftliche Institut der AOK bekannt, das ist möglicherweise die Abkürzung für AufmerksamkeitsOrts-Krankenkasse. Die Folgen sind gravierend: Die Ritalin verarbeitende Industrie muss bereits Sonderschichten fahren, Urlaube wurden gestrichen. Im Moment leben über 300.000 Kinder mit einer ADHS-Diagnose, wahrscheinlich sind es sehr viel mehr, aber die wenigsten Kinder können sich auf den Test konzentrieren. Millionen Erwachsene haben ADHS und wissen es gar nicht oder waren gerade abgelenkt, als man ihnen die Diagnose mitgeteilt hatte. ADHS ist allerdings auch eine relativ neue Krankheit, die nicht immer ganz eindeutig zu diagnostizieren ist. Ein Beispiel: Das Kind reagiert jähzornig, fügt sich schlecht in die Gemeinschaft ein und reagiert in einer Weise, die nicht in den sozialen Kontext passt. Mit diesen Symptomen wird man einerseits zum Krankheitsfall erklärt, andererseits kann man damit aber auch problemlos Präsidentschaftskandidat in den USA werden. Nein, sagt Ulf Poschardt. Die SPD legte bisher Wert auf die Würde ihrer Vertreter. Sigmar Gabriel fehlt das Gespür dafür A Warum wird überhaupt eine so große Sache aus dieuch wenn die SPD in ihrer Geschichte meist eisem einen Finger gemacht? Natürlich, die Symbolik – ne linke, auch liberale Partei des Fortschritts aber ist diese nicht längst zu einem allgemeinen „Ich und der Emanzipation war, hatte das kernsozilass mir das von dir nicht gefallen, und DAS halte ich aldemokratische Milieu konstant einen auch konservon deiner Art“ abstrahiert? Was hätte Gabriel denn vativen Blick auf ihre Partei. Gerade klassisch sozialsonst zeigen sollen? Eine lange Nase? Hasenohren? demokratische Haushalte und Familien definierten Natürlich könnte man das Vorbildargument anfühsich über ihren Stolz auf diese Partei, deren Tradition ren, Stinkefinger gehört sich einfach nicht, schon gar und Geschichte – und natürlich auf deren Spitzenpernicht für einen Vizekanzler, Chef einer großen Partei sonal, die jene glorreiche Historie verkörpern sollten. – womöglich bald Kanzlerkandidat! Ja, eigentlich Der Arbeiter war stolz auf Willy Brandt, die oft genug richtig. Eigentlich. Wenn nämlich der Umgang so bemühte Krankenschwester oder – aktuell – Putzfrau hart, so respektlos, ja erniedrigend ist wie in diesem strahlte ob der Würde eines Helmut Schmidt. Fall, dann wäre es geradezu lächerlich zu beschwichMit Gerhard Schröder wichen Pathos und Ernst der tigen und andererseits unerträglich devot, es einfach klassischen Sozialdemokratie einer eher postmodern zu ignorieren. augenzwinkernden Verspieltheit, wenn auch Schröder Und das sollte auch die Hürde sein, das Kriterium, als political animal und Instinktvirtuose stets ungeab wann eine spontane Geste, die sich unter der Gürheuer fokussiert war. Er trat weniger seriös auf als ein tellinie abspielt, goutiert werden kann: Wer derart Kurt Schumacher, Brandt oder Schmidt. Aber dieser feige und respektlos mit Menschen umgeht – egal ob Teil der Geschichte war ihm oft auch grad egal. Auf der mit dem Vizekanzler oder mit Opa Kasupke von neanderen Seite hatte seine Aufsteigerbiografie und auch benan –, der hat es nicht besser verdient. Völlig gleich sein sinnlicher Parvenü-Hedonismus einen Zeitgeist übrigens, ob die verbalen Angriffe von rechts, links, getroffen und viele Leute überzeugt. Seinen Dienstoben oder unten kommen. Audi A 8 auf die Bühne von „Wetten, dass..?“ zu fahren, Der Mittelfinger als kleine, aber wirksame Abwehrum eine Rentnerin nach Hause zu chauffieren, war waffe für alle, die eben nicht immer die andere Wanpeinlich und großer SPD-Pop zugleich. ge hinhalten wollen. Und in diesem Fall reagiert GaKommen wir zu Sigmar Gabriel. Seit knapp sieben briel als Mensch, das steht ihm zu, es steht jedem zu. Jahren Parteichef und eigentlich designierter KanzlerUnbeherrscht? Vielleicht. Übertrieben? Ganz sikandidat – wenn, ja wenn sich die SPD nicht in den cher nicht. Bestünde auch nur ansatzkommenden Monaten vor dieser Idee erweise die Hoffnung, den Schreihälsen schreckt. Gabriel ist von vielen unterEine kleine argumentativ beizukommen, dann wäschätzt worden, nicht nur in der Partei, Kulturgeschichte re das sicher die bessere Lösung gewesondern auch in den Medien. In vielen des Stinkefingers sen. Leider muss man kein Politologe Momenten blitzt auf, was Gabriel an sein, um inzwischen begriffen zu ha- von Dirk Schümer auf Wissen, Erfahrung, klassischer Bildung ben, dass man den Hasskappen nicht und auch intuitivem Humor zu bieten Seite 18 mit Fakten, Gedanken oder gar Respekt hat. Leider ist er ein denkbar schlechter beikommen kann. Warum also Perlen Manager seiner Ressourcen. Er hat viel, vor die … nun ja Leute, die mit Perlen nichts anfandas ihn zum großen Politiker qualifiziert, er hat wohl gen können, werfen? noch mehr, was ihm diese Berufung versperrt. Bleibt die nonverbale, quasi manuelle KommuniGabriel hat sich oft nicht im Griff. Er wirkt wankelkation. Statt der versöhnenden Raute ein deutlicher mütig und fahrig. Er redet heute so und morgen so. Mittelfinger – ist so jemand auch reif, hat er das ForDas mag bei allen Politikern aus Pragmatismus im mat für den Chefsessel des Kanzleramtes? Ja, denn Trend so sein, aber bei Gabriel ist dieses Unstete zu niemand will einen emotionslosen Roboter. Hätte einem Erkennungsmerkmal in der Öffentlichkeit geGabriel nicht reagiert, wäre das viel armseliger geweworden. Nun hat er in der Sommerpause in dichter sen. Das Einzige, was man ihm vorwerfen kann: WaFrequenz wieder einmal seinem umfassenden Authenrum hat er nicht gleich beide Hände benutzt? tizitätsbedürfnis Raum gegeben. Er hat den Monatsbe- richt der Bundesbank und deren Rentenüberlegungen als „bekloppt“ bezeichnet und wenig später einem versprengten Haufen rechtsextremer, zugegebenermaßen unappetitlicher Demonstranten bei einem SPDTermin den Mittelfinger gezeigt. Dies mag besonders verzeihlich sein, weil die Pöbler Gabriels Nazivater thematisierten und damit eine wichtige Grenze überschritten, aber dennoch war diese Reaktion eines Vizekanzlers der Bundesrepublik Deutschland nicht angemessen. Es war ungezogen. Stefan Effenberg wurde dafür 1994 aus der Nationalmannschaft geworfen. Auch die Bemerkungen zu den Überlegungen der Bundesbank, das Renteneintrittsalter auf 69 zu erhöhen, sind in ihrem Sound schrill und respektlos. Das ist genau die Expertenverachtung (so Jan Fleischhauer), die auch die SPD der AfD vorwirft. Die Gutsherrenart hat in der machistisch geprägten SPD eine Tradition, aber sie steht und fällt mit der Stilhöhe des Gutsbesitzers. Die ist bei Gabriel nicht gegeben. Dazu muss man nicht einmal den jüngsten Auftritt in der „Bunten“ bemühen, der nicht vorteilhaft war für einen Politiker, der ernst genommen werden will. Das untrügliche Gespür für Stimmungen allerdings hat Gabriel nicht verloren. Sein Impuls, auch mit Pegida-Anhängern zu sprechen, mag unüberlegt und wenig staatsmännisch gewesen sein, aber an ganz vielen Stammtischen machte er damit den Punkt. Als er bei einer klassisch öden Buchvorstellung der etwas erwartet agierenden Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft die neoliberale Konsensstimmung lustvoll zerstörte, hat das nicht nur die „taz“ gefreut, die jubelte: „Manchmal ist Sigmar Gabriel wirklich eine coole Sau.“ Doch der Grat zwischen „zu schlecht gelaunter Rotzigkeit“ (ebenfalls „taz“) und rüder Unbeherrschtheit ist schmal. Als er die mega-unappetitlichen Fremdenfeinde als „Pack“ beschimpfte und die Frauenmisshandler der Kölner Silvesternacht als „Arschlöcher“ bezeichnete, war von einem spannungsvollen Einsatz verschiedener Jargons oder gar raffinierter Sprachspiele nichts übrig geblieben. Auch der treue, die SPD liebende Stammwähler wird sich nächstes Jahr fragen, ob er einem derart unbeherrschten, fahrigen Stimmungssurfer das Schicksal des Landes in Zeiten von Unruhe, Krisen und globaler Verwerfungen in seine Hände legen will. Sie werden es klar beantworten: Nein. Mit Sigmar Gabriel hat die SPD bei den Wahlen 2017 keine Chance. Auswärtiges Amt distanziert sich von brisanter Türkei-Analyse D as Auswärtige Amt nimmt Abstand von einer kritischen Bewertung der Bundesregierung zur Verbindung der türkischen Regierung mit Islamisten. Das Ministerium mache sich die von Medien berichteten Aussagen „in dieser Pauschalität“ nicht zu eigen, sagte eine Sprecherin von Ressortchef Frank-Walter Steinmeier (SPD) in Berlin. Die Türkei bleibe in der Nato und auch beim Konflikt in Syrien ein wichtiger Partner. Auf die Inhalte der Be- wertung ging sie mit dem Hinweis nicht im Detail ein, dass diese teilweise als vertraulich eingestuft seien. Weiter teilte die Sprecherin mit, dass der deutsche Gesandte in der Türkei schon am Dienstag ein Gespräch mit der türkischen Regierung zu den Vorgängen gehabt habe. Eine offizielle diplomatische Reaktion Ankaras habe es aber nicht gegeben. Der Sprecher von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Steffen Seibert, sagte: „Ich habe hier keine eigene Beurteilung vorzunehmen.“ Auch er verwies in der Regierungspressekonferenz auf die Vertraulichkeit bestimmter Passagen. Gleichwohl räumte er ein, dass auch das Kanzleramt an der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage durch das Bundesinnenministerium mitwirkte. Es seien verschiedene Akteure der Regierung beteiligt gewesen. „Das Kanzleramt war einer davon“, sagte Seibert. In der Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion hatte die Bundesregierung erklärt, die Türkei habe sich schrittweise „zur zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen“ entwickelt. Diese Einschätzung stieß in der Türkei auf scharfe Kritik. Sie sei „ein neuer Beweis für die schräge Einstellung, mit der seit einiger Zeit versucht wird, unser Land zu zermürben, indem unser Staatspräsident und unsere Regierung zum Ziel genommen werden“, teilte das türkische Außenministerium am Mittwoch in Ankara mit. Wegen des Berichts DIE WELT, Axel-Springer-Straße 65, 10888 Berlin, Redaktion: Brieffach 2410 Täglich weltweit in über 130 Ländern verbreitet. Pflichtblatt an allen deutschen Wertpapierbörsen. 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Das Außenministerium in Ankara sprach zudem von „bestimmten politischen Kreisen“ in Deutschland, die „ganz offensichtlich“ hinter den aufgestellten Behauptungen stünden. Seiten 3 und 4 ISSN 0173-8437 193-33 ZKZ 7109
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