hymnenspektakel Wenn die Musik zur Waffe wird

SÄCHSISCHE ZEITUNG
FEUILLETON
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S O N N AB E N D / S O N N TA G
11./12. JUNI 2016
KULTUR & GESELLSCHAFT
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Staatsschauspiel Dresden
Röntgenbilder
vom Führer
Abschiedsbrunch im Schauspielhaus
12. Juni 2016, 10:30 Uhr
Zweifelhafte Auktion von
persönlichen Gegenständen
Hitlers und Görings angekündigt.
Es gibt noch Karten an unserer
Vorverkaufskasse im Schauspielhaus
Samstag 10:00 bis 14:00 oder Sonntag
ab 9:30 Uhr direkt an der Tageskasse
E
Waffenbrüder
von gestern
Krimiautor Martin Walker folgt
mörderischen Spuren bis Moskau
und akzeptiert eine Lüge.
Von Rainer Rönsch
A
Martin Walker: Eskapaden.
Diogenes Verlag, 393 Seiten, 24 Euro
Peter Schreier an der Büste des von ihm verehrten Robert Schumann im Kurpark von Kreischa. „Ich habe vor allem als Mozart- und
Bach-Tenor Karriere gemacht, aber der sensible Schumann ist bis heute mein Komponist des Herzens“, so Schreier.
Foto: Ronald Bonss
Peter Schreier beackert Kreischa
Es geht wieder los: Der berühmte Dresdner Künstler plant erneut eine Schumanniade,
lockt Japaner ins Lockwitztal und mäht schon mal am Schumann-Weg.
Von Bernd Klempnow
E
in neuer Orden, Herr Kammersänger?
„Jawohl und diesmal der Sächsische
Verdienstorden“, sagt Peter Schreier. „Der
Ministerpräsident hat so viele kluge und
engagierte Menschen ausgezeichnet. Ich
weiß gar nicht, wie ich zu der Ehre komme. Ich bin doch schon so lange raus aus
dem Geschäft.“ Wie immer ist der Dresdner zu bescheiden, der als Sänger und Dirigent weltweit und Jahrzehnte die Bühnen
und Konzerthallen mit seiner Kunst zum
Toben gebracht hat. Wohl setzte sich der
81-Jährige unlängst damit zur Ruhe – untätig für die Sachsen ist er dennoch nicht. Peter Schreier sorgt mit dafür, dass internationale Stars und Publikum ins beschauliche, osterzgebirgische Kreischa kommen.
„Es ist wie derzeit im Garten: Es geht
wieder los. Überall wächst und blüht es,
braucht es einen Gärtner. Da wird es Zeit
für die Schumanniade in Kreischa“, sagt
der Tenor. Mit dem Kunst- und Kulturverein Kreischa organisiert er alle zwei Jahre
so ein Fest, das an den Aufenthalt von Robert Schumann und Familie 1849 erinnert.
Eigentlich waren die Schumanns vor den
revolutionären Unruhen aus Dresden nach
Maxen auf den Berg geflüchtet. „Doch dort
residierten alsbald Adlige. Er konnte irgendwann deren Gerede nicht mehr ertragen. Die Familie bezog in Bad Kreischa im
Lockwitztal Quartier“, sagt Schreier. „Ein
guter Grund, die hier in der Region entstandenen Arbeiten von Robert immer wieder
mal aufzuführen.“
Speziell viele Lieder hatte der Schöpfer
der „Frühlingssinfonie“ hier vertont. Einige davon erklingen nun bei der mittlerweile neunten Schumanniade. Besonders reizvolle Arrangements hat Schreier für das
Abschlusskonzert ausgewählt. Es sind Klavierbearbeitungen von Franz Liszt, „nicht
so typisch deutsch-bombastisch wie sonst,
sondern Liszt-untypisch sehr sensibel. Gut,
dass wir als Interpreten den hochtalentierten Alexander Krichel gewinnen konnten.“
Das Programm der Schumanniade ist wieder so attraktiv, dass Japaner extra anreisen. „Wir haben als kleiner Verein eine bemerkenswerte Ausstrahlung.“
Schreier ist zwar Dresdner, hat aber seit
den 70er-Jahren in Kreischa ein Haus mit
großem Grundstück. Und das liegt zufällig
am sogenannten Schumann-Weg. Den
nutzte nachweislich die berühmte Komponistenfamilie bei ihren ausgedehnten, teils
strapaziösen Wanderungen von Maxen
nach Saida. Und auf der Wiese, wo heute
Schreiers Haus steht, könnte das Paar mit
den Kindern Pause oder Picknick gemacht
haben. Schreier dankt der Gemeinde Kreischa diesen Zufall auf seine Weise – neben
der Schumanniade. Er stiftete 1997 eine
Büste von Robert, die im Kurpark steht,
und er pflegt das Areal. Das ist zwar steil,
aber der Kammersänger verfügt über einen
beachtlichen, PS-starken Fuhrpark. Jeder
Grundstücksbesitzer bekommt glänzende
Augen oder erblasst, je nachdem wie er veranlagt ist. Da gibt es unter anderem eine
elektroangetriebene Schubkarre, die die
Steigungen nur so nimmt. Da gibt es einen
Rasentraktor, der vierzig Zentimeter hohes
Grass gleich mulcht. Es gibt einen weiteren
Rasentraktor, der häckselt und als Gabelstapler Lasten wie riesige Kakteen-Töpfe
transportiert. Wenn Schreier die Fahrzeuge vorführt oder erklärt, glaubt man ihm,
wenn er sagt: „Im nächsten Leben werde
ich gewiss Landwirt.“
Bis dahin ist noch etwas Zeit. Der legendäre Sänger hatte zwar in den vergangenen
Jahren schwere gesundheitliche Probleme,
lag gar im Koma. Aber er erholte sich wieder großartig, auch wenn der Ischiasnerv
derzeit muckert. Regelmäßig Physiotherapie, und der agile Mann beackert seine
Kreischaer Flur. Bereits in Planung ist die
nächste Schumanniade 2018. „Aber dann
ist Schluss, müssen andere ran“, sagte Peter Schreier. Dabei wissen alle, er macht
weiter, wenn er gebraucht wird.
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uch im achten Krimi von Martin Walker über den französischen Kleinstadtpolizisten Bruno gibt es gute Weine, leckeres Essen und gemütliche Kameraderie in
der idyllischen Landschaft des Périgord.
Tourismus und Weinabsatz wurden dort
durch die Romane des schottischen Autors
befördert.
„Normandie-Njemen“ hieß das französische Jagdgeschwader an der Seite der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Der
neunzigjährige „Patriarch“, Brunos Kindheitsheld, flog in jenem Geschwader. Er
war gut Freund mit hohen sowjetischen
Militärs und geheimer Moskau-Emissär
französischer Präsidenten. Dank Martin
Walkers Schreibkunst passen Erinnerungen an die sowjetisch-französische Waffenbrüderschaft im Zweiten Weltkrieg oder
Hintergründe des Putsches gegen Gorbatschow durchaus in die Idylle (Übersetzung: Michael Windgassen). Die Geschichtsbücher von Walker über den Zweiten Weltkrieg wurden zur Pflichtlektüre an
Universitäten.
Bruno ist seinem Idol ebenso verfallen
wie dessen schöner Schwiegertochter
Madeleine. Streitereien zwischen Grünen
und Jägern setzen ihm zu, auch das Ende
einer Beziehung. Doch er schöpft Verdacht,
als ein pensionierter Oberst und alter Weggefährte des Patriarchen erst betrunken
und am nächsten Morgen tot ist. Zu eilig
wird ein selbst verschuldeter Tod diagnostiziert, zu überstürzt die Leiche verbrannt.
Bruno ermittelt, dass der angeblich verarmte Oberst schwerreich war und dass
ihm K.-o.-Tropfen eingeflößt wurden.
Bei der Suche nach Hintergründen in
Moskau, wo der Oberst als Militärattaché
eingesetzt war, bringt der Autor seine fundierten Kenntnisse als ehemaliger MoskauKorrespondent des „Guardian“ ein. Das
Charakterbild des Patriarchen wird durch
ein Gerücht beschädigt, er habe mit politischer Denunziation beim KGB einen sowjetischen Nebenbuhler ausgeschaltet.
Bruno findet heraus, wer ein privates
Motiv hatte, den Oberst zum Schweigen zu
bringen. Die Drohung, auch Bruno umzubringen, speichert dieser auf seinem
Handy. Der Anschlag misslingt, und der
Mord planende Mensch kommt zu Tode.
Da spricht der Patriarch ein Machtwort:
„Jagdunfall“. Bruno fügt sich und löscht die
Aufzeichnung vom Handy. Ist die Vernichtung eines Beweismittels das erste Anzeichen von Resignation, oder wird er weiter
ermitteln im schönen, manchmal mörderischen Périgord?
Schumanniade Kreischa
Auch mit 81 Jahren sehr mobil und
aktiv: Schreier auf dem Rasenmäher,
der gleichzeitig mulcht. Foto: Jürgen Helfricht
p Schumanns Requiem für Solostimmen, Chor und Orgel mit dem Sächsischen Kammerchor und Matthias Eisenberg am 17. Juni, ab 20 Uhr in der
Kirche Kreischa.
p Schumanns „Minnespiel“ und Brahms
„Liebeswalser“ u. a. mit den Pianisten
Ragna Schirmer und Camillo Radicke
am 18. Juni, ab 20 Uhr im Schloss
Reinhardtsgrimma.
p Schumann-Lieder für Klavier mit dem
Newcomer Alexander Krichel am
19. Juni ab 11 Uhr, Schloss Reinhardtsgrimma.
p Infos/Tickets: Tel. 035206 185558,
Mail: [email protected]
Hymnen-Orakel
Die Ukraine steht wie ein Fels, doch Haydns Finesse wird siegen
In Nationalhymnen spiegeln sich
Geschichte und Selbstverständnis
der Länder. Verraten sie etwas
über das Können der Nationalelf?
Von Gottfried Blumenstein
B
ereits Beethoven forderte: „Dem Manne muss die Musik Feuer aus dem Geist
schlagen“. In diesem Sinne werden Fußball-Länderspiele angegangen, die kurz vor
dem Anpfiff hymnisch eingeleitet werden.
Aber was sagt die Musik über das kommende Spiel aus? Gibt es musikwissenschaftlich relevante Fixpunkte, die vom jeweiligen Notenbild ausgehend auf Spielverlauf
und Ergebnis hindeuten? Wie passen – eine Hymne steht in Dur, die andere in Moll –
die beiden Mannschaften auf dem Spielfeld
zusammen? Kommt es da zu einer unschönen Kakophonie, von der bereits die alten
Griechen einiges wussten? Bedeutet ein
forscher Marschrhythmus HurraFußball ohne Rücksicht auf die
Defense? Bringen Synkopen, die
gegen den Takt gesetzt sind, die
Abwehr gar ins Stolpern, verweist
eine elegische Melodieführung
auf einen melancholischen Mittelstürmer, oder erzeugt etwa eine
Fermate, die auf dem Notenblatt
eine Bogenlampe nachzeichnet,
dass im Spiel vermehrt dieselben
zu bestaunen sind? Fragen über
Fragen also.
Nichtsdestotrotz sei an dieser
Stelle der Versuch unternommen,
der Fußball-Europameisterschaft 2016
auch musikalisch eine Krone aufzusetzen,
denn schließlich haben wir mit Frankreich
ein Austragungsland, wo die berühmteste
aller europäischen Nationalhymnen gesungen wird. Dass die anderen 23 Hymnen
freilich auch ihre heroische Geschichte, ihre musikalischen Meriten und ihre erbaulichen Wirkungen für den Spielfluss haben,
wird sich im Laufe der Meisterschaft erweisen, die für die deutsche Elf am Sonntag mit dem
Spiel gegen die Ukraine beginnt.
Ein erster Höreindruck der ukrainischen Hymne bestätigt sogleich, dass Jogis Jungs es hier mit
einem harten Brocken zu tun bekommen. Die Musik mit ihrem
getragenen slawischen Melos,
1865 komponiert von Mychailo
Werbyzkyj, hat nichts Verspieltes, sondern türmt sich mächtig
gewaltig auf wie ein Fels mit Fünferkette. Dies mag zwar von einer
gewissen Hüftsteife in der Verteidigung
künden, aber ein solches Bollwerk muss
erst mal ausgespielt werden. Da macht vor
allem der Mittelteil des Deutschlandliedes
Mut. Dort waltet ein harmonisch trickreicher Geist, der kurzzeitig sogar zwei MollAkkorde einschiebt. Eine Meisterleistung
Haydns, denn die eher schlichte Melodie
gewinnt Finesse, die vor allem im Sturm
gefragt ist. Hier wären durchaus Partiturkenntnisse des Trainerstabes hilfreich, der
dann zu dem Schluss käme, Mario Gomez
doch lieber auf der Bank zu belassen.
Wenn es der deutschen Elf gelingt,
Haydns Kunstfertigkeit in leichtfüßige
Spielzüge umzusetzen, dürfte ein Sieg (3:2)
möglich sein, zumal die ukrainische Hymne am Schluss ihrer eigenen Kraftentfaltung nicht so recht glaubt. Das stolze A-Dur
löst sich auf und mündet im Schlussakkord
in die Paralleltonart fis-Moll, von der der
Musiktheoretiker Mattheson bereits im 18.
Jahrhundert berichtete, dass dieser Tonart
etwas „Ermattetes und Verlorenes“ innewohnt.
Gottfried Blumenstein hat in Dresden Musik studiert,
sich als Musikkritiker in der Welt umgetan und betreibt
nun in Königswartha den Schwarzwasser Verlag.
in Münchner Auktionshaus hat die Versteigerung angeblich persönlicher Gegenstände von Adolf Hitler und Hermann
Göring angekündigt. Wie es auf der Homepage des Auktionshauses Hermann Historica heißt, kommen die Objekte am 18. Juni
unter den Hammer. Sie sollen demnach
aus der Sammlung des US-Arztes John
K. Lattimer stammen, der während der
Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse für
die medizinische Versorgung der Angeklagten verantwortlich war. Laut Wolfgang
Hermann, Mitinhaber von Hermann Historica, habe das Auktionshaus die Sammlung
von Lattimers Tochter bekommen.
Die Sammlung umfasst auch den Messingbehälter für die Blausäure, mit der sich
Göring kurz vor seiner geplanten Hinrichtung in Nürnberg umbrachte, seine Seidenunterhose, den Richterhammer sowie
Röntgenaufnahmen Hitlers nach dem Attentat vom 20. Juli 1944.
„In dem Umfeld der Nürnberger Prozesse waren so viele Menschen beteiligt,
Wachpersonal, Ärzte, Psychologen. Da
kann es durchaus sein, dass jemand etwas
mitgenommen hat“, sagte der Historiker
Andreas Mix vom Memorium Nürnberger
Prozesse. Man müsse die Herkunft der Objekte genauer prüfen, aber da hielten Auktionshäuser sich oft bedeckt. „Historische
Objekte haben natürlich eine Aura und der
Richterhammer kann natürlich spannend
sein, aber manche Objekte sind einfach geschmacklos, makaber und skurril.“ (dpa)
„Zauberflöte“ mit Pferden
auf der Felsenbühne
Rathen. Die Landesbühnen Sachsen wollen
ihrem Publikum ab diesem Sonnabend eine zauberhafte „Zauberflöte“ bieten. Bei
Mozarts beliebtester Oper sind sogar Pferde
auf der Bühne. Die drei Damen der Königin
der Nacht sowie die Königin selbst kommen hoch zu Ross daher. Wie die Landesbühnen mitteilten, sind die Auftritte der
Damen nicht die einzige Besonderheit in
der Inszenierung von Operndirektor Jan
Michael Horstmann, der auch dirigiert. Das
Orchester hat eine eigene überdachte Bühne und sitzt nicht mehr im Orchestergraben, sodass der Klang erstaunlich gut ist.
Mehrere Sänger stammen aus den USA. Als
Studenten im German Opera Program der
James Madison University in Harrisonburg
(US-Bundesstaat Virginia) sammeln sie Praxiserfahrungen. Zudem agieren Kinderakrobaten aus Sebnitzer Schulen.
Die Felsenbühne fasst 1 800 Zuschauer.
Bis 11. September stehen zudem das Tanzstück „Momo“, die Weber-Oper „Der Freischütz“, die Schauspiele „Der Glöckner von
Notre Dame“ und „Winnetou“ sowie die
Märchen „Schneeweißchen und Rosenrot“
und „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“
auf dem Spielplan. (SZ/bkl)
NACHRICHTEN
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Sachsens Politprofis stellen
sich satirischem Rededuell
Dresden. Braucht Sachsen eine neue ImageKampagne? Aber ja doch, sagt die Landeszentrale für politische Bildung und sucht
Ideen bei der sechsten Auflage des satirischen Redewettstreits „Wir reden uns um
Kopf und Kragen“. Die Teilnehmer stellen
am 20. Juni ab 20 Uhr auf dem Dresdner
Theaterkahn in knappen Beiträgen ihre
Slogans vor, zum Schluss wählt das Publikum den besten. Zu den Rednern gehören
der CDU-Landtagsabgeordnete Christian
Hartmann, die Ex-Grünen-Politikerin Antje
Hermenau und TU-Politikprofessor Werner Patzelt. Für den satirischen Auftakt
sorgt Kabarettist Philipp Schaller. (rab)
Karten für 15/10 Euro (erm.) unter Tel. 0351 4969450
Unterirdisches Museum mit
römischem Palast entsteht
Köln. Im August soll in Köln der Bau eines
großen unterirdischen Museums zur Stadtgeschichte beginnen. Für 61,5 Millionen
Euro entsteht bis 2019 eine in dieser Form
einzigartige Dauerausstellung unter der Erde: Auf einem 600 Meter langen Rundgang
erlebt der Besucher den in den 50er-Jahren
wiederentdeckten römischen Statthalterpalast, das in den vergangenen Jahren wieder ausgegrabene Judenviertel aus dem
Mittelalter und das ehemalige Goldschmiedeviertel. „Das wird visuell nach allen Regeln der Kunst in Szene gesetzt“, sagte Museumsdirektor Thomas Otten. (dpa)
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16. JUNI 2016
WWW. S Z - O N L I N E . D E / FE U I L L E TO N
„Ick freu mir
wie Bolle“
Paul McCartney gab auf seiner
Tour gleich drei Konzerte in
Deutschland. Zum Abschied
feierten die Fans den Ex-Beatle
in der Berliner Waldbühne.
Von Andrej Sokolow
P
Das Gemälde aus dem 19. Jahrhundert zeigt Auswanderer auf
der Donau bei Wackerstein nahe
Ingolstadt. Sie schipperten in einer sogenannten Ulmer Schachtel, einer Art Hausboot (Modell
siehe kleines Foto) die Donau hinab. Fotos: Stiftung Donauschwäbisches
Zentralmuseum Ulm; Ronald Bonß
Kommen und Gehen
Das Dresdner Verkehrsmuseum erzählt in einer Sonderschau davon, was Menschen bewegt, ihre Heimat zu verlassen.
Von Birgit Grimm
U
nterwegs sind Hugenotten, Donauschwaben, Juden, Ostpreußen, DDRBürger, BRD-Bürger, Vietnamesen, Italiener, Spanier, Griechen, Türken, Syrer, Gastund Vertragsarbeiter, Ingenieure, Künstler,
Wissenschaftler, arme Leute, Verliebte,
Steuerflüchtlinge. Ihre Verkehrsmittel:
Pferdekutsche und Ulmer Schachtel,
Dampfschiff und Leiterwagen, Eisenbahn
und Heißluftballon, Leichtflugzeug und
Schlauchboot, Luxuslimousine und Transporter, Linienflugzeug und Fernzug sind
Fahrzeuge, die Menschen in ein anderes
Land bringen, ihnen zu einem neuen, hoffentlich besseren Leben verhelfen.
Was die Menschen weltweit bewegt,
woanders hinzugehen, darüber erzählt das
Dresdner Verkehrsmuseum ab jetzt spannende und abenteuerliche, dramatische
und auf jeden Fall sehr persönliche Geschichten. Die neue Sonderausstellung mit
dem schnöden Titel „Migration“ hat diese
Geschichten so um die Fortbewegungsund
Grenzüberwindungsgerätschaften
gruppiert, dass nicht die Fahrzeuge, sondern die Menschen im Fokus stehen. Menschen suchten schon ein neues Zuhause,
als das Rad noch nicht erfunden war. Ein
7 000 Jahre alter Kumpf ist der tönerne Beweis dafür, dass Menschen schon immer
weite Wege auf sich nahmen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Diese Töpfe
ohne Henkel, die Archäologen hier in Sachsen fanden, stammen aus dem Nahen Osten. Sie reisten mit den Bauern, die auf der
Suche nach fruchtbarem Land waren und
Ackerbau und Viehzucht hierher brachten.
Waren diese Leute zu Fuß unterwegs? Sind
sie geritten?
Dann macht die Ausstellung einen großen Zeitsprung direkt ins 16. Jahrhundert
und berichtet von den Hugenotten, also
den französischen Protestanten, die aus
dem katholischen Frankreich nach
Deutschland flohen. Angerissen wird das
Schicksal der sogenannten Donauschwaben im 19. Jahrhundert. Ein Pfarrer kommt
ins Spiel, der davon erzählt, wie die Leute
mit der „Ulmer Schachtel“ in ihr neues Leben schipperten. Das war keine alte Frau,
sondern ein Boot, das am Ziel der Reise irgendwo in Ungarn oder Rumänien zum
Wohnhaus umfunktioniert wurde.
Nur sechs Prozent der Donauschwaben
kamen tatsächlich aus dem Schwabenland,
aber um Statistiken geht es im Verkehrsmuseum nicht. „Wir haben die Menschen
hinter den Zahlen gefragt und uns erzählen lassen, was sie bewegt“, sagt Museumsdirektor Joachim Breuninger. Johann Karl
Reichard, jener Pfarrer, der von den Donauschwaben berichtet, konnte freilich nicht
persönlich befragt werden. Erster Zeitzeuge, der per Video Auskunft gibt, ist Josef Salomonovic. Als kleines Kind überlebte er
die Gettos Litzmannstadt und Auschwitz
und später auch den Bombenangriff auf
Dresden. Die Deportation der Juden ist in
der Schau als Sackgasse inszeniert. In diese
dunklen Boxen muss der Besucher sich hineinbegeben. Bei allen anderen steht er
neugierig, staunend, überrascht oder erschrocken davor. Die Geschichten sind so
abenteuerlich oder so normal, die Motive
sind so vielfältig wie die Menschen selbst.
Ein schwarzes Schlauchboot steht im
Zentrum der Ausstellung. Auch zeigt eine
Glücklich gelandet:
Die Familien Strelzyk und Wetzel aus
Thüringen fuhren
1979 im selbst gebauten Ballon
über die Grenze.
Im bayerischen
Naila nahm man
sie freundlich auf.
Für die Pressefotografen setzten sie
sich am Morgen
danach noch einmal in den Ballon.
Jetzt ist das
Fluchtfahrzeug ein
Museumsexponat.
Foto: © Museum Naila im
Schusterhof, Naila
Hymnen-Orakel
Das wird kein Spaziergang nach Noten
Von Gottfried Blumenstein
S
ehr schlau war es vom deutschen Trainerstab, im Spiel gegen die Ukraine Mario Gomez zu schonen, um das
hymnische Wechselspiel zwischen Fels und Brandung nicht zu
gefährden. Partiturkenntnis und
Quirligkeit haben also zum Erfolg
geführt, wobei ohne einen die
Tonart beherrschenden Manuel
Neuer das Spiel übel hätte ausgehen können. Gegen die polnische
Mannschaft wird es heute ebenfalls kein Spaziergang nach Noten, denn das slawische Melos
greift auch hier rustikal durch.
Dabei gibt es eine Besonderheit, der man mit einer neuen
Strategie Paroli bieten muss. Die
polnische Hymne ist nämlich eine der seltenen Nationalhymnen, die mit einem vertänzelten ¾-Takt aufwarten. Allerdings nicht in
verschmuster, sexuell aufgeladener Walzer-
seligkeit, sondern im rassigen Mazurka-Stil.
Das weist auf stark rhythmisierte Stürmerqualitäten hin, die sich momentan auf einen gewissen Robert Lewandowski fokussieren. Es gilt Alarmstufe F-Dur. Allerdings darf man hinter dem eher
schwachen, aber gewonnenen
Spiel der Polen gegen Nordirland
einen Rosstäuschertrick mit falscher Quinte vermuten.
Strategisch wäre es von Vorteil,
die Verteidigung wäre wachsamer. Sie muss sich dafür nur auf
den Ursprung der deutschen
Hymne besinnen. Der Fama nach
hat Haydn die Melodie im Burgenland aufgeschnappt, wo eine starke kroatische Minderheit lebt.
Das bekannte altkroatische Volkslied „Stal se jesam rano jutro malo
pred zoru“ ist in der Melodieführung deckungsgleich mit dem Deutschlandlied. Im
ursprünglichen Text wird jedoch darauf
verwiesen, dass es günstig ist, frühzeitig, al-
so noch vor der Morgendämmerung, aufzustehen, um dem Tagwerk mit hellwachem Geist zu genügen.
Hier sollte der Trainer den Hebel ansetzen, um den leicht verträumten Schlafzimmerblick der deutschen Abwehrrecken zu
eliminieren, damit zumindest ein ehrenvolles Unentschieden (1:1) herausspringt.
Ergänzend könnte man auch die Spielerfrauen ins Gebet nehmen, ihren Gatten
frühmorgens zur Ermunterung Note für
Note ins Ohr zu schmettern – freilich nur
übers Telefon, denn das strikte Hausverbot
für Anhängsel im EM-Quartier darf nicht
gebrochen werden.
Gottfried Blumenstein hat in Dresden Musik studiert,
sich als Musikkritiker in der weiten Welt umgetan, ist
wieder heimgekehrt in die Oberlausitz und betreibt in
Königswartha den Schwarzwasser Verlag.
absolut untaugliche Rettungsweste in Kindergröße, welches Risiko Menschen eingehen, wenn sie bei dubiosen Schleusern eine Schlauchbootfahrt übers Mittelmeer buchen. Aus einer lebensgefährlichen Situation manövrieren sie sich in die nächste. Es
muss pure Verzweiflung sein, sich in so ein
überfülltes Gummiboot zu setzen. Die
Flucht wird zum Höllentrip, der viel zu oft
nicht in Europa endet.
Wie mag eine syrische Familie die Geschichte von der abenteuerlichen Ballonfahrt der Familien Strelzyk und Wetzel reflektieren? Vier Erwachsene und vier Kinder flohen im September 1979 mit einem
selbst gebauten Ballon von Thüringen nach
Bayern. Lange hatten die Familienväter an
dem Fluchtfahrzeug getüftelt. Erst der dritte Ballon war reisetauglich für acht Personen, die sich um vier Propangasflaschen
hockten. Der quadratische Ballonkorb, er
sieht aus wie ein Boxring für Arme, kam in
Naila, wo die Familien landeten, ins Museum. Jetzt steht er im Verkehrsmuseum,
und man mag kaum glauben, dass damit
die Flucht gelang. Eine halbe Stunde waren
sie damit in der Luft, wohl sogar 2 000 Meter über dem Erdboden. Es ist heute nur
schwer nachvollziehbar, warum sie sich
diesem Risiko aussetzten. War es die pure
Unzufriedenheit mit dem Eingeschlossensein in der DDR, Verbitterung? Oder spielten Übermut und Abenteuerlust nicht mindestens eine ebenso große Rolle?
Michael Schlosser, der si-ch ein Leichtflugzeug baute, hatte nicht so viel Glück. Er
wurde erwischt, als dem Flugzeug noch die
Tragflächen fehlten. Nach zwei Jahren Haft
kaufte ihn die BRD frei. Nicht nur über die
Flucht aus der DDR und in die DDR, auch
über Dresden als neue Heimat, über die
Chancen und Risiken von Migration, über
Syrien wird zu reden sein in diversen Podiumsdiskussionen im Verkehrsmuseum.
aul McCartney live zu sehen, ist wie lebendiger Musikgeschichte zu begegnen. Allein die Vorstellung, dass da nicht irgendjemand „Let It Be“, „Yesterday“ oder
„Lady Madonna“ singt, sondern der Mann,
der diese Songs geschrieben hat. Einer der
Beatles, jemand aus einer anderen Ära.
Man hat sofort so viele Bilder vor Augen.
Die 60er-Jahre, Pilzkopf-Frisuren, kreischende Fans. Das ist lange her, doch beim
letzten Deutschland-Konzert seiner im
April gestarteten „One On One“-Tour in
Berlin bewies McCartney am Dienstag, dass
er noch extrem gut in Schuss ist.
McCartney ist 73, aber auf der Bühne
sieht man es ihm keinen Moment an. Er
spielt fast drei Stunden, er tanzt und hüpft,
er rennt die Stufen zum Klavier hoch, er
sucht den Augenkontakt zum Publikum,
und immer wieder flimmert ein spitzbübisches Lächeln über sein Gesicht. McCartney lebt auf der Bühne, die Liebe der Fans
ist sein Lebenselixier. Er weiß, wie er sie
glücklich machen kann.
Die Songs aus der Beatles-Ära lösen immer noch die größte Begeisterung aus. „A
Hard Day’s Night“ als Auftakt bringt die
rund 22 000 Menschen in der Berliner
Waldbühne sofort in Bewegung. Kurz darauf folgt mit „Can’t Buy Me Love“ ein weiterer Klassiker. McCartney spricht die Zuschauer in ganz passablem Deutsch an: „Es
freut mich, wieder hier zu sein.“ Und dann,
weil es Berlin ist: „Ick freu mir wie Bolle.“
Mit Ukulele und Regenbogenfahne
„Migration“ vom 16. Juni bis 30. Dezember 2016 im
Verkehrsmuseum Dresden; Augustusplatz 1. Geöffnet
dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr. Ab 25. Juni immer samstags,15 Uhr kostenlose Führung durch die Schau.
Es folgten unter anderem „I’ve Got a Feeling“, „Here, There and Everywhere“ und
„We Can Work It Out“. Spätestens nach
„Love Me Do“ hatte McCartney das Publikum ganz in der Hand. Ein Chor aus tausenden Stimmen sang bei „Lady Madonna“,
„Ob-La-Di, Ob-La-Da“ und „Hey Jude“ mit.
George Harrisons „Something“ stimmte
McCartney mit einer Ukulele an und ließ
den Song gewohnt hymnisch ausklingen.
Nach „Back in The U.S.S.R.“ erinnerte er
sich, wie im Jahre 2003 nach dem Konzert
auf dem Roten Platz in Moskau der damalige russische Verteidigungsminister bekannte, „Love Me Do“ sei die erste Platte gewesen, die er gekauft habe.
Als letzte Zugabe gab es das volle Medley vom „Abbey Road“-Album mit „The
End“ zum Ausklang.
Die Ehre, am Schluss kurz zu McCartney auf die Bühne zu kommen, wurde diesmal einem Vater und Sohn aus Japan zuteil,
die extra für das Konzert nach Berlin geflogen waren. Er unterschrieb für den Jungen
einen Entschuldigungsbrief, weil dieser für
die Reise fünf Tage Schulunterricht
schwänzte. „Ausnahmsweise. Machen Sie
das nicht mit ihren Kindern“, warnte ein
gut aufgelegter McCartney das Publikum
und signierte auch gleich die Sgt.-PepperUniformen der Japaner.
Auch politische Statements scheute er
nicht. In Gedenken an die Opfer des Anschlags in Orlando kam McCartney mit der
Regenbogen-Fahne der Lesben- und Schwulenbewegung auf die Bühne. „Wir stehen
gemeinsam mit Orlando“, rief er unter
dem Applaus des Publikums. Und mitten in
Brexit-Debatte und Fußball-Europameisterschaft schwenkte er eine Deutschlandfahne, während einer seiner Musiker den britischen „Union Jack“ hochhielt. (dpa)
Luther und den Grimms
aufs Maul geschaut
Kunstankäufe des
Freistaates ausgestellt
Kassel. In der Grimmwelt Kassel wird den
Gebrüdern Grimm und dem Reformator
Martin Luther genau „aufs Maul geschaut“.
Eine Ausstellung zeigt, wie Luther die deutsche Sprache geprägt und sich dies im Wirken der Brüder Grimm gespiegelt hat. Zu
elf Redewendungen werden spielerische
Installationen gezeigt – von „Alles hat seine
Zeit“ über „Im Dunkeln tappen“ bis hin zu
„Buch mit sieben Siegeln“. „Überall gibt es
Möglichkeiten, selbst aktiv zu werden“,
sagte Grimmwelt-Leiterin Susanne Völker
am Mittwoch bei der Vorstellung der Ausstellung „Aufs Maul geschaut. Luther und
Grimm wortwörtlich“ (16. Juni bis 31. Oktober).
Sprichwörtlich „sein Scherflein beitragen“ kann der Besucher auch in einem
SMS-Chat mit Luther. Über Signalwörter
reagiert dieser auf SMS mit seinen Zitaten
aus dem Wörterbuch. Die Antwort kommt
ebenfalls per SMS und wird in der Ausstellung an eine Wand projiziert. Anlass der
Schau ist der 500. Jahrestag der Reformation im kommenden Jahr. (dpa)
Leipzig. Die Kulturstiftung des Freistaates
Sachsen hat im Rahmen ihrer Förderankäufe seit 2005 mehr als 450 Werke von
rund 280 Künstlern im Wert von 1,6 Mio.
Euro erworben. Mit diesen Ankäufen unterstützt die Kulturstiftung ungewöhnliche
künstlerische Ansätze und fördert hoffnungsvolle Talente. „Zeitgenössische Kunst
in Sachsen steht für Ideenreichtum, Vielfalt und Freiheit. Junge Künstler widmen
sich mit voller Hingabe der Entwicklung einer eigenen künstlerischen Handschrift. So
viel Leidenschaft, Wille und Energie verdienen größten Respekt und unsere Unterstützung“, sagt Stiftungsdirektor Ralph Lindner.
Für die Ankäufe dieses Jahres hat ein
unabhängiger
Fachbeirat
insgesamt
37 Künstlerinnen und Künstler nominiert.
Bis zu 170 000 Euro stehen zur Verfügung.
Die neu angekauften Arbeiten werden
nach der Juryentscheidung in Halle 14 –
Zentrum für zeitgenössische Kunst in Leipzig vom 25. Juni bis 17. Juli 2016 der Öffentlichkeit gezeigt. (SZ)
SÄCHSISCHE ZEITUNG
FEUILLETON
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D I E N S TA G
21. JUNI 2016
WWW. S Z - O N L I N E . D E / FE U I L L E TO N
Gänsehautstimmung
ohne Firlefanz
Bruce Springsteen hat bei seinen
zwei Deutschland-Konzerten
weit mehr als 100 000 Fans
begeistert. Dazu braucht er nicht
viel mehr als seine Gitarre.
U
Wir vertreten
das wahre Volk.
Und nur wir!
Foto: ddp images
„Populismus“ wird meist als Schimpfwort
verwendet. Ist es das wirklich –
oder eher eine Auszeichnung?
Von Andreas Wirthensohn
G
äbe es ein europäisches Wort des Jahres, „Populismus“ wäre ohne Zweifel
ein heißer Anwärter auf den Titel. Wobei
der Begriff ebenso gut zum Unwort des Jahres taugt. Nicht nur, weil Populismus ein
weithin negativ besetzter Begriff ist; er
wird auch nur selten beschreibend verwendet und noch seltener kritisch hinterfragt.
Zumeist werden Populisten von ihren
politischen Gegnern mit diesem abwertenden Etikett versehen. Die Alternative für
Deutschland, die Freiheitlichen in Österreich, die SVP in der Schweiz, der Niederländer Geert Wilders, die britische UKIP,
der Front National von Marine le Pen, die
Regierungen in Ungarn und Polen – sie alle
wirft man gerne in den Topf namens
„Rechtspopulismus“. Rechtspopulistisch,
das heißt dann: gegen Europa, gegen Ausländer, gegen Globalisierung, gegen „die da
oben“. Oder zugespitzter: Die politische Alternative, die diese Populisten zu bieten haben, ist eine des destruktiven „Neins“.
Daneben gibt es noch die Linkspopulisten, die in Gestalt von Syriza Griechenland
regieren, in Spanien mit Podemos vielleicht bald an die Macht kommen und ansonsten vor allem in Lateinamerika zu finden sind. Als großes Vorbild gilt ihnen der
einstige venezolanische Staatschef Hugo
Chávez, wobei der inzwischen desolate Zustand dieses ölreichsten Landes der Welt
diesen Populismus von links nicht gerade
in ein strahlendes Licht taucht. Trotzdem
hat die Linke „ihren“ Populismus von Anfang an offensiv und selbstbewusst mit diesem Etikett versehen. „Die rechte Revolution schöpft ihre Kraft aus einer Welle des
Gefühls. Die Linken werden weggespült,
wenn sie nur zusehen. Setzt dem rechten
Populismus endlich einen linken entgegen!“ Fordert dieser Tage etwa der Publizist
Jakob Augstein. Mit dem 2014 verstorbe-
nen Ernesto Laclau, der in England Politische Theorie lehrte, und dessen Ehefrau
Chantal Mouffe verfügt dieser Linkspopulismus als „Stimme der Unterdrückten“ sogar über eine Art theoretischen Überbau.
Der einstige griechische Finanzminister
Yannis Varoufakis und Oskar Lafontaine
sind jedenfalls bekennende „Laclauianer“.
Diese philosophische Grundierung
fehlt den Rechtspopulisten noch weitgehend, doch auch sie haben den Populismusvorwurf inzwischen zu einer Art Ehrentitel gemacht. So ließ jüngst im österreichischen Wahlkampf ums Präsidentenamt
der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer seinen
Konkurrenten Alexander van der Bellen
wissen: „Sie sind ein Kandidat der Schickeria, ich bin ein Kandidat der Menschen.“
Demokraten oder Antidemokraten?
„Wenn unsere Volksvertreter ihre Aufgabe
darin sehen, das Volk zu entmündigen,
sollten wir selbstbewusst genug sein, den
Vorwurf des Populismus als Auszeichnung
zu betrachten.“ So verkündete es der ehemalige FAZ-Redakteur Konrad Adam 2013
auf dem Gründungsparteitag der AfD.
„Und (wir sollten) alle Welt daran erinnern,
dass die Demokratie insgesamt eine populistische Veranstaltung ist, weil sie das letzte Wort dem Volk erteilt: dem Volk, wie gesagt, nicht seinen Vertretern.“
Was also sind Populisten: eine demagogische Gefahr für die Demokratie, wie ihre
Gegner behaupten? Oder, wie sie selbst
glauben, die wahren Demokraten, die dem
Volk als eigentlichem Souverän wieder zu
seinem Recht verhelfen?
Etwas Licht in diese Begriffsschlacht
bringt jetzt das ebenso kluge wie besonnene Essay „Was ist Populismus?“ des in den
USA lehrenden Politikwissenschaftlers JanWerner Müller (Suhrkamp, 160 S., 15 €). Er
versucht sich an einer Definition des Phänomens, die nicht die politischen Inhalte
in den Mittelpunkt rückt, sondern das Verständnis von „Demokratie“ und „Volk“,
von dem sich Populisten leiten lassen. Müller will den Begriff aus der politischen
Kampfzone holen und damit vermeiden,
was der Politologe Ralf Dahrendorf schon
2003 beklagt hat: „Der Populismus-Vorwurf kann selbst populistisch sein, ein demagogischer Ersatz für Argumente.“ Oder
anders gewendet: Müller betreibt argumentative Arbeit am Begriff, ohne darüber
das Normative, also die Frage, ob Populismus gut oder schlecht für die Demokratie
ist, aus dem Auge zu verlieren.
Nun ist der demokratische Wettstreit
als solcher ein Buhlen ums Volk: Die Parteien werben um Zustimmung für ihre Positionen und Vorhaben, und wer am Ende eine Mehrheit organisiert, darf regieren. Insofern ist es in gewisser Weise völlig normal, wenn sich auch Parteien wie die AfD,
die FPÖ oder der FN an Wahlen beteiligen.
Problematisch wird der populistische Ansatz dann, wenn aus dem Anspruch dieser
Populisten, auch sie würden das Volk repräsentieren, die Behauptung wird: „Wir –
und nur wir – vertreten das wahre Volk.“
Das heißt, der Reflex gegen Eliten und
„Establishment“, der alle Populisten eint,
mündet oft in einen Antipluralismus, der
einen vermeintlich homogenen Volkswillen gegen „die da oben“ in Stellung bringt.
Was das dann in der konkreten Regierungspraxis heißt, lässt sich gerade in Polen oder Ungarn beobachten: Einmal an
der Macht, kommt es nicht, wie manche
gerne glauben wollen, zu einer „Entzauberung“ der Neinsager. Vielmehr ist es so,
dass „Populisten den Staat vereinnahmen,
checks and balances schwächen oder gar
ausschalten, Massenklientelismus betreiben und jegliche Opposition in der Zivilgesellschaft oder den Medien zu diskreditieren suchen“, so Werner Müller. Das „wahre
Volk“, das empirisch gar nicht existiert,
wird sozusagen im Zuge eines moralisch
aufgeladenen Freund-Feind-Denkens herauspräpariert. Für Pluralität ist darin jedenfalls kein Platz, ebenso wenig wie beim
Linkspopulismus.
Wie also umgehen mit dieser populistischen Gefahr, ohne in die gleichen Verhaltensmuster (Ausschluss, Moralisierung) zu
verfallen? „In Fällen, in denen Populisten
Volksverhetzung betreiben oder gar zur
Gewalt aufrufen, greift das Strafrecht“,
stellt Müller klar. „In allen anderen jedoch
– so persönlich unangenehm oder politisch
unappetitlich dies auch sein mag – muss
man nun mal die Ansprüche, und nicht nur
die vermeintlichen Ängste, der Bürger
ernst nehmen.“ Mit einem „Aufstand der
Anständigen“, die sich ob ihres Anstands
gegenseitig auf die Schultern klopfen, sei
es aber nicht getan.
Parlament schwach – Populist stark!
Ralf Dahrendorf hat 2003 vor allem einen
Grund für das Erstarken von Populisten
ausgemacht: die Schwächung von Parlamenten. Das gilt heute mehr denn je. Wo
es keine erkennbare parlamentarische Opposition mehr gibt (etwa in der Eurokrise
oder in der Flüchtlingsfrage), wo Parlamente gar nicht oder unzureichend einbezogen
werden (wie bei TTIP) und wo die Debatten
aus dem Plenum in die Fernsehtalkshows
auswandern – dort findet der Populismus
mit seinem außer- und antiparlamentarischen Gestus reichen Nährboden.
Insofern ist er vielleicht auch eine
Chance, neu über Demokratie nachzudenken. Dass sich ausgerechnet Pegida laut
Satzung die „Förderung politischer Wahrnehmungsfähigkeit und politischen Verantwortungsbewusstseins“ auf die Fahnen
geschrieben hat, mag für Nichtpegidisten
wie Hohn klingen. Dabei wäre es nicht das
Schlechteste, wenn Populisten wenigstens
dazu einen Beitrag leisteten.
Von Gottfried Blumenstein
S
portlich dürfte es mit den Nordiren, die
in der Weltrangliste unter „ferner liefen“ rangieren, selbst für einen schwächelnden Weltmeister keine Probleme geben. Jedoch musikalisch
türmen sich gewaltige Ungereimtheiten auf, die den Spielfluss auf dem Rasen empfindlich
stören könnten. Da Nordirland
Teil des Vereinigten Königreiches
ist, singen bei offiziellen Anlässen
die Nordiren die englische Nationalhymne „God Save the Queen“.
Dass die Waliser, ebenfalls
zum Vereinigten Königreich gehörend, bei der EM ihre eigene
walisische Hymne singen dürfen,
zeigt, dass in Downing Street 10
im Falle der Nordiren mit härteren Bandagen agiert wird. Das wiederum
führt dazu, dass die durchaus sangesfreudigen Nordiren, wenn sie als Katholiken daherkommen, für die Königin lieber gar
nicht ihre Stimme erheben wollen. Ganz
verwirrend wird es, wenn im Achtelfinale,
was durchaus passieren könnte, falls Jogis
Buben ganz von der Rolle springen, Eng-
land auf Nordirland trifft. Dann wird laut
Uefa-Statut „God Save the Queen“ nur einmal gespielt, was dann hoffentlich nicht
dazu führt, dass die Spieler nicht mehr wissen, wo das Tor steht, in das sie hineinschießen sollen wollen. Hier helfen möglicherweise grellbunte
Leibchen, schräg toupierte Frisuren und feuerspeiende Tattoos
der Torwächter weiter.
Rein musikalisch ist „God Save
the Queen“ ein Hit, dessen Ohrwurmqualität das Deutschlandlied in den Schatten stellt. Als Nationalhymne war die Melodie in
Ländern wie Dänemark, Russland, der Schweiz aktiv. Selbst
„Gott segne das Sachsenland“
folgte der englischen Melodei, wobei, um das Kraut fett zu machen,
der Komponist der Franzose Lully
gewesen sein könnte. Das lässt sich zwar
aufgrund fehlender Originalquellen nicht
beweisen. Aber es gibt einige harte Indizien, die allerdings in der letzten gedruckten Ausgabe des berühmten englischen
Musiklexikons „The New Grove“ pietätvoll
verschwiegen werden. Der wunderbare
Trick des Songs besteht darin, dass es nach
einem ziemlich verhaltenen Beginn fast zu
einem melodischen Stillstand kommt, um
urplötzlich einen Quintsprung vom eingestrichenen G zum zweigestrichenen D zu
vollführen. Beim Singen wird er mit sichtlichem Vergnügen herausgebrüllt, egal, ob
der Ton sitzt oder haarscharf danebenknallt. Das macht schon was her und wird
auf dem Spielfeld adäquat als „Kick and
Rush“ umgesetzt, den die Mannschaften
von der Insel so lieben.
Erfolgreich ist solcherart Fußball bei internationalen Meisterschaften in der Regel
nicht. Die deutsche Mannschaft muss diesem mutigen, aber eben auch einfältigen
Hurra-Gebolze ein bisschen strategische Finesse mit eingestreuten Mollakkorden in
Form von Querpässen entgegensetzen und
ansonsten „Hacke, Spitze, Pas de deux“
walten lassen, was zu einem noblen Endstand von 3:1 führen könnte.
Gottfried Blumenstein hat in Dresden Musik studiert,
sich als Musikkritiker in der Welt umgetan, ist heimgekehrt
in die Oberlausitz und betreibt den Schwarzwasser Verlag.
Tuchfühlung mit dem Publikum
Für den Jubel seiner Fans braucht der Boss
auch keine große Licht-Show, keine künstlichen Effekte, keinen Firlefanz. Für die bewegendsten Momente reicht seine Akustikgitarre oder seine Mundharmonika. Und
Springsteen sucht den Kontakt mit seinen
Fans: Ein ums andere Mal geht er mit dem
Publikum auf Tuchfühlung, schüttelt unzählige Hände. Er holt sich einen Jungen
auf die Bühne, der mal eben mit ihm zusammen Gitarre spielen darf. Oder ein kleines Mädchen, das „Waitin‘ on a Sunny
Day“ ins Mikrofon singen darf.
Dann der Schluss. Die Band hat die Bühne schon verlassen, da richten sich zum
letzten Mal die Scheinwerfer auf Springsteen. Nur mit Gitarre und Mundharmonika steht er da, spielt, singt, auch wenn er
nicht mehr jeden hohen Ton hundertprozentig trifft, nach bald dreieinhalb Stunden
ohne Pause: dieses stille, leise „For You“.
Gänsehautstimmung. (dpa)
„The Boss“ begeistert sein Publikum
mit handgemachter Musik.
Foto: dpa
Warum die Tante sauer war
Hymnen-Orakel
Musikalisch Ungereimtes führt zu einem noblen 3:1
m 19.10 Uhr betritt der „Boss“ die Bühne. Und während immer noch Tausende Fans ins Münchner Olympiastadion strömen, legt Bruce Springsteen sofort los – er
hat keine Zeit zu verlieren. Fast dreieinhalb
Stunden wird er am Ende auch dieses
Abends auf der Bühne gestanden haben,
ebenso wie zwei Tage später in Berlin. Die
Fans sind begeistert, 57 000 waren es in
München, 67 000 in der Hauptstadt. Sie alle
erleben einen bestens gelaunten 66-Jährigen, der von Beginn an sichtlich Spaß auf
der Bühne hat. Einmal fliegt ihm vor lauter
Schwung sogar das Mikro aus der Hand.
Mehr als 30 Titel spielen Springsteen
und seine „E Street Band“, darunter neuere
Songs, aber auch einige Lieder seines 1980
erschienenen Albums „The River“, das der
aktuellen Tour den Namen gegeben hat.
Vor allem packt Springsteen eine ganze
Fülle seiner großen Klassiker aus seinem
noch größeren Repertoire aus, darunter
„Born in the USA“, „I’m on Fire“ und „Born
to Run“. Das Publikum zieht mit, singt mit,
tanzt mit – und das, obwohl Springsteen,
wenn man ganz oben im weiten Rund
steht, auf der Bühne nur zu erahnen ist.
Stadtführer Christoph Pötzsch
zeigt wenig beleuchtete Ecken
in der sächsischen Geschichte.
Von Karin Großmann
T
ony Buddenbrook gilt als niedlich, aber
nicht besonders intelligent. Sie wird gegen ihren Willen verheiratet, und auch die
zweite Ehe geht schief. Tony schlägt sich
mit Überlebenskunststücken durch. Das
Vorbild für diese Romanfigur fand Thomas
Mann in der eigenen Familie. Seine Tante
Elisabeth Amalie Hyppolitha lebte bis zu
ihrem Tod 1917 in Dresden. Das Haus in
der Regerstraße steht noch. Wenn Christoph Pötzsch bei einer Stadtführung an der
Nummer 27 hält, erzählt er, dass die Tante
zunächst nicht amüsiert war, ihre Lebensgeschichte in aller Ausführlichkeit im Roman zu lesen. Doch nach einem Geheimtreffen mit dem Neffen im Lahmann’schen
Sanatorium habe sie ihm verziehen.
Den Familienskandal hat Christoph
Pötzsch in sein jüngstes Buch aufgenommen. Darin erzählt er Geschichten, die
noch nicht hundertmal platt gewalzt wurden. Die Fakten verpackt er mit literarischer Leichtigkeit. Und auch wenn er die
konkrete historische Situation bildhaft beschreibt und etwa Napoleon ungeduldig
mit den Fingern auf den Kaminsims trommeln lässt, so schreibt er doch aus heutiger
Sicht. Pötzsch zeigt: Sächsische Geschichte
hat mehr zu bieten als einen starken August und dessen Mätressen. Zum Beispiel
eine Säule am Rand von Lauterbach im
Stolpener Land. Sie erinnert an eine Datumsgrenze im 16. Jahrhundert. Während
auf der katholischen Seite der neue gregorianische Kalender galt, folgten die Protestanten noch dem julianischen. Christoph
Pötzsch macht das Behördenchaos anschaulich, das aus der Differenz von zehn
Tagen entstand. Er erzählt auch die Anekdote von dem Trunkenbold, der vom Pfarrer am Karfreitag zu Unrecht gescholten
wird – dort, wo der Mann gesoffen hat, war
Ostern schon vorbei.
Im Hauptberuf leitet Pötzsch das Katholische Büro Sachsen. Im Nebenberuf bringt
er Geschichte zum Funkeln. Mehr als ein
halbes Dutzend Bücher bezeugen seine
Produktivität und eine Entdeckerlust, die
von Bischof Benno bis Lenin reicht.
Christoph Pötzsch: Wahre Geschichten um das
unbekannte Sachsen. Tauchaer Verlag, 80 S., 10,95 €
Buchpremiere: 22. Juni, 20 Uhr, im Pfarrhaus der
katholischen Pfarrei Dresden-Strehlen, Dohnaer Str. 53
FEUILLETON
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SÄCHSISCHE ZEITUNG
S O N N AB E N D / S O N N TA G
25./26. JUNI 2016
WWW. S Z - O N L I N E . D E / FE U I L L E TO N
Hymnen-Orakel
In der Verlängerung
stehen alle Tore offen
Wenn die Slowaken so spielen,
wie ihre Hymne klingt, dann
wird das Achtelfinale ein
schnörkelloser Wettkampf.
Von Gottfried Blumenstein
J
Engagiert und scharfsinnig: Carolin Emcke verteidigt in ihren Essays das Denken und Handeln jenseits von Schubkästen.
Foto: dpa
Lust auf die Vielheit
Die Publizistin Carolin Emcke, die im Vorjahr in Kamenz geehrt wurde,
erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für ihre kritischen Analysen.
Von Karin Großmann
D
ie Begrüßung ist artig, die Musik ist es
auch, der Blumenstrauß steht bereit.
Sektgläser klirren im Hintergrund. Doch
Carolin Emcke verdirbt die Stimmung. Am
Ende wird es kaum Beifall geben, aber heftigen Streit im Treppenhaus. In Kamenz
wurde die Publizistin im vorigen Jahr mit
dem Lessingpreis des Freistaates Sachsen
geehrt. Manche Gäste im Ratssaal fühlen
sich durch die Rede von Carolin Emcke provoziert. Sie fragt nach den Gründen für
menschenverachtenden Fanatismus und
findet sie nicht nur bei Rechtsextremen
oder Randständigen, sondern in der Mitte
der Gesellschaft. Auch bei gut ausgebildeten Politikern. „Da werden Projektionen
mit Fakten verwechselt, Hass als Kritik
umetikettiert, Ressentiments als Angst ausgegeben, Nationalismus als Stolz – für wie
blöd halten die uns eigentlich?“
Leidenschaftlich plädiert sie in Kamenz
dafür, dass der Islam zu Deutschland gehört, und dass Flüchtlinge im Land Schutz
vor Verfolgung finden und nicht erneut
verfolgt oder verfemt werden.
Ein leidenschaftlicher und zupackender Ton bestimmt auch die Texte, die Carolin Emcke schreibt. Sie schildere auf sehr
persönliche Weise, wie Gewalt, Hass und
Sprachlosigkeit Menschen verändern können, meint der Börsenverein. Der Verband
der Verleger und Buchhändler verleiht der
48-jährigen Publizistin in diesem Jahr den
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Der mit 25 000 Euro dotierte Preis wird im
Oktober zum Abschluss der Buchmesse in
Frankfurt am Main übergeben. Zu den Ausgezeichneten gehören Günter Grass, Martin Walser, Friedrich Schorlemmer, Navid
Kermani, Jürgen Habermas, David Grossman. Nach einer Frau muss man in dieser
Runde eine Weile suchen. Nicht nur deshalb ist die Entscheidung erfreulich.
Unterwegs in Krisengebieten
Carolin Emcke beherrscht etwas, was vielen anderen in der Branche fehlt. Sie kennt
die Theorie und das Leben und kann beides
miteinander verbinden. Sie beschreibt den
Einzelfall und analysiert den Mechanismus
dahinter. Nach dem Studium von Philosophie, Politik und Geschichte promovierte
sie über „Kollektive Identitäten“, was die
gelehrten Zitate in ihren Essays erklärt. Danach jedoch arbeitete sie als Reporterin für
Spiegel und Zeit und war unterwegs in den
Krisengebieten der Welt, in Afghanistan,
Pakistan und Kolumbien, im Kosovo, im
Gazastreifen und auf Haiti. „Das Erste, was
im Krieg stirbt, ist die Gewissheit“, so beginnt eine ihrer Reportagen aus der nordirakischen Stadt Kirkuk. „Der erste Schuss
fällt nach fünf Minuten.“
In einer solchen Lage erübrigt sich die
Position des distanzierten Beobachtens. Carolin Emcke steht nicht abwartend am
Rand. Sie ergreift Partei für Menschen, die
der Macht anderer ausgesetzt sind und sich
selbst nicht wehren können. Die sich nach
einem grauenvollen Erleben aus Angst,
Scham oder Schmerz in das Schweigen zurückziehen – und damit doppelt zum Opfer
werden. Die ausgegrenzt, stigmatisiert und
verletzt werden. Ihnen gibt die Autorin eine Stimme.
Dabei verlässt sie sich nicht nur auf ihre
Menschenkenntnis oder auf Geschichten
vom Hörensagen. Sie recherchiert und
sammelt Indizien und versucht das vorschnelle Urteil zu meiden. „Noch das
dummbatzigste, selbstgefälligste Ekelpaket kann unschuldig sein“, heißt es in einer
der Kolumnen, die Carolin Emcke seit 2014
regelmäßig für die Süddeutsche Zeitung
schreibt. Im Zweifelsfall für den Zweifel,
für Ironie und aufklärerischen Geist – diese
Haltung bestimmt ihre Texte.
Kraftvoll und einfühlsam zugleich streitet die Publizistin gegen eine dogmatische
Einteilung der Welt und gegen Schubkästen, in die möglichst jeder Mensch passen
sollte. Ihr eigenes Konzept verteidigt eine
offene Gesellschaft mit der Vielheit aller
möglichen Schattierungen. Demokratie,
meint die Wahlberlinerin Carolin Emcke,
ist nur zu verwirklichen mit der Lust auf
Pluralität – und mit dem Mut, dem Hass zu
widersprechen. „Gegen den Hass“ ist auch
der Titel ihres Buches, das im Herbst bei
S. Fischer erscheint.
Zwischen Erdbeermond und Urlaubssonne
ährend gestern der Erdbeermond
hinter meinem Balkon in den Bäumen hing, werde ich schon morgen die
Abendrotsonne am Horizont ins Wasser
fallen sehen. Noch einmal durchsuche ich
die Breakingnews in Sehnsucht nach Urlaubsidylle. Soeben fordert die Kanzlerin
entschieden höhere Rüstungsausgaben
vergleichbar mit denen im US-Haushalt,
und unsere Kriegsministerin schickt im
Auftrag der NATO-Generäle ihre Bundeswehr an die ostlitauische Grenze, als lauere
dort ein Russenheer mit blutigen Messern
im Mund auf den ersten Überfall.
Ich lese im Grundgesetz nach und finde
jenen § 80, der für den, der durch sein Handeln „… die Gefahr eines Krieges für
Deutschland herbeiführt, lebenslange Freiheitsstrafe“ fordert. Ich höre schon die Möwen über dem Meer, das seine Wellengischt wie auf einem Emil-Nolde-Gemälde
an den Strand treibt, und ich muss in diesem Augenblick sehr fest daran glauben,
dass unsere Kanzlerin die nette friedensnobelpreisverdächtige Flüchtlingsmutti ist
und nicht Obamas Freudenmädchen mit
der inneren Mission, Amerika einen Gefallen zu tun. Meine Zeitung hilft mir, die verschwörungstheoretischen Gedanken zu
vertreiben, denn ich sehe auf der Titelseite
ein Foto, das amerikanische Soldaten auf
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W
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Friede, Freude, Eierkuchen
statt Kriegslust und
Konflikte suchen.
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Satirischer Nachschlag
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Von Wolfgang Schaller
ihrer Reise gen Osten in Cowboyhüten
zeigt. Und gegen unterhaltende wildwestliche Cowboyspiele mit dem wildöstlichen
Putin kann ja niemand was haben. Zumal
Putin zurzeit sowieso das Phantom der Doper ist und als halbnackter gedopter Muskel-Athlet nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen darf.
Ich lese, dass Görings Unterhose versteigert wurde, und ich ahne, wer am braunen
Geruch Gefallen finden könnte. Aber ich
sage es nicht. Es ist ja geheim. Nicht geheim war die Hochzeit von Daniela Katzenberger. Dass das Überbleibsel antiker griechischer Hochkultur Costa Cordalis einen
Sohn gezeugt hat, war schon beunruhigend genug, aber dass dieser Sohn nun
auch noch eine deutsche Blondine geschwängert hat, muss jedem arischen AfDAnhänger den letzten Verstand geraubt haben. RTL hat die gesamte Hochzeit übertragen, was so spannend war, als würde bei
Ikea ein Klappstuhl umfallen.
Ich jedenfalls freue mich, dass unsere
liebenswerte fleischgewordene Silicon-Valley mich an ihrem Glück teilnehmen ließ
und bin schon gespannt, wenn RTL ihre
Darmspiegelung live überträgt. Während
ich die Badehose in den Koffer packe, vorsorglich, falls es im Wasser zu kühl wird,
überträgt ARD einen letzten Stimmungstest aus dem großen Britannien. Ein EUfreundlicher Engländer brät als Symbol seiner europäischen Toleranz eine Bratwurst
auf einem Grill, aber dem Königreich wurde schon immer eine Extrawurst gebraten,
und ich denke, ob Brexit oder nicht, diese
Wurst wird künftig noch größer sein. Mir
kam die Drohung, aus dem vereinten
Europa auszutreten sowieso vor wie die
Drohung gegenüber einer Leiche, man wolle nicht mehr mit ihr leben. Aber vielleicht
wird aus dem Europa der Konzerne doch
noch einmal ein Europa der Menschen – in
Urlaubsstimmung kommen mir manchmal so absurde Gedanken. Brüder unterm
Himmelszelt.
Die letzte Nachricht teilt mir mit, dass
Raser künftig bis zu 1 000 Euro Strafe zahlen sollen. Was mich nicht berührt, denn
ich fahre immer so langsam, dass mich die
Polizei malen könnte. Schnell noch die altersgerechten Tabletten in den Koffer und
ein letzter Blick auf die Lokalseite, die von
einem Wettbewerb der Klinikärzte berichtet unter der Überschrift BAUCHCHIRURG
SCHNEIDET HERVORRAGEND ab. Was
mich ungeheuer beruhigt, falls die anderen Nachrichten aus dieser Welt meinen
Blinddarm vor Wut platzen lassen.
Unser Kolumnist ist Kabarettist, Autor und künstlerischer
Leiter der Dresdner Herkuleskeule. Sie erreichen ihn per
E-Mail: [email protected].
etzt ist Schluss mit lustig. Die EM ist in
die Knock-out-Phase eingetreten. Nach
spätestens 120 Minuten und Elferschießen
liegt der Verlierer sang- und
klanglos am Boden und der Sieger
tiriliert stolz wie Zickenschulze.
Wer in die nächste Runde kommen will, muss Wunderheiler,
Motivationskünstler und Geldbriefträger ins Boot holen und die
gesamte Kraftentfaltung der
Hymnenmusik in energetische
Bahnen lenken. Das Weltmeisterbetreuungsteam weiß hoffentlich, was es am variantenreich
harmonisierten Deutschlandlied
hat und welche Elemente in der
Interpretation herausgearbeitet
werden müssen, um der slowakischen Hymne Paroli zu bieten. Vor ein paar
Wochen ging das allerdings schief. Da wurde ein Freundschaftsspiel gegen die Slowaken im Stile von David Garrett vergeigt.
Nicht weiter schlimm, wenn man es am
Sonntag besser macht.
Von 1919 bis 1992 bildete die slowakische Hymne den zweiten Teil der tschechoslowakischen Nationalhymne. Das war
fußballerisch durchaus sinnvoll, denn der
schwermütige, wenngleich künstlerisch
wertvolle tschechische Part, zog die Spieler
runter. Durch den kernigen, von Blitz und
Donner in der Tatra kündenden slowaki-
schen Furiant wurden sie wieder aufgeweckt. Mit der Doppelhymne im Ohr wurde die ČSSR immerhin zweimal Vizeweltmeister und einmal Europameister.
Dass Tschechen und Slowaken jetzt ihr
Liedchen für sich singen, bekam den Tschechen bei der EM gar nicht gut. Sie sind ausgeschieden. Die Slowaken dürfen im Orchester der Großen weiter mitspielen. Melodisch fällt auf, dass sich das Spielgeschehen eng begrenzt auf einen Quintraum fokussiert. Da wird es keine großen Finessen
mit Oktavsprüngen, also Fallrückziehern, geben, sondern schnörkellosen Fußball in eingegrenzter,
aber dafür nach vorn treibender
Stimmführung. Das kann für die
deutsche Elf gefährlich werden,
denn in der Bassregion werden
die Slowaken wenig zulassen.
Donnerwetter droht im Sturm
mit Marek Hamsik. Hier sollte die
strategische Ausrichtung der
Deutschen auf eine Spielberuhigung zielen, die aus den feinen
Haydn’schen Harmonien schöpft
und hin und wieder mit einer Bananenflanke (Fermate!) abgeschlossen werden könnte. Ob Mario Gomez diesen Gedankenball aufnehmen und
verwerten kann? Vor dem Chancentod ist
niemand gefeit, selbst Thomas Müller
nicht. Vermutlich geht es in die Verlängerung, und dann stehen wegen Ermattung
alle Tore offen. Germany wins!
Musikkritiker Gottfried Blumenstein hat in Dresden Musik studiert und betreibt jetzt den Schwarzwasser Verlag.
Sinfonisches Erinnern
Die Sächsische Staatskapelle
bot unter Franz Welser-Möst
die „Leningrader“ am Elbufer.
Von Karsten Blüthgen
V
iel Gutes bei diesem Open Air der Sächsischen Staatskapelle am Donnerstag
in Dresden: Auf dem Programm stand die
„Leningrader“. Dmitri Schostakowitsch
komponierte diese, seine siebente Sinfonie
1941 während der Blockade der Stadt im
Zweiten Weltkrieg. Fast auf den Tag genau
75 Jahre nach dem deutschen Überfall auf
die Sowjetunion erklang am Königsufer
dieses Schlüsselwerk. Kommunisten hatten die „Leningrader“ für Propaganda benutzt. Gemeint hatte Schostakowitsch jedoch viele Feinde der Menschheit.
Die Staatskapelle habe dieses Werk in
Dresden mit „besonderer Verantwortung“
zu spielen, sagte Orchestervorstand Bernward Gruner vorab. Dass geschätzt 4 400
Besucher bei schönstem Wetter kamen,
freute besonders Orchesterdirektor Jan
Nast. Schon der Freiluftabend „Klassik
picknickt“ am vergangenen Wochenende
war mit 3 500 Gästen ausverkauft. Die kleinen Auftritte von Kapellmusikern jüngst in
elf Neustadt-Kneipen kamen an. „Wir stehen etwas unter dem Generalverdacht, nur
Eliten zu bedienen“, so Nast. „Das stimmt
nicht. Wir wollen einfach beste Qualität
bieten.“
Die kam auch am Donnerstag von der
Bühne – abgesehen vom Fauxpas des Moderators Axel Brüggemann. Als Dirigent
Franz Welser-Möst das Orchester stimmen
lassen wollte, erwiderte Brüggemann, dies
sei bei Schostakowitsch manchmal egal.
Welser-Möst, Musikdirektor des Cleveland
Orchestra, fand für sein überfälliges Debüt
bei der Sächsischen Staatskapelle an diesem Abend keine Idealbedingungen. Doch
Klang stand hier nicht im Vordergrund,
sondern Symbolik. Und die Musik sprach
an. Einsamkeit und Resignation, Trauer
und Trotz, Gewalt und Groteske – all dies
war enthalten. Großer Jubel nach 80 Minuten – die sich als Auftakt lesen lassen zu
den Schostakowitsch-Tagen am Wochenende in Gohrisch. Restkarten gibt es noch.
NACHRICHTEN
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Neuer Präsident
des Rechtschreibrats
Led Zeppelins „Stairway
to Heaven“ ist nicht geklaut
Vaduz. Der ehemalige Staatssekretär im
niedersächsischen Wissenschaftsministerium Josef Lange ist neuer Vorsitzender des
Rats für deutsche Rechtschreibung. Das
Gremium wählte den 68-Jährigen am Freitag in Vaduz einstimmig zum Nachfolger
des Ex-CSU-Politikers Hans Zehetmair. Seit
dem Streit um die Rechtschreibreform von
1996 ist der Rat die maßgebliche Instanz in
allen Zweifelsfällen. Er hat 40 Mitglieder
aus dem gesamten deutschsprachigen
Raum. Der Theologe und Historiker Lange
war in den 1990er-Jahren Generalsekretär
der Hochschulrektorenkonferenz. (dpa)
q „Offener Brief“ – Magazin
Los Angeles. Im Plagiatsprozess um die
Rock-Hymne „Stairway to Heaven“ hat die
angeklagte Band Led Zeppelin einen Erfolg
errungen. Sänger Robert Plant und Gitarrist Jimmy Page kupferten nicht vom angeblichen Plagiatsvorbild „Taurus“ der
Band Spirit ab, entschied eine Jury am Donnerstag in Los Angeles. Für ihre Entscheidung über den 1971 veröffentlichten Hit
benötigten die Geschworenen weniger als
einen Tag. Led Zeppelin habe zwar Zugang
zu „Taurus“ gehabt, den Song also gekannt.
Es gebe aber keine maßgeblichen Ähnlichkeiten der beiden Titel, begründete das Gericht seine Entscheidung. (dpa)
Und wo bleibt die
Akademie der Künste?
Böhmermann für Grimme
Online Award nominiert
Dresden. Nachdem am Mittwoch bekannt
wurde, dass der Freistaat Sachsen das
Blockhaus für das „Archiv der Avantgarden“ sanieren wird, fragt die Sächsische
Akademie der Künste nun nach ihrem Verbleib. Die Akademie musste nach dem
Hochwasser 2013 aus dem Blockhaus ausziehen und ist derzeit am Palaisplatz untergebracht. In einem offenen Brief an Wissenschafts- und Kunstministerin Eva-Maria
Stange schreibt Akademie-Präsident Wilfried Krätzschmar, dass er es begrüßt hätte,
wenn mit der aktuellen Entscheidung für
das Blockhaus auch die Standortfrage der
Akademie geklärt worden wäre. (SZ)
Köln. Zum 16. Mal wird am Freitag der
Grimme Online Award verliehen. Mit dem
Preis zeichnet das Grimme-Institut herausragende Netz-Angebote aus. Das Interesse
an der Verleihung ist in den vergangenen
Jahren stark gewachsen. Zu den Nominierten gehört dieses Mal auch der Fernseh-Satiriker Jan Böhmermann. Die Entscheidung dafür fiel nach Angaben des GrimmeInstituts aber schon vor seinem aufsehenerregenden Schmähgedicht über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Insgesamt sind 28 Webangebote in vier Kategorien nominiert – vom Twitter-Kanal bis
zur Multimedia-Reportage. (dpa)
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SÄCHSISCHE ZEITUNG
Wenn ein arroganter Dandy
die Liebe verschmäht
Verletzte Seelen
Krach in Bayreuth: Kurz vor der
„Parsifal“-Premiere wirft der
Dirigent Andris Nelsons hin.
Dresdens Chef Christian
Thielemann soll schuld sein.
Neu in der Semperoper: „Eugen Onegin“ als ergreifendes Drama in mitreißender Musik.
Von Jens Daniel Schubert
Von Sophie Rohrmeier
T
atjana erinnert sich. Sie hat der Ehe wegen die Liebe ihres Lebens zurückgewiesen. In das Palais des Fürsten Gremin,
ihres Gatten, schieben sich die Erinnerungen. Sie zeigen, wie alles begann mit dem
Mann, der sie einst demütigend verschmäht hat: Eugen Onegin. Tschaikowskys gleichnamige Oper feierte als Fest der
Musik und der Sänger am Donnerstag Premiere in der Semperoper. Das Publikum
war begeistert, gab schon zwischendurch
reichlich Szenenapplaus!
Durchweg schlüssig ist das Regiekonzept nicht. Manches lässt sich nachdenkend entschlüsseln. Viele gute, geradezu
spannende Ideen bleiben in der Umsetzung auf der Strecke. Markus Bothe verantwortet die Inszenierung. Ihm gelingen
überaus dichte Momente, insbesondere in
den direkten Begegnungen der Figuren. Da
sind, neben den großen Arien, die beiden
Szenen, in denen Onegin beziehungsweise
Tatjana dem jeweils anderen den überschwänglichen Liebesbrief zurückgeben.
Spannend auch die Begegnung von Onegin
mit Lensky zum Duell, das beide durchziehen. Dabei haben sie dessen Sinnlosigkeit
erkannt. Schließlich erschießt Onegin den
Freund, ohne hinzuschauen, als der sich
gerade zum Einlenken durchzuringen
scheint.
A
ndris Nelsons ist weggefahren. Und
nicht mehr zurückgekommen. „Er ist
verschwunden, und wir konnten ihn nicht
zur Rückkehr bewegen“, sagt Peter Emmerich. Der Sprecher der Bayreuther Festspiele hat sich – wie die gesamte Leitung – verpflichtet, keine Kommentare abzugeben.
Keine Kommentare zu den Gründen dafür,
dass der „Parsifal“-Dirigent seinen Vertrag
beenden wollte – nur dreieinhalb Wochen
vor der Premiere. Nun muss ein Neuer her
– und der muss dann zurechtkommen mit
den diesmal recht unfeierlichen Bedingungen auf dem Grünen Hügel.
In diesem Sommer gilt rund um das
Festspielhaus in Bayreuth ein verschärftes
Sicherheitskonzept. Gitter und Wachpersonal, Zäune und Kontrollen. Und genau
daran könnte es auch gelegen haben, dass
Nelsons um die Auflösung seines Vertrags
gebeten hat, heißt es im Festspielhaus.
Die Atmosphäre habe sich in diesem
Jahr nicht in einer für alle Beteiligten angenehmen Weise entwickelt, schuld seien
unterschiedliche Auffassungen in verschiedenen Angelegenheiten. Diese vagen Worte ließ das Management des Dirigenten verlauten. Die Festspielleitung stimmte der
Bitte um ein Ende des Vertrags schließlich
zu, „mit Bedauern“.
„Wir, und gerade auch Katharina Wagner, haben uns in den letzten zwei, drei Tagen sehr darum bemüht, ihn zurückzuholen“, sagte Peter Emmerich. Doch ohne Erfolg. 2010 debütierte der Lette auf dem
Grünen Hügel im „Lohengrin“. Vergangenes Jahr war er zu beschäftigt, um nach
Bayreuth zu kommen, aber in dieser Saison
sollte er wieder brillieren, im „Parsifal“
diesmal, zur Eröffnung der Festspiele am
Tschaikowskys Ohrwürmer
Der Umgang mit größeren Figurenensembles und dem Chor bleibt zu wenig konkret, zu wenig konsequent. Als Bild abstoßender Provinz, wenn ein Bauer zum Gaudi der anderen als Mädchen tanzen muss
oder Triquet als Provinz-Stripper aus der
schäbigen Papptorte steigt, funktionieren
sie nur, wenn der dramaturgische Grund
der Szene genau bedacht und einstudiert
ist. Trotz einer Choreografin sind viele Aktionen nur ungefähr, ein „so tun als ob“. Eine klarer strukturierte, abgestimmte Spielweise ließe auch die Konflikte, die etwa
Tatjana wie Onegin mit der kleinkariertgleichförmigen Welt des armen Landadels
haben, deutlicher werden. Es ließe sich
besser verstehen, warum sich Tatjana ausgerechnet zu dem distanziert-arrogant auftretenden Onegin hingezogen fühlt. So
bleibt vieles offen, dem Vorwissen und
Nachgrübeln des Zuschauers überlassen.
Das Bühnenbild von Robert Schwerer
nutzt die beeindruckende Bühnentechnik,
indem er immer andere Erinnerungsstücke in den fürstlichen Saal hineinfahren
lässt. Da sieht man, mitten im fürstlichen
Saal, Traktor und Heuballen, dann ein Bücherregal, in dem Tatjana sogar schläft,
oder eine Industriebrache mit kahlem
Baum im Schneefall für das Duell.
Leider erkennt man den Saal von Gremin erst im letzten Akt als solchen und erlebt erst hier, dass diese heil gefügte Welt
mit dem Auftritt Onegins aus den Fugen gerät. Das sind eindrückliche Bilder, die
manch Irritierendes der vorhergehenden
Akte nachträglich in einen Zusammenhang setzen. Die Kostüme von Esther Gere-
Triumphierend gibt Onegin (Christoph Pohl) der ihn liebenden Tatjana (Camilla Nylund) einen Korb. Später wird sie ihn zurückweisen – obwohl sie ihn liebt. Foto: Jochen Quast
mus illustrieren die Geschichte, legen weder Zeit noch Ort fest und mischen sich
auch sonst nicht in die Geschichte ein.
Dies ist auch der größte Vorteil der Inszenierung, deren Merkwürdigkeiten man
so gerne übersieht. Sie lässt Platz für
Tschaikowskys Musik, die sich wie ein Ohrwurm in die Hirnwindungen bohrt, die als
Stimmungen und Farben um wiederkehrende, eingängige Melodien blüht, die die
Geschichte und ihre Emotionen trägt.
Auch schöne leise Klänge
Pietari Inkinen dirigiert die Staatskapelle,
lässt sie all ihre Klangvielfalt ausleben und
führt Bühne und Graben gut zusammen.
Die Sänger sind sicher aufgehoben, nur selten gibt das Orchester ein wenig Zuviel an
Volumen. Der Staatsopernchor und die
kleineren und mittleren Partien können
sich bestens hören lassen. Christoph Pohl
gibt die Titelpartie schön im Klang, musikalisch sicher und spielerisch differenziert.
Er steigerte sich am Premierenabend bis
zum packenden Finale. Camilla Nylund ist
eine Tatjana, der mädchenhafte Naivität
fehlt, die sich zu einer starken Frau entwickelt. Mit einer eindrucksvollen Leistung
eroberte sie die Herzen der Zuschauer im
Sturm. Vom Figurencharakter völlig verschieden, in der Qualität von Darstellung
und Gesang aber ebenso begeisternd, war
die Olga der Anke Vondung. Ihr Verehrer,
der Poet Lenski, bekommt als Figur in dieser Inszenierung kein Profil. Dafür singt Tomislav Mužek umso betörender. Mit nur einem Auftritt, voluminöser Stimme und der
vielleicht bekanntesten Arie der Oper „Ein
jeder kennt die Lieb auf Erden“ setzt Alexander Tsymbalyuk dem hervorragenden
Solistenensemble das Sahnehäubchen auf.
Das Premierenpublikum im Semperbau bejubelte lange die Mitwirkenden und
schloss auch das Inszenierungsteam in die
allgemeine Begeisterung ein.
wieder am 2., 6. und 9. 7. sowie 30. 8., 1. und 4. 9.;
Kartentel. 0351 4911705
Mit gezupften Nadelstichen
Die Italiener machen sich Mut,
indem sie vom Heldentod singen.
Ist das ein gutes Zeichen?
Von Gottfried Blumenstein
as wird hart. Gegen Italien –
Sehnsuchtsland deutscher
Schöngeister, aber eben auch ewiger Widerpart – hat sich Deutschland immer schwergetan. Richard
Wagner, der als Hymnenkomponist keine Leuchte war, ist in Venedig gar verschieden. Und der
Spruch „Rom sehen und sterben“
ist kaum ein Mutmacher.
Nach dem sonnabendlichen
Hymnengesang im Stadion, da
muss man sich nichts vormachen,
steht es bereits eins zu null für die
Italiener. Diesen Rückstand aufzuholen,
fällt ziemlich schwer. In K.o.-Spielen hat
das noch nie geklappt, da trotteten die Unseren stets als zweite Sieger vom Platz.
Nichtsdestotrotz strahlt Trainer Löw einen
Optimismus aus, der so oder so durchaus
berechtigt ist. Möglicherweise schwant
ihm, dass der gesangliche Einsatz, den die
Italiener, allen anderen voran Altmeister
Buffon, ziemlich brachial in die Waagschale schmeißen, nicht nur Motivationsschub
ist, sondern eben auch bei der überalterten
Truppe zu viel Energie verbraucht – die zu
guter Letzt fehlen könnte. Fußball ist jedenfalls für den Musikfreund durchaus große Oper mit Schwalben und Schwänen. Da
müssen die Spitzentöne kommen, ansonsten rasselt über überforderte Primadonnen
und Tenöre ein Buhgewitter hernieder. Da
kennen Kenner kein Erbarmen. Der Tonumfang von „Il Canto degli Italiani“, wo dem Sieg mit oder ohne
Heldentod begeistert entgegengefiebert wird, beträgt stolze anderthalb Oktaven. Daran würde hierzulande die gesamte Unterhaltungsmusikbranche zusammenkrachen. Im sangesfreudigen Italien, das dazumal einen angetäuscht „marschmäßigen Verdi
im Frühstadium“ zelebriert, ist
das Volksgut, aber eben mit Risiko. Insbesondere zum Hymnenschluss schraubt sich die Melodie
wagemutig in die Höh, und wenn
„La Nazionale“ bis dahin ihr Pulver im Abnutzungskampf schon verschossen hat,
packt sie es nicht und trifft Vollspann neben das zweigestrichene G.
Die Siegchance für Jogis Buben ist da:
Sie müssen den Takt an sich reißen, die Italiener altersgerecht müde spielen und mit
eingeworfenen Pizzicati (gezupften Nadelstichen) alles klarmachen. Avanti popolo!
25. Juli. Die Proben liefen schon. Dann kam
der Morgen, an dem es akut wurde: Am
Donnerstag war klar, dass Nelsons nicht zurückkommen wird. Woran es genau liegt?
Streit soll es gegeben haben, mit Christian
Thielemann, dem Bayreuther Musikdirektor und Chefdirigenten der Sächsischen
Staatskapelle. Ein Riesen-Ego, so wird Thielemann beschrieben, traf auf eine empfindsame Seele: Nelsons. Thielemann, so
Insider, habe sich in die Probenarbeit eingemischt – auch bei anderen Kollegen wie
dem diesjährigen „Ring“-Dirigenten Marek
Janowski.
„Er hat die Festspiele verehrt, fast schon
religiös“, sagt Festspiele-Sprecher Emmerich über Nelsons. Es wäre nicht verwunderlich, wenn dem Dirigenten in diesem
Jahr einfach alles zu viel geworden wäre.
Nach den Terroranschlägen in Paris im vergangenen Jahr bestand die Polizei auch auf
dem Grünen Hügel auf strengeren Sicherheitsvorkehrungen. Sie passen kaum zur
weihevollen Aura des Wagner-Kosmos.
Bayreuth-Historie reich an Eklats
„Es gibt Künstler, die gehen damit pragmatisch um, andere sind empfindlicher, die
sind dadurch in ihrer Seele getroffen“, so
Emmerich. Erst kürzlich prallte eine Künstler-Persönlichkeit auf eher theaterfernes
Sicherheitspersonal: Wachleute kontrollierten Star-Tenor Klaus Florian Vogt, der
den „Parsifal“ singen wird, in der Kantine.
Er trug eine Soldatenuniform. Ein Kostüm,
aber das war den Wachleuten nicht klar.
Der kurzfristige Abschied Nelsons’ vom
Grünen Hügel reiht sich ein in die Geschichte der Eklats rund um die Festspiele.
Ebenfalls nur Tage vor der Eröffnung 2012
sagte zum Beispiel Evgeny Nikitin, als Sänger für die Titelpartie in der Oper „Der Fliegende Holländer“ vorgesehen, seine Auftritte wegen Nazi-Tattoos ab – auf Druck
der Festspielleitung. Diese setzte 2014 auch
den Skandalkünstler Jonathan Meese vor
die Tür, der mehrfach wegen HitlergrußGesten bei Performances verklagt worden
war. Er hätte eigentlich in diesem Jahr den
„Parsifal“ inszenieren sollen. (dpa)
Rätsel um Erzählerin vom Europas größte Häuser
„Aschenputtel“ gelöst der Jungsteinzeit entdeckt
Kassel. Nach mehr als 200 Jahren wollen
Forscher das Rätsel gelöst haben, wer den
Brüdern Grimm das Märchen „Aschenputtel“ erzählt hat – es war eine alte Frau aus
Marburg namens Elisabeth Schellenberg.
„Die Frau ist die mündliche Quelle“, sagte
am Freitag Grimm-Forscher Holger Ehrhardt von der Universität Kassel. Er war
Hinweisen aus Briefen Wilhelm Grimms
an seinen Bruder Jacob nachgegangen und
hatte diese mit Tauf- und Sterberegistern
Marburger Kirchen sowie Bewohnerlisten
von Armenhospitälern verglichen. Schellenberg starb 1814 im Siechenhaus St. Jost.
Wilhelm Grimm wollte sich 1810 von
der damals 64 Jahre alten Frau Märchen erzählen lassen, doch diese wies ihn ab. Erst
durch einen Trick – er schickte eine Frau
mit Kindern zu Schellenberg – rückte sie
ihre Märchen heraus und erzählte das
„Aschenputtel“ und das weniger bekannte
Märchen „Der goldene Vogel“. (dpa)
Sofia. Ruinen einer angeblich 8 000 Jahre
alten Siedlung aus der Jungsteinzeit sind in
der bulgarischen Hauptstadt Sofia entdeckt
worden. Zwei der Häuser seien mit ihrer
Länge von mehr als 20 Metern die größten,
die bisher aus dieser Epoche in Europa ans
Licht gekommen seien. „Dies ist ein kulturelles Phänomen von gesamteuropäischem
Ausmaß“, sagte der Archäologe Wassil Nikolow am Freitag im Staatsfernsehen in Sofia. Der Professor leitet die Ausgrabungen
in Slatina, einem Wohnviertel am östlichen Stadtrand von Sofia.
Neue Tests sollen bestätigt haben, dass
die Siedlung volle 8 000 Jahre alt sei. Auf
den Böden der Neolithikum-Häuser seien
Reste von Kuppelöfen und keramische Behälter mit verbranntem Getreide gefunden
worden. Es gebe auch Ritualgegenstände
und weitere Gefäße aus Keramik. Die Stadt
Sofia möchte die Fundstätte als Freizeitpark und Touristenziel ausbauen. (dpa)
Das gute Sizilien lebt
Hymnen-Orakel
D
S O N N AB E N D / S O N N TA G
2./3. JULI 2016
WWW. S Z - O N L I N E . D E / FE U I L L E TO N
Im Krimi von Andrea Camilleri
verliert der Commissario die
Lust, lässt aber die Mafia
mit den Zähnen knirschen.
Von Jens-Uwe Sommerschuh
A
ndrea Camilleri, mittlerweile 90 Jahre
alt, hält sein Niveau. Jetzt ist sein
18. Krimi um den Commissario Montalbano auf Deutsch erschienen, eine verwickelte Geschichte mit den bewährten Zutaten,
sechs weitere Fälle liegen bei den Übersetzern. Dem alten Mann vom Mittelmeer –
Camilleri stammt selbst von der Südküste
Siziliens – ist es gelungen, seinen sympathischen Ermittler, der immerhin schon
seit 22 Jahren Mitte 50 ist, diesmal noch
jünger, noch frischer wirken zu lassen.
Denn er riskiert eine Menge.
„Das Labyrinth der Spiegel“ beginnt mit
seltsam dilettantischen Bombenanschlägen, deren Ziel lange unklar bleibt, weil
niemand verletzt wird und auch die Schäden banal sind. Eigenartig ist auch, dass die
schöne Liliana, die in Montalbanos unmittelbarer Nachbarschaft wohnt, sich an ihn
ranschmeißt, obwohl sie außer einem Ehemann auch einen vergleichsweise jungen
Liebhaber zu haben scheint. Montalbano
findet nicht nur heraus, dass Liliana ohne
Kleid nicht minder bezaubernd aussieht,
sondern er entdeckt auch, welcher Art von
Geschäften ihr ominöser Gatte nachgeht.
Andrea Camilleri grüßt: Der Italiener
hat den 18. Krimi seines Erfolgskommissars Montalbano vorgelegt. Foto: dpa
Und dass besagter Lover der Sohn eines derzeit im Knast schmorenden Drogendealers
der örtlichen Mafia ist.
Der literarische Montalbano, das hat
Camilleri unumwunden zugegeben, hat
mehr und mehr das Gesicht und die heitere Gelassenheit, den spröden Charme von
TV-Star Luca Zingaretti angenommen, der
den Commissario in der ungeheuer populären und sehr authentischen italienischen
Fernsehserie spielt, die es seit 1999 auf
28 Folgen gebracht hat und nahe am Original bleibt. Bei Camilleri ist es plausibel,
dass Montalbano Lilianas Reizen theoretisch erliegt und praktisch doch widersteht, obwohl die beiden sich kulinarische
Gelage und Ausflüge gönnen, bei denen sie
sich sehr nahe kommen. Auf einer dieser
Touren fallen Schüsse, und es ziehen dunkle Wolken auf, aus denen es früher oder
später Blut regnen wird (Übersetzung: Rita
Seuss und Walter Kögler).
Ein Krimi, der auf Sizilien spielt, ist kein
Kindergeburtstag, und bald entfaltet sich
ein Spiel aus Leidenschaft und Rache, das
grausame Züge annimmt. Oder geht es
doch nur um Geld? Um eine so simple wie
brutale Bereinigung des Marktes? Oder soll
gar Montalbano eliminiert werden?
Gekonnt lässt Italiens Star-Autor Montalbanos liebenswertes Team lange Zeit im
Dunkeln tappen. Bis ein Licht, durch mehrere Spiegel virtuos abgelenkt, durchs
Schlüsselloch fällt. Schwerenöter Augello
flirtet ins Leere. Der kindlich naive Catarella, den viele unterschätzen, dreht einen gedopten Computer auf Links. Der pfiffige,
fragile Fazio, der immer wirkt, als würde
ihm die Mamma noch die Panini schmieren, schützt seinen leichtfertigen Chef, als
dem die Pferde durchzugehen drohen,
vorm Skandal. Am Ende ist Montalbano
wieder ein bisschen trauriger. Denn ein gelöster Fall macht die Welt auch nicht viel
besser. Immerhin knirscht die Mafia mit
den Zähnen. Und der Commissario kann
nach wie vor ruhigen Gewissens in den
Spiegel schauen. Ein Ausnahmepolizist
eben. Das gute Sizilien, es lebt.
Andrea Camilleri: Das Labyrinth der Spiegel.
Bastei Lübbe, 256 Seiten, 22 Euro
SÄCHSISCHE ZEITUNG
FEUILLETON
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D O N N E R S TA G
7. JULI 2016
KULTUR & GESELLSCHAFT
KOMMENTAR
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Und er
erklärt sie doch
Birgit Grimm
über Tino Sehgals
Arbeit im Albertinum
T
Den Kult um seine
Aufführungen steigert Tino Sehgal
gerade dadurch,
dass er offizielle
Fotos verbietet.
Lieber posiert er
selbst, hier im
Treppenhaus des
Albertinums.
Foto: Robert Michael
Kunst ohne Müll
Weltweit sind Performances von Tino Sehgal gefragt. Warum nur?, fragt man sich bei der Dresdner Aufführung.
Von Rafael Barth
W
er in diesen Wochen den Lichthof
des Dresdner Albertinums betritt,
erlebt Frauen und Männer im Ausnahmezustand. Bis zu vierzig Leute in Alltagskleidung gehen oder rennen als Schwarm, bevor sie sich im Raum verstreuen. Sie sitzen,
knien, liegen auf dem Fußboden, murmeln
Worte und singen sakral anmutende Lieder. Immer wieder löst sich jemand aus der
Gruppe und spricht einzelne Besucher an.
Dann hört man Geschichten aus dem Leben, etwa vom jüngsten Fahrradunfall oder
wie die Tochter den Brief über das Prüfungsergebnis bekam. Wer will, kann mit
dem Erzähler ins Gespräch kommen, zumindest kurz. Nach einer Weile flüchtet er
oder sie zurück in den Schwarm.
Was das ist? Eine Begegnung mit Menschen, wie man sie sonst nicht erlebt. Erst
recht nicht im Kunstmuseum, wo oft das
Abschreiten von Gemälden und Skulpturen in zivilisierter Stille erfolgt. Der Berliner Künstler Tino Sehgal aber schafft
nichts, was man an die Wand hängen oder
auf einen Sockel stellen könnte. Sein Werk
besteht aus Aufführungen mit Laiendarstellern, wie sie Sehgals Mitarbeiter in den
vergangenen Monaten nun in Dresden ge-
funden haben. Junge und Alte aus unterschiedlichen Milieus, die fit sein müssen
und was zu erzählen haben.
Ihre Geschichten, sagt Sehgal, seien
persönliche Antworten auf Fragen, die er
ihnen gestellt habe, etwa: Wann hattest du
das Gefühl, dass du angekommen bist? Außer den Fragen hat der Künstler Choreografie und Lieder mitgebracht. Die Performance läuft zur normalen Öffnungszeit
des Albertinums, sich steigernd von wenigen Darstellern am Dienstagmorgen bis
zur vollen Gruppenstärke am Wochenende. Wenn die Aktion „These Associations“
vorbei ist, soll davon nichts übrig bleiben.
Es gibt keinen Katalog, kein Plakat, Sehgal
gestattet nicht einmal Pressefotos der Aufführung. Das Konzept hat sich zum globalen Exportschlager entwickelt.
Werkschau für den Aufsteiger
New Yorks Guggenheim Museum, Londons
Tate Modern und die Documenta in Kassel
sind nur einige seiner Karrierestationen.
Die Biennale von Venedig zeichnete Sehgal
mit dem Goldenen Löwen als besten Künstler aus. Der Berliner Martin-Gropius-Bau
widmete ihm im vorigen Jahr eine Werkschau, da war er noch nicht mal vierzig.
Was ist es bloß, dass diese Arbeiten, die der
Künstler als „konstruierte Situationen“ beschreibt, so begehrt macht?
Man kann das ganz gut verstehen,
wenn man hört, wie Sehgal sein Aufwachsen darstellt. Geboren 1976 in London als
Sohn eines Inders und einer Deutschen,
verbrachte er sieben Jahre seiner Jugend
im baden-württembergischen Sindelfingen. Dort hatte er Produktionsstätten von
IBM und Hewlett-Packard vor der Nase,
Sehgals Schulbus war der Schichtbus von
Daimler-Benz. Er fragte sich, wie er sein Leben sinnvoll verbringen könnte, ohne Güter herzustellen. Und studierte Tanz.
Die Lust am Nichtmateriellen ist das
Hauptmerkmal seiner geheimnisumflorten Kunst. Es tritt umso klarer hervor, weil
er die Inszenierungen nicht auf die Bühne
bringt, sondern ins Museum, dem Sammelplatz für Objekte aller Art. Deren Rang ist
fragwürdig geworden. Noch die größte
Bratze kann heute einen Picasso im Depot
haben, nicht aus Liebe zur Kunst, sondern
weil es als Spekulationsobjekt so viel taugt.
Sehgals Kunst verkörpert im Wortsinn die
Kritik an kapitalistischen Exzessen und das
allgemeine Unbehagen am Überfluss. Die
meisten haben eh zu viel von allem, zu viele Klamotten, zu viel Essen. Hier wirkt Sehgals Schaffen wie eine Entlastung. Er fügt
dem Bestand der bildenden Kunst scheinbar nichts hinzu, sein Werk läuft ohne
technischen Schnickschnack. Er bedient
damit die Sehnsucht, ein weniger vollgestopftes Leben könne erfüllender sein.
Weil kein Müll entsteht (kein Plakat, kein
Katalog!), kann man sich dem Gefühl des
ökologisch korrekten Genusses hingeben.
Der alte Kult um das Objekt wird abgelöst
durch die Fetische Leere und Aktion.
Tatsächlich ist Sehgal ein raffinierter
Wiederverwerter der Kunstgeschichte.
Was Dada, Happening, Performance im vorigen Jahrhundert probierten, überführt er
in die Gegenwart. Dabei dämpft er alles
vordergründig Krawallige, Provokante
stark ab oder lässt es ganz beiseite. Die Besucher sollen sich auf den Moment einlassen, so wie es heute jeder Achtsamkeitslehrer empfiehlt. Sie sollen andere Menschen
treffen. In einer spielerischen, zwanglosen,
geschmeidigen Art gibt sich Sehgals Kunst
aus als Plattform für ein Miteinander. Nur
sollte man das nicht mit Nächstenliebe verwechseln. Außer Tanz hat Tino Sehgal erfolgreich Volkswirtschaft studiert.
q Kommentar
Bis 14. August im Lichthof des Albertinums Dresden,
Di – So 10 bis 18 Uhr, Eintritt frei
Glücksfall für die Lücke im Graben
o plötzlich der Junge weg war, so
schnell reist der Alte an: Einen Tag,
nachdem die Bayreuther Festspiele erleichtert verkündeten, dass Dirigent Hartmut
Haenchen (73) einspringen wird für Andris
Nelsons (37), ist der Meister schon auf dem
Weg zum Grünen Hügel. Er hat nicht viel
Zeit. Am Mittwoch musste er gleich zu seiner ersten Probe für den „Parsifal“, am
25. Juli ist schon Eröffnungspremiere. Eine
knappe Angelegenheit, aber für die Festspiele hat das Dirigenten-Desaster ein
glückliches Ende genommen.
„Haenchen ist ein fabelhafter Dirigent,
erste Wahl, keine Frage“, sagt ein Kenner
der Wagner-Szene, der seinen Namen
nicht nennen möchte. Und er setzt hinterher: „Man wundert sich immer wieder,
dass sich noch jemand darauf einlässt.“
Er sei sehr froh, Teil des Teams in Bayreuth zu werden, ließ der in Dresden geborene Haenchen hingegen sein Management mitteilen. Der „Parsifal“ bedeute ihm
sehr viel und begleite ihn seit Jahren. Er
will sich einbringen, auch wenn er, wie er
sagt, mit zwei verbleibenden Orchesterproben „keine Welten bewegen“ könne.
Als Nelsons vergangene Woche absprang, war das für so manchen Beobachter dennoch nur ein weiteres Symptom dafür, dass die einst so glanzvolle Institution
der Bayreuther Festspiele bröckelt. Die Aufmerksamkeit ist dem Grünen Hügel dank
des überraschenden Wechsels inklusive
Emotion wieder garantiert. Und mit Haenchen geht das Drama auch künstlerisch gut
Foto: Musacchio & Ianniello
aus. Experten schätzen ihn als erfahrenen
Wagner-Interpreten, nach eigenen Angaben hat er 34 komplette Ring-Zyklen dirigiert. Im versteckten Orchestergraben von
Bayreuth stand er allerdings noch nie.
„Wir gehen fest davon aus, dass sich
Hartmut Haenchen gut einfügen wird“,
sagt der Sprecher der Festspiele, Peter Emmerich. „Das etwas Nebulöse hier, das
muss man hinnehmen.“ Nelsons war es
wohl zu viel geworden. Er reiste nach Unstimmigkeiten ab und kam trotz Anstrengungen von Katharina Wagner nicht wieder. Die Stimmung ist angespannt und das
nicht erst seit Kurzem.
Der Sänger Evgeny Nikitin sagte vor
vier Jahren seine Auftritte wegen eines verdächtigen Tattoos ab (das nach einem Hakenkreuz aussah) – auf Druck der Festspielleitung. Bayreuths Leitung beendete 2014
auch die Zusammenarbeit mit dem Skandalkünstler Jonathan Meese, der mehrfach
verklagt wurde wegen Hitlergruß-Gesten
bei Performances. Diesmal soll es Zwist gegeben haben zwischen Nelsons und dem
UNART
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Wenn ich wüsste, was Kunst ist, würde ich
es für mich behalten.
Pablo Picasso (1881 – 1973)
Flanken schlagen gegen
den Klangrausch der Marseillaise
Rettet Bayreuth
aus höchster Not:
Der in Dresden geborene Dirigent
Hartmut Haenchen
springt für den
überraschend abgereisten Kollegen
Andris Nelsons bei
den Wagner-Festspielen ein.
S
mail [email protected]
Hymnen-Orakel
In Bayreuth haben Eklats längst
Tradition. Doch diesmal scheint
alles gut zu werden: Für den
abgesprungenen Dirigenten
springt Hartmut Haenchen ein.
Von Sophie Rohrmeier
ino Sehgal ist ein entschlossener
Mann. Er hat Volkswirtschaft studiert
und kennt die Mechanismen des Marktes.
Kunst, so meint er, sollte man trennen in
die, die in Museen gezeigt wird, und in
die, die für die Ausstattung privater Räume hergestellt und auf dem Kunstmarkt
angeboten wird. Er macht nur die für die
Museen, „Ich produziere keine Objekte“,
sagt Sehgal. Stattdessen füllt er Kunsttempel wie nun auch den Lichthof des Dresdner Albertinums mit Leben. Er inszeniert
Performances, in denen ausgewählte Laiendarsteller Besucher ansprechen oder
auf andere Art überraschen. Es gibt etwas
zum Anschauen, zum Mitdenken und
Mitreden. Man kann mitlaufen, aber
nichts Gegenständliches mitnehmen. Die
Besucher zahlen keinen Eintritt. Ihre
Währung ist, dass sie sich einbringen.
Aber genau das dürfen sie eigentlich
nicht wissen, bevor sie das Museum betreten. Deshalb verzichtet der Künstler
auf Plakate, Einladungen, Vernissage und
schaltet keine Werbung.
Doch die Vorstellung, dass keiner hingeht, weil niemand von nichts weiß,
scheint den Künstler und die Staatlichen
Kunstsammlungen zu beunruhigen. Also
luden sie zur Pressekonferenz ins Albertinum – und schickten die Fotografen wieder weg. Fotografieren verboten! Zum
Konzept des Künstlers gehört, dass von
seinen Performances nichts bleibt. Dabei
ist doch schon jede Menge in der Welt.
Das Internet ist voll mit Bildern und
Videos von den Arbeiten Tino Sehgals.
Er selbst gab auf der Pressekonferenz
in Dresden ausführlich Auskunft, beantwortete freundlich jede Frage. Sehr darauf bedacht, seine Idee unmissverständlich zu kommunizieren, damit die
Medien sie verbreiten können, bevor der
erste Besucher über die Performer im
Albertinum „stolpert“. Die Idee mag ja
gut sein, den Markt nicht bedienen zu
wollen. Aber dann doch einen marktüblichen Mechanismus zu benutzen, ist inkonsequent und nicht besonders mutig.
musikalischen Leiter, dem renommierten
Dirigenten Christian Thielemann. Der hatte sich gegen die Gerüchte gewehrt: Er habe ein „sehr gutes“ Verhältnis zu Nelsons,
sagte er. „Ich bin mit ihm fast befreundet.“
Insider dagegen erzählten, Thielemann habe sich zu sehr eingemischt in die Arbeit
von Nelsons, öffentlich sagen wollten sie
das nicht. Festspiele-Sprecher Peter Emmerich hatte den Medien gegenüber darüber
spekuliert, ob die verstärkten Sicherheitsvorkehrungen die Künstlerseele Nelsons zu
sehr gestört haben könnten.
So hinderlich sind die zusätzlichen
Wachleute und Kontrollen aber wohl doch
nicht. Denn die Festspiele hätten Haenchen nicht extra darauf vorbereitet, sagt
Emmerich. Der 73-Jährige dürfte ohnehin
versuchen, sich auf die Arbeit mit dem Orchester und weniger auf das Atmosphärische drumherum zu konzentrieren. „Es ist
immer eine Herausforderung, kurzfristig
in eine Produktion einzusteigen, besonders
in diesem Fall, da die Proben schon seit einiger Zeit laufen“, so Haenchen. (dpa)
Wenn Thomas Müller endlich
seine Stimme im Konzert
erheben würde, ist der
Einzug ins Finale möglich.
Von Gottfried Blumenstein
D
as wäre beinahe wieder schiefgegangen gegen die Altherrentruppen aus
Bella Italia. Von Triolen ist in der deutschen
Hymne nichts zu sehen und zu hören.
Mehmet Scholl hat das sehr richtig erkannt. Dass der Trainerstab
auf einer Dreierkette bestand,
zeugte von wenig Fach- und Partiturkompetenz. Dieses Mittel wäre
nur einzusetzen, wenn die gegnerische Hymne im Dreivierteltakt
daherkommt, was eben nicht der
Fall war. Glücklicherweise brachte der gefühlte hundertste Elfmeter die todtraurige Serie gegen die
Italiener dann doch noch zu Fall.
Vor dem Frankreichspiel gilt
es also, sich auf den Hosenboden
zu setzen und Note für Note nach
ihrer Halbfinalspieltauglichkeit
abzuklopfen, denn es wird schwer. Die
französische Hymne, und das pfeifen seit
weit über 200 Jahren die Spatzen von den
Stadiondächern, ist die Nationalhymne
schlechthin. Selbst Jimi Hendrix’ zerbombte Version des Star Spangled Banner
verpufft im Ohr, wenn sich die Marseillaise
in Schwingung setzt. Sie wurde 1792 in
Straßburg vom Hauptmann Claude Joseph
Rouget de Lisle in Text und Melodie verfasst. Und kein Geringerer als Hector Berlioz hat das Lied extra breit instrumentiert
und daraus einen opernmäßigen Klang-
rausch fabriziert, der jeder Beschreibung
spottet. Wie kommt man also dagegen an?
Es geht nur über die Flügel der Musik.
Links wie rechts brauchen wir Flitzer, die
ordentlich Flanken schlagen können im
Subdominantakkord. Das gibt das Personal
derzeit zwar nur eingeschränkt her, immerhin soll Joshua Kimmich mit windschnittiger Topfrisur auf der rechten Außenbahn gesetzt sein.
In jedem Fall verträgt das Deutschlandlied eine Tempoverschärfung. Auch eine
marginale Veränderung der Phrasierung,
die neue Sinnzusammenhänge
stiftet, wie etwa das Verschieben
der Mittelfeldachse rund ums Tremolo, wären angebracht, um die
Franzosen im Anstoßkreis festzusetzen und wirr zu spielen. Hilfreich wäre es auch, wenn Thomas
Müller zur Normalform auflaufen
könnte. Seine Stimme im Konzert
war bislang kaum zu hören, zumal er nicht mehr mit den Spitzentönen in die Maschen trifft.
Das aber wäre für den Torjubel
eminent wichtig. Seine Emsigkeit
mit allein 15,2 Laufkilometern im
Italienspiel brachte wenig.
Für seine Emsigkeit wurde seinerzeit
übrigens selbst der größte Musiker aller
Zeiten vom Kaiser (Wo ist der eigentlich?)
wie folgt gerügt: „Sehr schön, Mozart, aber
zu viele Noten!“
Gottfried Blumenstein hat in Dresden Musik studiert,
sich als Musikkritiker in der Welt umgetan, ist heimgekehrt
in die Oberlausitz und betreibt den Schwarzwasser Verlag.
SÄCHSISCHE ZEITUNG
FEUILLETON
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Glücksmomente fürs Volk
Beim Straßentheaterfestival ist Ausnahmezustand in Görlitz. Das Via Thea feiert die Kunst und die Beiläufigkeit.
Von Johanna Lemke
E
s ist immer wie ein kleines Nachhausekommen. Wenn sich der Görlitzer
Stadtpark füllt, wenn Familien und Flaneure ihre Decken ausbreiten, wenn sich langsam der Langos-Duft über die Wiesen legt
und die ersten Bierkrüge wandern gehen.
Wenn zwischen den Lagernden und Unentschlossenen plötzlich Schausteller über die
Wiese spazieren, schon in Kostüm, aber
noch privat. Wenn man Ausschau hält, wo
das nächste Spektakel beginnt, doch sollte
man es verpassen, wäre es auch nicht so
schlimm, es liegt sich doch so entspannt
auf der Wiese und die nächste Vorstellung
kommt bestimmt. Wenn mitten in der Woche die Neue Lausitzer Philharmonie Slawische Tänze spielt und kurz darauf eine
Trommelband rabaukt – dann, ja dann ist
Via Thea.
Wem man auch davon erzählt, dass
man nach Görlitz fahren will dieser Tage,
man erntet leuchtende Augen und ein „Da
muss ich auch mal wieder hin!“ Zum
22. Mal findet das Straßentheaterfestival
Via Thea statt, es ist über die Stadt hinaus
bekannt. Trotzdem, und das macht den besonderen Charme aus, geht es immer familiär zu. Man kann hier halt auch mal jemanden zufällig treffen, geht nicht verloren in Menschenmassen und kommt in der
Schlange am Bratwurststand schnell ins
Schwatzen. Zumindest am Eröffnungstag
im Stadtpark ist das so – Freitag und Sonnabend, wenn die Vorstellungen in den Straßen von Görlitz stattfinden, ist das Gedränge schon größer. Dann muss man sich vorsehen, noch ein Plätzchen zu finden, von
dem aus man etwas sehen kann. Ganz so
einfach flanieren, wie suggeriert wird,
kann man längst nicht mehr. Wenn man
sich aber etwas vorbereitet, wird man an
diesem Wochenende Zauberhaftes entdecken, kann sich an feiner Kunst erfreuen
und zwischen Büro und Bäcker ein bisschen mit der Hüfte wackeln.
Inflationäre Zaubershows
Am Donnerstag wurde das Festival im
Stadtpark fröhlich eröffnet mit Trommelmusik und Reden vom Oberbürgermeister
Siegfried Deinege und den Hauptsponsoren. Natürlich auf Deutsch und Polnisch –
an diesem Wochenende ist Europa in Sachsen, das Via Thea versteht sich als Sammelbecken für Kunst aus vielen Kulturen. Auf
den Wiesen im Park fühlte es sich an diesem Abend an wie bei einem großen Picknick, Seifenblasen trudeln durch die Luft,
Kinder üben Radschlag und von irgendwoher kommt Mundharmonikamusik. Künstlerisch wendet sich der Eröffnungsabend
ebenfalls an Familien, er ist geprägt von
Zaubershows und Clownseinlagen – und
dies leider von nicht so hoher Qualität wie
in anderen Jahren. Die Vorgabe schien ge-
Italienischer Akzent mangelhaft, Kinderbespaßung hervorragend: Giovanni Gassenhauer beim Via-Thea-Auftakt.
wesen zu sein: „Mach mal was mit Zaubertrick! Das finden Kinder gut!“
Giovanni Gassenhauer ist ein Italiener
mit Schiebewägelchen voller Nudeln. Die
Idee, Glücksmomente unters Volk zu bringen, ist zwar charmant, am Ende liefert der
Komiker Markus Siebert aber nicht viel
mehr als Knotentricks und auch der italienische Akzent kommt nicht sehr überzeugend rüber. Auch Conrad Edwin Wawra alias Kaosclown bringt zwar genügend komisches Können mit, um Erwachsene zum Lachen zu bringen, doch er beschränkt sein
Programm ebenfalls auf Jonglier- und Zaubertricks. Selbst das Turisedische Stadttheater verheddert sich in einer Zaubershow, was umso bedauerlicher ist, da die
Abgesandten der Kulturinsel Einsiedel performativ sonst mehr draufhaben. Auf der
Freilichtbühne im Stadtpark bekommen
sie selbst von den vergnügungswilligen
Kindern nur wenige Lacher. Als einer Zuschauerin innerhalb der Showeinlage angeblich die Hand abgehackt werden soll,
kriegt deren Sohn verständlicherweise Panik. Das zeigt die generelle Schwäche dieses Eröffnungsabends: Das Programm
muss für Familien geeignet sein, aber „Kindertheater“ will niemand machen.
Gegen 19 Uhr am Donnerstag kam
dann der Lichtblick: Die Puppenspielerin
Anne Swoboda machte Hoffnung auf das,
was in den nächsten Tagen noch folgen
wird. Sie spielte ihre „Chansonette“, eine
fast lebensgroße Puppe, so liebevoll, dass
Spielerin und Figur zu einer Einheit verschmolzen. Die Eleganz dieser gealterten
Diva, die das Ende ihrer Karriere erfolgreich verdrängt, verzauberte das Publikum
ganz ohne Knotentricks. Als sie ansetzte,
die schönsten Liebesschlager der Geschichte zu trällern, war es um alle geschehen. So
soll Straßentheater sein: Fürs Volk, aber
mit Anspruch.
Das Festival ist komplett gratis
Anne Swoboda wird am Sonnabend noch
zweimal im Museumshof in der Neißestraße spielen und singen. Überhaupt können
sich alle, die Lust auf mehr als Zaubershows haben, getrost noch mal auf die Straße wagen. Denn freitags und sonnabends
kommen auf dem Via Thea die Artisten
und Zirkuskünstler dran, gibt es experimentelles Tanztheater, Poetry-Slam oder
„Swing in Wonderland“. Alex Jacobowitz
aus den USA wird auf seinem Marimba brillieren und Frans Custers aus Holland Panto-
Von Jörg Schurig
lernte Regina Thoss auch klassisches Repertoire kennen. Während der Oberschulzeit erhielt sie Unterricht in Klavier und
Gesang am Konservatorium ihrer Heimatstadt. Schon damals stand für sie fest: „Meine Stimme war für mich wie eine Berufung. Ich wollte nichts anderes als singen.“
Von da an ging es Schlag auf Schlag. Mit
dem noch druckfrischen Berufsausweis in
der Tasche wurde Regina Thoss zum Internationalen Schlagerfestival der Ostseeländer nach Rostock delegiert. Sie gewann auf
Anhieb mit dem Lied „Die erste Nacht am
Meer“. Der Sieg brachte ihr Einladungen in
viele Länder ein. Durch Hochzeit, Ehe und
die Geburt ihres Kindes folgte eine Auszeit.
„Trotz einer schwierigen Lebensphase war
die Geburt meines Sohnes der glücklichste
Moment meines Lebens“, sagt Thoss. Im
Rückblick empfindet sie die Pause sogar als
Vorteil: „Wenn man so jung und unerfahren in der Branche ist, kann es passieren,
dass man durch plötzlichen Erfolg leicht
die Bodenhaftung verliert.“
1968 stand sie wieder mit beiden Beinen auf der Bühne und bekam im Studio
für Unterhaltungskunst gemeinsam mit
Nina Hagen Gesangs- und Schauspielunter-
Foto: Nikolai Schmidt
mime mit japanischem Butoh-Tanz kombinieren. Die meisten spielen mehrmals täglich. Und wer etwas verpasst, bekommt
noch eine Chance: Einige der Künstler sind
Sonntag noch mal in Hoyerswerda beim
Straßentheaterfest zu sehen.
Dass sich immer wieder Besucher über
die fünf Euro für das Festivalprogramm
aufregen, kann man nur mit einem Kopfschütteln hinnehmen. Immerhin ist das
Via Thea ansonsten gratis, Künstler stellen
maximal den Hut auf, und das Glück findet
sich eh in dem, was beiläufig passiert. So
wie in dem Spontan-Konzert der dreiköpfigen Band, die am Donnerstag am Rand des
Stadtparks steht. Als die Sängerin ganz
nonchalant haucht: „Wer hätte gedacht,
dass so viel Schönes aus so viel Bullshit entsteht?“, dann ist das einer dieser Momente.
Da ist es egal, dass das Schlagzeug aus Plastebehältern bestand und die Anlage schepperte. Das ist dann eben Via Thea.
Das Via Thea findet noch am Sonnabend an verschiedenen Orten in Görlitz statt. Der Eintritt zu allen Vorstelllungen ist frei, das Programmheft kostet 5 Euro.
Am Sonntag gastieren einige der Künstler des Via Thea
in Hoyerswerda beim Straßentheaterfest rund um den
Marktplatz der Altstadt.
Dresden. Vor zehn Jahren, am 15. September 2006, wurde das rekonstruierte Historische Grüne Gewölbe im Dresdner Schloss
eröffnet. Die Staatlichen Kunstsammlungen feiern das Jubiläum mit einem Sonderangebot an die Besucher. Ab sofort sind
„der Jubilar“, das Historische Grüne Gewölbe im Erdgeschoss des Residenzschlosses,
und das 2004 eröffnete Neue Grüne Gewölbe in der darüber liegenden Etage zusätzlich zu den regulären Öffnungszeiten jeden
Freitag 18 bis 20 Uhr geöffnet. Das Ticket
für den Besuch beider Schatzkammermuseen kostet in dieser Zeit 15 Euro statt der
üblichen 21 Euro (Webticket) und 23 Euro
(Museumskasse) und beinhaltet eine Führung durch das Neue Grüne Gewölbe. Die
Sonderöffnungszeit gilt bis Jahresende. (SZ)
Zwickauer Theater
verkauft sein Gestühl
Zwickau. Wer sich zu Hause wie im Theater
fühlen möchte, kommt jetzt in Zwickau
auf seine Kosten. Ab 30. August werden die
Theatersessel aus dem Zwickauer Gewandhaus an interessierte Bürger verkauft, teilte
die Bühne am Freitag mit. Jeder der
200 Sessel ist für 25 Euro zu haben. Allerdings müssen die Sitze vor dem privaten
Gebrauch erst noch zum Stehen gebracht
und entsprechend umgerüstet werden.
Denn bisher waren sie über eine Metallstrebe und ein Rohr im Boden verankert.
Das Gewandhaus tauscht die alten Sessel
rechtzeitig vor Beginn der neuen Spielzeit
aus. (dpa)
Mit dem zwölften Mann den
feindlichen Geschützen entgegen
Am Sonntag wird
Sängerin Regina
Thoss 70. Regelmäßig steht sie –
wie hier für eine
MDR-Show in der
Stadthalle Chemnitz – noch auf der
Foto: dpa
Bühne.
D
Am Sonntag hat „die Thoss“, wie die Fans
sie nennen, ihren 70. Geburtstag. Eine große Party gab es schon unlängst mit Freunden und Kollegen – aus Anlass eines anderen Jubiläums: Gut 50 Jahre zuvor hatte sie
ihren Berufsausweis als Sängerin erhalten.
„Da haben wir es richtig krachen lassen“,
erzählt die Künstlerin. Ursprünglich habe
sie den Geburtstag gar nicht opulent feiern
wollen. Doch dann habe ein TV-Sender sie
überredet. Jetzt ist Thoss froh, dass zur Feier in der Alten Börse von Berlin-Marzahn
viele Kollegen zugesagt haben.
Eigentlich steht Regina Thoss länger als
50 Jahre auf der Bühne. Bereits mit zwölf
sang sie vor Tausenden auf der Großen
Freilichtbühne in Zwickau Volkslieder. In
der Schule nutzte sie Pausen zum Auftritt
vor Mitschülern. Ihr Klassenlehrer sah die
Begabung und förderte sie. Im Schulchor
Berlin. Gegen teils massiven Protest von
Künstlern, Sammlern und Händlern hat
der Bundesrat das Gesetz zum Schutz von
Kulturgütern in Deutschland gebilligt. Damit hat das wohl umstrittenste kulturpolitische Vorhaben dieser Legislaturperiode
die letzte Hürde genommen. Eine kritische
Entschließung fand am Freitag in der Länderkammer keine Mehrheit. Für die Verabschiedung reicht eine absolute Mehrheit
von 35 der 69 Stimmen.
Das Gesetz von Kulturstaatsministerin
Monika Grütters (CDU) verbietet die Ausfuhr von „national wertvollem Kulturgut“
aus Deutschland. Zudem wird der illegale
Handel mit Raubkunst aus Kriegs- und Krisengebieten erschwert. Der Bundestag hatte das Gesetz am 23. Juni mit den Stimmen
der Regierungsfraktionen beschlossen, die
Opposition enthielt sich. (dpa)
Hymnen-Orakel
Sängerin Regina Thoss hat bei
Festivals in aller Welt Preise
abgeräumt. Auch mit 70 steht
sie noch immer auf der Bühne.
Karrierestart mit zwölf
Kulturgutschutzgesetz
nimmt letzte Hürde
Blaue Stunde im
Grünen Gewölbe
Mehr als die „Milva des Ostens“
DR-Talenteschmied Heinz Quermann
konnte diese Stimme einfach nicht
überhören: Als der Entdecker so vieler ostdeutscher Schlagersänger 1964 ins damalige Karl-Marx-Stadt reiste, hatte die 18 Jahre
alte Regina Thoss ihre Mikrofonprobe für
die Sendung „Herzklopfen kostenlos“ bereits absolviert. Doch als Quermann die
Aufnahme eines von Thoss gesungenen
Chansons hörte, war er elektrisiert. Anders
ist nicht erklärbar, warum er umgehend
nach Zwickau fuhr, an der Wohnungstür
von Familie Thoss klingelte und zur Mutter
sagte: „Ich will ihre Tochter.“ Regina Thoss
muss heute noch über diese Szene lachen.
S O N N AB E N D / S O N N TA G
9./10. JULI 2016
KULTUR & GESELLSCHAFT
richt. Thoss räumte danach im In- und Ausland Preise ab. Nicht nur beim Song Contest International in Castlebar (Irland) wurde sie als beste Interpretin geehrt. Lieder
wie „Die Liebe ist ein Haus“ oder „Rom-tarom“ avancierten zu Gassenhauern.
Als die Wende in der DDR kam, reiste
Thoss schon lange als Stargast auf Kreuzfahrtschiffen. Diese Engagements und ihre
Vielseitigkeit erleichterten den Übergang
in die neue Zeit. Zwölf Jahre war sie mit ihrer Band „Evergreen Juniors“ durch mehr
als 30 Länder getourt und hatte sich dabei
ein breites Repertoire erarbeitet. Auf dem
„Traumschiff“ und anderswo sang sie
Schlager, Shanties, Musical-Melodien, Folksongs oder Rock ’n‘ Roll. Ein Hamburger
Journalist hörte sie mit dem Lied „Zusammenleben“ von Mikis Theodorakis und gab
ihr den Beinamen „Milva des Ostens“.
„Im Westen hat man natürlich nicht
auf die Ost-Kollegen gewartet. Bis zum
Mauerfall waren wir Exoten und plötzlich
die Konkurrenz“, sagt die Sängerin und
lacht. Sie ist dankbar dafür, ihren Beruf ohne große Unterbrechungen bis heute ausüben zu können: „Gesang ist für mich ein
Lebenselixier.“ (dpa)
Frankreich und Portugal feiern
in ihren Hymnen gleichermaßen
drastisch die Lust am Kampf.
Von Gottfried Blumenstein
N
un ja, es ist aus. Die deutschen Kämpen zerstreuen sich mit ihren Angebeteten in alle Himmelsrichtungen – ohne
ein munteres Liedchen auf den Lippen. Das
ist schade, aber so sind nun mal die Regeln.
Wer keine Tore schießt, fliegt, mit wem
auch immer. Dennoch wollen wir bei allem
Kummer nicht verhehlen, dass noch ein
Spiel aussteht. Am Sonntag treffen zwei
ehemalige
Weltmächte
aufeinander, die ihre besten Zeiten längst hinter
sich haben. Bei den Portugiesen ist dies freilich weit
länger her als bei den Franzosen. Nichtsdestotrotz ist ihr
Verlusttrauma recht drastisch in
den Text ihrer Hymne „A Portugesa“ eingeflossen. Helden der Seefahrt werden angesungen, den
Glanz Portugals neu auferstehen
zu lassen, indem man schnurstracks zu den Waffen greift, um
sich den feindlichen Geschützen entgegenzuwerfen. Ein Text, der wie die Faust aufs
Auge vom Fußballplatz passt. Und der auch
nur dort, wo Spiel und Spaß dominieren,
mit einigem Augenzwinkern hingehört.
Mit der Musik selbst hat es eine sonderbare Bewandtnis, denn die stammt aus der
Feder eines 1850 in Lissabon geborenen
Deutschen namens Alfredo Keil. Das portugiesische Melos, dominiert von der Melancholie des Fado, trifft Keil nur ansatzweise.
Seine Komposition steht zwar in Es-Dur, einer Tonart, der neben Schwermut auch
Grausamkeit innewohnen soll, bedient
aber in der Melodie mit überraschend
kunstvollen Sprüngen eher die deutsche
Spätromantik. Kein Wunder, dass die Portugiesen gegen die Unsrigen zumeist keinen Stich sahen. Klassik, also Haydn,
schlägt immer Romantik, egal von wem.
Die Franzosen sollten sich durchaus
fürchten. Doch in der Regel wurden die
Portugiesen stets von der Marseillaise überrollt. Der letzte Sieg Portugals stammt aus
dem Jahre 1975. Bei geschickter Umdeutung ihrer Hymne, in der die Gesangs- wie
eine Solistenstimme daherkommt, wäre es taktisch schlau, selbige etwas
zurückzunehmen und mit
ihr im Gesamtsound aufzugehen. Das würde auf
dem Platz bedeuten, dass Ronaldo
sich willig zeigt, von seinem überragenden Ego als Tenorbuffo etwas herzugeben. Dann passiert
das, von dem bereits Berti Vogts
kündete: „Wenn jeder Spieler
zehn Prozent von seinem Ego an
das Team abgibt, haben wir einen
Spieler mehr auf dem Feld.“ Im
Falle Portugals genügt ein Spieler.
Dessen zehn Prozent – gut verteilt – machen den zwölften Mann aus, der aus dem
Nichts heraus das Siegtor schießt.
Gottfried Blumenstein hat in Dresden Musik studiert,
sich als Musikkritiker in der Welt umgetan, ist heimgekehrt
in die Oberlausitz und betreibt den Schwarzwasser Verlag.