Die Staats- und Zivilisationskritik in der mythologischen Bearbeitung

독일언어문학 제72집(2016.6). 111-128
Die Staats- und Zivilisationskritik in der
mythologischen Bearbeitung bei Thomas Brasch
Pak, Schoro (Hanshin Univ.)
1. Vorwort
Thomas Brasch gehört zu einer Generation, die den Sozialismus nicht für die
Hoffnung auf ein besseres Leben, sondern für die Basis einer sich nicht ändernden
Wirklichkeit hält(Müller 1977, 15). Es scheint Brasch belanglos zu sein, Ideal und
Wirklichkeit des Sozialismus voneinander zu trennen. So verwundert es nicht, dass
er weiterhin eine grenzenlose Freiheit des Künstlers propagierte, nachdem er 1977
nach West-Berlin übergesiedelt hatte. Brasch nahm beispielsweise zu Vorurteilen der
westdeutschen Leserschaft manchen ehemaligen DDR-Autoren gegenüber wie folgt
Stellung: ”Das Thema, das von einem Schriftsteller behandelt wird, bezieht sich
nicht auf das Land, in dem er sich befindet, sondern auf sein Leiden.“(Brasch 1977,
97). Er fügte hinzu, dass er durch keine Gesellschaftsgruppe jeglicher Art bzw. keine
Medien vereinnahmt werden möchte. Hier stellt sich die Frage, ob es überhaupt
einen Schriftsteller gibt, der gegen die Erfordernisse der Zeit gefeit ist.
Seltsam ist es, dass Brasch das Experiment ästhetischer Formen als eine wichtige
politische Aktivität betrachtet. Seine Aussage, die Literatur von James Joyce sei im
Vergleich zu der von Erich Weinert viel revolutionärer, entbehrt im Grunde einer
objektiven Glaubwürdigkeit(Vgl. Brasch 1987A, 22). Der Lyriker und Dramatiker
kehrte in den 1980er Jahren denjenigen den Rücken, die sich insgeheim gegen die
Kulturpolitik der SED protestierten. Wir dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen,
dass seine genre-übergreifenden experimentellen Versuche letztlich unglaublich
wichtige Bedeutungen evozieren. Kurz: Die Werke von Thomas Brasch bedürfen
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mannigfaltiger Interpretationsmöglichkeiten, weshalb sie uns an die Literatur von
Franz Kafka erinnern(Fehervary 1987, 374).
Die vorliegende Arbeit will anhand der Analyse der Kurzprosa von Thomas Brasch
「Zweikampf」
drei
zivilisationskritische
Punkte
im
Hinblick
auf
den
Marsyas-Mythos ausfindig machen. Um dies zu ermöglichen, gilt es, wie folgt an
drei Fragen heranzugehen. Erstens: die Kurzprosa ist unter dem Aspekt einer
grundsätzlichen Divergenz zwischen dem allmächtigen Vater und dem künstlerisch
veranlagten Sohn zu verstehen. Wie lässt sich der passive Widerstand des Marsyas
beispielsweise im Hinblick auf die steinharte Macht des Apollon erläutern? Zweitens:
Die Kurzprosa lässt sich als latente Kritik des Autors an der einseitigen Kulturpolitik
der ehemaligen DDR interpretieren. Welche textuellen Beispiele können wir der
Kurzprosa entnehmen? Drittens ist die Kurzprosa 「Zweikampf」 im weiteren Sinne
als Kritik am Leistungsprinzip der abendländischen Zivilisation auszulegen. Woran ist
die Braschs Kritik im Text erkennbar? Inwiefern hat der Verzicht des Marsyas auf
den Wettbewerb etwas damit zu tun? Bevor wir auf drei oben genannten
Sachverhalte eingehen, behandeln wir zunächst den Marsyas-Mythos sowie dessen
kritische Aufnahme durch den Autor.
2. Marsyas-Mythos
Marsyas ist ein Halbgott Satyros, der ursprüngliche Gott des gleichnamigen Flusses,
der bei Kelainai entspringt.1) Der Marsyas-Mythos soll der Sage über die Menschen
entstammen, die in der phrygischen Stadt Kelainai grausam enthäutet wurden.2) Auch
1) Dies wird in 『Geschichte』 des Herodot (7/26) und Metamorphoses des Ovid (Z, 6382
- Z. 6400) wiedergegeben.
2) Nach Meinung von Wilamowitz-Moellendorff verachteten die Leute aus Attika die
phrysische Flöte und hielten ihre Kythara für das beste Musikinstrument (WilamowitzMoellendorff 1931, 189).