Fall zu VwVG - Juristisches Repetitorium Hemmer

Juristisches Repetitorium hemmer Polizei-­ und Ordnungsrecht Hamburg Fall 1 Die Koksgrube H besitzt ein älteres Anwesen, in dessen Erd-­
geschoss er eine Gaststätte betreibt. Aus ge-­
sundheitlichen Gründen gibt er den Betrieb im März auf und verpachtet das ganze Anwesen an den Verein „Drogenfrei e.V.“, der dort eine Drogenberatung eröffnet. Die Gaststätte wird unter dem Namen „Koksgrube“ als Kontakt-­
zentrum des Vereins weiterbetrieben. Eine gaststättenrechtliche Erlaubnis liegt vor. Die Nachbarn sind über die Einrichtung einer Drogenberatung in ihrem „sauberen“ Stadtteil empört. Viele befürchten eine Wertminderung ihrer Grundstücke, die Ausbreitung von Krank-­
heiten und Kriminalität. Tatsächlich fallen auch die Jugendlichen, wel-­
che spät nachts die „Koksgrube“ verlassen, durch lautes Sprechen auf. Die Nachbarn füh-­
len sich durch dieses „Grölen“ unerträglich ge-­
stört und verlangen von den Behörden soforti-­
ges Einschreiten. Die Behörde prüft daraufhin, ob sie gegen H auf Grundlage des Ordnungsrechts einschrei-­
ten kann. Gegen das von der Partei „Die Grü-­
nen“ unterstützte Drogenzentrum möchte man wegen der knappen rot-­grünen Mehrheit im Rathaus nichts unternehmen. Fall 1, Seite 1 von 6 tung lautstark streiten. Die Fußgängerzone wird dadurch derart blockiert, dass die Kunden am Fortkommen gehindert werden und die um-­
liegenden Geschäfte nicht betreten können. Daraufhin fordert die Polizei mehrfach über Lautsprecher zum Weitergehen und zum Ver-­
lassen der Umgebung des Informationsstan-­
des auf und droht die zwangsweise Räumung des Platzes an. Die Aufforderung wird kaum beachtet. Als es dann in der Menge zu Tätlich-­
keiten und Handgreiflichkeiten kommt, wird die Menschenmenge mit Gewalt aufgelöst. Der A, der sich lautstark an der Diskussion beteiligt hatte, erlitt dabei starke Prellungen. Frage 2 A möchte wissen, ob die polizeiliche Auflö-­
sung der Menschenmenge rechtswidrig war und ihn gar in seinen Grundrechten verletzt hat. Frage 1 Kann die Behörde gegen H ordnungsrecht-­
lich einschreiten? Als die Leitung der Drogenberatung von den Vorgängen erfährt, beschließt sie zur Ent-­
spannung der Situation an einem Samstag ei-­
nen Informationsstand in der Fußgängerzone auf einem Platz aufzustellen. Durch sachliche Information verspricht man sich mehr Ver-­
ständnis für das Anliegen einer Drogenbera-­
tung. Kaum ist der Infostand aufgestellt, kommt es zu einer großen Menschenansammlung, in der sich Befürworter und Gegner der Drogenbera-­
RA Dr. Schlömer Juli 16 Juristisches Repetitorium hemmer Polizei-­ und Ordnungsrecht Hamburg Fall 1, Seite 2 von 6 Bei einer Gaststätte handelt es sich somit nicht um eine genehmigungsbedürftige Anlage, son-­
dern um eine solche i.S.d. §§ 22 ff. BImSchG. Lösung Fall 1 Frage 1 II. § 24 S. 1 BImSchG als Eingriffsbefugnis? Bei nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen kann die zuständige Behörde im Einzelfall ge-­
mäß § 24 S. 1 BImSchG die zur Durchführung des § 22 erforderlichen Anordnungen treffen (zum Beispiel eine nachträgliche Anordnung, dass Personal ab 22 Uhr vor der Gaststätte für Ruhe sorgen soll, Ruheschilder aufstellen etc.). Eine Befugnis nach § 24 S. 1 BImSchG setzt al-­
so einen Tatbestand aus § 22 BImSchG voraus. Hier ist der Fall des § 22 I Nr. 1 BImSchG gege-­
ben. Damit besteht die Befugnis nach § 24 S. 1 BImSchG. III. Adressat Aus § 24 S. 1 i.V.m. § 22 I 1 Nr. 1 BImSchG ergibt sich, dass der Betreiber der Anlage, also hier der Verein „Drogenfrei e.V.“, Adressat der Maßnahme bzw. sonderordnungsrechtlicher Störer ist. Damit kann gemäß §§ 24, 25 BIm-­
SchG gegen den H als Eigentümer nicht vorge-­
gangen werden, weil er im sonderordnungs-­
rechtlichen Sinn des BImSchG nicht Störer (= Anlagenbetreiber) ist. Diese sonderordnungs-­
rechtlichen Regelungen sind solange vorrangig, wie die polizeirechtlichen Generalklauseln nicht zu weitergehenden Maßnahmen ermächtigen bzw. es sich nicht um unaufschiebbare Maß-­
nahmen handelt. Polizei-­ und ordnungsrechtli-­
che Anordnungen zur Abwehr anderer Gefahren als solche durch Immissionen bleiben jedoch 1
unberührt. Letztere sind hier jedoch von Be-­
deutung, so dass ein Rückgriff auf das SOG in-­
soweit unzulässig ist. IV. Ergebnis Damit kann H nach BImSchG nicht in Anspruch genommen werden. C. Rückgriff auf SOG Nach dem Grundsatz der Subsidiarität findet das allgemeine Ordnungsrecht nur Anwendung, wenn keine Sonderregeln eingreifen. A. Gaststättengesetz als Rechtsgrundlage Das Gaststättenrecht als Sonderordnungsrecht des Bundes geht dem allgemeinen Ordnungs-­
recht vor. Im Falle der spezialgesetzlichen Be-­
fugniszuweisung (bzw. Ermächtigungsgrundla-­
ge) gehen diese Befugnisse dem SOG vor. Da es sich hier um eine Gaststätte handelt, ist zunächst zu prüfen, ob sich aus dem GastG be-­
sonders geregelte Befugnisse ergeben. Das Betreiben einer Gaststätte ist gemäß § 2 I 1 GastG erlaubnispflichtig. Die Befugnis nach § 5 I Nr. 3 GastG kommt hier jedoch nicht in Be-­
tracht, da sie nur die Erteilung von Auflagen re-­
gelt, also Anordnungen im Zusammenhang mit der Erlaubnis und gegenüber dem Erlaubnis-­
nehmer. Das GastG verdrängt damit das allgemeine Ordnungsrecht vorliegend nicht. B. BImSchG als Rechtsgrundlage Das BImSchG ist hier grundsätzlich anwendbar, da es sich bei der Gaststätte um eine Betriebs-­
stätte i.S.v. §§ 3 V Nr. 1 i.V.m. 2 I Nr. 1 BIm-­
SchG handelt. Gemäß § 3 II BImSchG stellt Lärm eine Immis-­
sion im Sinne dieses Gesetzes dar, die gemäß § 3 I BImSchG als schädliche Umwelteinwirkung geeignet ist, erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit herbeizuführen. I. Genehmigungsbedürftige oder genehmi-­
gungsfreie Anlage? Das BImSchG differenziert nach genehmi-­
gungsbedürftigen und genehmigungsfreien An-­
lagen. Dabei sind gemäß § 4 I 1 BImSchG An-­
lagen genehmigungsbedürftig, die in besonde-­
rem Maße geeignet sind, schädliche Umwelt-­
einwirkungen hervorzurufen oder in anderer Weise die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft zu gefährden, erheblich zu benachteiligen oder zu belästigen. Die Bundesregierung hat von der ihr in § 4 I 3 BImSchG gegebenen Kompetenz Gebrauch gemacht. Damit sind genehmigungsbedürftige Anlagen nach § 4 I 1 BImSchG nur solche, die in der 4. DurchführungsVO zum BImSchG ge-­
nannt sind (Enumerationsprinzip). Dort sind Gaststätten nicht aufgeführt. Es ist fraglich, ob vorliegend noch auf das all-­
gemeine SOG zurückgegriffen werden kann. Soweit ein Spezialgesetz einschlägig ist, kann auf das allgemeine Ordnungsrecht nur zurück-­
gegriffen werden, wenn das Sonderordnungs-­
recht dies ausdrücklich zulässt oder keinen ab-­
schließenden Charakter hat. Ob ein solcher vor-­
liegt ist jeweils durch Auslegung der Spezial-­
normen zu ermitteln. Bei genehmigungspflichtigen Anlagen i.S.d. BImSchG wird ein abschließender Charakter bejaht. Bei nicht genehmigungspflichtigen Anla-­
gen -­ wie hier -­ ist streitig, ob ein abschließen-­
1
RA Dr. Schlömer Hansemann in Landmann/Rahmer, Umweltrecht, Bd. I, § 24, Rdnr. 9. Juli 16 Juristisches Repetitorium hemmer Polizei-­ und Ordnungsrecht Hamburg der Charakter vorliegt, so dass ein Rückgriff auf 2
das SOG unmöglich wäre. Der Streit kann jedoch dahinstehen, wenn auch auf Grundlage des SOG ein Vorgehen gegen H im Ergebnis unzulässig ist. Ein Vorgehen gegen H wäre nach § 3 I SOG zu 3
prüfen. Fraglich ist, ob überhaupt eine Gefahr angenommen werden kann, da ausweislich des Sachverhalts die Jugendlichen nur durch lautes Sprechen auffallen. Eine Inanspruchnahme von H setzt aber darüber hinaus voraus, dass er als Störer angesehen werden kann. H könnte zwar als Eigentümer Zustandsstörer gem. § 9 I SOG sein;; eine mögliche Gefahr geht aber nicht von der Sache, sondern von den Personen aus. Ei-­
ne Inanspruchnahme als Nichtstörer gem. § 10 SOG scheitert daran, dass auch ein Vorgehen gegen mögliche Störer, hier die Jugendlichen, denkbar wäre. Daher wäre, selbst wenn das SOG für anwend-­
bar erachtet wird, eine Maßnahme gegen H nicht rechtmäßig. D. Fall 1, Seite 3 von 6 ergänzen gemäß § 17 I 2 SOG das VwVG für alle 4
Fälle des unmittelbaren Zwangs. Gem. § 3 III Nr. 3, § 15 VwVG i.v.m. § 17 ff SOG könnte die Polizei die Auflösung der Ansammlung im Wege des gestreckten Verfah-­
rens und mit dem Zwangsmittel des unmittelba-­
ren Zwangs durchgeführt haben. I. Rechtsgrundlage Rechtsgrundlage für die Anwendung von Zwangsmitteln im gestreckten Verfahren ist § 3 III Nr. 3, § 15 VwVG. II. Formelle Rechtmäßigkeit 1. Zuständigkeit Es gilt der Grundsatz, dass die Polizei zur Voll-­
streckung ihrer eigenen Verfügungen berufen ist ((S) Grundsatz der Selbstvollstreckung), vgl. §§ 4, 5 VwVG 2. Verfahren und Form Fraglich ist, ob eine Anhörung gem. § 28 I VwVfG erforderlich ist. Es ist umstritten, ob die Anwendung unmittelbaren Zwangs einen Verwaltungsakt darstellen kann. Nach einer An-­
sicht ist dies zu bejahen, da in der Anwendung des Zwangsmittels auch eine konkludente Dul-­
dungsverfügung gegenüber dem Bürger ausge-­
sprochen werde. Eine Anhörung würde vorlie-­
gend jedoch gem. § 28 II Nr. 5 VwVfG entbehr-­
lich sein. Nach überwiegender Ansicht ist der Zwangsmitteleinsatz als Realakt zu bewerten, so dass § 28 VwVfG gar nicht anzuwenden, mithin keine Anhörung zu erfolgen hat. Ergebnis Im Ergebnis ist ein Vorgehen gegen H nicht möglich. Frage 2 A. Rechtmäßigkeit der gewaltsamen Auflö-­
sung Vorliegend kommt eine Verletzung der Rechte des A sowohl durch den Platzverweis als auch durch dessen Vollstreckung in Betracht. III. Materielle Rechtmäßigkeit Im Folgenden sind die materiellen Vorausset-­
zungen für die Rechtmäßigkeit des unmittelba-­
ren Zwangs zu prüfen. 1. Wirksamer Grund-­VA § 3 III Nr. 3 setzt zunächst einen wirksamen Grundverwaltungsakt voraus. Die Aufforderung, den Platz zu verlassen stellt einen wirksamen, nicht nach § 44 VwVfG nichtigen Grund-­VA dar. 2. Keine Aufschiebende Wirkung § 3 III Nr. 3 VwVG verlangt, dass Rechtsbehelfe gegen den Verwaltungsakt keine aufschiebende Wirkung haben. Gemäß § 80 II Nr. 2 VwGO ha-­
ben Rechtsbehelfe gegen unaufschiebbare poli-­
zeiliche Anordnungen keine aufschiebende Wir-­
kung. Anmerkung: Da in der Fallfrage nach der Rechtmäßigkeit der Auf-­
lösung gefragt war, wird nachfolgend die gewaltsame Auflösung und darin inzident der Grund-­VA geprüft. Denkbar wäre es auch zuerst den Grund-­VA und da-­
nach die Vollstreckung zu prüfen. Dies wird aber der Fallfrage weniger gerecht. Das SOG enthält keine umfassende Normierung ord-­
nungsbehördlicher Zwangsmittel. Die Vollstreckung von Verwaltungsakten, die auf die Vornahme einer Handlung, Duldung oder Unterlas-­
sung gerichtet sind, wird als Verwaltungszwang be-­
zeichnet und richtet sich nach dem HmbVwVG (nach-­
folgend VwVG). Lediglich der Einsatz unmittelbaren Zwangs ist durch die ergänzenden Sonderregeln der §§ 17 ff. SOG er-­
fasst. Dabei sind die §§ 17 ff. SOG nicht auf Maß-­
nahmen der Gefahrenabwehr beschränkt, sondern 3. 2
3
Vgl. OVG Münster DVBl. 1979, 317 m.w.N. Auf den Gefahrenbegriff wird in den nächsten Fällen noch umfassend eingegangen. RA Dr. Schlömer Rechtmäßigkeit des Grund-­VA Streitig ist im Fall des § 3 III Nr. 2, 3 VwVG, ob der Grundverwaltungsakt lediglich wirksam (so die h.M.: Argument der effektiven Gefahrenab-­
wehr) oder ob er auch rechtmäßig sein muss, 4
Hoffmann-­Riem/Koch, Hamburgisches Staats-­ und Verwal-­
tungsrecht, S. 252 f. Juli 16 Juristisches Repetitorium hemmer Polizei-­ und Ordnungsrecht Hamburg Fall 1, Seite 4 von 6 damit er vollstreckt werden kann (so die Min-­
dermeinung: Argument des effektiven Rechts-­
schutzes). Dieser Streit kann jedoch dahin stehen, wenn der zugrunde liegende Verwaltungsakt wirksam 5
und rechtmäßig war. Rechtsgrundlage des Grund-­VA Nach dem Grundsatz vom Vorbehalt des Ge-­
setzes bedarf ein polizeilicher Eingriffsakt einer Rechtsgrundlage. Rechtsgrundlagen für ord-­
nungsbehördliche Eingriffe finden sich in den Befugnisnormen. Hierbei ist zunächst zu prüfen, inwieweit Befug-­
nisse in Spezialgesetzen enthalten sind. Finden sich spezialgesetzliche Befugnisnormen und ist die Regelung als abschließend zu beurteilen, so scheidet ein Rückgriff auf die Befugnisnormen des SOG aus. Grundsätzlich wäre das Versammlungsgesetz als Sonderordnungsrecht des Bundes dem SOG des Landes vorrangig. Voraussetzung ist aber, dass es sich vorliegend um eine Versammlung handelt. Unter einer Versammlung versteht die h.M. die gewollte Zusammenkunft mehrerer Personen (mindestens zwei) zu dem gemeinsamen Zweck 6
der Meinungsbildung bzw. -­kundgabe. Passanten, die sich an einem Informationsstand einer politischen Partei oder sonstigen Gruppie-­
rung ansammeln, bilden in der Regel keine Ver-­
sammlung;; jedenfalls solange sie keine gemein-­
same Meinungsbildung erstreben, sondern nur ein einseitiges Informationsangebot von dem 7
Stand erwarten. Im vorliegenden Fall handelt es sich auch bei der Menschenansammlung vor dem Informationsstand nicht um eine Versamm-­
lung, da die innere Verbindung und Gemein-­
samkeit nicht darin gesehen werden kann, dass die Passanten sich lautstark über die Drogenbe-­
ratung streiten. Es ist jedoch auch vertretbar, den Versamm-­
lungscharakter zu bejahen, weil die zufällig ent-­
standene Menschenansammlung sich in ihrem Charakter verändert hat, indem sie gemeinsam über die Drogenberatung diskutiert und sich damit ihrer inneren Verbindung bewusst wurde 8
(„Spontanversammlung“ ). Selbst wenn aber das Vorliegen einer Versammlung bejaht wird (Ermächtigungsgrundlage zur Auflösung der Formelle Rechtmäßigkeit des Platzverweises Gemäß § 3 II 1 lit. a SOG ist die Vollzugspolizei bei unaufschiebbaren Maßnahmen im Bereich der Gefahrenabwehr zuständig, also wenn ein Tätigwerden der zuständigen Verwaltungsbe-­
hörde (hier Bezirksamt) nicht rechtzeitig möglich ist. Es muss also eine besondere Eilsituation vorliegen (sog. Eilkompetenz der Polizei). Hier hatte sich die Gefahr schon realisiert. Die Fußgängerzone war bereits blockiert und damit die Gefahr (Störung der Rechte der kaufwilligen Kunden und der Rechte der Ladeninhaber) ein-­
getreten. Es ist auch davon auszugehen, dass die örtliche Polizei gehandelt hat. c. Materielle Rechtmäßigkeit des Platzverwei-­
ses Exkurs zur Gefahrenprognose: Ob eine Gefahr vorliegt, ist im Rahmen einer Gefahr-­
prognose aus Sicht eines verständigen Beobachters RA Dr. Schlömer b. aa. Voraussetzungen der Rechtsgrundlage Es müsste eine Gefahr vorliegen. Gefahr ist eine Sachlage, die bei ungehindertem Fortgang und in absehbarer Zeit mit hinreichen-­
der Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die öffentliche Sicherheit und/oder Ordnung füh-­
9
ren wird. 5
Eine derartige Vorgehensweise wird z.T. abgelehnt (vgl. Muckel JA 2012, 272, 277, welcher der h.M. folgen will). Aus klausurtaktischen Gründen (!) wird vorliegend aber ei-­
ne Inzidentprüfung vorgenommen. 6
Vgl. Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rn. 776 ff.;; Gusy, Poli-­
zeirecht, Rn. 327 m.w.N.;; Gornig/Jahn, S. 52;; zur Öffent-­
lichkeit einer Versammlung: ThürOVG DVBl. 1998, 104. 7
BVerwGE 56, S. 63. 8
Vgl. Knemeyer, Rn. 542. Das polizeiliche Vorgehen ist dann gemäß § 12 a SOG als Platzverweisung anzusehen. Bedeutung des Schutzgutes
a. Versammlung ist dann § 15 III VersammlG), wä-­
re zumindest das Grundrecht der Versamm-­
lungsfreiheit nicht einschlägig, da der Schutzbe-­
reich des Art. 8 I GG auf friedliche Versamm-­
lungen begrenzt ist. Die Menschenmenge wird aufgelöst, als es „zu Tätlichkeiten und Hand-­
greiflichkeiten kommt“. Es handelt sich dann nicht mehr um eine friedliche Versammlung, die die Polizei aufgelöst hat. Folgt man der Ansicht, dass das Versamm-­
lungsgesetz nicht einschlägig ist, bleibt das SOG anwendbar. Gefahr (+) Gefahr (-­) Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts
9
Götz, Rdnr. 115. Juli 16 Juristisches Repetitorium hemmer Polizei-­ und Ordnungsrecht Hamburg Fall 1, Seite 5 von 6 11
ken schafft. Es geht mithin um eine wertende Betrachtungsweise. Im vorliegenden Fall können die Betreiber des Infostandes als Zweckveranlasser angesehen oder abgelehnt werden. Beide Ansichten sind vertretbar. ex ante zu bestimmen. Im Rahmen dieser Prognose sind sowohl die Wahrscheinlichkeit des Schadensein-­
tritts als auch die Bedeutung des bedrohten Rechts-­
guts zu berücksichtigen (z.B. nur Eigentum gefährdet oder Leib und Leben gefährdet?). Also gilt: Je höherwertiger das bedrohte Schutzgut, desto geringere Anforderungen an die Wahrschein-­
lichkeit des Schadenseintritts und umgekehrt. cc. Ermessen Die Polizei hätte von ihrem Ermessen (Opportu-­
nitätsprinzip) keinen Gebrauch machen dürfen, wenn die Platzverweisung die Diskutierenden in ihren Grundrechten verletzen würde. Es könnte hier demnach ein Fall der Ermessensüber-­
schreitung vorliegen. Dann müsste der Platz-­
verweis gegen Art. 8 oder Art. 5 GG verstoßen. Vorliegend werden die Grundrechte der kaufwil-­
ligen Passanten und der verkaufswilligen La-­
denbesitzer beeinträchtigt. Damit hat sich das Geschehen bereits zu einem Schaden entwi-­
ckelt, so dass sogar eine Störung der öffentli-­
chen Sicherheit vorliegt. Eine dauerhafte Platzverweisung wäre unzuläs-­
sig. Die Polizei will hier jedoch nur den „Ver-­
kehrsstau“ auflösen, also nur „vorübergehend“ eingreifen. Somit sind die Voraussetzungen des § 12a SOG erfüllt. bb. Verantwortlichkeit, § 8 I SOG Die diskutierenden Passanten sind vor dem In-­
fostand stehen geblieben und haben dadurch die Fußgängerzone blockiert. Damit haben sie durch ihr Verhalten die Gefahrengrenze über-­
schritten und sind Verhaltensstörer i.S.d. § 8 I SOG. Eine Platzverweisung ist auch gegen eine unbestimmte Zahl von Personen möglich. (1) Art. 8 GG Voraussetzung für die Einschlägigkeit von Art. 8 GG ist, dass es sich nicht nur um eine bloße Ansammlung von Menschen, sondern um eine Versammlung i.S.d. Art. 8 GG handelt. Hier fehlt es schon an der gemeinsamen Willensbil-­
dung. (2) Art. 5 I GG (Meinungsäußerungsfreiheit) Da Art. 8 GG (Schutz der kollektiven Meinungs-­
äußerung) nicht eingreift, kann sich der A auf Art. 5 GG (individuelle Meinungsäußerungsfrei-­
heit) berufen. Art. 5 I 1 1. Hs. GG ist hier insbe-­
sondere deshalb einschlägig, weil sich der A lautstark an den Diskussionen beteiligt hat. Materielle Einschränkbarkeit ist nur im Rahmen des qualifizierten Schrankenvorbehalts (Art. 5 II GG) möglich, also nur durch ein allge-­
meines Gesetz. Allgemeine Gesetze i.S.v. Art 5 II GG sind solche, die nicht eine Meinung an sich untersagen, sondern dem Schutz eines ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsgutes dienen. § 12a SOG ist ein allgemeines Gesetz und im Übrigen auch formell und materiell verfassungsgemäß. Ferner müsste der Eingriff der Polizei (hier: der Platzverweis) auch verhältnismäßig gewesen sein. Daraus folgt, dass das einschränkende Gesetz seinerseits wieder Grenzen findet im einzuschränkenden Grundrecht aus Art. 5 GG (Wechselwirkung). Notwendig ist also eine fall-­
bezogene Güterabwägung zwischen dem beein-­
trächtigten Kommunikationsgrundrecht und den Interessen, die mit den allgemeinen Gesetzen verfolgt werden. Da im vorliegenden Fall die Kunden am Fortkommen gehindert werden und die umliegenden Geschäfte nicht betreten kön-­
nen, sind sie in ihrem Grundrecht aus Art. 2 I GG beeinträchtigt. Diese Interessen sol-­
len vorliegend durch den Platzverweis der Poli-­
zei (§ 12a SOG) geschützt werden. Eine Abwä-­
gung führt dabei zu dem Ergebnis, dass die Grundrechte der Kunden/Händler höher zu be-­
10
11
Anmerkung: Fraglich könnte hier ferner sein, ob nicht die Be-­
treiber des Infostandes als „Zweckveranlasser“ ordnungsrechtlich verantwortlich sind. Hierzu werden folgende Ansichten vertreten: • Theorie der rechtswidrigen Verursachung (Mindermeinung), wonach ein mittelbarer Verursacher nur dann Störer ist, wenn er durch sein Verhalten Rechtsnormen verletzt hat;; • Theorie der unmittelbaren Verursachung (herrschende Meinung), wonach ausnahms-­
weise auch nur ein mittelbarer Verursacher ordnungsrechtlich verantwortlich ist, wenn der mittelbare Verursacher von Anfang an eine erhöhte Gefahrentendenz aufweist;; zwei Fallgruppen als mittelbare Verursacher: Zweckveranlasser und latenter Störer! Hinsichtlich des Zweckveranlassers vertrat die frühere Rechtsprechung die Auffassung, dass ein Zweckveranlasser nur dann als Störer ver-­
antwortlich ist, wenn beim Zweckveranlasser als subjektives Moment vorliegt, eine Störung ab-­
10
sichtlich herbeiführen zu wollen. Nach heute herrschender Meinung ist Zweck-­
veranlasser, wer die störende Folge „objektiv bezweckt“ bzw. gefahrerhöhende typische Risi-­
Pr.OVG 80, 176. RA Dr. Schlömer Götz, Rdnr. 202. Juli 16 Juristisches Repetitorium hemmer Polizei-­ und Ordnungsrecht Hamburg Fall 1, Seite 6 von 6 werten sind und die Auflösung der Menschen-­
ansammlung daher rechtmäßig ist. Die Auflö-­
sung der Menschenansammlung verstößt nicht gegen Art. 5 I 1 1. Hs. GG. so unmittelbarer Zwang angewandt, vgl. § 18 I, II SOG. Während in Hamburg grundsätzlich ein Hinweis auf die Anwendung von Zwangsmitteln genügt, vgl. § 8 HmbVwVG, gilt für den unmittelbaren Zwang gemäß § 22 I 1 SOG die Besonderheit, dass er vor seiner Anwendung anzudrohen ist. Wenn die Tätlichkeiten der Passanten bereits ein schwerwiegendes Stadium erreicht hätten, wäre eine Androhung gemäß § 22 I 2 SOG ent-­
behrlich. Dies kann hier jedoch im Ergebnis of-­
fenbleiben, da die Androhung mehrfach (vgl. § 22 III SOG) über Lautsprecher erfolgt ist. Die Anwendung unmittelbaren Zwangs wäre al-­
lerdings rechtswidrig, wenn sie gegen die Grundrechte des A verstoßen hätte. Durch die Auflösung der Menschenansammlung wird in das Grundrecht der Informationsfreiheit des A eingegriffen. Insoweit gelten jedoch die gleichen Maßstäbe wie bei Art. 5 I 1 1. Hs. GG (Meinungsäußerungsfreiheit), siehe oben. Da der A bei der Auflösung der Menschenan-­
sammlung starke Prellungen erlitt, liegt ein Ein-­
griff in sein Recht auf körperliche Unversehrtheit vor. Dieser ist jedoch durch den Schrankenvor-­
behalt – hier durch das verhältnismäßige SOG – gerechtfertigt. Es kam in der Menschenmenge bereits zu Köperverletzungsdelikten, so dass die Polizei auch gewaltsam einschreiten durfte. Damit ist durch die Anwendung unmittelbaren Zwangs nicht gegen die Grundrechte des A ver-­
stoßen worden. (3) Art. 11 GG (Freizügigkeit) Schließlich könnte der Platzverweis in das Recht auf Freizügigkeit aus Art. 11 GG eingrei-­
fen. Freizügigkeit bedeutet die Möglichkeit, an jedem Ort innerhalb der Bundesrepublik Aufent-­
halt und Wohnsitz zu nehmen12. Aufenthalt be-­
deutet vorübergehendes Verweilen. Da jede Fortbewegung aber eine Folge von Augenbli-­
cken des Verweilens ist, stellt sich die Frage, wann ein hinreichendes Verweilen vorliegt13. Während teilweise erst eine Übernachtung ein Aufenthaltsverhältnis begründen soll14, ist mit der h.M. zu beachten, dass auch ein Besuch von nur wenigen Minuten von elementarer Be-­
deutung für die Freiheit des einzelnen sein kann und daher grundrechtsschutzwürdig ist15. Der Schutzbereich ist damit eröffnet. Art. 11 II GG betrifft aber Rechtsgüter, zu deren Schutz auch vorbehaltlos gewährleistete Grund-­
rechte begrenzt werden dürfen16. Zur Vorbeu-­
gung weiterer strafbarer Handlungen (§§ 223, 240 StGB) konnte daher die Polizei in das Freizügigkeitsrecht eingreifen. Auch Art. 11 GG wird durch den Platzverweis nicht verletzt. d. 4. Zwischenergebnis Damit war die Platzverweisung selbst rechtmä-­
ßig, der Streit, ob nur ein rechtmäßiger Verwal-­
tungsakt i.R.d. § 3 III Nr. 2, 3 VwVG vollstreckt werden darf, ist daher nicht zu entscheiden. Ordnungsgemäße Vollstreckung Gemäß § 11 HmbVwVG stehen vier verschie-­
dene Zwangsmittel zur Verfügung. Das mildeste ist das Zwangsgeld, danach Ersatzvornahme, stärker noch der unmittelbare Zwang und (als einschneidenstes) Zwangsmittel die Erzwin-­
gungshaft. Gemäß § 12 I HmbVwVG ist bei der Auswahl des Zwangmittels der Grundsatz der Verhält-­
nismäßigkeit zu beachten. Hier war der unmittelbare Zwang grundsätzlich zulässig, weil ein Zwangsgeld keinen Erfolg ver-­
sprochen hätte und eine Ersatzvornahme nicht in Betracht kam. Vorliegend wurde die Men-­
schenmenge mit Gewalt aufgelöst, es wurde al-­
BVerfGE 2, 266, 273 12
13
Pieroth/Schlink, Rdnr. 855 Merten, Der Inhalt des Freizügigkeitsrechts, 1970, S. 43 f. 15
MDHS 11/37;; Pieroth/Schlink, Rdnr. 855;; von Münch-­Kunig, GG Art. 11 Rdnr. 14. 16
Vgl. Drews/Wacke, Gefahrenabwehr, 278. 14
RA Dr. Schlömer Anmerkung: Als weiterer Prüfungspunkt bei der Rechtmäßigkeit der Voll-­
streckung ist – wenn entsprechende Sachverhaltsangaben vorliegen – das Vorliegen von Vollstreckungshindernissen zu beachten. Vollstreckungshindernis kann zum Beispiel die Erfüllung sein. Aber auch die rechtliche Unmöglichkeit der verlangten Handlung stellt ein Vollstreckungshindernis dar. Verlangt zum Beispiel die Behörde von dem Tanklastzugfahrer, dass er selbst das ausgelaufene Öl vom Acker des Bauern ab-­
trägt, so ist diese Tätigkeit rechtlich unmöglich, solange nicht eine Duldungsverfügung an den Bauern zur Duldung dieser Tätigkeit auf seinem Ackergrundstück ergangen ist. C. Ergebnis Sowohl der Platzverweis als auch seine Voll-­
streckung waren rechtmäßig. A ist durch das polizeiliche Vorgehen nicht in seinen Grund-­
rechten verletzt worden. Vertiefungsfragen Vgl. Schlömer/Hombert, Verwaltungsrecht BT I S. 106 ff. 1. Welche Reihenfolge gilt für die Prüfung der Ermächti-­
gungsgrundlage für eine Ordnungsverfügung? 2. Welches sind die zur Gefahrenabwehr zuständigen Behör-­
den? Juli 16