OSTEUROPA 26. Juli 2016 ERDOGAN RÄUMT AUF von Wolf-Fabian Hungerland In den letzten elf Tagen überschlugen sich die Ereignisse in der Türkei. Ein gescheiterter Putsch, dann die Entlassung von etwa einem Fünftel aller Richter, dann die Ausreisesperre für Akademiker sowie tausende Entlassungen weiterer staatlich Bediensteter, zehntausende Festnahmen – und schließlich der am letzten Mittwoch verhängte, dreimonatige Ausnahmezustand. Letzterer ermöglicht Präsident Erdogan de facto uneingeschränkt durchzuregieren. Und das tut er: Erdogan räumt auf Das Erdogan-Paradox hält Nachdem sich nun die Lage wieder etwas beruhigt hat, stellen wir uns – ein weiteres Mal stellen wir an dieser Stelle – die Frage: Wohin geht die Reise mit der Türkei? Wir argumentieren, dass weiter das Erdogan-Paradox gilt: Der Präsident ist sowohl wichtigster Stabilitätsanker als auch größte Risikoquelle für die Entwicklung des Landes. Das Paradox löst sich etwas auf, wenn man zwischen langfristiger und kurzfristiger Perspektive unterscheidet. Abbildung 1: Die Reaktion der Lira auf die größten Schocks in 2016 Ankara-Anschlag (Feb.) 102 100 Ankara-Anschlag (Mär.) Istanbul-Anschlag Davutoglu-Rücktritt Putschversuch 98 96 Ausnahmezustand 94 92 0 1 2 3 Handelstage nach Ereignis 4 5 Index der Lira gegenüber US-Dollar, normiert auf 100 am Tag vor dem jeweiligen Ereignis. Quelle: Berenberg, Bloomberg. Kurzfristig sieht vieles danach aus, als ob Erdogans „Säuberungsmaßnahmen“ stabilisierend wirken. Innenpolitisch wird die Säuberung, wie Erdogan die Entlassungs- und Verhaftungswelle nennt, die Macht weiter in den Händen des Präsidenten konzentrieren. Es wird also klar, warum Erdogan den Putschversuch als Gottesgeschenk bezeichnete: Jetzt wirken die politischen Verhältnisse am Bosporus nun noch klarer, als vor dem Putsch. Die Daumenregel „Erdogans Wille geschehe“ dürfte vorerst noch besser die politische Zukunft der Türkei vorhersagen. Und Märkte mögen Vorhersehbarkeit. Dazu kommt, dass viele Investoren aktuell eher risikofreudig sind. Denn die US-Notenbank zögert mit weiteren Zinsanhebungen, während vielerorts die Zinsen weiter auf Rekordtiefständen verharren und so die Anleger nach anderen, risikoreicheren Investitionsmöglichkeiten suchen. Auch der Schock nach dem Brexit-Referendum lässt schon wieder etwas nach. Nun gab es 2016 bereits so einige Ereignisse, die nicht nur die die Märkte erschrecken ließen: Zwei größere Terroranschläge in Ankara, einer in Istanbul, sowie der Rücktritt von Premierminister Davutoglu im Mai. Abbildung 1, die die Lira-Entwicklung gegenüber dem US-Dollar unmittelbar nach den oben genannten Ereignissen vergleicht, zeigt dass die Märkte relativ verhalten reagierten. Selbst der Putschversuch verursachte einen deutlicheren, aber auch bereits wieder abflachenden negativen Effekt. Konjunkturelle Effekte Nichtsdestotrotz wird der Putschversuch und Erdogans „Säuberungsmaßnahmen“ auch volkswirtschaftlich Spuren hinterlassen. Die geschwächte Lira wird Importe teurer werden und damit die Inflation steigen lassen. Die Notenbank gibt sich regierungstreu. Sie behält weiter ihren Expansionskurs bei (und senkte vergangene Woche den Leitzins erneut). Darüber hinaus stellt sie Notfallliquidität zu Verfügung, sodass weiterer Druck auf die sowieso schon hohe Inflation entsteht (immerhin wird so etwas Druck aus dem Bankensektor genommen). Der von Premierminister Yildirim angekündigte „Wohlstandsmanagementfonds“, ausgestattet mit nicht weiter definierten „zweistelligen Milliardenbeträgen“, wird das Budget etwas mehr ins Defizit rutschen lassen. Die Regierung dürfte zudem vorerst weiter ihre Energie auf Kurzfristiges setzen, sodass wir nur wenige wachstumsfördernde Reformen, aber durchaus noch weitere „Säuberungsmaßnahmen“ erwarten. Letztere werden sich auch in steigenden Arbeitslosenzahlen widerspiegeln. Abbildung 2: Touristenankünfte 30 20 10 0 -10 -20 -30 -40 Jan 13 Jul 13 Jan 14 Jul 14 Jan 15 Jul 15 Jan 16 In % gegenüber Vorjahr. Quelle: Berenberg, Bloomberg. Die Leistungsbilanz, ein Gradmesser für die Abhängigkeit einer Volkwirtschaft vom Ausland, ist weiter defizitär. Letztere verbes- Osteuropa | 26. Juli 2016 1/4 serte sich in den letzten anderthalb Jahren vor allem wegen des billigen Öls (die Türkei produziert selbst kein Öl). Dennoch schwächelte die Leistungsbilanz, da die Tourismuszahlen bereits seit geraumer Zeit fallen (Abbildung 2). Dieser Trend dürfte nun noch stärker weitergehen. Durch ausbleibende Buchungen werden dem Land wichtige Einnahmen in der Leistungsbilanz fehlen. Das Verbrauchervertrauen wird ebenfalls unter dem politischen Schock leiden. In Summe sehen wir das Trendwachstum der türkischen Volkswirtschaft weiter bei etwa 3,5 %, rechnen für die kommenden Jahre aber mit einer gedämpfteren wirtschaftlichen Aktivität als vor dem Putsch. schnell umkehren könnten – und so eine ernsthafte Finanzkrise entsteht. Wie oben beschrieben, erwarten wir, dass sich die makroökonomische Großwetterlage zwar etwas verschlechtern, es jedoch zu keiner Katastrophe kommen wird. Sicherlich werden viele Unternehmen und Banken ihre Kredite, vor allem in Fremdwährung, nun zu ungünstigeren Konditionen rollieren können, aber ein schockartiges Ausbleiben bzw. Wegbrechen von Kapitalzuflüssen erwarten wir weiter nicht. Alleine dass Erdogan gestärkt aus dem Putsch hervorgegangen ist, hält viele Investoren – zumindest kurzfristig – weiter im Lande. Ein politisches Pulverfass entsteht Wenig überraschend sehen auch die großen Ratingagenturen die Türkei nun (noch) kritischer, vor allem mit Blick auf das längerfristige Investitionsklima und politisches Risiko. Moody’s gab letzte Woche bekannt, ihr Rating türkischer Staatsanleihen mit Blick auf eine Herabstufung zu überprüfen. Aktuell bewertet die Agentur das Land mit Baa3, was noch Investment Grade entspricht. Standard & Poor’s senkte ihr Rating von BB+ auf BB, was zwei Levels unter der Einschätzung von Moody’s und Fitch liegt, die türkische Staatsanleihen mit BBB- bewertet. Weitere Herabstufungen sind hier bei allen Agenturen durchaus möglich. Weiter abhängig von ausländischem Kapital Das Investitionsklima ist so wichtig, weil die Türkei so stark von ausländischem Kapital abhängt. Mangels genügend Ersparnissen besorgt sich die türkische Volkswirtschaft immer wieder Geld bei ausländischen Investoren. Diese aber binden sich in nur selten länger im Lande, denn ihr Vertrauen in die politischen Institutionen – und damit ihre Einschätzung der Sicherheit ihrer Investitionen – ist begrenzt. Andererseits waren diese kurzfristigen Kredite genau die Grundlage für das Wirtschaftswachstum, das Erdogan politisch so erfolgreich machte. Seit dem Lehman-Kollaps wuchsen die kurzfristigen Verbindlichkeiten besonders stark, wie Abbildung 3 zeigt. Aktuell belaufen sich die kurzfristigen Fremdwährungsschulden auf rund 108 Mrd. US-Dollar, was etwa einem Achtel des BIP entspricht. Abbildung 2: Kurzfristige Fremdwährungsschulden 140 120 100 80 60 40 Jan 08 Jul 09 Jan 11 Jul 12 Jan 14 Jul 15 Kurzfristig = Laufzeiten bis zu 12 Monate. In Mrd. US-Dollar. Quelle: Bloomberg. Mit steigender politischer Unsicherheit wächst nun die Gefahr, dass sich eine kritische Menge an ausländischen Investoren aus dem Land zurückziehen und damit wichtige Kapitalzuflüsse Nur weil Investoren (noch) nicht in Scharen von Dannen ziehen, heißt das aber nicht, dass alles blumig ist. Viele Dinge entwickeln sich in eine negative Richtung. Denn bei Erdogans Aufräumarbeiten wurde und wird noch weiter viel politisches Porzellan zerschlagen. Innenpolitisch bedient Erdogan konservativ-religiöse und nationalistische Strömungen und gibt sich dabei immer autoritärer. Anstatt auf Versöhnung und Dialog zu setzen, wird das gesellschaftliche Klima immer weiter vergiftet. Gewalttätige Konflikte über den Einfluss von Religion auf das Alltagsleben nehmen zu (siehe z.B. die Angriffe von Strenggläubigen auf alkoholservierende Restaurants während des Ramadans). Auch das lange blinde Auge Ankaras gegen Terroristen des Islamischen Staats zeigt jetzt seine Folgen in den jüngsten Terroranschlägen – ganz zu schweigen von dem aufgekündigten Friedensprozess mit den kurdischen Extremisten der PKK oder dass erst vor einem Monat die Immunität von großen Teilen der Oppositionspolitiker raufgehoben wurde. Das Demokratieverständnis der Regierung sorgt so für eine fortschreitende Polarisierung der Gesellschaft. Obwohl nur etwa die Hälfte der Bevölkerung Erdogan und seine regierende AK-Partei unterstützt, verhält sich die Regierung so, als ob der Rest der Bevölkerung politisch nichts mehr zu sagen hat. Dazu kommt die sowieso schon starke, nun aber nochmals intensivierte Zensur der Medien. Infolgedessen werden die tendenziell Erdogan eher kritisch gegenüberstehenden säkularen, liberalen, alawitischen und kurdischen Teile der Bevölkerung zunehmend aus dem politischen Prozess ferngehalten. Gleichzeitig strebt Erdogan weiter nach einer Verfassungsreform, die ihm in seinem Präsidentenamt auch formell die Macht geben würde, die er de facto sowieso schon hat. Vor dem Putschversuch deuteten die meisten Umfragen darauf, dass die meisten Türken eine solche Präsidialdemokratie ablehnen – jetzt könnte das durchaus anders aussehen. Zumal in einer Verfassungsreform auch die Todesstrafe wiedereingeführt werden könnte. Um eine Verfassungsreform durchzusetzen, erwarten wir, dass Erdogan ein Referendum durchführen lassen – und sehr wahrscheinlich gewinnen – wird. Danach dürfte die Demokratie noch mehr ausgehöhlter werden und Oppositionelle vermutlich noch mehr leiden. (Als Volkswirt fragt man sich, wie es wäre, wenn eine solche Osteuropa | 26. Juli 2016 2/4 innenpolitische Energie einmal für die Umsetzung struktureller Reformen eingesetzt werden würde.) Außenpolitisch wird die Türkei ein noch schwierigerer Partner. Durch den Putsch wurde das Militär diskreditiert und geschwächt. Und das in einer Zeit, in der Terror bekämpft und Grenzen gesichert werden wollen. Zwar ist die EU in der Flüchtlingsfrage nicht vollständig von der Türkei abhängig, aber die relative Zurückhaltung Berlins deutet darauf, dass Ankara hier durchaus Verhandlungsmacht besitzt. Die 2,8 Mio. Flüchtlinge, die die Türkei momentan beherbergt, können also schnell wieder zu einem zentralen Thema werden. Andererseits ist der türkische EU-Beitritt nicht nur wegen der möglichen Wiedereinführung der Todesstrafe, sondern auch wegen der von Brüssel monierten türkischen Anti-Terror-Gesetzgebung realpolitisch irrelevant geworden. So kündigt sich für Oktober eine diplomatische Krise an. Dann nämlich erwartet Ankara auf den Flüchtlings-Deal pochend Visa-Freiheit für seine Bürger. Auf die Spannungen mit den USA und den Behauptungen einiger türksicher Regierungsmitglieder, die US-Regierung unterstützte die Putschisten, soll hier gar nicht weiter eingegangen werden. Innenpolitisch entsteht also ein politisches Pulverfass, während die türkischen Außenbeziehungen unter Spannung stehen. Im Mittelpunkt dieser Entwicklungen steht die Person des Präsidenten Erdogans. Ohne Erdogans immer mehr Fäden zusammenhaltende Hände, wird das Land also in ein politisches Chaos stürzen und möglicherweise sogar einen Bürgerkrieg verursachen. Es entsteht also eine politische Blase, die sehr leicht platzen kann, wenn Erdogan nicht mehr Präsident ist. Dann aber umso lauter. Gleichzeitig ist dann sehr wahrscheinlich, dass sich die große Mehrheit der internationalen Investoren vom Bosporus verabschiedet. Für unsere makroökonomische Einschätzung der Türkei heißt das: Ein deutlich höheres Krisenrisiko. Fazit Der gescheiterte Putsch in der Türkei brachte nicht nur mehr als 230 Tote (davon 145 Zivilisten), sondern sorgte dafür, dass ein machthungriger Präsident sich nun noch weiter den Bauch vollschlagen kann – auf Kosten der Demokratie und gesellschaftlichem Frieden. Volkswirtschaftlich dürfte all das vorerst nur moderate Effekte haben. Doch steigt die Gefahr einer politischen und volkwirtschaftlichen Krise zu dem Zeitpunkt, wenn Erdogan einmal nicht mehr der „starke Mann am Bosporus“ ist. Das Erdogan-Paradox gilt also weiter: Der Präsident ist vorerst größter Stabilitätsanker, aber auch größter Risikofaktor zugleich. Osteuropa | 26. Juli 2016 3/4 O STEUROPA IMPRESSUM Makro-Team Hamburg Dr. Holger Schmieding | Chefvolkswirt +49 40 350 60-8021 | [email protected] Wolf-Fabian Hungerland +49 40 350 60-8165 | [email protected] Cornelia Koller +49 40 350 60-198 | [email protected] Berenberg Makro erscheint zu folgenden Themen: Emerging Markets Geldpolitik Konjunktur ► Osteuropa Rohstoffe Trends Währungen www.berenberg.de/publikationen Wolfgang Pflüger +49 40 350 60-416 | [email protected] Dr. Jörn Quitzau +49 40 350 60-113 | [email protected] Wichtige Hinweise: Dieses Dokument stellt keine Finanzanalyse im Sinne des § 34b WpHG, keine Anlageberatung, Anlageempfehlung oder Aufforderung zum Kauf von Finanzinstrumenten dar. Es ersetzt keine rechtliche, steuerliche und finanzielle Beratung. Die in diesem Dokument enthaltenen Aussagen basieren auf allgemein zugänglichen Quellen und berücksichtigen den Stand bis zum Tag vor der Veröffentlichung. Nachträglich eintretende Änderungen können nicht berücksichtigt werden. Joh. 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