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11. August 2016
#27 / 2016
Staatsfinanzen
Brexit
Türkei
Insolvenzen
iwd.de
ISSN 0344-919X
G 4120
Informationen aus dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln
Europa in der
Dauerkrise
Staatsfinanzen. Traurig, aber wahr: Seit der Finanzkrise 2008 befindet sich Europa ununterbrochen im Krisenzustand. Aktuell richten sich die Blicke nach Spanien und
Portugal. Gegen beide Länder hat die EU zwar das Defizitverfahren verschärft, Sanktionen gibt es aber – wieder
einmal – nicht. In Italien versucht Regierungschef Matteo
Renzi, die Regeln der EU-Bankenunion zu umgehen – auch
das ist im Prinzip nicht neu. Und der jüngste Banken-­
Stresstest wirft die Frage auf, warum die Banken von Griechenland, Zypern und Portugal nicht dabei waren.
Seiten 2-4
We don,t know!
Brexit. Großbritannien will die EU verlassen. Aber
wissen die Briten eigentlich, worüber sie abgestimmt
haben? Wohl nur bedingt, denn das EU-Wissen der Insulaner ist ziemlich lückenhaft: Kein anderes Mitgliedsland
weiß so wenig über Europa wie Großbritannien.
Die Haushalts-Sünder
Haushaltssaldo 2015 in Prozent des Bruttoinlandsprodukts
2
1
0
-1
-2
-3
-4
-5
-6
-7
-8
Gr
h
iec
en
lan
d
S
n
pa
ien
-5,1
P
u
ort
ga
l
n
Fra
kre
ich
-3,5
-4,4
-7,2
Quelle: EU-Kommission
© 2016 IW Medien / iwd
79,1
Milliarden
Euro
betrugen die Warenexporte der EU in die Türkei im Jahr
2015. Der Wert der von der EU aus der Türkei importierten
Waren belief sich auf
61,6
Milliarden
Euro
© 2016 IW Medien / iwd
Seite 8
49
Abgewirtschaftet
Insolvenzen. Mit 22.000 prognostizierten Insolvenzen
So viel Prozent der Briten können wenigstens eine von zwei
Fragen zur EU korrekt beantworten
Quelle: Umfrage der Bertelsmann Stiftung unter knapp 11.000
EU-Bürgern im April 2016
© 2016 IW Medien / iwd
Seiten 6-7
dürften in Deutschland in diesem Jahr rund 1.000 Unternehmen weniger pleitegehen als 2015.
Ursache für den schon seit Jahren zu
beobachtenden Rückgang sind vor allem die gesamtwirtschaftliche Stabilität
und die gestiegenen Eigenkapitalquoten der Betriebe.
Seiten 10-11
Präsident: Arndt Günter Kirchhoff · Direktor: Professor Dr. Michael Hüther
Mitglieder: Verbände und Unternehmen in Deutschland
www.iwkoeln.de
Euro-Stabilitätspakt
11. August 2016 / #27 / Seite 2
Regel – und Ausnahme
Euro-Stabilitätspakt. Theoretisch hat die EU den Stabilitätspakt als Lehre aus der Krise
verschärft. In der Praxis ist die
Kommission im Fall von Spanien
und Portugal erneut vor ihrer eigenen Courage zurückgeschreckt.
Wer den Euro will, muss den
Stabilitäts- und Wachstumspakt
einhalten. Punkt. Punkt? Keine Regel
ohne Ausnahme, das zeigt die
jüngste Entscheidung der EU-Kommission zu den möglichen Sanktionen gegen die Defizitsünder Spanien
und Portugal: Es wird keine Strafe
geben. Zur Diskussion steht lediglich
noch das Einfrieren oder Kürzen von
Fördergeldern aus den EU-Strukturfonds. Und das, obwohl beide Länder
das Defizitkriterium, das die jährliche
Neuverschuldung auf 3 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts (BIP) be-
grenzt, 2015 deutlich verfehlt haben:
Der spanische Staatshaushalt lag mit
5,1 Prozent des BIP im Minus, der
portugiesische mit 4,4 Prozent.
Aus ökonomischer Sicht hätte
manches dafür gesprochen, die
mögliche Geldbuße von maximal 0,2
Prozent des BIP tatsächlich zu
verhängen. Denn weder Spanien
noch Portugal können ihr Haushaltsloch mit einer schwachen Wirtschaft
begründen; sie haben schlicht und
einfach nicht weiter konsolidiert
(Grafik):
Spaniens konjunkturbereinigter
Haushaltssaldo lag 2015 bei minus
2,9 Prozent des BIP und hat sich
damit gegenüber 2014 weiter
verschlechtert.
Portugals strukturelles Defizit
vergrößerte sich von minus 1,4 auf
minus 2,0 Prozent der Wirtschaftsleistung. Damit schlagen sich die
Iberer sogar schlechter als das
EU-Sorgenkind Griechenland: Die
Hellenen häuften 2015 zwar de facto
neue Schulden von 7,2 Prozent des
BIP an, können das aber ihrer
miserablen Konjunktur zuschreiben
– und den Ausgaben für die Bankenrettung. Gespart haben die Griechen
durchaus, wie der positive strukturelle Haushaltssaldo 2015 zeigt.
Statt Strafen gegen Spanien und
Portugal zu verhängen, hat die
Kommission lediglich neue Konsolidierungspfade vorgeschrieben, die
beide Länder bis Oktober in ihre
Haushaltspläne einarbeiten müssen.
Ob sie das schaffen, ist die eine
Sache – die andere große Frage ist,
ob die EU hier nicht einen Präzedenzfall geschaffen hat, der die verschärften europäischen Stabilitätsregeln
dauerhaft schwächt.
Mehr dazu lesen Sie unter:
link. iwd.de /defizitsuender
Defizitsünder: Gelbe Karte für Spanien und Portugal
Die EU-Finanzminister haben auf Empfehlung der EU-Kommission das Defizitverfahren gegen Spanien und Portugal verschärft und
so die Tür für Sanktionen geöffnet. Der Grund dafür ist das steigende strukturelle Haushaltsdefizit in den beiden iberischen Ländern.
Weil es in den übrigen südeuropäischen Krisenstaaten und Frankreich rückläufig war, wurden diese Länder trotz ihres (zu) hohen
faktischen Haushaltsdefizits großzügiger behandelt und nicht gerügt.
Struktureller Haushaltssaldo in Prozent des BIP
Tatsächlicher Haushaltssaldo 2015 in Prozent des BIP
Italien
Griechenland
Spanien
Portugal
Frankreich
2
0
-0,3 1,6 1,0 0,5
-2
-1,2 -0,9 -1,1 -1,0
-1,4
-1,9
-2,0
-2,0
-2,7 -2,4
-2,9
-4
-3,1 -2,5
-3,3 -3,3
-3,4
-4,1 -3,4
-6
-5,0
-5,8
-6,2
-6,3
-8 -7,1 -6,4
-8,0
-5,1
-3,5
-4,4
-2,6
-7,2
-10
-10,2
-12
2010 11 12 13 14 15 2010 11 12 13 14 15 2010 11 12 13 14 15 2010 11 12 13 14 15 2010 11 12 13 14 15
Struktureller Haushaltssaldo: um Konjunktureffekte bereinigt; BIP: Bruttoinlandsprodukt
Quelle: EU-Kommission
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Bankenkrise
11. August 2016 / #27 / Seite 3
Italienisches
Dilemma
Faule Kredite: Italienische Banken
besonders betroffen
Notleidende Kredite in Prozent des Bruttoinlandsprodukts
Italien
Euroraum
Euroraum ohne Italien
Kredite gelten als notleidend, wenn die Rückzahlung mehr als
90 Tage im Verzug und wenig wahrscheinlich ist.
Bankenkrise. Die italienische Regierung will die
Regeln der EU-Bankenunion verwässern und staatliche Gelder zur Rettung der maroden Geldhäuser
einsetzen. Ansonsten müssten die italienischen
Kleinanleger die Bankenrettung finanzieren – und
könnten sich dafür an der Wahlurne rächen. Sogar
der Ixit – die italienische Variante des Brexit – wäre
dann nicht mehr ausgeschlossen.
Das Ausmaß der italienischen Bankenkrise ist enorm:
Allein die 15 größten und systemrelevanten Banken
haben mittlerweile 236 Milliarden Euro an faulen Krediten in ihren Büchern. Das heißt (Grafik):
Das Verhältnis von notleidenden Krediten zum
italienischen Bruttoinlandsprodukt ist von 9,3 Prozent im Jahr 2009 auf 14,4 Prozent im Jahr 2015
gestiegen. Damit entfällt fast ein Drittel aller faulen
Kredite der Eurozone auf Italien.
Jetzt steht die Regierung von Matteo Renzi vor einem
Dilemma: Hält sie sich an die Regeln der Bankenabwicklungsrichtlinie der EU, müssten die Anteilseigner und
Kunden der maroden Banken zunächst Verluste von
mindestens 8 Prozent der Verbindlichkeiten tragen,
bevor staatliche Hilfen gewährt werden dürfen.
Dieses Bail-in ist für Italien besonders heikel, weil
dort rund ein Drittel der Verbindlichkeiten nicht bei
institutionellen Anlegern liegt, sondern bei privaten
Haushalten – und diese bluten zu lassen, ist politisch
nicht durchsetzbar. Zumal es im Oktober auch noch ein
Referendum gibt: Darin geht es zwar um innenpolitische
Fragen, das italienische Volk könnte die Abstimmung
aber zu einem Anti-Renzi-Votum ummünzen und der
eurokritischen Fünf-Sterne-Bewegung an die Macht
helfen – und die hat den Italienern ein Referendum über
den Verbleib in der EU versprochen.
Deshalb will Regierungschef Renzi einen anderen
Weg gehen: Es soll eine Bad Bank gegründet werden, die
den Geschäftsbanken notleidende Kredite im Wert von
50 Milliarden Euro mit einem Abschlag von 80 Prozent
15
9,3
7,4
7,0
14,4
7,5
6,2
10
5
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
Ursprungsdaten: Bloomberg, Eurostat
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abnimmt. Die Banken hätten also einen Verlust von 40
Milliarden Euro in ihren Bilanzen. Zudem würden nach
diesem Deal noch zehn der 15 Banken zusätzliche
staatliche Hilfe von fast 22 Milliarden Euro brauchen, weil
ihre Eigenkapitalbasis zu niedrig ist. Zusammen mit den
10 Milliarden Euro, mit denen die Bad Bank notleidende
Kredite im Wert von 50 Milliarden Euro ablöst, müssten
die italienischen Steuerzahler also fast 32 Milliarden Euro
in die Banken stecken. Das Institut der deutschen
Wirtschaft Köln (IW) hat zwei Alternativen zu diesem
Szenario berechnet:
Variante 1. Wenn der Abschlag, zu dem die Bad Bank
die faulen Kredite übernimmt, nur 50 statt 80 Prozent
beträgt, müsste mehr Geld in die Bad Bank fließen,
nämlich 25 statt 10 Milliarden Euro. Dafür würden die
Kosten der Rekapitalisierung von 22 auf rund 11 Milliarden Euro sinken. In diesem Szenario würden die Anteilseigner und Gläubiger der Banken zwar geschont, für die
Steuerzahler wäre es aber die teuerste Lösung: Sie
müssten gut 36 statt 32 Milliarden Euro aufbringen.
Variante 2. Übernimmt die Bad Bank die faulen
Kredite mit 100 Prozent Abschlag, erleiden die Banken
einen Totalverlust und müssten deshalb sogar mit 30
Milliarden Euro rekapitalisiert werden – für die Steuerzahler wäre das jedoch die günstigste Lösung.
Das italienische Dilemma zeigt: Eine Bankenrettung
ohne Steuergelder ist kaum möglich. Denn die Wunschvorstellung, dass Eigentümer und Gläubiger alle Verluste
tragen, funktioniert nur, wenn es sich dabei ausschließlich um professionelle Investoren handelt.
Interview zum Bankenstresstest
11. August 2016 / #27 / Seite 4
Interview. Die Europäische Bankenaufsicht (EBA) hat gerade
51 europäische Banken einem Stresstest unterzogen. Der hat
zwar erst einmal keine Konsequenzen, entfaltet aber trotzdem
eine gewisse Wirkung, sagt Markus Demary, Finanzmarktexperte am Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW).
Herr Demary, das Ergebnis des
Stresstests ist, dass einige Banken
große Eigenkapitallücken haben
– das gilt vor allem für die italienischen. Hat Sie das überrascht?
Die Aktienkurse der europäischen
Banken sind schon seit langem im
freien Fall. Dahinter steckt die Sorge
der Börsianer, dass die Institute nicht
mehr ausreichend profitabel sind –
und das ist alles andere als eine
Überraschung.
Außerdem stand von vornherein fest, dass keine Bank durchfallen konnte.
Über diesen Stresstest muss man
sich in der Tat ein bisschen wundern.
Beim letzten Test im Jahr 2014 waren
es 128 Banken, dieses Mal nur 51, das
ist schon eine selektive Auswahl. Vor
allem stellt sich die Frage, warum die
griechischen, portugiesischen und
zypriotischen Banken nicht dabei
waren, denn bei denen dürfte noch
einiges im Argen liegen.
Hinzu kommt, dass der Test nur
einen Konjunktureinbruch simuliert
hat, nicht aber das Nullzinsumfeld,
also das derzeit größte Problem der
Banken. Es war eine Art Stresstest
ohne richtigen Stress.
Also hätte man sich das Ganze
sparen können?
Nein, man muss den Stresstest
eher als politisches Instrument
verstehen. Denn damit die Bankenaufsicht überhaupt eingreifen kann,
braucht sie harte Fakten. Immerhin
haben die Aufseher jetzt eine ganze
Menge detaillierte Informationen –
während den Marktteilnehmern nur
Bilanzdaten und Pressemitteilungen
zur Verfügung stehen.
Der Stresstest als politisches
Instrument – sollte die Notenbank
nicht unabhängig sein?
Die EZB betreibt ja schon lange
nicht mehr nur Geldpolitik und die
Bankenaufsicht ist politisch nie
unabhängig, denn die nationalen
Finanzminister machen immer
Druck, so wie jetzt der italienische
Regierungschef Matteo Renzi. Und
was wäre wohl, wenn die EZB die
deutschen Banken an die Kandare
nehmen wollte – da würde die
Bundesregierung bestimmt auch
dagegenhalten.
Apropos: Die Deutsche Bank
und die Commerzbank haben
schlecht abgeschnitten. Muss
Bundeskanzlerin Merkel den
Deutschen jetzt wieder versprechen, dass ihr Geld sicher ist?
Das ist nicht nötig. In Deutschland
gibt es rund 2.000 Banken, darunter
Foto: Lang
„Ein Stresstest ohne
richtigen Stress“
über 400 Sparkassen und gut 1.000
Kreditgenossenschaften, also
Volksbanken und Raiffeisenbanken.
Probleme gibt es aber nur bei den
wenigen Großbanken.
Der Internationale Währungsfonds bezeichnet die Deutsche
Bank sogar als „gefährlichste Bank
der Welt“.
Die Aussage des IWF ist stark
übertrieben. Klar, die Deutsche Bank
ist sehr groß und global vernetzt,
also systemrelevant. „Gefährlich“
wird sie allerdings erst, wenn sie in
eine Schieflage gerät – das ist aber
nicht der Fall.
Hand aufs Herz: Wie groß ist die
Wahrscheinlichkeit einer erneuten
Finanzkrise?
Im Moment neigen alle zu Übertreibungen. Nach dem Brexit-Referendum dachte man auch, dass es
jetzt an den Kapitalmärkten zu
großen Verwerfungen kommt.
Tatsächlich sind die Kurse auch
gesunken, aber eher, weil die Entscheidung der Briten doch eine Überraschung war. Die Banken sind heute
jedoch wesentlich besser aufgestellt
als 2008, sie können deutlich größere
Verluste auffangen. Die Gefahr einer
Bankenkrise à la Lehman ist derzeit
nicht gegeben.
Bruttoinlandsprodukt
11. August 2016 / #27 / Seite 5
Der HauptstadtEffekt
Bruttoinlandsprodukt. Zwischen London und
dem Rest Großbritanniens klafft eine große Wohlstandskluft. Ähnlich sieht es auch in vielen anderen
EU-Ländern aus – mit einer Ausnahme.
Nicht alle Briten haben für den
Brexit gestimmt. Die Bewohner des
Londoner Stadtteils City of London
plädierten mit einer großer Mehrheit
von 75 Prozent und hoher Wahlbeteiligung für den Verbleib des Königreichs in der Europäischen Union.
Was unterscheidet die City of
London vom Rest des Landes – oder
vielmehr: Was unterscheidet Großbritannien von seiner Hauptstadt?
Die Briten haben dazu eine klare
Meinung, wie eine Umfrage des
Meinungsforschungsinstituts YouGov
ergab: Sie halten London für überlaufen, zu teuer, schlicht für keinen
guten Ort, um dort mit seiner Familie
zu leben. Für die wirtschaftliche
Lage ihrer Heimatregion spiele die
Stärke der Hauptstadt zwar keine
Rolle, sagen sie, dennoch denken die
meisten Befragten, dass die britische
Wirtschaft insgesamt von der
Finanzbranche in der Londoner City
profitiert. Und dieser Eindruck
täuscht nicht (Grafik):
Wenn man London und seine
Einwohner ausklammert, verringert sich das durchschnittliche
Bruttoinlandsprodukt (BIP) je
Einwohner im Vereinigten Königreich für 2014 um 11 Prozent.
Fast jedes vierte Pfund des
britischen BIP wurde in London
verdient. Mit dieser wirtschaftlichen
Übermacht ist die Kapitale an der
Themse zwar ein auffallendes
Beispiel, sie steht unter Europas
Hauptstädten aber nicht allein da.
Noch dominanter ist zum Beispiel
Athen für Griechenland. Dessen
Wirtschaftsleistung pro Kopf wäre
ohne sein historisches, kulturelles
und wirtschaftliches Zentrum sogar
um 20 Prozent geringer.
Ausgesprochen hoch fällt auch
der Paris-Effekt für das zentralistische Frankreich aus: Von der französischen Wirtschaftsleistung je
Einwohner gingen ohne Paris 15
Prozent ab. In der Hauptstadtregion
Île-de-France lebt ein knappes
Fünftel aller Franzosen – diese
erwirtschaften aber ein Drittel des
Bruttoinlandsprodukts.
Auf den weiteren Plätzen im
Ranking der – aus der nationalen
Warte gesehen – wirtschaftlich
wichtigsten Hauptstädte folgen Prag,
Lissabon, Kopenhagen und Helsinki.
Ohne deren Strahlkraft würde der
Wohlstand im jeweiligen Land um
13 bis 14 Prozent schrumpfen.
Aus der Reihe tanzt dagegen
Deutschland. Berlin sei arm, aber
sexy, wusste Ex-Bürgermeister Klaus
Wowereit die Hauptstadt einst gut zu
verkaufen und traf damit den Nagel
auf den Kopf: Berlin steuert gerade
einmal 4 Prozent zum deutschen BIP
Wohlstand ohne
Hauptstadt
Um so viel Prozent ist das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner im jeweiligen
Land niedriger (-) oder höher (+), wenn
man die Hauptstadt außen vor lässt.
Griechenland
-19,9
ohne Athen
Frankreich
-15,0
ohne Paris
Tschechien
-14,2
ohne Prag
Portugal
-13,7
ohne Lissabon
Dänemark
-13,3
ohne Kopenhagen
Finnland
-12,9
ohne Helsinki
Schweden
-11,7
ohne Stockholm
Vereinigtes Königreich
-11,2
ohne London
Polen
-9,6
ohne Warschau
Belgien
-8,7
ohne Brüssel
Österreich
-6,1
ohne Wien
Spanien
-6,0
ohne Madrid
Niederlande
-4,8
ohne Amsterdam
Italien
-2,1
ohne Rom
Deutschland
+0,2
ohne Berlin
Stand: 2014
Ursprungsdaten: Eurostat
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bei und hat sogar einen leicht
dämpfenden Effekt von 0,2 Prozent
auf das Pro-Kopf-Einkommen der
gesamten Bundesrepublik – der
ohne den Länderfinanzausgleich und
die spezielle Hauptstadtförderung
des Bundes noch größer ausfiele.
Berlins untergeordnete wirtschaftliche Rolle ist untypisch für Europa,
aber typisch für Deutschland: Es ist
Ausdruck des föderalistischen
Geschäftsmodells. Dass der Mittelstand gerade auch in ländlichen
Regionen stark ist, ist eines der
Alleinstellungsmerkmale der deutschen Wirtschaft.
Brexit
11. August 2016 / #27 / Seite 6
Brexit warum eigentlich?
Wenn es stimmt, dass Wahler­
gebnisse immer etwas mit der
wirtschaftlichen Situation eines
Landes zu tun haben – „It‘s the
economy, stupid!“ – dann muss die
Brexit-Entscheidung schon etwas
verwundern. Denn die Briten haben
derzeit eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in Europa und ein
höheres Wirtschaftswachstum als die
anderen großen EU-Länder Deutschland, Frankreich und Italien. Doch
wie so oft erzählen solche Kennziffern nicht die ganze Wahrheit.
Tatsächlich ist Großbritannien eine
zutiefst gespaltene Nation. Während
es der Region London besonders gut
geht – die Hauptstadt trägt immerhin
23 Prozent zum britischen Bruttoinlandsprodukt bei (siehe Seite 5) und
die Mehrheit der Londoner hat für
den Verbleib in der EU gestimmt –,
haben viele andere Briten das
Gefühl, vom Wohlstand abgehängt
zu sein. Ob es um die Zeitarbeit geht,
um Null-Stunden-Verträge oder um
die Armutsquote – bei vielen Indikatoren, die in der britischen Bevölke-
rung als Beleg für die prekären
Verhältnisse auf ihrer Insel gelten,
schneidet das Vereinigte Königreich
auffallend schlecht ab. Dass es den
Briten bei ihrem Votum tatsächlich
um den Austritt aus der ach so
schlimmen EU ging, ist vor diesem
Hintergrund nicht besonders glaubwürdig – zumal viele gar nicht so
genau wissen, was es mit Europa
überhaupt auf sich hat: Kein anderes
Mitgliedsland schneidet beim
Wissensstand über die EU so
schlecht ab wie Großbritannien.
Die Zeitarbeit
So viel Prozent aller Beschäftigten
arbeiteten 2013 tagesdurchschnittlich
als Zeitarbeiter
Die Null-Stunden-Verträge
Im Vereinigten Königreich sind Null-Stunden-Verträge Arbeitsverträge, bei denen der
Arbeitnehmer kein bestimmtes Stundensoll erfüllt, sondern nur für die tatsächlich
geleisteten Arbeitsstunden bezahlt wird.
3,9
Vereinigtes Königreich
Beschäftigte mit einem Null-Stunden-Vertrag in 1.000
in Prozent aller Beschäftigten (rechte Skala)
2,5
800
2,5
2,5
Niederlande
Luxemburg
Deutschland
1,5
400
1,8
Frankreich
2,0
600
500
2,1
2,0
700
Belgien
1,7
EU
Quelle: Research Center on Time and Temporality (CEITT)
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300
1,0
200
100
0
2008
2009
2010
2011
ab 2013: bessere statistische Erfassung infolge eines Gerichtsurteils
Quellen: Office for National Statistics UK, Labour Force Survey
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2012
2013
2014
2015
0,5
Brexit
11. August 2016 / #27 / Seite 7
Das Wissen über die EU
So viel Prozent der jeweiligen Bevölkerung können wenigstens eine von zwei Fragen zur EU korrekt beantworten
81
80
74
69
53
49
Deutschland
Italien
Frankreich
Spanien
Polen
Vereinigtes Königreich
Quelle: Umfrage der Bertelsmann Stiftung unter knapp 11.000 EU-Bürgern im April 2016
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Das Wachstum und die Löhne
Die Armutsquote
2005 = 100
So viel Prozent der Haushalte verdienten
im Jahr 2013 nach Steuern und Transferzahlungen weniger als die Hälfte des
Medianeinkommens aller Haushalte
BIP pro Kopf:
Deutschland
Vereinigtes Königreich
120
114,2
109,2
105,0
100
90
Durchschnittliche Jahreslöhne:
Deutschland
Vereinigtes Königreich
96,8
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
BIP und Löhne: real und in nationaler Währung
Ursprungsdaten: OECD
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Spanien
Italien
Polen
Vereinigtes Königreich
Deutschland
Frankreich
15,9
13,3
10,5
10,4
9,1
8,0
Medianeinkommen: das Einkommen, bei dem die eine
Hälfte der Bevölkerung mehr und die andere weniger
verdient
Quelle: OECD
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Türkei
11. August 2016 / #27 / Seite 8
Der Erfolgsstory droht
das Ende
Türkei. Alles bestens – so lässt sich das Bild der türkischen Wirtschaft beschreiben, das Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor kurzem in einem ARD-Interview gezeichnet hat. Tatsächlich aber
droht die politische Instabilität in der Türkei die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der vergangenen
Jahre zu beenden. Das hat auch für die Handelspartner in der EU Folgen.
Die bisherige Bilanz beeindruckt:
Seit die Partei für Gerechtigkeit und
Aufschwung (AKP) im Jahr 2002 die
Regierung übernahm, ist die türki­
sche Wirtschaft real um jährlich fast
5 Prozent gewachsen – und damit
auch der Wohlstand:
Das kaufkraftbereinigte
Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei
hat sich seit dem Jahr 2001 mehr
als verdoppelt und liegt in etwa
auf dem Niveau der EU-Länder
Bulgarien und Kroatien.
Doch die politischen Rahmenbe­
dingungen haben sich bereits seit
einiger Zeit verschlechtert. Und die
jüngsten Geschehnisse im Land
stellen die türkischen Wirtschaftser­
folge zusätzlich infrage. Schon im
Mai 2016 – noch vor dem Putschver­
such – kamen 35 Prozent weniger
Touristen als im Vorjahresmonat. Das
Geschäftsklima hat sich erheblich
eingetrübt – der Einkaufsmanager­
index für das Verarbeitende Gewerbe
liegt seit März unter der Schwelle von
50 Punkten, oberhalb der ein ge­
schäftliches Wachstum zu erwarten
ist. Die türkische Lira verliert an Wert.
Die Börse reagiert heftig:
Der türkische Aktienmarktindex
ist allein in der Woche vom 15. bis
22. Juli um 15 Prozent gefallen.
Für die europäischen Handels­
partner wird all das nicht folgenlos
bleiben. Schließlich ist das Land am
Bosporus für die EU der fünftwich­
tigste Handelspartner nach den USA,
China, der Schweiz und Russland.
Der Anteil türkischer Erzeugnisse an
den EU-Warenimporten lag 2015 bei
3,6 Prozent, der entsprechende
Exportanteil betrug 4,4 Prozent.
Innerhalb der EU ist Deutschland
der mit Abstand größte Handelspart­
ner für die türkische Wirtschaft
(Grafik):
Gut ein Fünftel aller Waren, die
die EU aus der Türkei importiert,
werden in Deutschland verkauft –
der deutsche Anteil an den EU-­
Exporten in die Türkei beträgt
sogar fast 30 Prozent.
Deutschland bezieht von türki­
schen Herstellern in erster Linie
Textilien und Bekleidung. Doch auch
die türkische Automobilindustrie ist
ein wichtiger Lieferant. Sie produ­
zierte 2015 über 800.000 Kraftfahr­
zeuge für die EU – mehr als die
Hersteller aus den USA und Japan
zusammen.
Handelspartner Türkei
im Jahr 2015
Warenexporte der EU in die Türkei
in Milliarden Euro
79,1
Anteil Deutschlands in Prozent
29
Wichtigste deutsche Exportwaren
in Prozent
Kraftwagen und -teile
29
Maschinen
19
Chemische Erzeugnisse 11
Quellen: Eurostat, Statistisches Bundesamt
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Warenimporte der EU aus der Türkei
in Milliarden Euro
61,6
Anteil Deutschlands in Prozent
Wichtigste deutsche Importwaren
in Prozent
Textilien und Bekleidung 29
Kraftwagen und -teile
14
Maschinen
12
21
11. August 2016 / #27 / Seite 9
Erfolg und Lebenszufriedenheit
Griesgram oder Glückskind?
Lebenszufriedenheit. Ob jemand ein gutes und
zufriedenes Leben führt, hängt nicht nur von den
Lebensumständen ab. Zu einem erheblichen Teil wird
die Lebenszufriedenheit auch von Persönlichkeitsmerkmalen beeinflusst. Wichtige Voraussetzungen
sind emotionale Stabilität und Vertrauen in andere.
Was macht ein gutes Leben aus? Kinder, Karriere und
Konsum allein reichen jedenfalls nicht aus, damit der
Zufriedenheitspegel automatisch nach oben klettert.
Entscheidend für das individuelle Wohlbefinden sind
nämlich nicht nur die äußeren Rahmenbedingungen,
sondern zu einem erheblichen Teil die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen. Oder anders gesagt: Aus
einem Griesgram wird selbst dann kein Glückskind, wenn
er oder sie so reich wie die Geissens wäre.
Die subjektive Lebenszufriedenheit eines Menschen
ist beispielsweise eng gekoppelt an seine emotionale
Stabilität. Wer eher reizbar, ängstlich und nervös ist,
weist auch häufiger eine niedrige oder mittlere Lebenszufriedenheit auf als solche Menschen, die belastbar und
selbstsicher sind.
Ein weiteres entscheidendes Persönlichkeitsmerkmal
für die subjektive Lebenszufriedenheit ist das Vertrauen,
das man anderen entgegenbringt (Grafik):
Von den Menschen, die anderen Personen im
Großen und Ganzen vertrauen, weisen 72 Prozent
eine hohe Lebenszufriedenheit auf.
Menschen, die ein hohes Maß an Vertrauen gegenüber
anderen aufbringen, profitieren aber nicht nur in puncto
Lebenszufriedenheit von ihrer Einstellung. Vertrauensvolle Personen sind oft auch zufriedener mit ihrer Arbeit
und ihrem Gesundheitszustand als misstrauische
Menschen. Außerdem wenden die Gutgläubigen oft mehr
Jahre für ihre Ausbildung auf als die Skeptiker, was
wiederum ein Grund dafür sein könnte, warum besser
bezahlte Arbeitnehmer ein signifikant höheres Vertrauen
in andere haben als gering entlohnte Beschäftigte.
Wenn das Vertrauen in andere und die emotionale
Stabilität eines Menschen ausgeprägt sind, beeinflusst
dies in der Regel auch jene fünf Faktoren positiv, die ein
gutes Leben ausmachen: Dazu zählen neben der subjek-
Wer anderen vertraut, ist zufriedener
So viel Prozent der Befragten mit folgender Haltung zur
Aussage „Im Allgemeinen kann man den Menschen vertrauen“
haben eine …
… hohe Lebenszufriedenheit
… mittlere Lebenszufriedenheit
… niedrige Lebenszufriedenheit
Volle Zustimmung
71,9
27,6
0,5
Eher Zustimmung
54,2
44,6
1,2
Eher Ablehnung
39,6
57,4
3,0
Volle Ablehnung
30,7
61,0
8,3
Befragung von 18.840 Personen im Jahr 2013, von denen 7 Prozent der Aussage zum Vertrauen
voll zustimmten, 59 Prozent der Aussage eher zustimmten, 31 Prozent die Aussage eher
ablehnten und 4 Prozent die Aussage voll ablehnten
Ursprungsdaten: Sozio-oekonomisches Panel
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tiven Lebenszufriedenheit die subjektive Arbeitszufriedenheit, der Bruttostundenlohn, die Zahl der Bildungsjahre und der subjektive Gesundheitszustand.
Politik und Unternehmen können sich diese Erkenntnisse gezielt zunutze machen, indem sie die Chancen auf
ein gutes und erfolgreiches (Arbeits-)Leben erhöhen.
Einige Betriebe bieten etwa gezielt Resilienztraining für
ihre Mitarbeiter an, um deren Widerstandskraft zu
stärken. Auch Vertrauensworkshops, die den Teamzusammenhalt fördern sollen, gehören dazu.
Aus IW-Trends 2/2016
Mara Ewers: Vertrauen und emotionale Stabilität als Determinanten von Erfolg und Lebenszufriedenheit
iwkoeln.de/lebenszufriedenheit
Unternehmensinsolvenzen
11. August 2016 / #27 / Seite 10
Weniger Pleiten, weniger Gründer,
weniger Innovationen
Insolvenzen. In diesem Jahr dürften maximal 22.000 Unternehmen in Deutschland in die Insolvenz gehen – so wenig wie noch nie seit der Einführung des aktuellen Insolvenzrechts 1999. Gleichzeitig gibt es allerdings auch immer weniger Gründungen, was die Erneuerung der Wirtschaft durch
innovative Geschäftsmodelle und Produkte bremsen könnte.
Eigentlich ist es eine gute Nachricht: Mit Ausnahme
der Auswirkungen der Krisenjahre 2008/2009 geht die
Zahl der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland seit
2003 zurück. In diesem Jahr dürften die Insolvenzanzeigen sogar einen neuen Tiefststand erreichen (Grafik):
Im ersten Quartal 2016 wurden 5.436 Insolvenz­
anträge gestellt, sodass bis zum Jahresende mit etwa
22.000 Fällen zu rechnen ist – das sind rund 1.100
weniger als 2015.
Die meisten Insolvenzen – nämlich neun von zehn –
erfolgen in den eher binnenwirtschaftlich ausgerichteten
Bereichen, also im Dienstleistungssektor, im Handel, in
der Gastronomie und in der Bauwirtschaft. Auf das
Verarbeitende Gewerbe entfielen im Durchschnitt der
vergangenen zehn Jahre lediglich rund 8 Prozent der
Insolvenzen.
Trotz des bundesweit rückläufigen Trends fällt die
Insolvenzquote in den einzelnen Bundesländern recht
unterschiedlich aus (Grafik Seite 11). Nordrhein-Westfalen weist mit fast 12 Insolvenzen je 1.000 Unternehmen
im Durchschnitt der vergangenen drei Jahre die höchste
Quote auf, gefolgt von Bremen und Hamburg, wo jeweils
Immer weniger Betriebe müssen aufgeben
Unternehmensinsolvenzen in Deutschland
Verarbeitendes Gewerbe
0
5.000
Baugewerbe
10.000
Handel
15.000
Dienstleistungen / Sonstige
20.000
25.000
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2016 insgesamt: Schätzung
Ursprungsdaten: Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken, Statistisches Bundesamt
© 2016 IW Medien / iwd
30.000
2016: Zahlen für das erste Quartal
35.000
40.000
Insgesamt
39.320
39.213
36.843
34.137
29.160
29.291
32.687
31.998
30.099
28.297
25.995
24.085
23.123
21.967
Unternehmensinsolvenzen
11. August 2016 / #27 / Seite 11
Insolvenzen: Das Bundesländerranking
Zahl der Insolvenzen je 1.000 Unternehmen im Durchschnitt
der Jahre 2013 bis 2015
8,9
SchleswigHolstein
11,1
Bremen
10,4
5,6
Hamburg
Brandenburg
7,6
Niedersachsen
11,9
9,2
SachsenAnhalt
NordrheinWestfalen
6,4
5,7
MecklenburgVorpommern
6,3
Hessen
5,5
Thüringen
9,2
Berlin
7,4
Sachsen
RheinlandPfalz
9,3
Saarland
4,2
5,1
Bayern
BadenWürttemberg
Ursprungsdaten: Statistisches Bundesamt
© 2016 IW Medien / iwd
10 bis 11 von 1.000 Unternehmen ihre Tore schließen
mussten. Nicht mal halb so hoch sind die Insolvenzraten
in Baden-Württemberg, Bayern und Thüringen.
Das Insolvenzgeschehen wird im Wesentlichen von
zwei Größen beeinflusst. Da ist zum einen das wirtschaftliche Umfeld, das die Unternehmen selbst nicht steuern
können. Dazu zählen beispielsweise die konjunkturelle
Entwicklung, die Konkurrenzsituation sowie staatliche
Regulierungen und Eingriffe. Zum anderen bestimmen
betriebswirtschaftliche Faktoren wie die Unternehmensrendite, die Kapitalausstattung und die Reaktionen auf
strukturelle Veränderungen – etwa auf den Absatzmärkten – das Insolvenzrisiko.
Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist
der entscheidende gesamtwirtschaftliche Faktor – und
der Zusammenhang liegt auf der Hand: Während konjunkturelle Schwächephasen in der Regel zu mehr
Firmenpleiten führen, ist in Zeiten hohen Wirtschaftswachstums aufgrund der entschärften Wettbewerbssituation tendenziell mit weniger Insolvenzen zu rechnen.
Für Deutschland hat das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) diese Wechselwirkung in konkrete
Zahlen gegossen:
Kurzfristig führt ein Anstieg des BIP um 1 Prozent
zu einem ebenfalls 1-prozentigen Rückgang der
Insolvenzen; langfristig vermindert sich die Insol­
venzzahl dann sogar um rund 3 Prozent.
Die andere entscheidende Größe für die Insolvenzgefahr haben die Betriebe selbst in der Hand: die Eigenkapitalausstattung. Grundsätzlich sind Unternehmen mit
hoher Eigenkapitalquote eher in der Lage, konjunkturelle
Durststrecken durchzustehen, als solche mit wenig
Eigenmitteln. Die Novellierung der Bankenregulierung,
bekannt unter dem Stichwort Basel II, hat dazu geführt,
dass die Unternehmen in Deutschland ihre Eigenkapitalbasis verbessert haben:
Bundesweit legte die Eigenkapitalquote der
Unternehmen von 2003 bis 2013 um rund 14 Prozent­
punkte auf fast 24 Prozent zu.
Im Vergleich der Bundesländer fiel der Anstieg
allerdings recht unterschiedlich aus. In Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen gab es mit 19 beziehungsweise
17 Prozentpunkten die deutlichsten Erhöhungen der
Eigenmittel. In den Stadtstaaten Bremen und Hamburg
erhöhten die Unternehmen ihre Eigenkapitalquoten
lediglich um 6 beziehungsweise 8 Prozentpunkte – was
wiederum zu den vergleichsweise hohen Insolvenzquoten passt.
So gut die Nachricht von sinkenden Insolvenzzahlen
auch klingt, sie birgt auch einen Makel: Marktaustritte
sind – ebenso wie Unternehmensgründungen – eine
Begleiterscheinung des Strukturwandels, der für eine
kontinuierliche Erneuerung der Wirtschaft und für die
Durchsetzung von Innovationen notwendig ist. Tatsächlich steht der sinkenden Insolvenzzahl eine vergleichbare
Abnahme der Unternehmensgründungen gegenüber.
Damit besteht für die deutsche Wirtschaft die Gefahr,
dass sich Neuerungen immer langsamer durchsetzen,
weil es nur wenige Gründer wagen, mit innovativen
Geschäftsideen bestehende Unternehmen mit veralteten
Produkten und Prozessen vom Markt zu verdrängen.
Insbesondere bei digitalen Dienstleistungen zählt
Deutschland schon heute zu den Nachzüglern, während
in der Industrie viele Innovationen von bestehenden
Unternehmen entwickelt werden.
Aus IW-Trends 3/2016
Klaus-Heiner Röhl, Gerit Vogt: Unternehmensinsolvenzen –
Anhaltender Rückgang bei fortbestehenden regionalen Differenzen
iwkoeln.de/insolvenzen
11. August 2016 / #27 / Seite 12
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Stellv. Chefredakteur: Klaus Schäfer
Redaktion: Andreas Wodok (Textchef),
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Sara Schwedmann, Alexander Weber
Redaktionsassistenz: Ines Pelzer
Grafik: IW Medien GmbH
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Fax: 0221 4981-504
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Erscheinungsweise 14-täglich
Top-Liste: Neue Bürger
Einbürgerungen 2015 in Deutschland
62.921
EU-Staaten
27.015
EU-Kandidatenländer (z.B. Türkei, Serbien und Mazedonien)
22.814
Sonstiges Europa (z.B. Russland, Ukraine, Kosovo, Bosnien und Herzegowina)
12.846
Liechtenstein, Norwegen, Schweiz
246
Asien
26.358
Afrika
11.627
Amerika
4.674
Staatenlose und ungeklärte Staatsangehörigkeit
1.507
Australien und Ozeanien
Insgesamt
Rechte für den Nach­druck oder die
elektro­nische Verwertung über:
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Rechte für elektronische Pressespiegel unter:
pressemonitor.de
735
Zahl der Woche
Die meisten Menschen, die sich 2015 in Deutschland einbürgern ließen,
kamen aus Europa. Lediglich 620 der mehr als 27.000 Personen aus einem
EU-Staat stammten aus dem Vereinigten Königreich. Das dürfte sich radikal
ändern: Allein in Hessen haben seit Januar mehr als 100 Briten die Einbürgerung beantragt. Wenn alle in Deutschland lebenden Engländer der Einladung
Sigmar Gabriels folgen, sich einbürgern zu lassen, stünden sie ganz oben auf
der Liste der Neubürger: Schließlich leben hierzulande rund 100.000 Briten.
Europa
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Druck: Henke GmbH, Brühl
Euro
beträgt der monatliche Bafög-Höchstsatz für Studenten seit Anfang August
2016. Hochschüler, die noch zu Hause
wohnen, erhalten maximal 537 Euro
im Monat. Auch die Einkommensfreibeträge der Eltern erhöhen sich – und
zwar um 7 Prozent. Dadurch können
laut Bundesregierung rund 110.000
Studenten und Schüler mehr als
bisher Bafög beziehen.
94
107.181
Quelle: Statistisches Bundesamt
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Neu auf iwd.de:
Ein Jahrzehnt Normenkontrollrat
Vor zehn Jahren ist der Normenkontrollrat gegründet worden, ein Gremium zum Bürokratieabbau in Deutschland. Seine Bilanz kann sich sehen lassen: Der Rat hat seit dem Jahr 2006 rund
3.600 Regelungsvorhaben der Bundesregierung geprüft – die Bürokratiekosten konnten um
12 Milliarden Euro verringert werden.
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