SÄCHSISCHE ZEITUNG FEUILLETON |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| 16 ||||||||||||||||||||| S O N N AB E N D / S O N N TA G 11./12. JUNI 2016 KULTUR & GESELLSCHAFT ANZEIGE Staatsschauspiel Dresden Röntgenbilder vom Führer Abschiedsbrunch im Schauspielhaus 12. Juni 2016, 10:30 Uhr Zweifelhafte Auktion von persönlichen Gegenständen Hitlers und Görings angekündigt. Es gibt noch Karten an unserer Vorverkaufskasse im Schauspielhaus Samstag 10:00 bis 14:00 oder Sonntag ab 9:30 Uhr direkt an der Tageskasse E Waffenbrüder von gestern Krimiautor Martin Walker folgt mörderischen Spuren bis Moskau und akzeptiert eine Lüge. Von Rainer Rönsch A Martin Walker: Eskapaden. Diogenes Verlag, 393 Seiten, 24 Euro Peter Schreier an der Büste des von ihm verehrten Robert Schumann im Kurpark von Kreischa. „Ich habe vor allem als Mozart- und Bach-Tenor Karriere gemacht, aber der sensible Schumann ist bis heute mein Komponist des Herzens“, so Schreier. Foto: Ronald Bonss Peter Schreier beackert Kreischa Es geht wieder los: Der berühmte Dresdner Künstler plant erneut eine Schumanniade, lockt Japaner ins Lockwitztal und mäht schon mal am Schumann-Weg. Von Bernd Klempnow E in neuer Orden, Herr Kammersänger? „Jawohl und diesmal der Sächsische Verdienstorden“, sagt Peter Schreier. „Der Ministerpräsident hat so viele kluge und engagierte Menschen ausgezeichnet. Ich weiß gar nicht, wie ich zu der Ehre komme. Ich bin doch schon so lange raus aus dem Geschäft.“ Wie immer ist der Dresdner zu bescheiden, der als Sänger und Dirigent weltweit und Jahrzehnte die Bühnen und Konzerthallen mit seiner Kunst zum Toben gebracht hat. Wohl setzte sich der 81-Jährige unlängst damit zur Ruhe – untätig für die Sachsen ist er dennoch nicht. Peter Schreier sorgt mit dafür, dass internationale Stars und Publikum ins beschauliche, osterzgebirgische Kreischa kommen. „Es ist wie derzeit im Garten: Es geht wieder los. Überall wächst und blüht es, braucht es einen Gärtner. Da wird es Zeit für die Schumanniade in Kreischa“, sagt der Tenor. Mit dem Kunst- und Kulturverein Kreischa organisiert er alle zwei Jahre so ein Fest, das an den Aufenthalt von Robert Schumann und Familie 1849 erinnert. Eigentlich waren die Schumanns vor den revolutionären Unruhen aus Dresden nach Maxen auf den Berg geflüchtet. „Doch dort residierten alsbald Adlige. Er konnte irgendwann deren Gerede nicht mehr ertragen. Die Familie bezog in Bad Kreischa im Lockwitztal Quartier“, sagt Schreier. „Ein guter Grund, die hier in der Region entstandenen Arbeiten von Robert immer wieder mal aufzuführen.“ Speziell viele Lieder hatte der Schöpfer der „Frühlingssinfonie“ hier vertont. Einige davon erklingen nun bei der mittlerweile neunten Schumanniade. Besonders reizvolle Arrangements hat Schreier für das Abschlusskonzert ausgewählt. Es sind Klavierbearbeitungen von Franz Liszt, „nicht so typisch deutsch-bombastisch wie sonst, sondern Liszt-untypisch sehr sensibel. Gut, dass wir als Interpreten den hochtalentierten Alexander Krichel gewinnen konnten.“ Das Programm der Schumanniade ist wieder so attraktiv, dass Japaner extra anreisen. „Wir haben als kleiner Verein eine bemerkenswerte Ausstrahlung.“ Schreier ist zwar Dresdner, hat aber seit den 70er-Jahren in Kreischa ein Haus mit großem Grundstück. Und das liegt zufällig am sogenannten Schumann-Weg. Den nutzte nachweislich die berühmte Komponistenfamilie bei ihren ausgedehnten, teils strapaziösen Wanderungen von Maxen nach Saida. Und auf der Wiese, wo heute Schreiers Haus steht, könnte das Paar mit den Kindern Pause oder Picknick gemacht haben. Schreier dankt der Gemeinde Kreischa diesen Zufall auf seine Weise – neben der Schumanniade. Er stiftete 1997 eine Büste von Robert, die im Kurpark steht, und er pflegt das Areal. Das ist zwar steil, aber der Kammersänger verfügt über einen beachtlichen, PS-starken Fuhrpark. Jeder Grundstücksbesitzer bekommt glänzende Augen oder erblasst, je nachdem wie er veranlagt ist. Da gibt es unter anderem eine elektroangetriebene Schubkarre, die die Steigungen nur so nimmt. Da gibt es einen Rasentraktor, der vierzig Zentimeter hohes Grass gleich mulcht. Es gibt einen weiteren Rasentraktor, der häckselt und als Gabelstapler Lasten wie riesige Kakteen-Töpfe transportiert. Wenn Schreier die Fahrzeuge vorführt oder erklärt, glaubt man ihm, wenn er sagt: „Im nächsten Leben werde ich gewiss Landwirt.“ Bis dahin ist noch etwas Zeit. Der legendäre Sänger hatte zwar in den vergangenen Jahren schwere gesundheitliche Probleme, lag gar im Koma. Aber er erholte sich wieder großartig, auch wenn der Ischiasnerv derzeit muckert. Regelmäßig Physiotherapie, und der agile Mann beackert seine Kreischaer Flur. Bereits in Planung ist die nächste Schumanniade 2018. „Aber dann ist Schluss, müssen andere ran“, sagte Peter Schreier. Dabei wissen alle, er macht weiter, wenn er gebraucht wird. |||||||||||||||||||||||||||||||||||||| uch im achten Krimi von Martin Walker über den französischen Kleinstadtpolizisten Bruno gibt es gute Weine, leckeres Essen und gemütliche Kameraderie in der idyllischen Landschaft des Périgord. Tourismus und Weinabsatz wurden dort durch die Romane des schottischen Autors befördert. „Normandie-Njemen“ hieß das französische Jagdgeschwader an der Seite der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Der neunzigjährige „Patriarch“, Brunos Kindheitsheld, flog in jenem Geschwader. Er war gut Freund mit hohen sowjetischen Militärs und geheimer Moskau-Emissär französischer Präsidenten. Dank Martin Walkers Schreibkunst passen Erinnerungen an die sowjetisch-französische Waffenbrüderschaft im Zweiten Weltkrieg oder Hintergründe des Putsches gegen Gorbatschow durchaus in die Idylle (Übersetzung: Michael Windgassen). Die Geschichtsbücher von Walker über den Zweiten Weltkrieg wurden zur Pflichtlektüre an Universitäten. Bruno ist seinem Idol ebenso verfallen wie dessen schöner Schwiegertochter Madeleine. Streitereien zwischen Grünen und Jägern setzen ihm zu, auch das Ende einer Beziehung. Doch er schöpft Verdacht, als ein pensionierter Oberst und alter Weggefährte des Patriarchen erst betrunken und am nächsten Morgen tot ist. Zu eilig wird ein selbst verschuldeter Tod diagnostiziert, zu überstürzt die Leiche verbrannt. Bruno ermittelt, dass der angeblich verarmte Oberst schwerreich war und dass ihm K.-o.-Tropfen eingeflößt wurden. Bei der Suche nach Hintergründen in Moskau, wo der Oberst als Militärattaché eingesetzt war, bringt der Autor seine fundierten Kenntnisse als ehemaliger MoskauKorrespondent des „Guardian“ ein. Das Charakterbild des Patriarchen wird durch ein Gerücht beschädigt, er habe mit politischer Denunziation beim KGB einen sowjetischen Nebenbuhler ausgeschaltet. Bruno findet heraus, wer ein privates Motiv hatte, den Oberst zum Schweigen zu bringen. Die Drohung, auch Bruno umzubringen, speichert dieser auf seinem Handy. Der Anschlag misslingt, und der Mord planende Mensch kommt zu Tode. Da spricht der Patriarch ein Machtwort: „Jagdunfall“. Bruno fügt sich und löscht die Aufzeichnung vom Handy. Ist die Vernichtung eines Beweismittels das erste Anzeichen von Resignation, oder wird er weiter ermitteln im schönen, manchmal mörderischen Périgord? Schumanniade Kreischa Auch mit 81 Jahren sehr mobil und aktiv: Schreier auf dem Rasenmäher, der gleichzeitig mulcht. Foto: Jürgen Helfricht p Schumanns Requiem für Solostimmen, Chor und Orgel mit dem Sächsischen Kammerchor und Matthias Eisenberg am 17. Juni, ab 20 Uhr in der Kirche Kreischa. p Schumanns „Minnespiel“ und Brahms „Liebeswalser“ u. a. mit den Pianisten Ragna Schirmer und Camillo Radicke am 18. Juni, ab 20 Uhr im Schloss Reinhardtsgrimma. p Schumann-Lieder für Klavier mit dem Newcomer Alexander Krichel am 19. Juni ab 11 Uhr, Schloss Reinhardtsgrimma. p Infos/Tickets: Tel. 035206 185558, Mail: [email protected] Hymnen-Orakel Die Ukraine steht wie ein Fels, doch Haydns Finesse wird siegen In Nationalhymnen spiegeln sich Geschichte und Selbstverständnis der Länder. Verraten sie etwas über das Können der Nationalelf? Von Gottfried Blumenstein B ereits Beethoven forderte: „Dem Manne muss die Musik Feuer aus dem Geist schlagen“. In diesem Sinne werden Fußball-Länderspiele angegangen, die kurz vor dem Anpfiff hymnisch eingeleitet werden. Aber was sagt die Musik über das kommende Spiel aus? Gibt es musikwissenschaftlich relevante Fixpunkte, die vom jeweiligen Notenbild ausgehend auf Spielverlauf und Ergebnis hindeuten? Wie passen – eine Hymne steht in Dur, die andere in Moll – die beiden Mannschaften auf dem Spielfeld zusammen? Kommt es da zu einer unschönen Kakophonie, von der bereits die alten Griechen einiges wussten? Bedeutet ein forscher Marschrhythmus HurraFußball ohne Rücksicht auf die Defense? Bringen Synkopen, die gegen den Takt gesetzt sind, die Abwehr gar ins Stolpern, verweist eine elegische Melodieführung auf einen melancholischen Mittelstürmer, oder erzeugt etwa eine Fermate, die auf dem Notenblatt eine Bogenlampe nachzeichnet, dass im Spiel vermehrt dieselben zu bestaunen sind? Fragen über Fragen also. Nichtsdestotrotz sei an dieser Stelle der Versuch unternommen, der Fußball-Europameisterschaft 2016 auch musikalisch eine Krone aufzusetzen, denn schließlich haben wir mit Frankreich ein Austragungsland, wo die berühmteste aller europäischen Nationalhymnen gesungen wird. Dass die anderen 23 Hymnen freilich auch ihre heroische Geschichte, ihre musikalischen Meriten und ihre erbaulichen Wirkungen für den Spielfluss haben, wird sich im Laufe der Meisterschaft erweisen, die für die deutsche Elf am Sonntag mit dem Spiel gegen die Ukraine beginnt. Ein erster Höreindruck der ukrainischen Hymne bestätigt sogleich, dass Jogis Jungs es hier mit einem harten Brocken zu tun bekommen. Die Musik mit ihrem getragenen slawischen Melos, 1865 komponiert von Mychailo Werbyzkyj, hat nichts Verspieltes, sondern türmt sich mächtig gewaltig auf wie ein Fels mit Fünferkette. Dies mag zwar von einer gewissen Hüftsteife in der Verteidigung künden, aber ein solches Bollwerk muss erst mal ausgespielt werden. Da macht vor allem der Mittelteil des Deutschlandliedes Mut. Dort waltet ein harmonisch trickreicher Geist, der kurzzeitig sogar zwei MollAkkorde einschiebt. Eine Meisterleistung Haydns, denn die eher schlichte Melodie gewinnt Finesse, die vor allem im Sturm gefragt ist. Hier wären durchaus Partiturkenntnisse des Trainerstabes hilfreich, der dann zu dem Schluss käme, Mario Gomez doch lieber auf der Bank zu belassen. Wenn es der deutschen Elf gelingt, Haydns Kunstfertigkeit in leichtfüßige Spielzüge umzusetzen, dürfte ein Sieg (3:2) möglich sein, zumal die ukrainische Hymne am Schluss ihrer eigenen Kraftentfaltung nicht so recht glaubt. Das stolze A-Dur löst sich auf und mündet im Schlussakkord in die Paralleltonart fis-Moll, von der der Musiktheoretiker Mattheson bereits im 18. Jahrhundert berichtete, dass dieser Tonart etwas „Ermattetes und Verlorenes“ innewohnt. Gottfried Blumenstein hat in Dresden Musik studiert, sich als Musikkritiker in der Welt umgetan und betreibt nun in Königswartha den Schwarzwasser Verlag. in Münchner Auktionshaus hat die Versteigerung angeblich persönlicher Gegenstände von Adolf Hitler und Hermann Göring angekündigt. Wie es auf der Homepage des Auktionshauses Hermann Historica heißt, kommen die Objekte am 18. Juni unter den Hammer. Sie sollen demnach aus der Sammlung des US-Arztes John K. Lattimer stammen, der während der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse für die medizinische Versorgung der Angeklagten verantwortlich war. Laut Wolfgang Hermann, Mitinhaber von Hermann Historica, habe das Auktionshaus die Sammlung von Lattimers Tochter bekommen. Die Sammlung umfasst auch den Messingbehälter für die Blausäure, mit der sich Göring kurz vor seiner geplanten Hinrichtung in Nürnberg umbrachte, seine Seidenunterhose, den Richterhammer sowie Röntgenaufnahmen Hitlers nach dem Attentat vom 20. Juli 1944. „In dem Umfeld der Nürnberger Prozesse waren so viele Menschen beteiligt, Wachpersonal, Ärzte, Psychologen. Da kann es durchaus sein, dass jemand etwas mitgenommen hat“, sagte der Historiker Andreas Mix vom Memorium Nürnberger Prozesse. Man müsse die Herkunft der Objekte genauer prüfen, aber da hielten Auktionshäuser sich oft bedeckt. „Historische Objekte haben natürlich eine Aura und der Richterhammer kann natürlich spannend sein, aber manche Objekte sind einfach geschmacklos, makaber und skurril.“ (dpa) „Zauberflöte“ mit Pferden auf der Felsenbühne Rathen. Die Landesbühnen Sachsen wollen ihrem Publikum ab diesem Sonnabend eine zauberhafte „Zauberflöte“ bieten. Bei Mozarts beliebtester Oper sind sogar Pferde auf der Bühne. Die drei Damen der Königin der Nacht sowie die Königin selbst kommen hoch zu Ross daher. Wie die Landesbühnen mitteilten, sind die Auftritte der Damen nicht die einzige Besonderheit in der Inszenierung von Operndirektor Jan Michael Horstmann, der auch dirigiert. Das Orchester hat eine eigene überdachte Bühne und sitzt nicht mehr im Orchestergraben, sodass der Klang erstaunlich gut ist. Mehrere Sänger stammen aus den USA. Als Studenten im German Opera Program der James Madison University in Harrisonburg (US-Bundesstaat Virginia) sammeln sie Praxiserfahrungen. Zudem agieren Kinderakrobaten aus Sebnitzer Schulen. Die Felsenbühne fasst 1 800 Zuschauer. Bis 11. September stehen zudem das Tanzstück „Momo“, die Weber-Oper „Der Freischütz“, die Schauspiele „Der Glöckner von Notre Dame“ und „Winnetou“ sowie die Märchen „Schneeweißchen und Rosenrot“ und „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ auf dem Spielplan. (SZ/bkl) NACHRICHTEN |||||||||||||||||||||||||||||||||||||| Sachsens Politprofis stellen sich satirischem Rededuell Dresden. Braucht Sachsen eine neue ImageKampagne? Aber ja doch, sagt die Landeszentrale für politische Bildung und sucht Ideen bei der sechsten Auflage des satirischen Redewettstreits „Wir reden uns um Kopf und Kragen“. Die Teilnehmer stellen am 20. Juni ab 20 Uhr auf dem Dresdner Theaterkahn in knappen Beiträgen ihre Slogans vor, zum Schluss wählt das Publikum den besten. Zu den Rednern gehören der CDU-Landtagsabgeordnete Christian Hartmann, die Ex-Grünen-Politikerin Antje Hermenau und TU-Politikprofessor Werner Patzelt. Für den satirischen Auftakt sorgt Kabarettist Philipp Schaller. (rab) Karten für 15/10 Euro (erm.) unter Tel. 0351 4969450 Unterirdisches Museum mit römischem Palast entsteht Köln. Im August soll in Köln der Bau eines großen unterirdischen Museums zur Stadtgeschichte beginnen. Für 61,5 Millionen Euro entsteht bis 2019 eine in dieser Form einzigartige Dauerausstellung unter der Erde: Auf einem 600 Meter langen Rundgang erlebt der Besucher den in den 50er-Jahren wiederentdeckten römischen Statthalterpalast, das in den vergangenen Jahren wieder ausgegrabene Judenviertel aus dem Mittelalter und das ehemalige Goldschmiedeviertel. „Das wird visuell nach allen Regeln der Kunst in Szene gesetzt“, sagte Museumsdirektor Thomas Otten. (dpa) SÄCHSISCHE ZEITUNG FEUILLETON |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| 22 ||||||||||||||||||||| D O N N E R S TA G 16. JUNI 2016 WWW. S Z - O N L I N E . D E / FE U I L L E TO N „Ick freu mir wie Bolle“ Paul McCartney gab auf seiner Tour gleich drei Konzerte in Deutschland. Zum Abschied feierten die Fans den Ex-Beatle in der Berliner Waldbühne. Von Andrej Sokolow P Das Gemälde aus dem 19. Jahrhundert zeigt Auswanderer auf der Donau bei Wackerstein nahe Ingolstadt. Sie schipperten in einer sogenannten Ulmer Schachtel, einer Art Hausboot (Modell siehe kleines Foto) die Donau hinab. Fotos: Stiftung Donauschwäbisches Zentralmuseum Ulm; Ronald Bonß Kommen und Gehen Das Dresdner Verkehrsmuseum erzählt in einer Sonderschau davon, was Menschen bewegt, ihre Heimat zu verlassen. Von Birgit Grimm U nterwegs sind Hugenotten, Donauschwaben, Juden, Ostpreußen, DDRBürger, BRD-Bürger, Vietnamesen, Italiener, Spanier, Griechen, Türken, Syrer, Gastund Vertragsarbeiter, Ingenieure, Künstler, Wissenschaftler, arme Leute, Verliebte, Steuerflüchtlinge. Ihre Verkehrsmittel: Pferdekutsche und Ulmer Schachtel, Dampfschiff und Leiterwagen, Eisenbahn und Heißluftballon, Leichtflugzeug und Schlauchboot, Luxuslimousine und Transporter, Linienflugzeug und Fernzug sind Fahrzeuge, die Menschen in ein anderes Land bringen, ihnen zu einem neuen, hoffentlich besseren Leben verhelfen. Was die Menschen weltweit bewegt, woanders hinzugehen, darüber erzählt das Dresdner Verkehrsmuseum ab jetzt spannende und abenteuerliche, dramatische und auf jeden Fall sehr persönliche Geschichten. Die neue Sonderausstellung mit dem schnöden Titel „Migration“ hat diese Geschichten so um die Fortbewegungsund Grenzüberwindungsgerätschaften gruppiert, dass nicht die Fahrzeuge, sondern die Menschen im Fokus stehen. Menschen suchten schon ein neues Zuhause, als das Rad noch nicht erfunden war. Ein 7 000 Jahre alter Kumpf ist der tönerne Beweis dafür, dass Menschen schon immer weite Wege auf sich nahmen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Diese Töpfe ohne Henkel, die Archäologen hier in Sachsen fanden, stammen aus dem Nahen Osten. Sie reisten mit den Bauern, die auf der Suche nach fruchtbarem Land waren und Ackerbau und Viehzucht hierher brachten. Waren diese Leute zu Fuß unterwegs? Sind sie geritten? Dann macht die Ausstellung einen großen Zeitsprung direkt ins 16. Jahrhundert und berichtet von den Hugenotten, also den französischen Protestanten, die aus dem katholischen Frankreich nach Deutschland flohen. Angerissen wird das Schicksal der sogenannten Donauschwaben im 19. Jahrhundert. Ein Pfarrer kommt ins Spiel, der davon erzählt, wie die Leute mit der „Ulmer Schachtel“ in ihr neues Leben schipperten. Das war keine alte Frau, sondern ein Boot, das am Ziel der Reise irgendwo in Ungarn oder Rumänien zum Wohnhaus umfunktioniert wurde. Nur sechs Prozent der Donauschwaben kamen tatsächlich aus dem Schwabenland, aber um Statistiken geht es im Verkehrsmuseum nicht. „Wir haben die Menschen hinter den Zahlen gefragt und uns erzählen lassen, was sie bewegt“, sagt Museumsdirektor Joachim Breuninger. Johann Karl Reichard, jener Pfarrer, der von den Donauschwaben berichtet, konnte freilich nicht persönlich befragt werden. Erster Zeitzeuge, der per Video Auskunft gibt, ist Josef Salomonovic. Als kleines Kind überlebte er die Gettos Litzmannstadt und Auschwitz und später auch den Bombenangriff auf Dresden. Die Deportation der Juden ist in der Schau als Sackgasse inszeniert. In diese dunklen Boxen muss der Besucher sich hineinbegeben. Bei allen anderen steht er neugierig, staunend, überrascht oder erschrocken davor. Die Geschichten sind so abenteuerlich oder so normal, die Motive sind so vielfältig wie die Menschen selbst. Ein schwarzes Schlauchboot steht im Zentrum der Ausstellung. Auch zeigt eine Glücklich gelandet: Die Familien Strelzyk und Wetzel aus Thüringen fuhren 1979 im selbst gebauten Ballon über die Grenze. Im bayerischen Naila nahm man sie freundlich auf. Für die Pressefotografen setzten sie sich am Morgen danach noch einmal in den Ballon. Jetzt ist das Fluchtfahrzeug ein Museumsexponat. Foto: © Museum Naila im Schusterhof, Naila Hymnen-Orakel Das wird kein Spaziergang nach Noten Von Gottfried Blumenstein S ehr schlau war es vom deutschen Trainerstab, im Spiel gegen die Ukraine Mario Gomez zu schonen, um das hymnische Wechselspiel zwischen Fels und Brandung nicht zu gefährden. Partiturkenntnis und Quirligkeit haben also zum Erfolg geführt, wobei ohne einen die Tonart beherrschenden Manuel Neuer das Spiel übel hätte ausgehen können. Gegen die polnische Mannschaft wird es heute ebenfalls kein Spaziergang nach Noten, denn das slawische Melos greift auch hier rustikal durch. Dabei gibt es eine Besonderheit, der man mit einer neuen Strategie Paroli bieten muss. Die polnische Hymne ist nämlich eine der seltenen Nationalhymnen, die mit einem vertänzelten ¾-Takt aufwarten. Allerdings nicht in verschmuster, sexuell aufgeladener Walzer- seligkeit, sondern im rassigen Mazurka-Stil. Das weist auf stark rhythmisierte Stürmerqualitäten hin, die sich momentan auf einen gewissen Robert Lewandowski fokussieren. Es gilt Alarmstufe F-Dur. Allerdings darf man hinter dem eher schwachen, aber gewonnenen Spiel der Polen gegen Nordirland einen Rosstäuschertrick mit falscher Quinte vermuten. Strategisch wäre es von Vorteil, die Verteidigung wäre wachsamer. Sie muss sich dafür nur auf den Ursprung der deutschen Hymne besinnen. Der Fama nach hat Haydn die Melodie im Burgenland aufgeschnappt, wo eine starke kroatische Minderheit lebt. Das bekannte altkroatische Volkslied „Stal se jesam rano jutro malo pred zoru“ ist in der Melodieführung deckungsgleich mit dem Deutschlandlied. Im ursprünglichen Text wird jedoch darauf verwiesen, dass es günstig ist, frühzeitig, al- so noch vor der Morgendämmerung, aufzustehen, um dem Tagwerk mit hellwachem Geist zu genügen. Hier sollte der Trainer den Hebel ansetzen, um den leicht verträumten Schlafzimmerblick der deutschen Abwehrrecken zu eliminieren, damit zumindest ein ehrenvolles Unentschieden (1:1) herausspringt. Ergänzend könnte man auch die Spielerfrauen ins Gebet nehmen, ihren Gatten frühmorgens zur Ermunterung Note für Note ins Ohr zu schmettern – freilich nur übers Telefon, denn das strikte Hausverbot für Anhängsel im EM-Quartier darf nicht gebrochen werden. Gottfried Blumenstein hat in Dresden Musik studiert, sich als Musikkritiker in der weiten Welt umgetan, ist wieder heimgekehrt in die Oberlausitz und betreibt in Königswartha den Schwarzwasser Verlag. absolut untaugliche Rettungsweste in Kindergröße, welches Risiko Menschen eingehen, wenn sie bei dubiosen Schleusern eine Schlauchbootfahrt übers Mittelmeer buchen. Aus einer lebensgefährlichen Situation manövrieren sie sich in die nächste. Es muss pure Verzweiflung sein, sich in so ein überfülltes Gummiboot zu setzen. Die Flucht wird zum Höllentrip, der viel zu oft nicht in Europa endet. Wie mag eine syrische Familie die Geschichte von der abenteuerlichen Ballonfahrt der Familien Strelzyk und Wetzel reflektieren? Vier Erwachsene und vier Kinder flohen im September 1979 mit einem selbst gebauten Ballon von Thüringen nach Bayern. Lange hatten die Familienväter an dem Fluchtfahrzeug getüftelt. Erst der dritte Ballon war reisetauglich für acht Personen, die sich um vier Propangasflaschen hockten. Der quadratische Ballonkorb, er sieht aus wie ein Boxring für Arme, kam in Naila, wo die Familien landeten, ins Museum. Jetzt steht er im Verkehrsmuseum, und man mag kaum glauben, dass damit die Flucht gelang. Eine halbe Stunde waren sie damit in der Luft, wohl sogar 2 000 Meter über dem Erdboden. Es ist heute nur schwer nachvollziehbar, warum sie sich diesem Risiko aussetzten. War es die pure Unzufriedenheit mit dem Eingeschlossensein in der DDR, Verbitterung? Oder spielten Übermut und Abenteuerlust nicht mindestens eine ebenso große Rolle? Michael Schlosser, der si-ch ein Leichtflugzeug baute, hatte nicht so viel Glück. Er wurde erwischt, als dem Flugzeug noch die Tragflächen fehlten. Nach zwei Jahren Haft kaufte ihn die BRD frei. Nicht nur über die Flucht aus der DDR und in die DDR, auch über Dresden als neue Heimat, über die Chancen und Risiken von Migration, über Syrien wird zu reden sein in diversen Podiumsdiskussionen im Verkehrsmuseum. aul McCartney live zu sehen, ist wie lebendiger Musikgeschichte zu begegnen. Allein die Vorstellung, dass da nicht irgendjemand „Let It Be“, „Yesterday“ oder „Lady Madonna“ singt, sondern der Mann, der diese Songs geschrieben hat. Einer der Beatles, jemand aus einer anderen Ära. Man hat sofort so viele Bilder vor Augen. Die 60er-Jahre, Pilzkopf-Frisuren, kreischende Fans. Das ist lange her, doch beim letzten Deutschland-Konzert seiner im April gestarteten „One On One“-Tour in Berlin bewies McCartney am Dienstag, dass er noch extrem gut in Schuss ist. McCartney ist 73, aber auf der Bühne sieht man es ihm keinen Moment an. Er spielt fast drei Stunden, er tanzt und hüpft, er rennt die Stufen zum Klavier hoch, er sucht den Augenkontakt zum Publikum, und immer wieder flimmert ein spitzbübisches Lächeln über sein Gesicht. McCartney lebt auf der Bühne, die Liebe der Fans ist sein Lebenselixier. Er weiß, wie er sie glücklich machen kann. Die Songs aus der Beatles-Ära lösen immer noch die größte Begeisterung aus. „A Hard Day’s Night“ als Auftakt bringt die rund 22 000 Menschen in der Berliner Waldbühne sofort in Bewegung. Kurz darauf folgt mit „Can’t Buy Me Love“ ein weiterer Klassiker. McCartney spricht die Zuschauer in ganz passablem Deutsch an: „Es freut mich, wieder hier zu sein.“ Und dann, weil es Berlin ist: „Ick freu mir wie Bolle.“ Mit Ukulele und Regenbogenfahne „Migration“ vom 16. Juni bis 30. Dezember 2016 im Verkehrsmuseum Dresden; Augustusplatz 1. Geöffnet dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr. Ab 25. Juni immer samstags,15 Uhr kostenlose Führung durch die Schau. Es folgten unter anderem „I’ve Got a Feeling“, „Here, There and Everywhere“ und „We Can Work It Out“. Spätestens nach „Love Me Do“ hatte McCartney das Publikum ganz in der Hand. Ein Chor aus tausenden Stimmen sang bei „Lady Madonna“, „Ob-La-Di, Ob-La-Da“ und „Hey Jude“ mit. George Harrisons „Something“ stimmte McCartney mit einer Ukulele an und ließ den Song gewohnt hymnisch ausklingen. Nach „Back in The U.S.S.R.“ erinnerte er sich, wie im Jahre 2003 nach dem Konzert auf dem Roten Platz in Moskau der damalige russische Verteidigungsminister bekannte, „Love Me Do“ sei die erste Platte gewesen, die er gekauft habe. Als letzte Zugabe gab es das volle Medley vom „Abbey Road“-Album mit „The End“ zum Ausklang. Die Ehre, am Schluss kurz zu McCartney auf die Bühne zu kommen, wurde diesmal einem Vater und Sohn aus Japan zuteil, die extra für das Konzert nach Berlin geflogen waren. Er unterschrieb für den Jungen einen Entschuldigungsbrief, weil dieser für die Reise fünf Tage Schulunterricht schwänzte. „Ausnahmsweise. Machen Sie das nicht mit ihren Kindern“, warnte ein gut aufgelegter McCartney das Publikum und signierte auch gleich die Sgt.-PepperUniformen der Japaner. Auch politische Statements scheute er nicht. In Gedenken an die Opfer des Anschlags in Orlando kam McCartney mit der Regenbogen-Fahne der Lesben- und Schwulenbewegung auf die Bühne. „Wir stehen gemeinsam mit Orlando“, rief er unter dem Applaus des Publikums. Und mitten in Brexit-Debatte und Fußball-Europameisterschaft schwenkte er eine Deutschlandfahne, während einer seiner Musiker den britischen „Union Jack“ hochhielt. (dpa) Luther und den Grimms aufs Maul geschaut Kunstankäufe des Freistaates ausgestellt Kassel. In der Grimmwelt Kassel wird den Gebrüdern Grimm und dem Reformator Martin Luther genau „aufs Maul geschaut“. Eine Ausstellung zeigt, wie Luther die deutsche Sprache geprägt und sich dies im Wirken der Brüder Grimm gespiegelt hat. Zu elf Redewendungen werden spielerische Installationen gezeigt – von „Alles hat seine Zeit“ über „Im Dunkeln tappen“ bis hin zu „Buch mit sieben Siegeln“. „Überall gibt es Möglichkeiten, selbst aktiv zu werden“, sagte Grimmwelt-Leiterin Susanne Völker am Mittwoch bei der Vorstellung der Ausstellung „Aufs Maul geschaut. Luther und Grimm wortwörtlich“ (16. Juni bis 31. Oktober). Sprichwörtlich „sein Scherflein beitragen“ kann der Besucher auch in einem SMS-Chat mit Luther. Über Signalwörter reagiert dieser auf SMS mit seinen Zitaten aus dem Wörterbuch. Die Antwort kommt ebenfalls per SMS und wird in der Ausstellung an eine Wand projiziert. Anlass der Schau ist der 500. Jahrestag der Reformation im kommenden Jahr. (dpa) Leipzig. Die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen hat im Rahmen ihrer Förderankäufe seit 2005 mehr als 450 Werke von rund 280 Künstlern im Wert von 1,6 Mio. Euro erworben. Mit diesen Ankäufen unterstützt die Kulturstiftung ungewöhnliche künstlerische Ansätze und fördert hoffnungsvolle Talente. „Zeitgenössische Kunst in Sachsen steht für Ideenreichtum, Vielfalt und Freiheit. Junge Künstler widmen sich mit voller Hingabe der Entwicklung einer eigenen künstlerischen Handschrift. So viel Leidenschaft, Wille und Energie verdienen größten Respekt und unsere Unterstützung“, sagt Stiftungsdirektor Ralph Lindner. Für die Ankäufe dieses Jahres hat ein unabhängiger Fachbeirat insgesamt 37 Künstlerinnen und Künstler nominiert. Bis zu 170 000 Euro stehen zur Verfügung. Die neu angekauften Arbeiten werden nach der Juryentscheidung in Halle 14 – Zentrum für zeitgenössische Kunst in Leipzig vom 25. Juni bis 17. Juli 2016 der Öffentlichkeit gezeigt. (SZ) SÄCHSISCHE ZEITUNG FEUILLETON |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| 12 ||||||||||||||||||||| D I E N S TA G 21. JUNI 2016 WWW. S Z - O N L I N E . D E / FE U I L L E TO N Gänsehautstimmung ohne Firlefanz Bruce Springsteen hat bei seinen zwei Deutschland-Konzerten weit mehr als 100 000 Fans begeistert. Dazu braucht er nicht viel mehr als seine Gitarre. U Wir vertreten das wahre Volk. Und nur wir! Foto: ddp images „Populismus“ wird meist als Schimpfwort verwendet. Ist es das wirklich – oder eher eine Auszeichnung? Von Andreas Wirthensohn G äbe es ein europäisches Wort des Jahres, „Populismus“ wäre ohne Zweifel ein heißer Anwärter auf den Titel. Wobei der Begriff ebenso gut zum Unwort des Jahres taugt. Nicht nur, weil Populismus ein weithin negativ besetzter Begriff ist; er wird auch nur selten beschreibend verwendet und noch seltener kritisch hinterfragt. Zumeist werden Populisten von ihren politischen Gegnern mit diesem abwertenden Etikett versehen. Die Alternative für Deutschland, die Freiheitlichen in Österreich, die SVP in der Schweiz, der Niederländer Geert Wilders, die britische UKIP, der Front National von Marine le Pen, die Regierungen in Ungarn und Polen – sie alle wirft man gerne in den Topf namens „Rechtspopulismus“. Rechtspopulistisch, das heißt dann: gegen Europa, gegen Ausländer, gegen Globalisierung, gegen „die da oben“. Oder zugespitzter: Die politische Alternative, die diese Populisten zu bieten haben, ist eine des destruktiven „Neins“. Daneben gibt es noch die Linkspopulisten, die in Gestalt von Syriza Griechenland regieren, in Spanien mit Podemos vielleicht bald an die Macht kommen und ansonsten vor allem in Lateinamerika zu finden sind. Als großes Vorbild gilt ihnen der einstige venezolanische Staatschef Hugo Chávez, wobei der inzwischen desolate Zustand dieses ölreichsten Landes der Welt diesen Populismus von links nicht gerade in ein strahlendes Licht taucht. Trotzdem hat die Linke „ihren“ Populismus von Anfang an offensiv und selbstbewusst mit diesem Etikett versehen. „Die rechte Revolution schöpft ihre Kraft aus einer Welle des Gefühls. Die Linken werden weggespült, wenn sie nur zusehen. Setzt dem rechten Populismus endlich einen linken entgegen!“ Fordert dieser Tage etwa der Publizist Jakob Augstein. Mit dem 2014 verstorbe- nen Ernesto Laclau, der in England Politische Theorie lehrte, und dessen Ehefrau Chantal Mouffe verfügt dieser Linkspopulismus als „Stimme der Unterdrückten“ sogar über eine Art theoretischen Überbau. Der einstige griechische Finanzminister Yannis Varoufakis und Oskar Lafontaine sind jedenfalls bekennende „Laclauianer“. Diese philosophische Grundierung fehlt den Rechtspopulisten noch weitgehend, doch auch sie haben den Populismusvorwurf inzwischen zu einer Art Ehrentitel gemacht. So ließ jüngst im österreichischen Wahlkampf ums Präsidentenamt der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer seinen Konkurrenten Alexander van der Bellen wissen: „Sie sind ein Kandidat der Schickeria, ich bin ein Kandidat der Menschen.“ Demokraten oder Antidemokraten? „Wenn unsere Volksvertreter ihre Aufgabe darin sehen, das Volk zu entmündigen, sollten wir selbstbewusst genug sein, den Vorwurf des Populismus als Auszeichnung zu betrachten.“ So verkündete es der ehemalige FAZ-Redakteur Konrad Adam 2013 auf dem Gründungsparteitag der AfD. „Und (wir sollten) alle Welt daran erinnern, dass die Demokratie insgesamt eine populistische Veranstaltung ist, weil sie das letzte Wort dem Volk erteilt: dem Volk, wie gesagt, nicht seinen Vertretern.“ Was also sind Populisten: eine demagogische Gefahr für die Demokratie, wie ihre Gegner behaupten? Oder, wie sie selbst glauben, die wahren Demokraten, die dem Volk als eigentlichem Souverän wieder zu seinem Recht verhelfen? Etwas Licht in diese Begriffsschlacht bringt jetzt das ebenso kluge wie besonnene Essay „Was ist Populismus?“ des in den USA lehrenden Politikwissenschaftlers JanWerner Müller (Suhrkamp, 160 S., 15 €). Er versucht sich an einer Definition des Phänomens, die nicht die politischen Inhalte in den Mittelpunkt rückt, sondern das Verständnis von „Demokratie“ und „Volk“, von dem sich Populisten leiten lassen. Müller will den Begriff aus der politischen Kampfzone holen und damit vermeiden, was der Politologe Ralf Dahrendorf schon 2003 beklagt hat: „Der Populismus-Vorwurf kann selbst populistisch sein, ein demagogischer Ersatz für Argumente.“ Oder anders gewendet: Müller betreibt argumentative Arbeit am Begriff, ohne darüber das Normative, also die Frage, ob Populismus gut oder schlecht für die Demokratie ist, aus dem Auge zu verlieren. Nun ist der demokratische Wettstreit als solcher ein Buhlen ums Volk: Die Parteien werben um Zustimmung für ihre Positionen und Vorhaben, und wer am Ende eine Mehrheit organisiert, darf regieren. Insofern ist es in gewisser Weise völlig normal, wenn sich auch Parteien wie die AfD, die FPÖ oder der FN an Wahlen beteiligen. Problematisch wird der populistische Ansatz dann, wenn aus dem Anspruch dieser Populisten, auch sie würden das Volk repräsentieren, die Behauptung wird: „Wir – und nur wir – vertreten das wahre Volk.“ Das heißt, der Reflex gegen Eliten und „Establishment“, der alle Populisten eint, mündet oft in einen Antipluralismus, der einen vermeintlich homogenen Volkswillen gegen „die da oben“ in Stellung bringt. Was das dann in der konkreten Regierungspraxis heißt, lässt sich gerade in Polen oder Ungarn beobachten: Einmal an der Macht, kommt es nicht, wie manche gerne glauben wollen, zu einer „Entzauberung“ der Neinsager. Vielmehr ist es so, dass „Populisten den Staat vereinnahmen, checks and balances schwächen oder gar ausschalten, Massenklientelismus betreiben und jegliche Opposition in der Zivilgesellschaft oder den Medien zu diskreditieren suchen“, so Werner Müller. Das „wahre Volk“, das empirisch gar nicht existiert, wird sozusagen im Zuge eines moralisch aufgeladenen Freund-Feind-Denkens herauspräpariert. Für Pluralität ist darin jedenfalls kein Platz, ebenso wenig wie beim Linkspopulismus. Wie also umgehen mit dieser populistischen Gefahr, ohne in die gleichen Verhaltensmuster (Ausschluss, Moralisierung) zu verfallen? „In Fällen, in denen Populisten Volksverhetzung betreiben oder gar zur Gewalt aufrufen, greift das Strafrecht“, stellt Müller klar. „In allen anderen jedoch – so persönlich unangenehm oder politisch unappetitlich dies auch sein mag – muss man nun mal die Ansprüche, und nicht nur die vermeintlichen Ängste, der Bürger ernst nehmen.“ Mit einem „Aufstand der Anständigen“, die sich ob ihres Anstands gegenseitig auf die Schultern klopfen, sei es aber nicht getan. Parlament schwach – Populist stark! Ralf Dahrendorf hat 2003 vor allem einen Grund für das Erstarken von Populisten ausgemacht: die Schwächung von Parlamenten. Das gilt heute mehr denn je. Wo es keine erkennbare parlamentarische Opposition mehr gibt (etwa in der Eurokrise oder in der Flüchtlingsfrage), wo Parlamente gar nicht oder unzureichend einbezogen werden (wie bei TTIP) und wo die Debatten aus dem Plenum in die Fernsehtalkshows auswandern – dort findet der Populismus mit seinem außer- und antiparlamentarischen Gestus reichen Nährboden. Insofern ist er vielleicht auch eine Chance, neu über Demokratie nachzudenken. Dass sich ausgerechnet Pegida laut Satzung die „Förderung politischer Wahrnehmungsfähigkeit und politischen Verantwortungsbewusstseins“ auf die Fahnen geschrieben hat, mag für Nichtpegidisten wie Hohn klingen. Dabei wäre es nicht das Schlechteste, wenn Populisten wenigstens dazu einen Beitrag leisteten. Von Gottfried Blumenstein S portlich dürfte es mit den Nordiren, die in der Weltrangliste unter „ferner liefen“ rangieren, selbst für einen schwächelnden Weltmeister keine Probleme geben. Jedoch musikalisch türmen sich gewaltige Ungereimtheiten auf, die den Spielfluss auf dem Rasen empfindlich stören könnten. Da Nordirland Teil des Vereinigten Königreiches ist, singen bei offiziellen Anlässen die Nordiren die englische Nationalhymne „God Save the Queen“. Dass die Waliser, ebenfalls zum Vereinigten Königreich gehörend, bei der EM ihre eigene walisische Hymne singen dürfen, zeigt, dass in Downing Street 10 im Falle der Nordiren mit härteren Bandagen agiert wird. Das wiederum führt dazu, dass die durchaus sangesfreudigen Nordiren, wenn sie als Katholiken daherkommen, für die Königin lieber gar nicht ihre Stimme erheben wollen. Ganz verwirrend wird es, wenn im Achtelfinale, was durchaus passieren könnte, falls Jogis Buben ganz von der Rolle springen, Eng- land auf Nordirland trifft. Dann wird laut Uefa-Statut „God Save the Queen“ nur einmal gespielt, was dann hoffentlich nicht dazu führt, dass die Spieler nicht mehr wissen, wo das Tor steht, in das sie hineinschießen sollen wollen. Hier helfen möglicherweise grellbunte Leibchen, schräg toupierte Frisuren und feuerspeiende Tattoos der Torwächter weiter. Rein musikalisch ist „God Save the Queen“ ein Hit, dessen Ohrwurmqualität das Deutschlandlied in den Schatten stellt. Als Nationalhymne war die Melodie in Ländern wie Dänemark, Russland, der Schweiz aktiv. Selbst „Gott segne das Sachsenland“ folgte der englischen Melodei, wobei, um das Kraut fett zu machen, der Komponist der Franzose Lully gewesen sein könnte. Das lässt sich zwar aufgrund fehlender Originalquellen nicht beweisen. Aber es gibt einige harte Indizien, die allerdings in der letzten gedruckten Ausgabe des berühmten englischen Musiklexikons „The New Grove“ pietätvoll verschwiegen werden. Der wunderbare Trick des Songs besteht darin, dass es nach einem ziemlich verhaltenen Beginn fast zu einem melodischen Stillstand kommt, um urplötzlich einen Quintsprung vom eingestrichenen G zum zweigestrichenen D zu vollführen. Beim Singen wird er mit sichtlichem Vergnügen herausgebrüllt, egal, ob der Ton sitzt oder haarscharf danebenknallt. Das macht schon was her und wird auf dem Spielfeld adäquat als „Kick and Rush“ umgesetzt, den die Mannschaften von der Insel so lieben. Erfolgreich ist solcherart Fußball bei internationalen Meisterschaften in der Regel nicht. Die deutsche Mannschaft muss diesem mutigen, aber eben auch einfältigen Hurra-Gebolze ein bisschen strategische Finesse mit eingestreuten Mollakkorden in Form von Querpässen entgegensetzen und ansonsten „Hacke, Spitze, Pas de deux“ walten lassen, was zu einem noblen Endstand von 3:1 führen könnte. Gottfried Blumenstein hat in Dresden Musik studiert, sich als Musikkritiker in der Welt umgetan, ist heimgekehrt in die Oberlausitz und betreibt den Schwarzwasser Verlag. Tuchfühlung mit dem Publikum Für den Jubel seiner Fans braucht der Boss auch keine große Licht-Show, keine künstlichen Effekte, keinen Firlefanz. Für die bewegendsten Momente reicht seine Akustikgitarre oder seine Mundharmonika. Und Springsteen sucht den Kontakt mit seinen Fans: Ein ums andere Mal geht er mit dem Publikum auf Tuchfühlung, schüttelt unzählige Hände. Er holt sich einen Jungen auf die Bühne, der mal eben mit ihm zusammen Gitarre spielen darf. Oder ein kleines Mädchen, das „Waitin‘ on a Sunny Day“ ins Mikrofon singen darf. Dann der Schluss. Die Band hat die Bühne schon verlassen, da richten sich zum letzten Mal die Scheinwerfer auf Springsteen. Nur mit Gitarre und Mundharmonika steht er da, spielt, singt, auch wenn er nicht mehr jeden hohen Ton hundertprozentig trifft, nach bald dreieinhalb Stunden ohne Pause: dieses stille, leise „For You“. Gänsehautstimmung. (dpa) „The Boss“ begeistert sein Publikum mit handgemachter Musik. Foto: dpa Warum die Tante sauer war Hymnen-Orakel Musikalisch Ungereimtes führt zu einem noblen 3:1 m 19.10 Uhr betritt der „Boss“ die Bühne. Und während immer noch Tausende Fans ins Münchner Olympiastadion strömen, legt Bruce Springsteen sofort los – er hat keine Zeit zu verlieren. Fast dreieinhalb Stunden wird er am Ende auch dieses Abends auf der Bühne gestanden haben, ebenso wie zwei Tage später in Berlin. Die Fans sind begeistert, 57 000 waren es in München, 67 000 in der Hauptstadt. Sie alle erleben einen bestens gelaunten 66-Jährigen, der von Beginn an sichtlich Spaß auf der Bühne hat. Einmal fliegt ihm vor lauter Schwung sogar das Mikro aus der Hand. Mehr als 30 Titel spielen Springsteen und seine „E Street Band“, darunter neuere Songs, aber auch einige Lieder seines 1980 erschienenen Albums „The River“, das der aktuellen Tour den Namen gegeben hat. Vor allem packt Springsteen eine ganze Fülle seiner großen Klassiker aus seinem noch größeren Repertoire aus, darunter „Born in the USA“, „I’m on Fire“ und „Born to Run“. Das Publikum zieht mit, singt mit, tanzt mit – und das, obwohl Springsteen, wenn man ganz oben im weiten Rund steht, auf der Bühne nur zu erahnen ist. Stadtführer Christoph Pötzsch zeigt wenig beleuchtete Ecken in der sächsischen Geschichte. Von Karin Großmann T ony Buddenbrook gilt als niedlich, aber nicht besonders intelligent. Sie wird gegen ihren Willen verheiratet, und auch die zweite Ehe geht schief. Tony schlägt sich mit Überlebenskunststücken durch. Das Vorbild für diese Romanfigur fand Thomas Mann in der eigenen Familie. Seine Tante Elisabeth Amalie Hyppolitha lebte bis zu ihrem Tod 1917 in Dresden. Das Haus in der Regerstraße steht noch. Wenn Christoph Pötzsch bei einer Stadtführung an der Nummer 27 hält, erzählt er, dass die Tante zunächst nicht amüsiert war, ihre Lebensgeschichte in aller Ausführlichkeit im Roman zu lesen. Doch nach einem Geheimtreffen mit dem Neffen im Lahmann’schen Sanatorium habe sie ihm verziehen. Den Familienskandal hat Christoph Pötzsch in sein jüngstes Buch aufgenommen. Darin erzählt er Geschichten, die noch nicht hundertmal platt gewalzt wurden. Die Fakten verpackt er mit literarischer Leichtigkeit. Und auch wenn er die konkrete historische Situation bildhaft beschreibt und etwa Napoleon ungeduldig mit den Fingern auf den Kaminsims trommeln lässt, so schreibt er doch aus heutiger Sicht. Pötzsch zeigt: Sächsische Geschichte hat mehr zu bieten als einen starken August und dessen Mätressen. Zum Beispiel eine Säule am Rand von Lauterbach im Stolpener Land. Sie erinnert an eine Datumsgrenze im 16. Jahrhundert. Während auf der katholischen Seite der neue gregorianische Kalender galt, folgten die Protestanten noch dem julianischen. Christoph Pötzsch macht das Behördenchaos anschaulich, das aus der Differenz von zehn Tagen entstand. Er erzählt auch die Anekdote von dem Trunkenbold, der vom Pfarrer am Karfreitag zu Unrecht gescholten wird – dort, wo der Mann gesoffen hat, war Ostern schon vorbei. Im Hauptberuf leitet Pötzsch das Katholische Büro Sachsen. Im Nebenberuf bringt er Geschichte zum Funkeln. Mehr als ein halbes Dutzend Bücher bezeugen seine Produktivität und eine Entdeckerlust, die von Bischof Benno bis Lenin reicht. Christoph Pötzsch: Wahre Geschichten um das unbekannte Sachsen. Tauchaer Verlag, 80 S., 10,95 € Buchpremiere: 22. Juni, 20 Uhr, im Pfarrhaus der katholischen Pfarrei Dresden-Strehlen, Dohnaer Str. 53 FEUILLETON 16 ||||||||||||||||||||| |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| SÄCHSISCHE ZEITUNG S O N N AB E N D / S O N N TA G 25./26. JUNI 2016 WWW. S Z - O N L I N E . D E / FE U I L L E TO N Hymnen-Orakel In der Verlängerung stehen alle Tore offen Wenn die Slowaken so spielen, wie ihre Hymne klingt, dann wird das Achtelfinale ein schnörkelloser Wettkampf. Von Gottfried Blumenstein J Engagiert und scharfsinnig: Carolin Emcke verteidigt in ihren Essays das Denken und Handeln jenseits von Schubkästen. Foto: dpa Lust auf die Vielheit Die Publizistin Carolin Emcke, die im Vorjahr in Kamenz geehrt wurde, erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für ihre kritischen Analysen. Von Karin Großmann D ie Begrüßung ist artig, die Musik ist es auch, der Blumenstrauß steht bereit. Sektgläser klirren im Hintergrund. Doch Carolin Emcke verdirbt die Stimmung. Am Ende wird es kaum Beifall geben, aber heftigen Streit im Treppenhaus. In Kamenz wurde die Publizistin im vorigen Jahr mit dem Lessingpreis des Freistaates Sachsen geehrt. Manche Gäste im Ratssaal fühlen sich durch die Rede von Carolin Emcke provoziert. Sie fragt nach den Gründen für menschenverachtenden Fanatismus und findet sie nicht nur bei Rechtsextremen oder Randständigen, sondern in der Mitte der Gesellschaft. Auch bei gut ausgebildeten Politikern. „Da werden Projektionen mit Fakten verwechselt, Hass als Kritik umetikettiert, Ressentiments als Angst ausgegeben, Nationalismus als Stolz – für wie blöd halten die uns eigentlich?“ Leidenschaftlich plädiert sie in Kamenz dafür, dass der Islam zu Deutschland gehört, und dass Flüchtlinge im Land Schutz vor Verfolgung finden und nicht erneut verfolgt oder verfemt werden. Ein leidenschaftlicher und zupackender Ton bestimmt auch die Texte, die Carolin Emcke schreibt. Sie schildere auf sehr persönliche Weise, wie Gewalt, Hass und Sprachlosigkeit Menschen verändern können, meint der Börsenverein. Der Verband der Verleger und Buchhändler verleiht der 48-jährigen Publizistin in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der mit 25 000 Euro dotierte Preis wird im Oktober zum Abschluss der Buchmesse in Frankfurt am Main übergeben. Zu den Ausgezeichneten gehören Günter Grass, Martin Walser, Friedrich Schorlemmer, Navid Kermani, Jürgen Habermas, David Grossman. Nach einer Frau muss man in dieser Runde eine Weile suchen. Nicht nur deshalb ist die Entscheidung erfreulich. Unterwegs in Krisengebieten Carolin Emcke beherrscht etwas, was vielen anderen in der Branche fehlt. Sie kennt die Theorie und das Leben und kann beides miteinander verbinden. Sie beschreibt den Einzelfall und analysiert den Mechanismus dahinter. Nach dem Studium von Philosophie, Politik und Geschichte promovierte sie über „Kollektive Identitäten“, was die gelehrten Zitate in ihren Essays erklärt. Danach jedoch arbeitete sie als Reporterin für Spiegel und Zeit und war unterwegs in den Krisengebieten der Welt, in Afghanistan, Pakistan und Kolumbien, im Kosovo, im Gazastreifen und auf Haiti. „Das Erste, was im Krieg stirbt, ist die Gewissheit“, so beginnt eine ihrer Reportagen aus der nordirakischen Stadt Kirkuk. „Der erste Schuss fällt nach fünf Minuten.“ In einer solchen Lage erübrigt sich die Position des distanzierten Beobachtens. Carolin Emcke steht nicht abwartend am Rand. Sie ergreift Partei für Menschen, die der Macht anderer ausgesetzt sind und sich selbst nicht wehren können. Die sich nach einem grauenvollen Erleben aus Angst, Scham oder Schmerz in das Schweigen zurückziehen – und damit doppelt zum Opfer werden. Die ausgegrenzt, stigmatisiert und verletzt werden. Ihnen gibt die Autorin eine Stimme. Dabei verlässt sie sich nicht nur auf ihre Menschenkenntnis oder auf Geschichten vom Hörensagen. Sie recherchiert und sammelt Indizien und versucht das vorschnelle Urteil zu meiden. „Noch das dummbatzigste, selbstgefälligste Ekelpaket kann unschuldig sein“, heißt es in einer der Kolumnen, die Carolin Emcke seit 2014 regelmäßig für die Süddeutsche Zeitung schreibt. Im Zweifelsfall für den Zweifel, für Ironie und aufklärerischen Geist – diese Haltung bestimmt ihre Texte. Kraftvoll und einfühlsam zugleich streitet die Publizistin gegen eine dogmatische Einteilung der Welt und gegen Schubkästen, in die möglichst jeder Mensch passen sollte. Ihr eigenes Konzept verteidigt eine offene Gesellschaft mit der Vielheit aller möglichen Schattierungen. Demokratie, meint die Wahlberlinerin Carolin Emcke, ist nur zu verwirklichen mit der Lust auf Pluralität – und mit dem Mut, dem Hass zu widersprechen. „Gegen den Hass“ ist auch der Titel ihres Buches, das im Herbst bei S. Fischer erscheint. Zwischen Erdbeermond und Urlaubssonne ährend gestern der Erdbeermond hinter meinem Balkon in den Bäumen hing, werde ich schon morgen die Abendrotsonne am Horizont ins Wasser fallen sehen. Noch einmal durchsuche ich die Breakingnews in Sehnsucht nach Urlaubsidylle. Soeben fordert die Kanzlerin entschieden höhere Rüstungsausgaben vergleichbar mit denen im US-Haushalt, und unsere Kriegsministerin schickt im Auftrag der NATO-Generäle ihre Bundeswehr an die ostlitauische Grenze, als lauere dort ein Russenheer mit blutigen Messern im Mund auf den ersten Überfall. Ich lese im Grundgesetz nach und finde jenen § 80, der für den, der durch sein Handeln „… die Gefahr eines Krieges für Deutschland herbeiführt, lebenslange Freiheitsstrafe“ fordert. Ich höre schon die Möwen über dem Meer, das seine Wellengischt wie auf einem Emil-Nolde-Gemälde an den Strand treibt, und ich muss in diesem Augenblick sehr fest daran glauben, dass unsere Kanzlerin die nette friedensnobelpreisverdächtige Flüchtlingsmutti ist und nicht Obamas Freudenmädchen mit der inneren Mission, Amerika einen Gefallen zu tun. Meine Zeitung hilft mir, die verschwörungstheoretischen Gedanken zu vertreiben, denn ich sehe auf der Titelseite ein Foto, das amerikanische Soldaten auf |||||||||||||||||||||||| W ||| Friede, Freude, Eierkuchen statt Kriegslust und Konflikte suchen. ||||||||||||||||||||||||||||||||||||| Satirischer Nachschlag ||||||||||||||||||||||||||||||||||||| Von Wolfgang Schaller ihrer Reise gen Osten in Cowboyhüten zeigt. Und gegen unterhaltende wildwestliche Cowboyspiele mit dem wildöstlichen Putin kann ja niemand was haben. Zumal Putin zurzeit sowieso das Phantom der Doper ist und als halbnackter gedopter Muskel-Athlet nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen darf. Ich lese, dass Görings Unterhose versteigert wurde, und ich ahne, wer am braunen Geruch Gefallen finden könnte. Aber ich sage es nicht. Es ist ja geheim. Nicht geheim war die Hochzeit von Daniela Katzenberger. Dass das Überbleibsel antiker griechischer Hochkultur Costa Cordalis einen Sohn gezeugt hat, war schon beunruhigend genug, aber dass dieser Sohn nun auch noch eine deutsche Blondine geschwängert hat, muss jedem arischen AfDAnhänger den letzten Verstand geraubt haben. RTL hat die gesamte Hochzeit übertragen, was so spannend war, als würde bei Ikea ein Klappstuhl umfallen. Ich jedenfalls freue mich, dass unsere liebenswerte fleischgewordene Silicon-Valley mich an ihrem Glück teilnehmen ließ und bin schon gespannt, wenn RTL ihre Darmspiegelung live überträgt. Während ich die Badehose in den Koffer packe, vorsorglich, falls es im Wasser zu kühl wird, überträgt ARD einen letzten Stimmungstest aus dem großen Britannien. Ein EUfreundlicher Engländer brät als Symbol seiner europäischen Toleranz eine Bratwurst auf einem Grill, aber dem Königreich wurde schon immer eine Extrawurst gebraten, und ich denke, ob Brexit oder nicht, diese Wurst wird künftig noch größer sein. Mir kam die Drohung, aus dem vereinten Europa auszutreten sowieso vor wie die Drohung gegenüber einer Leiche, man wolle nicht mehr mit ihr leben. Aber vielleicht wird aus dem Europa der Konzerne doch noch einmal ein Europa der Menschen – in Urlaubsstimmung kommen mir manchmal so absurde Gedanken. Brüder unterm Himmelszelt. Die letzte Nachricht teilt mir mit, dass Raser künftig bis zu 1 000 Euro Strafe zahlen sollen. Was mich nicht berührt, denn ich fahre immer so langsam, dass mich die Polizei malen könnte. Schnell noch die altersgerechten Tabletten in den Koffer und ein letzter Blick auf die Lokalseite, die von einem Wettbewerb der Klinikärzte berichtet unter der Überschrift BAUCHCHIRURG SCHNEIDET HERVORRAGEND ab. Was mich ungeheuer beruhigt, falls die anderen Nachrichten aus dieser Welt meinen Blinddarm vor Wut platzen lassen. Unser Kolumnist ist Kabarettist, Autor und künstlerischer Leiter der Dresdner Herkuleskeule. Sie erreichen ihn per E-Mail: [email protected]. etzt ist Schluss mit lustig. Die EM ist in die Knock-out-Phase eingetreten. Nach spätestens 120 Minuten und Elferschießen liegt der Verlierer sang- und klanglos am Boden und der Sieger tiriliert stolz wie Zickenschulze. Wer in die nächste Runde kommen will, muss Wunderheiler, Motivationskünstler und Geldbriefträger ins Boot holen und die gesamte Kraftentfaltung der Hymnenmusik in energetische Bahnen lenken. Das Weltmeisterbetreuungsteam weiß hoffentlich, was es am variantenreich harmonisierten Deutschlandlied hat und welche Elemente in der Interpretation herausgearbeitet werden müssen, um der slowakischen Hymne Paroli zu bieten. Vor ein paar Wochen ging das allerdings schief. Da wurde ein Freundschaftsspiel gegen die Slowaken im Stile von David Garrett vergeigt. Nicht weiter schlimm, wenn man es am Sonntag besser macht. Von 1919 bis 1992 bildete die slowakische Hymne den zweiten Teil der tschechoslowakischen Nationalhymne. Das war fußballerisch durchaus sinnvoll, denn der schwermütige, wenngleich künstlerisch wertvolle tschechische Part, zog die Spieler runter. Durch den kernigen, von Blitz und Donner in der Tatra kündenden slowaki- schen Furiant wurden sie wieder aufgeweckt. Mit der Doppelhymne im Ohr wurde die ČSSR immerhin zweimal Vizeweltmeister und einmal Europameister. Dass Tschechen und Slowaken jetzt ihr Liedchen für sich singen, bekam den Tschechen bei der EM gar nicht gut. Sie sind ausgeschieden. Die Slowaken dürfen im Orchester der Großen weiter mitspielen. Melodisch fällt auf, dass sich das Spielgeschehen eng begrenzt auf einen Quintraum fokussiert. Da wird es keine großen Finessen mit Oktavsprüngen, also Fallrückziehern, geben, sondern schnörkellosen Fußball in eingegrenzter, aber dafür nach vorn treibender Stimmführung. Das kann für die deutsche Elf gefährlich werden, denn in der Bassregion werden die Slowaken wenig zulassen. Donnerwetter droht im Sturm mit Marek Hamsik. Hier sollte die strategische Ausrichtung der Deutschen auf eine Spielberuhigung zielen, die aus den feinen Haydn’schen Harmonien schöpft und hin und wieder mit einer Bananenflanke (Fermate!) abgeschlossen werden könnte. Ob Mario Gomez diesen Gedankenball aufnehmen und verwerten kann? Vor dem Chancentod ist niemand gefeit, selbst Thomas Müller nicht. Vermutlich geht es in die Verlängerung, und dann stehen wegen Ermattung alle Tore offen. Germany wins! Musikkritiker Gottfried Blumenstein hat in Dresden Musik studiert und betreibt jetzt den Schwarzwasser Verlag. Sinfonisches Erinnern Die Sächsische Staatskapelle bot unter Franz Welser-Möst die „Leningrader“ am Elbufer. Von Karsten Blüthgen V iel Gutes bei diesem Open Air der Sächsischen Staatskapelle am Donnerstag in Dresden: Auf dem Programm stand die „Leningrader“. Dmitri Schostakowitsch komponierte diese, seine siebente Sinfonie 1941 während der Blockade der Stadt im Zweiten Weltkrieg. Fast auf den Tag genau 75 Jahre nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion erklang am Königsufer dieses Schlüsselwerk. Kommunisten hatten die „Leningrader“ für Propaganda benutzt. Gemeint hatte Schostakowitsch jedoch viele Feinde der Menschheit. Die Staatskapelle habe dieses Werk in Dresden mit „besonderer Verantwortung“ zu spielen, sagte Orchestervorstand Bernward Gruner vorab. Dass geschätzt 4 400 Besucher bei schönstem Wetter kamen, freute besonders Orchesterdirektor Jan Nast. Schon der Freiluftabend „Klassik picknickt“ am vergangenen Wochenende war mit 3 500 Gästen ausverkauft. Die kleinen Auftritte von Kapellmusikern jüngst in elf Neustadt-Kneipen kamen an. „Wir stehen etwas unter dem Generalverdacht, nur Eliten zu bedienen“, so Nast. „Das stimmt nicht. Wir wollen einfach beste Qualität bieten.“ Die kam auch am Donnerstag von der Bühne – abgesehen vom Fauxpas des Moderators Axel Brüggemann. Als Dirigent Franz Welser-Möst das Orchester stimmen lassen wollte, erwiderte Brüggemann, dies sei bei Schostakowitsch manchmal egal. Welser-Möst, Musikdirektor des Cleveland Orchestra, fand für sein überfälliges Debüt bei der Sächsischen Staatskapelle an diesem Abend keine Idealbedingungen. Doch Klang stand hier nicht im Vordergrund, sondern Symbolik. Und die Musik sprach an. Einsamkeit und Resignation, Trauer und Trotz, Gewalt und Groteske – all dies war enthalten. Großer Jubel nach 80 Minuten – die sich als Auftakt lesen lassen zu den Schostakowitsch-Tagen am Wochenende in Gohrisch. Restkarten gibt es noch. NACHRICHTEN |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| Neuer Präsident des Rechtschreibrats Led Zeppelins „Stairway to Heaven“ ist nicht geklaut Vaduz. Der ehemalige Staatssekretär im niedersächsischen Wissenschaftsministerium Josef Lange ist neuer Vorsitzender des Rats für deutsche Rechtschreibung. Das Gremium wählte den 68-Jährigen am Freitag in Vaduz einstimmig zum Nachfolger des Ex-CSU-Politikers Hans Zehetmair. Seit dem Streit um die Rechtschreibreform von 1996 ist der Rat die maßgebliche Instanz in allen Zweifelsfällen. Er hat 40 Mitglieder aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Der Theologe und Historiker Lange war in den 1990er-Jahren Generalsekretär der Hochschulrektorenkonferenz. (dpa) q „Offener Brief“ – Magazin Los Angeles. Im Plagiatsprozess um die Rock-Hymne „Stairway to Heaven“ hat die angeklagte Band Led Zeppelin einen Erfolg errungen. Sänger Robert Plant und Gitarrist Jimmy Page kupferten nicht vom angeblichen Plagiatsvorbild „Taurus“ der Band Spirit ab, entschied eine Jury am Donnerstag in Los Angeles. Für ihre Entscheidung über den 1971 veröffentlichten Hit benötigten die Geschworenen weniger als einen Tag. Led Zeppelin habe zwar Zugang zu „Taurus“ gehabt, den Song also gekannt. Es gebe aber keine maßgeblichen Ähnlichkeiten der beiden Titel, begründete das Gericht seine Entscheidung. (dpa) Und wo bleibt die Akademie der Künste? Böhmermann für Grimme Online Award nominiert Dresden. Nachdem am Mittwoch bekannt wurde, dass der Freistaat Sachsen das Blockhaus für das „Archiv der Avantgarden“ sanieren wird, fragt die Sächsische Akademie der Künste nun nach ihrem Verbleib. Die Akademie musste nach dem Hochwasser 2013 aus dem Blockhaus ausziehen und ist derzeit am Palaisplatz untergebracht. In einem offenen Brief an Wissenschafts- und Kunstministerin Eva-Maria Stange schreibt Akademie-Präsident Wilfried Krätzschmar, dass er es begrüßt hätte, wenn mit der aktuellen Entscheidung für das Blockhaus auch die Standortfrage der Akademie geklärt worden wäre. (SZ) Köln. Zum 16. Mal wird am Freitag der Grimme Online Award verliehen. Mit dem Preis zeichnet das Grimme-Institut herausragende Netz-Angebote aus. Das Interesse an der Verleihung ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Zu den Nominierten gehört dieses Mal auch der Fernseh-Satiriker Jan Böhmermann. Die Entscheidung dafür fiel nach Angaben des GrimmeInstituts aber schon vor seinem aufsehenerregenden Schmähgedicht über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Insgesamt sind 28 Webangebote in vier Kategorien nominiert – vom Twitter-Kanal bis zur Multimedia-Reportage. (dpa) FEUILLETON 14 ||||||||||||||||||||| |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| SÄCHSISCHE ZEITUNG Wenn ein arroganter Dandy die Liebe verschmäht Verletzte Seelen Krach in Bayreuth: Kurz vor der „Parsifal“-Premiere wirft der Dirigent Andris Nelsons hin. Dresdens Chef Christian Thielemann soll schuld sein. Neu in der Semperoper: „Eugen Onegin“ als ergreifendes Drama in mitreißender Musik. Von Jens Daniel Schubert Von Sophie Rohrmeier T atjana erinnert sich. Sie hat der Ehe wegen die Liebe ihres Lebens zurückgewiesen. In das Palais des Fürsten Gremin, ihres Gatten, schieben sich die Erinnerungen. Sie zeigen, wie alles begann mit dem Mann, der sie einst demütigend verschmäht hat: Eugen Onegin. Tschaikowskys gleichnamige Oper feierte als Fest der Musik und der Sänger am Donnerstag Premiere in der Semperoper. Das Publikum war begeistert, gab schon zwischendurch reichlich Szenenapplaus! Durchweg schlüssig ist das Regiekonzept nicht. Manches lässt sich nachdenkend entschlüsseln. Viele gute, geradezu spannende Ideen bleiben in der Umsetzung auf der Strecke. Markus Bothe verantwortet die Inszenierung. Ihm gelingen überaus dichte Momente, insbesondere in den direkten Begegnungen der Figuren. Da sind, neben den großen Arien, die beiden Szenen, in denen Onegin beziehungsweise Tatjana dem jeweils anderen den überschwänglichen Liebesbrief zurückgeben. Spannend auch die Begegnung von Onegin mit Lensky zum Duell, das beide durchziehen. Dabei haben sie dessen Sinnlosigkeit erkannt. Schließlich erschießt Onegin den Freund, ohne hinzuschauen, als der sich gerade zum Einlenken durchzuringen scheint. A ndris Nelsons ist weggefahren. Und nicht mehr zurückgekommen. „Er ist verschwunden, und wir konnten ihn nicht zur Rückkehr bewegen“, sagt Peter Emmerich. Der Sprecher der Bayreuther Festspiele hat sich – wie die gesamte Leitung – verpflichtet, keine Kommentare abzugeben. Keine Kommentare zu den Gründen dafür, dass der „Parsifal“-Dirigent seinen Vertrag beenden wollte – nur dreieinhalb Wochen vor der Premiere. Nun muss ein Neuer her – und der muss dann zurechtkommen mit den diesmal recht unfeierlichen Bedingungen auf dem Grünen Hügel. In diesem Sommer gilt rund um das Festspielhaus in Bayreuth ein verschärftes Sicherheitskonzept. Gitter und Wachpersonal, Zäune und Kontrollen. Und genau daran könnte es auch gelegen haben, dass Nelsons um die Auflösung seines Vertrags gebeten hat, heißt es im Festspielhaus. Die Atmosphäre habe sich in diesem Jahr nicht in einer für alle Beteiligten angenehmen Weise entwickelt, schuld seien unterschiedliche Auffassungen in verschiedenen Angelegenheiten. Diese vagen Worte ließ das Management des Dirigenten verlauten. Die Festspielleitung stimmte der Bitte um ein Ende des Vertrags schließlich zu, „mit Bedauern“. „Wir, und gerade auch Katharina Wagner, haben uns in den letzten zwei, drei Tagen sehr darum bemüht, ihn zurückzuholen“, sagte Peter Emmerich. Doch ohne Erfolg. 2010 debütierte der Lette auf dem Grünen Hügel im „Lohengrin“. Vergangenes Jahr war er zu beschäftigt, um nach Bayreuth zu kommen, aber in dieser Saison sollte er wieder brillieren, im „Parsifal“ diesmal, zur Eröffnung der Festspiele am Tschaikowskys Ohrwürmer Der Umgang mit größeren Figurenensembles und dem Chor bleibt zu wenig konkret, zu wenig konsequent. Als Bild abstoßender Provinz, wenn ein Bauer zum Gaudi der anderen als Mädchen tanzen muss oder Triquet als Provinz-Stripper aus der schäbigen Papptorte steigt, funktionieren sie nur, wenn der dramaturgische Grund der Szene genau bedacht und einstudiert ist. Trotz einer Choreografin sind viele Aktionen nur ungefähr, ein „so tun als ob“. Eine klarer strukturierte, abgestimmte Spielweise ließe auch die Konflikte, die etwa Tatjana wie Onegin mit der kleinkariertgleichförmigen Welt des armen Landadels haben, deutlicher werden. Es ließe sich besser verstehen, warum sich Tatjana ausgerechnet zu dem distanziert-arrogant auftretenden Onegin hingezogen fühlt. So bleibt vieles offen, dem Vorwissen und Nachgrübeln des Zuschauers überlassen. Das Bühnenbild von Robert Schwerer nutzt die beeindruckende Bühnentechnik, indem er immer andere Erinnerungsstücke in den fürstlichen Saal hineinfahren lässt. Da sieht man, mitten im fürstlichen Saal, Traktor und Heuballen, dann ein Bücherregal, in dem Tatjana sogar schläft, oder eine Industriebrache mit kahlem Baum im Schneefall für das Duell. Leider erkennt man den Saal von Gremin erst im letzten Akt als solchen und erlebt erst hier, dass diese heil gefügte Welt mit dem Auftritt Onegins aus den Fugen gerät. Das sind eindrückliche Bilder, die manch Irritierendes der vorhergehenden Akte nachträglich in einen Zusammenhang setzen. Die Kostüme von Esther Gere- Triumphierend gibt Onegin (Christoph Pohl) der ihn liebenden Tatjana (Camilla Nylund) einen Korb. Später wird sie ihn zurückweisen – obwohl sie ihn liebt. Foto: Jochen Quast mus illustrieren die Geschichte, legen weder Zeit noch Ort fest und mischen sich auch sonst nicht in die Geschichte ein. Dies ist auch der größte Vorteil der Inszenierung, deren Merkwürdigkeiten man so gerne übersieht. Sie lässt Platz für Tschaikowskys Musik, die sich wie ein Ohrwurm in die Hirnwindungen bohrt, die als Stimmungen und Farben um wiederkehrende, eingängige Melodien blüht, die die Geschichte und ihre Emotionen trägt. Auch schöne leise Klänge Pietari Inkinen dirigiert die Staatskapelle, lässt sie all ihre Klangvielfalt ausleben und führt Bühne und Graben gut zusammen. Die Sänger sind sicher aufgehoben, nur selten gibt das Orchester ein wenig Zuviel an Volumen. Der Staatsopernchor und die kleineren und mittleren Partien können sich bestens hören lassen. Christoph Pohl gibt die Titelpartie schön im Klang, musikalisch sicher und spielerisch differenziert. Er steigerte sich am Premierenabend bis zum packenden Finale. Camilla Nylund ist eine Tatjana, der mädchenhafte Naivität fehlt, die sich zu einer starken Frau entwickelt. Mit einer eindrucksvollen Leistung eroberte sie die Herzen der Zuschauer im Sturm. Vom Figurencharakter völlig verschieden, in der Qualität von Darstellung und Gesang aber ebenso begeisternd, war die Olga der Anke Vondung. Ihr Verehrer, der Poet Lenski, bekommt als Figur in dieser Inszenierung kein Profil. Dafür singt Tomislav Mužek umso betörender. Mit nur einem Auftritt, voluminöser Stimme und der vielleicht bekanntesten Arie der Oper „Ein jeder kennt die Lieb auf Erden“ setzt Alexander Tsymbalyuk dem hervorragenden Solistenensemble das Sahnehäubchen auf. Das Premierenpublikum im Semperbau bejubelte lange die Mitwirkenden und schloss auch das Inszenierungsteam in die allgemeine Begeisterung ein. wieder am 2., 6. und 9. 7. sowie 30. 8., 1. und 4. 9.; Kartentel. 0351 4911705 Mit gezupften Nadelstichen Die Italiener machen sich Mut, indem sie vom Heldentod singen. Ist das ein gutes Zeichen? Von Gottfried Blumenstein as wird hart. Gegen Italien – Sehnsuchtsland deutscher Schöngeister, aber eben auch ewiger Widerpart – hat sich Deutschland immer schwergetan. Richard Wagner, der als Hymnenkomponist keine Leuchte war, ist in Venedig gar verschieden. Und der Spruch „Rom sehen und sterben“ ist kaum ein Mutmacher. Nach dem sonnabendlichen Hymnengesang im Stadion, da muss man sich nichts vormachen, steht es bereits eins zu null für die Italiener. Diesen Rückstand aufzuholen, fällt ziemlich schwer. In K.o.-Spielen hat das noch nie geklappt, da trotteten die Unseren stets als zweite Sieger vom Platz. Nichtsdestotrotz strahlt Trainer Löw einen Optimismus aus, der so oder so durchaus berechtigt ist. Möglicherweise schwant ihm, dass der gesangliche Einsatz, den die Italiener, allen anderen voran Altmeister Buffon, ziemlich brachial in die Waagschale schmeißen, nicht nur Motivationsschub ist, sondern eben auch bei der überalterten Truppe zu viel Energie verbraucht – die zu guter Letzt fehlen könnte. Fußball ist jedenfalls für den Musikfreund durchaus große Oper mit Schwalben und Schwänen. Da müssen die Spitzentöne kommen, ansonsten rasselt über überforderte Primadonnen und Tenöre ein Buhgewitter hernieder. Da kennen Kenner kein Erbarmen. Der Tonumfang von „Il Canto degli Italiani“, wo dem Sieg mit oder ohne Heldentod begeistert entgegengefiebert wird, beträgt stolze anderthalb Oktaven. Daran würde hierzulande die gesamte Unterhaltungsmusikbranche zusammenkrachen. Im sangesfreudigen Italien, das dazumal einen angetäuscht „marschmäßigen Verdi im Frühstadium“ zelebriert, ist das Volksgut, aber eben mit Risiko. Insbesondere zum Hymnenschluss schraubt sich die Melodie wagemutig in die Höh, und wenn „La Nazionale“ bis dahin ihr Pulver im Abnutzungskampf schon verschossen hat, packt sie es nicht und trifft Vollspann neben das zweigestrichene G. Die Siegchance für Jogis Buben ist da: Sie müssen den Takt an sich reißen, die Italiener altersgerecht müde spielen und mit eingeworfenen Pizzicati (gezupften Nadelstichen) alles klarmachen. Avanti popolo! 25. Juli. Die Proben liefen schon. Dann kam der Morgen, an dem es akut wurde: Am Donnerstag war klar, dass Nelsons nicht zurückkommen wird. Woran es genau liegt? Streit soll es gegeben haben, mit Christian Thielemann, dem Bayreuther Musikdirektor und Chefdirigenten der Sächsischen Staatskapelle. Ein Riesen-Ego, so wird Thielemann beschrieben, traf auf eine empfindsame Seele: Nelsons. Thielemann, so Insider, habe sich in die Probenarbeit eingemischt – auch bei anderen Kollegen wie dem diesjährigen „Ring“-Dirigenten Marek Janowski. „Er hat die Festspiele verehrt, fast schon religiös“, sagt Festspiele-Sprecher Emmerich über Nelsons. Es wäre nicht verwunderlich, wenn dem Dirigenten in diesem Jahr einfach alles zu viel geworden wäre. Nach den Terroranschlägen in Paris im vergangenen Jahr bestand die Polizei auch auf dem Grünen Hügel auf strengeren Sicherheitsvorkehrungen. Sie passen kaum zur weihevollen Aura des Wagner-Kosmos. Bayreuth-Historie reich an Eklats „Es gibt Künstler, die gehen damit pragmatisch um, andere sind empfindlicher, die sind dadurch in ihrer Seele getroffen“, so Emmerich. Erst kürzlich prallte eine Künstler-Persönlichkeit auf eher theaterfernes Sicherheitspersonal: Wachleute kontrollierten Star-Tenor Klaus Florian Vogt, der den „Parsifal“ singen wird, in der Kantine. Er trug eine Soldatenuniform. Ein Kostüm, aber das war den Wachleuten nicht klar. Der kurzfristige Abschied Nelsons’ vom Grünen Hügel reiht sich ein in die Geschichte der Eklats rund um die Festspiele. Ebenfalls nur Tage vor der Eröffnung 2012 sagte zum Beispiel Evgeny Nikitin, als Sänger für die Titelpartie in der Oper „Der Fliegende Holländer“ vorgesehen, seine Auftritte wegen Nazi-Tattoos ab – auf Druck der Festspielleitung. Diese setzte 2014 auch den Skandalkünstler Jonathan Meese vor die Tür, der mehrfach wegen HitlergrußGesten bei Performances verklagt worden war. Er hätte eigentlich in diesem Jahr den „Parsifal“ inszenieren sollen. (dpa) Rätsel um Erzählerin vom Europas größte Häuser „Aschenputtel“ gelöst der Jungsteinzeit entdeckt Kassel. Nach mehr als 200 Jahren wollen Forscher das Rätsel gelöst haben, wer den Brüdern Grimm das Märchen „Aschenputtel“ erzählt hat – es war eine alte Frau aus Marburg namens Elisabeth Schellenberg. „Die Frau ist die mündliche Quelle“, sagte am Freitag Grimm-Forscher Holger Ehrhardt von der Universität Kassel. Er war Hinweisen aus Briefen Wilhelm Grimms an seinen Bruder Jacob nachgegangen und hatte diese mit Tauf- und Sterberegistern Marburger Kirchen sowie Bewohnerlisten von Armenhospitälern verglichen. Schellenberg starb 1814 im Siechenhaus St. Jost. Wilhelm Grimm wollte sich 1810 von der damals 64 Jahre alten Frau Märchen erzählen lassen, doch diese wies ihn ab. Erst durch einen Trick – er schickte eine Frau mit Kindern zu Schellenberg – rückte sie ihre Märchen heraus und erzählte das „Aschenputtel“ und das weniger bekannte Märchen „Der goldene Vogel“. (dpa) Sofia. Ruinen einer angeblich 8 000 Jahre alten Siedlung aus der Jungsteinzeit sind in der bulgarischen Hauptstadt Sofia entdeckt worden. Zwei der Häuser seien mit ihrer Länge von mehr als 20 Metern die größten, die bisher aus dieser Epoche in Europa ans Licht gekommen seien. „Dies ist ein kulturelles Phänomen von gesamteuropäischem Ausmaß“, sagte der Archäologe Wassil Nikolow am Freitag im Staatsfernsehen in Sofia. Der Professor leitet die Ausgrabungen in Slatina, einem Wohnviertel am östlichen Stadtrand von Sofia. Neue Tests sollen bestätigt haben, dass die Siedlung volle 8 000 Jahre alt sei. Auf den Böden der Neolithikum-Häuser seien Reste von Kuppelöfen und keramische Behälter mit verbranntem Getreide gefunden worden. Es gebe auch Ritualgegenstände und weitere Gefäße aus Keramik. Die Stadt Sofia möchte die Fundstätte als Freizeitpark und Touristenziel ausbauen. (dpa) Das gute Sizilien lebt Hymnen-Orakel D S O N N AB E N D / S O N N TA G 2./3. JULI 2016 WWW. S Z - O N L I N E . D E / FE U I L L E TO N Im Krimi von Andrea Camilleri verliert der Commissario die Lust, lässt aber die Mafia mit den Zähnen knirschen. Von Jens-Uwe Sommerschuh A ndrea Camilleri, mittlerweile 90 Jahre alt, hält sein Niveau. Jetzt ist sein 18. Krimi um den Commissario Montalbano auf Deutsch erschienen, eine verwickelte Geschichte mit den bewährten Zutaten, sechs weitere Fälle liegen bei den Übersetzern. Dem alten Mann vom Mittelmeer – Camilleri stammt selbst von der Südküste Siziliens – ist es gelungen, seinen sympathischen Ermittler, der immerhin schon seit 22 Jahren Mitte 50 ist, diesmal noch jünger, noch frischer wirken zu lassen. Denn er riskiert eine Menge. „Das Labyrinth der Spiegel“ beginnt mit seltsam dilettantischen Bombenanschlägen, deren Ziel lange unklar bleibt, weil niemand verletzt wird und auch die Schäden banal sind. Eigenartig ist auch, dass die schöne Liliana, die in Montalbanos unmittelbarer Nachbarschaft wohnt, sich an ihn ranschmeißt, obwohl sie außer einem Ehemann auch einen vergleichsweise jungen Liebhaber zu haben scheint. Montalbano findet nicht nur heraus, dass Liliana ohne Kleid nicht minder bezaubernd aussieht, sondern er entdeckt auch, welcher Art von Geschäften ihr ominöser Gatte nachgeht. Andrea Camilleri grüßt: Der Italiener hat den 18. Krimi seines Erfolgskommissars Montalbano vorgelegt. Foto: dpa Und dass besagter Lover der Sohn eines derzeit im Knast schmorenden Drogendealers der örtlichen Mafia ist. Der literarische Montalbano, das hat Camilleri unumwunden zugegeben, hat mehr und mehr das Gesicht und die heitere Gelassenheit, den spröden Charme von TV-Star Luca Zingaretti angenommen, der den Commissario in der ungeheuer populären und sehr authentischen italienischen Fernsehserie spielt, die es seit 1999 auf 28 Folgen gebracht hat und nahe am Original bleibt. Bei Camilleri ist es plausibel, dass Montalbano Lilianas Reizen theoretisch erliegt und praktisch doch widersteht, obwohl die beiden sich kulinarische Gelage und Ausflüge gönnen, bei denen sie sich sehr nahe kommen. Auf einer dieser Touren fallen Schüsse, und es ziehen dunkle Wolken auf, aus denen es früher oder später Blut regnen wird (Übersetzung: Rita Seuss und Walter Kögler). Ein Krimi, der auf Sizilien spielt, ist kein Kindergeburtstag, und bald entfaltet sich ein Spiel aus Leidenschaft und Rache, das grausame Züge annimmt. Oder geht es doch nur um Geld? Um eine so simple wie brutale Bereinigung des Marktes? Oder soll gar Montalbano eliminiert werden? Gekonnt lässt Italiens Star-Autor Montalbanos liebenswertes Team lange Zeit im Dunkeln tappen. Bis ein Licht, durch mehrere Spiegel virtuos abgelenkt, durchs Schlüsselloch fällt. Schwerenöter Augello flirtet ins Leere. Der kindlich naive Catarella, den viele unterschätzen, dreht einen gedopten Computer auf Links. Der pfiffige, fragile Fazio, der immer wirkt, als würde ihm die Mamma noch die Panini schmieren, schützt seinen leichtfertigen Chef, als dem die Pferde durchzugehen drohen, vorm Skandal. Am Ende ist Montalbano wieder ein bisschen trauriger. Denn ein gelöster Fall macht die Welt auch nicht viel besser. Immerhin knirscht die Mafia mit den Zähnen. Und der Commissario kann nach wie vor ruhigen Gewissens in den Spiegel schauen. Ein Ausnahmepolizist eben. Das gute Sizilien, es lebt. Andrea Camilleri: Das Labyrinth der Spiegel. Bastei Lübbe, 256 Seiten, 22 Euro SÄCHSISCHE ZEITUNG FEUILLETON |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| 20 ||||||||||||||||||||| D O N N E R S TA G 7. JULI 2016 KULTUR & GESELLSCHAFT KOMMENTAR ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| Und er erklärt sie doch Birgit Grimm über Tino Sehgals Arbeit im Albertinum T Den Kult um seine Aufführungen steigert Tino Sehgal gerade dadurch, dass er offizielle Fotos verbietet. Lieber posiert er selbst, hier im Treppenhaus des Albertinums. Foto: Robert Michael Kunst ohne Müll Weltweit sind Performances von Tino Sehgal gefragt. Warum nur?, fragt man sich bei der Dresdner Aufführung. Von Rafael Barth W er in diesen Wochen den Lichthof des Dresdner Albertinums betritt, erlebt Frauen und Männer im Ausnahmezustand. Bis zu vierzig Leute in Alltagskleidung gehen oder rennen als Schwarm, bevor sie sich im Raum verstreuen. Sie sitzen, knien, liegen auf dem Fußboden, murmeln Worte und singen sakral anmutende Lieder. Immer wieder löst sich jemand aus der Gruppe und spricht einzelne Besucher an. Dann hört man Geschichten aus dem Leben, etwa vom jüngsten Fahrradunfall oder wie die Tochter den Brief über das Prüfungsergebnis bekam. Wer will, kann mit dem Erzähler ins Gespräch kommen, zumindest kurz. Nach einer Weile flüchtet er oder sie zurück in den Schwarm. Was das ist? Eine Begegnung mit Menschen, wie man sie sonst nicht erlebt. Erst recht nicht im Kunstmuseum, wo oft das Abschreiten von Gemälden und Skulpturen in zivilisierter Stille erfolgt. Der Berliner Künstler Tino Sehgal aber schafft nichts, was man an die Wand hängen oder auf einen Sockel stellen könnte. Sein Werk besteht aus Aufführungen mit Laiendarstellern, wie sie Sehgals Mitarbeiter in den vergangenen Monaten nun in Dresden ge- funden haben. Junge und Alte aus unterschiedlichen Milieus, die fit sein müssen und was zu erzählen haben. Ihre Geschichten, sagt Sehgal, seien persönliche Antworten auf Fragen, die er ihnen gestellt habe, etwa: Wann hattest du das Gefühl, dass du angekommen bist? Außer den Fragen hat der Künstler Choreografie und Lieder mitgebracht. Die Performance läuft zur normalen Öffnungszeit des Albertinums, sich steigernd von wenigen Darstellern am Dienstagmorgen bis zur vollen Gruppenstärke am Wochenende. Wenn die Aktion „These Associations“ vorbei ist, soll davon nichts übrig bleiben. Es gibt keinen Katalog, kein Plakat, Sehgal gestattet nicht einmal Pressefotos der Aufführung. Das Konzept hat sich zum globalen Exportschlager entwickelt. Werkschau für den Aufsteiger New Yorks Guggenheim Museum, Londons Tate Modern und die Documenta in Kassel sind nur einige seiner Karrierestationen. Die Biennale von Venedig zeichnete Sehgal mit dem Goldenen Löwen als besten Künstler aus. Der Berliner Martin-Gropius-Bau widmete ihm im vorigen Jahr eine Werkschau, da war er noch nicht mal vierzig. Was ist es bloß, dass diese Arbeiten, die der Künstler als „konstruierte Situationen“ beschreibt, so begehrt macht? Man kann das ganz gut verstehen, wenn man hört, wie Sehgal sein Aufwachsen darstellt. Geboren 1976 in London als Sohn eines Inders und einer Deutschen, verbrachte er sieben Jahre seiner Jugend im baden-württembergischen Sindelfingen. Dort hatte er Produktionsstätten von IBM und Hewlett-Packard vor der Nase, Sehgals Schulbus war der Schichtbus von Daimler-Benz. Er fragte sich, wie er sein Leben sinnvoll verbringen könnte, ohne Güter herzustellen. Und studierte Tanz. Die Lust am Nichtmateriellen ist das Hauptmerkmal seiner geheimnisumflorten Kunst. Es tritt umso klarer hervor, weil er die Inszenierungen nicht auf die Bühne bringt, sondern ins Museum, dem Sammelplatz für Objekte aller Art. Deren Rang ist fragwürdig geworden. Noch die größte Bratze kann heute einen Picasso im Depot haben, nicht aus Liebe zur Kunst, sondern weil es als Spekulationsobjekt so viel taugt. Sehgals Kunst verkörpert im Wortsinn die Kritik an kapitalistischen Exzessen und das allgemeine Unbehagen am Überfluss. Die meisten haben eh zu viel von allem, zu viele Klamotten, zu viel Essen. Hier wirkt Sehgals Schaffen wie eine Entlastung. Er fügt dem Bestand der bildenden Kunst scheinbar nichts hinzu, sein Werk läuft ohne technischen Schnickschnack. Er bedient damit die Sehnsucht, ein weniger vollgestopftes Leben könne erfüllender sein. Weil kein Müll entsteht (kein Plakat, kein Katalog!), kann man sich dem Gefühl des ökologisch korrekten Genusses hingeben. Der alte Kult um das Objekt wird abgelöst durch die Fetische Leere und Aktion. Tatsächlich ist Sehgal ein raffinierter Wiederverwerter der Kunstgeschichte. Was Dada, Happening, Performance im vorigen Jahrhundert probierten, überführt er in die Gegenwart. Dabei dämpft er alles vordergründig Krawallige, Provokante stark ab oder lässt es ganz beiseite. Die Besucher sollen sich auf den Moment einlassen, so wie es heute jeder Achtsamkeitslehrer empfiehlt. Sie sollen andere Menschen treffen. In einer spielerischen, zwanglosen, geschmeidigen Art gibt sich Sehgals Kunst aus als Plattform für ein Miteinander. Nur sollte man das nicht mit Nächstenliebe verwechseln. Außer Tanz hat Tino Sehgal erfolgreich Volkswirtschaft studiert. q Kommentar Bis 14. August im Lichthof des Albertinums Dresden, Di – So 10 bis 18 Uhr, Eintritt frei Glücksfall für die Lücke im Graben o plötzlich der Junge weg war, so schnell reist der Alte an: Einen Tag, nachdem die Bayreuther Festspiele erleichtert verkündeten, dass Dirigent Hartmut Haenchen (73) einspringen wird für Andris Nelsons (37), ist der Meister schon auf dem Weg zum Grünen Hügel. Er hat nicht viel Zeit. Am Mittwoch musste er gleich zu seiner ersten Probe für den „Parsifal“, am 25. Juli ist schon Eröffnungspremiere. Eine knappe Angelegenheit, aber für die Festspiele hat das Dirigenten-Desaster ein glückliches Ende genommen. „Haenchen ist ein fabelhafter Dirigent, erste Wahl, keine Frage“, sagt ein Kenner der Wagner-Szene, der seinen Namen nicht nennen möchte. Und er setzt hinterher: „Man wundert sich immer wieder, dass sich noch jemand darauf einlässt.“ Er sei sehr froh, Teil des Teams in Bayreuth zu werden, ließ der in Dresden geborene Haenchen hingegen sein Management mitteilen. Der „Parsifal“ bedeute ihm sehr viel und begleite ihn seit Jahren. Er will sich einbringen, auch wenn er, wie er sagt, mit zwei verbleibenden Orchesterproben „keine Welten bewegen“ könne. Als Nelsons vergangene Woche absprang, war das für so manchen Beobachter dennoch nur ein weiteres Symptom dafür, dass die einst so glanzvolle Institution der Bayreuther Festspiele bröckelt. Die Aufmerksamkeit ist dem Grünen Hügel dank des überraschenden Wechsels inklusive Emotion wieder garantiert. Und mit Haenchen geht das Drama auch künstlerisch gut Foto: Musacchio & Ianniello aus. Experten schätzen ihn als erfahrenen Wagner-Interpreten, nach eigenen Angaben hat er 34 komplette Ring-Zyklen dirigiert. Im versteckten Orchestergraben von Bayreuth stand er allerdings noch nie. „Wir gehen fest davon aus, dass sich Hartmut Haenchen gut einfügen wird“, sagt der Sprecher der Festspiele, Peter Emmerich. „Das etwas Nebulöse hier, das muss man hinnehmen.“ Nelsons war es wohl zu viel geworden. Er reiste nach Unstimmigkeiten ab und kam trotz Anstrengungen von Katharina Wagner nicht wieder. Die Stimmung ist angespannt und das nicht erst seit Kurzem. Der Sänger Evgeny Nikitin sagte vor vier Jahren seine Auftritte wegen eines verdächtigen Tattoos ab (das nach einem Hakenkreuz aussah) – auf Druck der Festspielleitung. Bayreuths Leitung beendete 2014 auch die Zusammenarbeit mit dem Skandalkünstler Jonathan Meese, der mehrfach verklagt wurde wegen Hitlergruß-Gesten bei Performances. Diesmal soll es Zwist gegeben haben zwischen Nelsons und dem UNART |||||||||||||||||||||||||||||||||||||| Wenn ich wüsste, was Kunst ist, würde ich es für mich behalten. Pablo Picasso (1881 – 1973) Flanken schlagen gegen den Klangrausch der Marseillaise Rettet Bayreuth aus höchster Not: Der in Dresden geborene Dirigent Hartmut Haenchen springt für den überraschend abgereisten Kollegen Andris Nelsons bei den Wagner-Festspielen ein. S mail [email protected] Hymnen-Orakel In Bayreuth haben Eklats längst Tradition. Doch diesmal scheint alles gut zu werden: Für den abgesprungenen Dirigenten springt Hartmut Haenchen ein. Von Sophie Rohrmeier ino Sehgal ist ein entschlossener Mann. Er hat Volkswirtschaft studiert und kennt die Mechanismen des Marktes. Kunst, so meint er, sollte man trennen in die, die in Museen gezeigt wird, und in die, die für die Ausstattung privater Räume hergestellt und auf dem Kunstmarkt angeboten wird. Er macht nur die für die Museen, „Ich produziere keine Objekte“, sagt Sehgal. Stattdessen füllt er Kunsttempel wie nun auch den Lichthof des Dresdner Albertinums mit Leben. Er inszeniert Performances, in denen ausgewählte Laiendarsteller Besucher ansprechen oder auf andere Art überraschen. Es gibt etwas zum Anschauen, zum Mitdenken und Mitreden. Man kann mitlaufen, aber nichts Gegenständliches mitnehmen. Die Besucher zahlen keinen Eintritt. Ihre Währung ist, dass sie sich einbringen. Aber genau das dürfen sie eigentlich nicht wissen, bevor sie das Museum betreten. Deshalb verzichtet der Künstler auf Plakate, Einladungen, Vernissage und schaltet keine Werbung. Doch die Vorstellung, dass keiner hingeht, weil niemand von nichts weiß, scheint den Künstler und die Staatlichen Kunstsammlungen zu beunruhigen. Also luden sie zur Pressekonferenz ins Albertinum – und schickten die Fotografen wieder weg. Fotografieren verboten! Zum Konzept des Künstlers gehört, dass von seinen Performances nichts bleibt. Dabei ist doch schon jede Menge in der Welt. Das Internet ist voll mit Bildern und Videos von den Arbeiten Tino Sehgals. Er selbst gab auf der Pressekonferenz in Dresden ausführlich Auskunft, beantwortete freundlich jede Frage. Sehr darauf bedacht, seine Idee unmissverständlich zu kommunizieren, damit die Medien sie verbreiten können, bevor der erste Besucher über die Performer im Albertinum „stolpert“. Die Idee mag ja gut sein, den Markt nicht bedienen zu wollen. Aber dann doch einen marktüblichen Mechanismus zu benutzen, ist inkonsequent und nicht besonders mutig. musikalischen Leiter, dem renommierten Dirigenten Christian Thielemann. Der hatte sich gegen die Gerüchte gewehrt: Er habe ein „sehr gutes“ Verhältnis zu Nelsons, sagte er. „Ich bin mit ihm fast befreundet.“ Insider dagegen erzählten, Thielemann habe sich zu sehr eingemischt in die Arbeit von Nelsons, öffentlich sagen wollten sie das nicht. Festspiele-Sprecher Peter Emmerich hatte den Medien gegenüber darüber spekuliert, ob die verstärkten Sicherheitsvorkehrungen die Künstlerseele Nelsons zu sehr gestört haben könnten. So hinderlich sind die zusätzlichen Wachleute und Kontrollen aber wohl doch nicht. Denn die Festspiele hätten Haenchen nicht extra darauf vorbereitet, sagt Emmerich. Der 73-Jährige dürfte ohnehin versuchen, sich auf die Arbeit mit dem Orchester und weniger auf das Atmosphärische drumherum zu konzentrieren. „Es ist immer eine Herausforderung, kurzfristig in eine Produktion einzusteigen, besonders in diesem Fall, da die Proben schon seit einiger Zeit laufen“, so Haenchen. (dpa) Wenn Thomas Müller endlich seine Stimme im Konzert erheben würde, ist der Einzug ins Finale möglich. Von Gottfried Blumenstein D as wäre beinahe wieder schiefgegangen gegen die Altherrentruppen aus Bella Italia. Von Triolen ist in der deutschen Hymne nichts zu sehen und zu hören. Mehmet Scholl hat das sehr richtig erkannt. Dass der Trainerstab auf einer Dreierkette bestand, zeugte von wenig Fach- und Partiturkompetenz. Dieses Mittel wäre nur einzusetzen, wenn die gegnerische Hymne im Dreivierteltakt daherkommt, was eben nicht der Fall war. Glücklicherweise brachte der gefühlte hundertste Elfmeter die todtraurige Serie gegen die Italiener dann doch noch zu Fall. Vor dem Frankreichspiel gilt es also, sich auf den Hosenboden zu setzen und Note für Note nach ihrer Halbfinalspieltauglichkeit abzuklopfen, denn es wird schwer. Die französische Hymne, und das pfeifen seit weit über 200 Jahren die Spatzen von den Stadiondächern, ist die Nationalhymne schlechthin. Selbst Jimi Hendrix’ zerbombte Version des Star Spangled Banner verpufft im Ohr, wenn sich die Marseillaise in Schwingung setzt. Sie wurde 1792 in Straßburg vom Hauptmann Claude Joseph Rouget de Lisle in Text und Melodie verfasst. Und kein Geringerer als Hector Berlioz hat das Lied extra breit instrumentiert und daraus einen opernmäßigen Klang- rausch fabriziert, der jeder Beschreibung spottet. Wie kommt man also dagegen an? Es geht nur über die Flügel der Musik. Links wie rechts brauchen wir Flitzer, die ordentlich Flanken schlagen können im Subdominantakkord. Das gibt das Personal derzeit zwar nur eingeschränkt her, immerhin soll Joshua Kimmich mit windschnittiger Topfrisur auf der rechten Außenbahn gesetzt sein. In jedem Fall verträgt das Deutschlandlied eine Tempoverschärfung. Auch eine marginale Veränderung der Phrasierung, die neue Sinnzusammenhänge stiftet, wie etwa das Verschieben der Mittelfeldachse rund ums Tremolo, wären angebracht, um die Franzosen im Anstoßkreis festzusetzen und wirr zu spielen. Hilfreich wäre es auch, wenn Thomas Müller zur Normalform auflaufen könnte. Seine Stimme im Konzert war bislang kaum zu hören, zumal er nicht mehr mit den Spitzentönen in die Maschen trifft. Das aber wäre für den Torjubel eminent wichtig. Seine Emsigkeit mit allein 15,2 Laufkilometern im Italienspiel brachte wenig. Für seine Emsigkeit wurde seinerzeit übrigens selbst der größte Musiker aller Zeiten vom Kaiser (Wo ist der eigentlich?) wie folgt gerügt: „Sehr schön, Mozart, aber zu viele Noten!“ Gottfried Blumenstein hat in Dresden Musik studiert, sich als Musikkritiker in der Welt umgetan, ist heimgekehrt in die Oberlausitz und betreibt den Schwarzwasser Verlag. SÄCHSISCHE ZEITUNG FEUILLETON |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| 14 ||||||||||||||||||||| Glücksmomente fürs Volk Beim Straßentheaterfestival ist Ausnahmezustand in Görlitz. Das Via Thea feiert die Kunst und die Beiläufigkeit. Von Johanna Lemke E s ist immer wie ein kleines Nachhausekommen. Wenn sich der Görlitzer Stadtpark füllt, wenn Familien und Flaneure ihre Decken ausbreiten, wenn sich langsam der Langos-Duft über die Wiesen legt und die ersten Bierkrüge wandern gehen. Wenn zwischen den Lagernden und Unentschlossenen plötzlich Schausteller über die Wiese spazieren, schon in Kostüm, aber noch privat. Wenn man Ausschau hält, wo das nächste Spektakel beginnt, doch sollte man es verpassen, wäre es auch nicht so schlimm, es liegt sich doch so entspannt auf der Wiese und die nächste Vorstellung kommt bestimmt. Wenn mitten in der Woche die Neue Lausitzer Philharmonie Slawische Tänze spielt und kurz darauf eine Trommelband rabaukt – dann, ja dann ist Via Thea. Wem man auch davon erzählt, dass man nach Görlitz fahren will dieser Tage, man erntet leuchtende Augen und ein „Da muss ich auch mal wieder hin!“ Zum 22. Mal findet das Straßentheaterfestival Via Thea statt, es ist über die Stadt hinaus bekannt. Trotzdem, und das macht den besonderen Charme aus, geht es immer familiär zu. Man kann hier halt auch mal jemanden zufällig treffen, geht nicht verloren in Menschenmassen und kommt in der Schlange am Bratwurststand schnell ins Schwatzen. Zumindest am Eröffnungstag im Stadtpark ist das so – Freitag und Sonnabend, wenn die Vorstellungen in den Straßen von Görlitz stattfinden, ist das Gedränge schon größer. Dann muss man sich vorsehen, noch ein Plätzchen zu finden, von dem aus man etwas sehen kann. Ganz so einfach flanieren, wie suggeriert wird, kann man längst nicht mehr. Wenn man sich aber etwas vorbereitet, wird man an diesem Wochenende Zauberhaftes entdecken, kann sich an feiner Kunst erfreuen und zwischen Büro und Bäcker ein bisschen mit der Hüfte wackeln. Inflationäre Zaubershows Am Donnerstag wurde das Festival im Stadtpark fröhlich eröffnet mit Trommelmusik und Reden vom Oberbürgermeister Siegfried Deinege und den Hauptsponsoren. Natürlich auf Deutsch und Polnisch – an diesem Wochenende ist Europa in Sachsen, das Via Thea versteht sich als Sammelbecken für Kunst aus vielen Kulturen. Auf den Wiesen im Park fühlte es sich an diesem Abend an wie bei einem großen Picknick, Seifenblasen trudeln durch die Luft, Kinder üben Radschlag und von irgendwoher kommt Mundharmonikamusik. Künstlerisch wendet sich der Eröffnungsabend ebenfalls an Familien, er ist geprägt von Zaubershows und Clownseinlagen – und dies leider von nicht so hoher Qualität wie in anderen Jahren. Die Vorgabe schien ge- Italienischer Akzent mangelhaft, Kinderbespaßung hervorragend: Giovanni Gassenhauer beim Via-Thea-Auftakt. wesen zu sein: „Mach mal was mit Zaubertrick! Das finden Kinder gut!“ Giovanni Gassenhauer ist ein Italiener mit Schiebewägelchen voller Nudeln. Die Idee, Glücksmomente unters Volk zu bringen, ist zwar charmant, am Ende liefert der Komiker Markus Siebert aber nicht viel mehr als Knotentricks und auch der italienische Akzent kommt nicht sehr überzeugend rüber. Auch Conrad Edwin Wawra alias Kaosclown bringt zwar genügend komisches Können mit, um Erwachsene zum Lachen zu bringen, doch er beschränkt sein Programm ebenfalls auf Jonglier- und Zaubertricks. Selbst das Turisedische Stadttheater verheddert sich in einer Zaubershow, was umso bedauerlicher ist, da die Abgesandten der Kulturinsel Einsiedel performativ sonst mehr draufhaben. Auf der Freilichtbühne im Stadtpark bekommen sie selbst von den vergnügungswilligen Kindern nur wenige Lacher. Als einer Zuschauerin innerhalb der Showeinlage angeblich die Hand abgehackt werden soll, kriegt deren Sohn verständlicherweise Panik. Das zeigt die generelle Schwäche dieses Eröffnungsabends: Das Programm muss für Familien geeignet sein, aber „Kindertheater“ will niemand machen. Gegen 19 Uhr am Donnerstag kam dann der Lichtblick: Die Puppenspielerin Anne Swoboda machte Hoffnung auf das, was in den nächsten Tagen noch folgen wird. Sie spielte ihre „Chansonette“, eine fast lebensgroße Puppe, so liebevoll, dass Spielerin und Figur zu einer Einheit verschmolzen. Die Eleganz dieser gealterten Diva, die das Ende ihrer Karriere erfolgreich verdrängt, verzauberte das Publikum ganz ohne Knotentricks. Als sie ansetzte, die schönsten Liebesschlager der Geschichte zu trällern, war es um alle geschehen. So soll Straßentheater sein: Fürs Volk, aber mit Anspruch. Das Festival ist komplett gratis Anne Swoboda wird am Sonnabend noch zweimal im Museumshof in der Neißestraße spielen und singen. Überhaupt können sich alle, die Lust auf mehr als Zaubershows haben, getrost noch mal auf die Straße wagen. Denn freitags und sonnabends kommen auf dem Via Thea die Artisten und Zirkuskünstler dran, gibt es experimentelles Tanztheater, Poetry-Slam oder „Swing in Wonderland“. Alex Jacobowitz aus den USA wird auf seinem Marimba brillieren und Frans Custers aus Holland Panto- Von Jörg Schurig lernte Regina Thoss auch klassisches Repertoire kennen. Während der Oberschulzeit erhielt sie Unterricht in Klavier und Gesang am Konservatorium ihrer Heimatstadt. Schon damals stand für sie fest: „Meine Stimme war für mich wie eine Berufung. Ich wollte nichts anderes als singen.“ Von da an ging es Schlag auf Schlag. Mit dem noch druckfrischen Berufsausweis in der Tasche wurde Regina Thoss zum Internationalen Schlagerfestival der Ostseeländer nach Rostock delegiert. Sie gewann auf Anhieb mit dem Lied „Die erste Nacht am Meer“. Der Sieg brachte ihr Einladungen in viele Länder ein. Durch Hochzeit, Ehe und die Geburt ihres Kindes folgte eine Auszeit. „Trotz einer schwierigen Lebensphase war die Geburt meines Sohnes der glücklichste Moment meines Lebens“, sagt Thoss. Im Rückblick empfindet sie die Pause sogar als Vorteil: „Wenn man so jung und unerfahren in der Branche ist, kann es passieren, dass man durch plötzlichen Erfolg leicht die Bodenhaftung verliert.“ 1968 stand sie wieder mit beiden Beinen auf der Bühne und bekam im Studio für Unterhaltungskunst gemeinsam mit Nina Hagen Gesangs- und Schauspielunter- Foto: Nikolai Schmidt mime mit japanischem Butoh-Tanz kombinieren. Die meisten spielen mehrmals täglich. Und wer etwas verpasst, bekommt noch eine Chance: Einige der Künstler sind Sonntag noch mal in Hoyerswerda beim Straßentheaterfest zu sehen. Dass sich immer wieder Besucher über die fünf Euro für das Festivalprogramm aufregen, kann man nur mit einem Kopfschütteln hinnehmen. Immerhin ist das Via Thea ansonsten gratis, Künstler stellen maximal den Hut auf, und das Glück findet sich eh in dem, was beiläufig passiert. So wie in dem Spontan-Konzert der dreiköpfigen Band, die am Donnerstag am Rand des Stadtparks steht. Als die Sängerin ganz nonchalant haucht: „Wer hätte gedacht, dass so viel Schönes aus so viel Bullshit entsteht?“, dann ist das einer dieser Momente. Da ist es egal, dass das Schlagzeug aus Plastebehältern bestand und die Anlage schepperte. Das ist dann eben Via Thea. Das Via Thea findet noch am Sonnabend an verschiedenen Orten in Görlitz statt. Der Eintritt zu allen Vorstelllungen ist frei, das Programmheft kostet 5 Euro. Am Sonntag gastieren einige der Künstler des Via Thea in Hoyerswerda beim Straßentheaterfest rund um den Marktplatz der Altstadt. Dresden. Vor zehn Jahren, am 15. September 2006, wurde das rekonstruierte Historische Grüne Gewölbe im Dresdner Schloss eröffnet. Die Staatlichen Kunstsammlungen feiern das Jubiläum mit einem Sonderangebot an die Besucher. Ab sofort sind „der Jubilar“, das Historische Grüne Gewölbe im Erdgeschoss des Residenzschlosses, und das 2004 eröffnete Neue Grüne Gewölbe in der darüber liegenden Etage zusätzlich zu den regulären Öffnungszeiten jeden Freitag 18 bis 20 Uhr geöffnet. Das Ticket für den Besuch beider Schatzkammermuseen kostet in dieser Zeit 15 Euro statt der üblichen 21 Euro (Webticket) und 23 Euro (Museumskasse) und beinhaltet eine Führung durch das Neue Grüne Gewölbe. Die Sonderöffnungszeit gilt bis Jahresende. (SZ) Zwickauer Theater verkauft sein Gestühl Zwickau. Wer sich zu Hause wie im Theater fühlen möchte, kommt jetzt in Zwickau auf seine Kosten. Ab 30. August werden die Theatersessel aus dem Zwickauer Gewandhaus an interessierte Bürger verkauft, teilte die Bühne am Freitag mit. Jeder der 200 Sessel ist für 25 Euro zu haben. Allerdings müssen die Sitze vor dem privaten Gebrauch erst noch zum Stehen gebracht und entsprechend umgerüstet werden. Denn bisher waren sie über eine Metallstrebe und ein Rohr im Boden verankert. Das Gewandhaus tauscht die alten Sessel rechtzeitig vor Beginn der neuen Spielzeit aus. (dpa) Mit dem zwölften Mann den feindlichen Geschützen entgegen Am Sonntag wird Sängerin Regina Thoss 70. Regelmäßig steht sie – wie hier für eine MDR-Show in der Stadthalle Chemnitz – noch auf der Foto: dpa Bühne. D Am Sonntag hat „die Thoss“, wie die Fans sie nennen, ihren 70. Geburtstag. Eine große Party gab es schon unlängst mit Freunden und Kollegen – aus Anlass eines anderen Jubiläums: Gut 50 Jahre zuvor hatte sie ihren Berufsausweis als Sängerin erhalten. „Da haben wir es richtig krachen lassen“, erzählt die Künstlerin. Ursprünglich habe sie den Geburtstag gar nicht opulent feiern wollen. Doch dann habe ein TV-Sender sie überredet. Jetzt ist Thoss froh, dass zur Feier in der Alten Börse von Berlin-Marzahn viele Kollegen zugesagt haben. Eigentlich steht Regina Thoss länger als 50 Jahre auf der Bühne. Bereits mit zwölf sang sie vor Tausenden auf der Großen Freilichtbühne in Zwickau Volkslieder. In der Schule nutzte sie Pausen zum Auftritt vor Mitschülern. Ihr Klassenlehrer sah die Begabung und förderte sie. Im Schulchor Berlin. Gegen teils massiven Protest von Künstlern, Sammlern und Händlern hat der Bundesrat das Gesetz zum Schutz von Kulturgütern in Deutschland gebilligt. Damit hat das wohl umstrittenste kulturpolitische Vorhaben dieser Legislaturperiode die letzte Hürde genommen. Eine kritische Entschließung fand am Freitag in der Länderkammer keine Mehrheit. Für die Verabschiedung reicht eine absolute Mehrheit von 35 der 69 Stimmen. Das Gesetz von Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) verbietet die Ausfuhr von „national wertvollem Kulturgut“ aus Deutschland. Zudem wird der illegale Handel mit Raubkunst aus Kriegs- und Krisengebieten erschwert. Der Bundestag hatte das Gesetz am 23. Juni mit den Stimmen der Regierungsfraktionen beschlossen, die Opposition enthielt sich. (dpa) Hymnen-Orakel Sängerin Regina Thoss hat bei Festivals in aller Welt Preise abgeräumt. Auch mit 70 steht sie noch immer auf der Bühne. Karrierestart mit zwölf Kulturgutschutzgesetz nimmt letzte Hürde Blaue Stunde im Grünen Gewölbe Mehr als die „Milva des Ostens“ DR-Talenteschmied Heinz Quermann konnte diese Stimme einfach nicht überhören: Als der Entdecker so vieler ostdeutscher Schlagersänger 1964 ins damalige Karl-Marx-Stadt reiste, hatte die 18 Jahre alte Regina Thoss ihre Mikrofonprobe für die Sendung „Herzklopfen kostenlos“ bereits absolviert. Doch als Quermann die Aufnahme eines von Thoss gesungenen Chansons hörte, war er elektrisiert. Anders ist nicht erklärbar, warum er umgehend nach Zwickau fuhr, an der Wohnungstür von Familie Thoss klingelte und zur Mutter sagte: „Ich will ihre Tochter.“ Regina Thoss muss heute noch über diese Szene lachen. S O N N AB E N D / S O N N TA G 9./10. JULI 2016 KULTUR & GESELLSCHAFT richt. Thoss räumte danach im In- und Ausland Preise ab. Nicht nur beim Song Contest International in Castlebar (Irland) wurde sie als beste Interpretin geehrt. Lieder wie „Die Liebe ist ein Haus“ oder „Rom-tarom“ avancierten zu Gassenhauern. Als die Wende in der DDR kam, reiste Thoss schon lange als Stargast auf Kreuzfahrtschiffen. Diese Engagements und ihre Vielseitigkeit erleichterten den Übergang in die neue Zeit. Zwölf Jahre war sie mit ihrer Band „Evergreen Juniors“ durch mehr als 30 Länder getourt und hatte sich dabei ein breites Repertoire erarbeitet. Auf dem „Traumschiff“ und anderswo sang sie Schlager, Shanties, Musical-Melodien, Folksongs oder Rock ’n‘ Roll. Ein Hamburger Journalist hörte sie mit dem Lied „Zusammenleben“ von Mikis Theodorakis und gab ihr den Beinamen „Milva des Ostens“. „Im Westen hat man natürlich nicht auf die Ost-Kollegen gewartet. Bis zum Mauerfall waren wir Exoten und plötzlich die Konkurrenz“, sagt die Sängerin und lacht. Sie ist dankbar dafür, ihren Beruf ohne große Unterbrechungen bis heute ausüben zu können: „Gesang ist für mich ein Lebenselixier.“ (dpa) Frankreich und Portugal feiern in ihren Hymnen gleichermaßen drastisch die Lust am Kampf. Von Gottfried Blumenstein N un ja, es ist aus. Die deutschen Kämpen zerstreuen sich mit ihren Angebeteten in alle Himmelsrichtungen – ohne ein munteres Liedchen auf den Lippen. Das ist schade, aber so sind nun mal die Regeln. Wer keine Tore schießt, fliegt, mit wem auch immer. Dennoch wollen wir bei allem Kummer nicht verhehlen, dass noch ein Spiel aussteht. Am Sonntag treffen zwei ehemalige Weltmächte aufeinander, die ihre besten Zeiten längst hinter sich haben. Bei den Portugiesen ist dies freilich weit länger her als bei den Franzosen. Nichtsdestotrotz ist ihr Verlusttrauma recht drastisch in den Text ihrer Hymne „A Portugesa“ eingeflossen. Helden der Seefahrt werden angesungen, den Glanz Portugals neu auferstehen zu lassen, indem man schnurstracks zu den Waffen greift, um sich den feindlichen Geschützen entgegenzuwerfen. Ein Text, der wie die Faust aufs Auge vom Fußballplatz passt. Und der auch nur dort, wo Spiel und Spaß dominieren, mit einigem Augenzwinkern hingehört. Mit der Musik selbst hat es eine sonderbare Bewandtnis, denn die stammt aus der Feder eines 1850 in Lissabon geborenen Deutschen namens Alfredo Keil. Das portugiesische Melos, dominiert von der Melancholie des Fado, trifft Keil nur ansatzweise. Seine Komposition steht zwar in Es-Dur, einer Tonart, der neben Schwermut auch Grausamkeit innewohnen soll, bedient aber in der Melodie mit überraschend kunstvollen Sprüngen eher die deutsche Spätromantik. Kein Wunder, dass die Portugiesen gegen die Unsrigen zumeist keinen Stich sahen. Klassik, also Haydn, schlägt immer Romantik, egal von wem. Die Franzosen sollten sich durchaus fürchten. Doch in der Regel wurden die Portugiesen stets von der Marseillaise überrollt. Der letzte Sieg Portugals stammt aus dem Jahre 1975. Bei geschickter Umdeutung ihrer Hymne, in der die Gesangs- wie eine Solistenstimme daherkommt, wäre es taktisch schlau, selbige etwas zurückzunehmen und mit ihr im Gesamtsound aufzugehen. Das würde auf dem Platz bedeuten, dass Ronaldo sich willig zeigt, von seinem überragenden Ego als Tenorbuffo etwas herzugeben. Dann passiert das, von dem bereits Berti Vogts kündete: „Wenn jeder Spieler zehn Prozent von seinem Ego an das Team abgibt, haben wir einen Spieler mehr auf dem Feld.“ Im Falle Portugals genügt ein Spieler. Dessen zehn Prozent – gut verteilt – machen den zwölften Mann aus, der aus dem Nichts heraus das Siegtor schießt. Gottfried Blumenstein hat in Dresden Musik studiert, sich als Musikkritiker in der Welt umgetan, ist heimgekehrt in die Oberlausitz und betreibt den Schwarzwasser Verlag.
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