64 DIGITALISIERUNG EINE SONDERSEITE DER SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG Nr. 181, Samstag/Sonntag, 6./7. August 2016 Lange Leitung Die Digitalisierung der Städte geht schleppend voran. Nur wenige Kommunen räumen ihr Priorität ein. Online-Anträge bleiben Science-Fiction vo n christine W demmer as zur Zeit der Euro-Umstellung noch Science-Fiction war, ist heute Alltag. Wir kommunizieren standortungebunden rund um die Uhr und rund um den Globus miteinander. Wir kaufen und verkaufen online. Wir erledigen unsere Geldgeschäfte am PC. Die Energienetze steuern vollautomatisch zwischen Bedarf und Auslastung. Unser Stromzähler wird aus der Ferne abgelesen. Bei der Arbeit erreicht man uns im Home-Office. Die Digitalisierung hat unser Leben, unsere Gesellschaft und die Wirtschaft ebenso stark beeinflusst wie das massenhafte Aufkommen des Automobils vor kaum mehr als hundert Jahren. Das Auto hat das Gesicht der Städte verändert. Die Digitalisierung zielt auf ihr Nervensystem. Eine Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PriceWaterhouseCoopers (PwC) aus dem vergangenen Jahr sieht Köln, Hamburg und München an der Spitze der digital am besten aufgestellten Städte Deutschlands (siehe Grafik). Doch noch nicht alle Kommunen sind auf dem Weg in die digitale Zukunft. „Für Verbesserungen gibt es noch viel Luft nach oben“, erklärt Studienautor Alfred Höhn. „Asiatische Länder sind uns um Jahre voraus.“ Nachholbedarf beste- he vor allem bei den Online-Angeboten und bei der Breitbandversorgung. „Vielen Städten fehlt eine umfassende Digitalisierungsstrategie“, bemängelt Höhn. „Ein Breitbandnetz und die Verfügbarkeit des mobilen Internets sind sowohl für die Städte als auch für die Bürger absolut notwendig“, mahnt auch Michael Tschichholz, Leiter Geschäftsentwicklung des Kompetenzzentrums Digital Public Services am Fraunhofer Institut für offene Kommunikationssysteme (Fraunhofer Fokus) in Berlin. „Das funktioniert in manchen Dritte-Welt-Ländern besser als bei uns.“ Online-Gewerbeanmeldungen, wie in den USA längst Standard, gibt es hier nur in Bremen 64 Prozent der von PwC befragten Kommunen nennen die schwierige Haushaltslage als Haupthindernis für den Ausbau des Breitbandnetzes. Von den im Detail untersuchten Städten halten lediglich Köln und Bonn für 95 Prozent der Haushalte ein Breitbandnetz von mindestens 50 Megabit pro Sekunde (Mbit/s) vor. „Es besteht die Gefahr, dass sich der digitale Graben zwischen den fortschrittlichen Kommunen und denjenigen weiter vertieft, die die Digitalisierung nicht systematisch in Angriff neh- men“, warnt Claus Wiegandt, Professor am Geografischen Institut der Universität Bonn und Co-Autor der PwC-Studie. Der Bremsfaktor: Von vielen Kommunen wird die Digitalisierung als Querschnittthema, nicht aber als eigenständiger Sachbereich verstanden. Dabei droht die Gefahr der Verzettelung. 20 der 25 von PwC untersuchten Städte verfügten 2015 weder über einen Digitalisierungsbeauftragten noch über eine Digitalstrategie. „Um bestehende Verwaltungsvorgänge effizienter zu machen, genügt es nicht, dass man einen Termin im Bürgeramt online vereinbaren kann“, sagt Felix Hasse, Partner bei PwC und Experte für die Digitalisierung von Kommunen. „Digitalisierung muss als Organisationsaufgabe verstanden, Verwaltungsvorgänge müssen aus Sicht des Bürgers völlig neu gedacht werden. Ziel sollte es dabei sein, den Gang zur Behörde vollständig digital zu ersetzen.“ Für die Studienreihe „Datenland Deutschland“ hat sich das Beratungsunternehmen Deloitte Ende 2015 den Stand der Digitalisierung in den 30 größten Städten angeschaut und im Januar ein Ranking mit den Top zehn veröffentlicht. „Wir haben dabei vor allem die digitale Wettbewerbsfähigkeit der Kommunen in den Blick genommen“, sagt Alexander Börsch, Leiter Research bei Deloitte. Aus der volkswirtschaft- lichen Wachstumstheorie haben die Berater drei Faktoren der digitalen Leistungsfähigkeit einer Kommune abgeleitet: die Ausstattung mit Talenten, die sich aus der Hochschullandschaft ablesen lässt (im Gesamtranking gewichtet mit 40 Prozent), die Innovationsfähigkeit (40 Prozent) und die Attraktivität der Stadt (20 Prozent). Im Deloitte-Ranking punktet die bayerische Landeshauptstadt mit hoher Dynamik im Informations- und Kommunikationssektor, mit der größten Anzahl qualifizierter IT-Experten und als Ballungsgebiet für IT-Unternehmen ebenso wie für viele Branchen, die digitale Technologie anwenden. Berlin hingegen ist aufgrund der hohen Dichte an Forschungseinrichtungen und der höchsten Gründungsintensität der innovativste Standort. Hamburg erzielt den dritten Platz im Gesamtranking durch seine Attraktivität für die zukünftigen, hochqualifizierten Arbeitnehmer – die meisten Studenten zieht es in die Hansestadt. Ebenso wie im Ranking von PwC fällt auch bei Deloitte das Fehlen von digitalen Leuchttürmen in Nordwest- und Nordostdeutschland sowie im äußersten Westen des Landes auf. Keine einzige Stadt in Niedersachsen, in Schleswig-Holstein, in MecklenburgVorpommern, in Sachsen-Anhalt, in Brandenburg, im Saarland und in RheinlandPfalz ist auf den Bestenlisten vertreten. Die viel beschworene flächendeckende Breitbandversorgung geht nur schleppend voran. In der Digitalisierung sind andere Länder, besonders in Asien, Deutschland um Jahre voraus. Der Standard schwankt von Kommune zu Kommune – je nach Budget. FOTO: DPA Digitalisierung in den Städten Punktzahl im PwC-Ranking 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Köln Hamburg München Bonn Düsseldorf Leipzig Berlin Wuppertal Dresden Stuttgart 16,4 15,6 15,5 15,1 13,8 13,6 13,5 13,3 13,2 13,1 SZ-Grafik; Quelle: PwC; Stand: 5/2015 Sichtbar wird die Digitalisierung für den Bürger am Angebot an kommunalen Onlinediensten. „Dabei werden vor allem solche Services angeboten, die vergleichsweise leicht zu etablieren sind“, fasst PwC-Partner Felix Hasse den Sachstand zusammen. An vielen Orten in Deutschland sei es zum Beispiel möglich, online einen Termin für das Bürgeramt zu vereinbaren oder per Handy ein Busticket zu kaufen. Auch eine Präsenz in den sozialen Medien sei inzwischen bei den großen Städten weitgehend Standard. Seltener seien dagegen komplexere Serviceleistungen. „Nur in neun der 25 von uns im Detail untersuchten Städte können Bürger zum Beispiel einen Anwohnerparkausweis online beantragen“, sagt Hasse. Online-Gewerbeanmeldungen, die etwa in den Vereinigten Staaten seit Jahren zum Standard zählen, biete nur Bremen an. Vorstellbar sind viele weitere Dienstleistungen, die Bürgern das Leben in der Stadt einfacher machen und sie stärker am öffentlichen Leben beteiligen. Doch das kostet Geld, Geld, das die Städte nicht haben oder nicht für den Ausbau der Digitalisierung einsetzen wollen. Felix Hasse bedauert: „Die Chance, Bürger online an kommunalen Entscheidungen teilhaben zu lassen, bleibt vielfach ungenutzt.“ Es dauert, bis aus Science-Fiction kommunaler Alltag wird. Die Revolution auf der Straße Dank Vernetzung aller Verkehrsmittel bleibt keiner mehr am Bushäuschen sitzen Die Welt verändert sich. Entscheiden Sie wohin. STRATEGY SCHOOL ȣȡȢȧ Lernen Sie beim Original. Das Strategie-Event für alle Fachbereiche zum Thema Digital Life. Vom ȢȦ. bis ȢȨ. September in Berlin. Jetzt bewerben auf strategyschool.bcg.de Wer mit dem Auto zu einem Termin oder zum Shoppen in die Innenstadt fährt, muss jede Menge Geduld mitbringen. Stopand-go-Verkehr ist eher die Regel als die Ausnahme: Gut ein Drittel des innerstädtischen Verkehrs in Deutschland entfällt mittlerweile auf die Parkplatzsuche – Tendenz steigend. Um dieser Problematik Herr zu werden, gibt es mittlerweile zahlreiche Lösungsvorschläge, deren Ziel es ist, den individuellen Pkw-Verkehr so unattraktiv zu machen, dass er aus den Innenstädten verschwindet. Dabei gilt: Ohne Apps geht oder besser fährt nichts. „Durch das Internet, durch Smartphones und Algorithmen können wir mittlerweile den Individual- und Personenverkehr vernetzen“, sagt Tom Kirschbaum, Mitgründer und Geschäftsführer der Door2Door GmbH. Um zu verstehen, wie Menschen heute in Städten unterwegs sind und wie Nahverkehr optimiert werden kann, hat das Berliner Unternehmen die Mobilitäts-App Ally entwickelt. Sie navigiert Pendler durch die Stadt und zeigt ihnen die besten Optionen auf – vom Nahverkehr über Carsharing und Uber bis zum klassischen Taxi. Gleichzeitig wird über die App ausgewertet, wie sich Menschen in den Städten bewegen. „An einem Freitagabend ist die Nachfrage eine andere als am Sonntagmorgen“, sagt Kirschbaum. Mithilfe der Daten könne das Angebot permanent optimiert werden. Letztlich stehe die Vision dahinter, dass Leute zur gewünschten Zeit zu Hause abgeholt würden, um sie möglichst schnell und bequem zum Ziel zu bringen. Aktuell ist Ally in mehr als 35 Ländern verfügbar und bereits in 200 Metropolen weltweit im Einsatz. Neben etlichen deutschen Kommunen fragen das Angebot besonders afrikanische und lateinamerikanische Städte nach. Apple zeichnete Ally kürzlich als eine der „Best Apps of 2015“ aus. „Individualverkehr und ÖPNV verschmelzen“, sagt Stefan Heimlich, Vorsitzender des Auto Club Europa (ACE). Gemeinsam mit Vertretern aus Industrie und Verbänden hat er im Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung ein Impulspapier zum Thema Mobilität 4.0 vorgelegt. Darin werden auch Aspekte der Digitalisierung thematisiert. „Durch moderne Technologien können wir bisher nicht miteinander verbundene Prozesse verknüpfen und damit neue Angebote schaffen“, sagt Heimlich. Für den Kunden müsse die Dienstleistung wie „aus einer Hand“ statt wie bisher als Flickenteppich aus vielen Insellösungen wirken, denn: „So wie sich Lebensstile insgesamt ausdifferenzieren, wird auch die Mobilität der Menschen individueller.“ Digitalisierung Verantwortlich: Peter Fahrenholz Redaktion: Ingrid Brunner Anzeigen: Jürgen Maukner Auch die Deutsche-Bahn-Tochter Arriva setzt auf den sogenannten „Demand Responsive Transport“. Das nur außerhalb von Deutschland tätige Unternehmen bietet seine Bus- und Bahndienstleistungen in derzeit 14 europäischen Ländern an – darunter Großbritannien, Italien, Polen und die Niederlande. „Wir glauben, dass nachfragebasierte Angebote ein zunehmend wichtiger Baustein für die Mobilität der Zukunft sein werden“, sagt Philipp Reth, bei Arriva für Mobilitäts-Innovationen verantwortlich. Mit der Arriva Bus App können Reisende in Großbritannien schon jetzt in Echtzeit verfolgen, wo sich der Bus befindet, in den sie einsteigen wollen. Doch dies ist nur ein erster kleiner Schritt Richtung Zukunft. Mittelfristig möchte auch Arriva, dass die Fahrtzeiten der Busse an die Bedürfnisse der Kunden angepasst werden – und nicht mehr umgekehrt. Der Fahrplan soll sich an die Wünsche der Gäste anpassen, nicht umgekehrt Das Unternehmen setzt dabei sowohl auf den ländlichen als auch auf den urbanen Raum – mit unterschiedlichen Konzepten. In weniger dicht besiedelten Regionen geht es darum, Busse, die schon jetzt mangels Nachfrage nur noch wenige Male am Tag fahren, durch den nachfragebasierten Nahverkehr zu ersetzen. „Erste Berechnungen zeigen, dass wir dadurch einen Kundenzuwachs von etwa zehn Prozent generieren und gleichzeitig bis zu zehn Prozent der Kosten einsparen können“, sagt Reth. In den Städten sieht sich Arriva vor allem als Ergänzung zu bestehenden Angeboten. „Wir wollen der bessere Bus sein“, sagt Reth. Der digitale Ruf-Bus soll in bestehende Angebote eingebettet werden und mithilfe einer App den Kunden durch die Großstadt steuern und ans Ziel bringen. Hochfrequente Linienzüge wie S- und U-Bahn oder ICE wird Arriva allerdings nicht erset- Schweizer Premiere: das fahrerlose Postauto auf Jungfernfahrt 2015. OLIVIER MAIRE zen können. Sie seien weiterhin das „Rückgrat des Metropolverkehrs“. Zum Jahreswechsel sollen in verschiedenen europäischen Ländern Pilotprojekte starten. „Anders als in Deutschland unterliegt der Personenverkehr in einigen europäischen Märkten einer weniger strikten Regulierung“, erklärt Reth. Door2Door plant ebenfalls, einen eigenen Shuttlebus-Service anzubieten, der auf der App Ally basiert. Der Name: „Allygator Shuttle“. Mit ein Grund hierfür war eine Analyse der Mobilität von Taxis am Beispiel Berlins. Die etwa 7500 Fahrzeuge warten in der Hauptstadt demnach im Durchschnitt 90 Minuten auf einen Auftrag. „Allein im Zentrum sind derzeit 2500 Taxis unterwegs, die mehr stehen als fahren“, sagt Tom Kirschbaum. Berechnungen hätten ergeben, dass man das gleiche Angebot auch mit 250 Shuttlebussen bewältigen könne – und das sogar schneller und flexibler. Letztendlich gehe es aber allen Beteiligten darum, ein Betriebssystem für den selbstfahrenden Nahverkehr zu entwickeln, das auf die Bedürfnisse der Kunden reagieren kann, so Kirschbaum. Seine Vision ist es, dass in Zukunft „autonome Fahrzeuge in Echtzeit auf den Bedarf von Pendlern reagieren werden“, nach dem Motto: Hier holst du jemanden ab, dort möchte er aussteigen, dies ist die optimale Route durch die Stadt, hier ist die virtuelle Haltestelle. „Dadurch wird Nahverkehr effizienter, spart Zeit, Energie und schont die Umwelt“, für Kirschbaum ein Riesenschritt für Städte und Bürger in aller Welt. Und so unrealistisch ist die Vision nicht. In China ist kürzlich ein fahrerloser Bus des Herstellers Yutong auf die Reise geschickt worden. Der Bus fuhr auch auf Schnellstraßen, passierte dabei 26 Verkehrsampeln, wechselte wiederholt die Fahrspur und überholte auch eigenständig andere Fahrzeuge auf den Straßen. Er legte die 32,6 Kilometer lange Strecke zwischen den Städten Zhengzhou und Kaifeng in der Provinz Henan zurück. Yutong will bereits 2021 mit dem fahrerlosen Bus in Serienproduktion gehen und zielt dabei auch auf den europäischen Markt. Derzeit hat Yutong im Busgeschäft schon einen Weltmarktanteil von zwölf Prozent. Dass die Technologie funktioniert, zeigt ein Pilotprojekt in der Schweiz. In der Stadt Sion im Kanton Wallis sind seit Juni zwei autonome Postauto-Shuttlebusse im Linienbetrieb. Die elektronisch betriebenen Fahrzeuge des französischen Herstellers Navya verfügen über elf Sitzplätze. Über eine App können Passagiere die Position der Busse abrufen. Die Testphase soll bis zum Herbst 2017 andauern. Sicherheitsbedenken werden von Experten relativiert. Mehr als 90 Prozent der Unfälle mit Verkehrstoten gingen laut Statistischem Bundesamt im vergangenem Jahr auf menschliches Versagen zurück. Diese hohe Zahl hofft man mit moderner Technik senken zu können. h o lger pa ul er
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