MONTAG, 27. JUNI 2016 KUNDENSERVICE 0 8 0 0 / 9 3 5 8 5 3 7 * D 2,50 E URO Zippert zappt THEMEN WISSEN Die Vermessung der Stradivari Seite 19 WIRTSCHAFT Nur zwei Jahre zu spät: Neuer Panamakanal ist eröffnet Seite 12 Gebt die Briten nicht auf! THOMAS KIELINGER DPA/ROLEX DELA PENA; VIOLIN FORENSIC/JOST THÖNE VIOLINS D Welche Entschlossenheit, Kraft und Leidenschaft: Jerome Boateng springt nach seinem Tor im EM-Achtelfinale gegen die Slowakei in die Luft und jubelt. Der Abwehrchef, dessen Einsatz bei diesem Spiel lange unsicher war, hat Geschichte geschrieben: Sein Treffer in der achten Minute war das schnellste Tor einer deutschen Elf bei einer Europameisterschaft. Es war der Auftakt zu einem Match, in dem „Die Mannschaft“ in diesem torarmen Turnier erstmals wirklich begeisterte – und am Ende souverän mit 3:0 gewann. Im Viertelfinale geht es gegen den Sieger aus der Partie Italien gegen Spanien. Alles zur EM: Seiten 21 bis 24 Seite 13 FEUILLETON Trickbetrüger und ihre sympathischen Seiten Seite 17 Sie können auch Tore Brexit-Entscheidung löst politisches Chaos aus EU-Spitze drängt britische Regierung zu schneller Umsetzung, doch die will sich Zeit lassen. Nach Katerstimmung in Großbritannien fordern Millionen Bürger ein zweites Referendum über EU-Verbleib W ann verlassen die Briten die Europäische Union – und gehen sie überhaupt? Das Ergebnis des BrexitReferendums hat zu einem politischen Beben und etlichen neuen Fragen geführt. Die EU-Spitze in Brüssel möchte politische Instabilität und wirtschaftliche Turbulenzen verhindern und drängt deshalb London dazu, den offiziellen Austrittsantrag zu stellen. Erst dann beginnt der zweijährige Trennungsprozess. FINANZEN Warum es oft weniger Rente gibt als erwartet Nr. 148 KOMMENTAR D er Austritt ist der neue heiße Trend. Immer mehr Menschen wollen irgendwo austreten. Nach dem Brexit kommt der Öxit, der Frexit, der Nexit und der Luxit. Man muss aber erst mal irgendwo dazugehören, um austreten zu können und jahrelang mit dem Austritt zu drohen. Viele Schweizer würden liebend gerne auch mal irgendwo austreten, aber das Land gehört leider nur zum Alpenraum. Obwohl viele Bürger von Bergen ziemlich unter Druck gesetzt werden, können sie nicht aus dieser Zwangsgemeinschaft raus. In Deutschland laufen die verschiedensten Austrittswellen. Im Trend liegen der Austritt aus der Kirche und aus der SPD, beides uralte Religionen, deren Anfänge unbegreiflich sind und deren Daseinsberechtigung sich kaum noch vermitteln lässt. Jeder zweite Deutsche würde gern aus dem Rundfunkbeitrag austreten, aber das ist verboten. Jeder, der sich in Deutschland aufhält, könnte irgendwo irgendwie fernsehen, und daher muss auch jeder dafür bezahlen. Und obwohl Horst Seehofer schon länger damit liebäugelt, technisch ist ein Austritt aus dem Sonnensystem noch nicht machbar. B VON JENS WIEGMANN EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) rief den britischen Premierminister David Cameron auf, beim Gipfel am morgigen Dienstag die Austrittserklärung abzugeben. Auch EUKommissionschef Jean-Claude Juncker, der Ratsvorsitzende Donald Tusk und die Außenminister der sechs europäischen Gründerstaaten mahnten zur Eile. Die Regierung des scheidenden Premiers Cameron will sich jedoch nicht zu schnellen Brexit-Verhandlungen drängen mich auch nicht wegen einer kurzen Zeit verkämpfen.“ In der oppositionellen Labour-Partei hat der Brexit zu einem offenen Machtkampf geführt. Vorsitzender Jeremy Corbyn entließ seinen Schatten-Außenminister Hilary Benn, nachdem ihn dieser lassen. „Das Referendum ist eine interne Angelegenheit“, sagte Außenminister Philip Hammond, „den Zeitplan hat nur Großbritannien zu bestimmen.“ Mit der Ernennung eines Nachfolgers für den britischen EU-Finanzkommissar Jonathan Hill, der aus Enttäuschung über den Ausgang des Referendums seinen Rücktritt angekündigt hat, will sich London ebenfalls Zeit lassen. Ein Regierungssprecher erklärte, das werde der nächste Premierminister entscheiden. Cameron will im Oktober zurücktreten. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) empfängt am heutigen Montag in Berlin den EU-Ratsvorsitzenden Tusk, den französischen Präsidenten François Hollande und den italienischen Regierungschef Matteo Renzi, um über das weitere Vorgehen und den EU-Gipfel am Dienstag zu sprechen. Es gibt Stimmen, die dort erwartete Mitteilung Camerons über das Ergebnis der Volksabstimmung bereits als Austrittsantrag zu werten. Merkel ist gegen einen zu hohen Druck auf London. „Ehrlich gesagt, soll es nicht ewig dauern, das ist richtig“, sagte die Kanzlerin in Potsdam, „aber ich würde Schotten wollen blockieren oder gehen Schottland erwägt eine BrexitBlockade. Sollte sich herausstellen, dass dies zur Sicherung schottischer Interessen notwendig sei, werde sie diesen Weg gehen, sagte die Chefin der schottischen Regionalregierung, Nicola Sturgeon. So könnte das Parlament die erforderliche Brexit-Gesetzgebung blockieren. Ein anderer Weg wäre ein zweites Referendum über eine Unabhängigkeit von Großbritannien. Sturgeon hält dies für „ sehr wahrscheinlich“. kritisiert hatte. Schatten-Gesundheitsministerin Heidi Alexander erklärte, Corbyn habe für die Herausforderungen nach der Brexit-Entscheidung nicht die geeigneten Antworten, und trat mit sechs weiteren Schattenministern zurück. Zwei Labour-Abgeordnete stellten einen Misstrauensantrag gegen Corbyn, über den die Fraktion am Montagabend beraten will. Kritiker werfen ihm vor, nur halbherzig für den Verbleib Britanniens in der EU geworben zu haben. Dabei ist noch gar nicht klar, ob es wirklich zu einem Brexit kommen wird. Da das Referendum rechtlich nicht bindend ist, könnte der Premier das Parlament abstimmen lassen. Erste Abgeordnete haben dies bereits gefordert, um einen Austritt zu verhindern. In der Bevölkerung gibt es dafür starke Unterstützung. Unter den Schlagworten „Bregret“ (aus Brexit und regret, engl. bereuen) und „WhatHaveWeDone“ (Was haben wir getan) fordern viele Bürger ein Überdenken. Bis zum Sonntag unterschrieben rund 3,3 Millionen Menschen eine Online-Petition für ein erneutes Referendum. Siehe Kommentar und Seiten 2 bis 6 sowie 9 und 11 er Torbogen hat einen zentralen Stein verloren. Stürzt jetzt der Rest des Mauerwerks in die Tiefe? Das ist die Frage nach dem britischen Brexit-Votum. Die erste Reaktion der Heißblüter in Brüssel, des Kartells der Juncker, Schulz und anderer, klang eingeschnappt, beleidigt. Zermürbt vom langjährigen Ringen um britische Opt-outs, serviert man der Insel am liebsten die Rechnung sofort: Jetzt aber raus mit euch, der Artikel 50 muss her, die Ehescheidung. Je eher, desto besser. Eine klassische Selbstbeschädigung. Angela Merkel sieht weiter. Wie jedermann erkennt auch sie den „Einschnitt für Europa“. Aber was genau seine Folgen bedeuten, das hänge jetzt davon ab, ob die verbleibenden 27 EU-Staaten „sich als willens und fähig erweisen, in dieser Situation keine schnellen und einfachen Schlüsse“ aus dem Austritt der Briten zu ziehen – „das würde Europa nur weiter spalten“. Die Bundeskanzlerin wirft Brüssel einen Fehdehandschuh hin. Sie macht die Fähigkeit, der Verführung zu schnellem Handeln zu widerstehen, zum Lackmustest der EU. Realpolitik gegen Emotionen. Brexit – soll das etwa heißen, die Insel auf immer zu verlieren, nur weil das Land sich gegen die Brüsseler Verkrustungen ausgesprochen hat? Nein. „Großbritannien wird ein enger Partner bleiben“, konstatiert sie, wir werden „eng und partnerschaftlich“ mit Großbritannien umgehen, „im Interesse der deutschen Bürger und der deutschen Wirtschaft“. Welche Wohltat, in dieser Stunde der Hektik ein Bekenntnis zu einem Grundsatz deutscher Politik zu hören: Großbritannien, nicht Frankreich, war immer schon unser wichtigster wirtschaftspolitischer Alliierter, orientiert wie wir an Freihandel, Entschlackung der Strukturen, an Reformen. Ergo: Statt die Briten zu „bestrafen“, geht es darum, eine Brexit-Variante zu finden, die diese Konstante unserer Politik nicht aufs Spiel setzt. Im Umkreis von Wolfgang Schäuble denkt man bereits an eine Art Assoziierungsvertrag, eine Modalität mit handelseinträglichen Konditionen. Die würden vor allem den schottischen Wunsch nach Abspaltung vom Vereinigten Königreich dämpfen. Auch daran muss Brüssel denken: nicht die zentrifugalen Kräfte in der Union zu stärken, wie sie sich nach einer Sezession Schottlands in der EU ausbreiten würden. Katalonien, Baskenland, Norditalien – haben die Juncker dieser Welt in ihrer Aufgeregtheit bedacht, was sie heraufbeschwören würden bei einer harten Verhandlungsführung mit London? Alles spricht in dieser Stunde für die Unerschütterlichkeit Angela Merkels. [email protected] PANORAMA Gina-Lisa ist kein Barbie Girl mehr Isländer neigen zum Größenwahn Seite 20 Pro Kopf betrachtet, hat die Insel nahezu überall die Nase vorn in Europa. Sie hat sogar mehr Nobelpreisträger. Wie macht sie das? LOTTO: 2 – 6 – 10 – 11 – 34 – 44 Superzahl: 3 Spiel77: 6 0 9 8 9 8 4 Super6: 3 8 5 1 4 0 ohne Gewähr ANZEIGE Welt der Wunder W enn man Island und die Isländer verstehen will, muss man sich nur ein paar Fakten vergegenwärtigen. Auf der Insel unterhalb des Polarkreises leben 329.000 Menschen. In Berlin-Neukölln sind es 328.000. Käme es nur auf die Zahl an, könnte die Bürgermeisterin des Bezirks die „Republik Neukölln“ ausrufen und die Aufnahme in die UN, den Weltpostverein, die Welthandelsorganisation, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und ein Dutzend weitere Organisationen beantragen. mit Inge Steiner VON HENRYK M. BRODER Heute um 19.10 Uhr Wir twittern Diskutieren live aus dem Sie mit uns Newsroom: auf Facebook: twitter.com/welt facebook.com/welt „Die Welt“ digital Lesen Sie „Die Welt“ digital auf allen Kanälen – mit der „Welt“-App auf dem Smartphone oder Tablet. Attraktive Angebote finden Sie auf welt.de/digital oder auch mit den neuesten Tablets auf welt.de/bundle Was die Zahl seiner Einwohner angeht, steht Island unter den 194 unabhängigen Staaten an 170. Stelle; in Kiribati, Tuvalu, Palau und Liechtenstein leben noch weniger Menschen, aber keines der kleinen Länder ist international so präsent wie Island, das bis 1944 zum Königreich Dänemark gehörte. Wo nehmen die Isländer das Personal her – nicht nur für den diplomatischen und den öffentlichen Dienst, die Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und Musikhochschulen, auch für den Betrieb ihrer Airlines, zweier internationaler und mindestens sechs inländischer Flughäfen, der Fischfangschiffe, Kunsthallen und Bibliotheken? Nun, die Isländer sind selbst überrascht, dass sie so wenige sind. Sie denken nicht darüber nach, wie sie es dennoch schaffen, den Laden am Laufen zu halten; lieber weisen sie darauf hin, dass sie „per capita“ in fast allen Bereichen die Nase vorn haben. Pro Kopf der Bevölkerung gibt es in Island die meisten Abiturienten und Mobiltelefone; es werden mehr Bücher verlegt und gekauft als in jedem anderen europäischen Land, es gibt mehr alleinerziehende Mütter und auch mehr Nobelpreisträger. Es ist zwar nur einer, Halldór Laxness, aber welches andere Volk kann sich schon rühmen, dass auf 300.000 Einwohner ein Nobelpreisträger kommt? Die Isländer sind bekennende Nationalisten mit einem ausgeprägten Sinn für das Nützliche. 1949 traten sie der Nato unter der Bedin- gung bei, keine eigene Armee unterhalten zu müssen. Im Hafen von Reykjavík ankert ein altes Patrouillenboot der Küstenwache, das sich 1976 eine „Schlacht“ mit einer britischen Fregatte um die Fangrechte in der von Island beanspruchten 200-Meilen-Zone geliefert hat. Die Briten gaben nach, der „Kabeljaukrieg“ wurde am Verhandlungstisch beigelegt. „Was für ein Glück für unsere Nachbarn, dass wir keine haben“ ist ein Satz, den man auf Island oft hört. Man kann es den Isländern nicht übel nehmen, dass sie zum Größenwahn neigen. Im März 2015 hat ihre Regierung den Antrag auf Aufnahme in die EU zurückgezogen und das Thema für „beendet“ erklärt. Die Ereignisse haben ihnen seitdem recht gegeben. Dass sie nun in der Fußball-Europameisterschaft weiter gekommen sind, als sie je erhofft haben, zeigt einmal mehr, dass man sie ernst nehmen muss. 30.000 Isländer halten sich derzeit in Frankreich auf – zehn Prozent der Bevölkerung. Per capita haben sie die EM schon gewonnen. DIE WELT, Axel-Springer-Straße 65, 10888 Berlin, Redaktion: Brieffach 2410 Täglich weltweit in über 130 Ländern verbreitet. Pflichtblatt an allen deutschen Wertpapierbörsen. Telefon: 030 / 2 59 10 Fax 030 / 259 17 16 06 E-Mail: [email protected] Anzeigen: 030 / 58 58 90 Fax 030 / 58 58 91 E-Mail [email protected] Kundenservice: DIE WELT, Brieffach 2440, 10867 Berlin Telefon: 0800 / 9 35 85 37 Fax: 0800 / 9 35 87 37 E-Mail [email protected] A 3,20 & / B 3,20 & / CH 5,00 CHF / CZ 95 CZK / CY 3,40 & / DK 25 DKR / E 3,20 & / I.C. 3,20 & / F 3,20 & / GB 3,00 GBP / GR 3,40 & / I 3,20 & / IRL 3,20 & / L 3,20 & / MLT 3,20 & / NL 3,20 & / P 3,20 & (Cont.) / PL 15 PLN / SK 3,20 € + © Alle Rechte vorbehalten - Axel Springer SE, Berlin - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.axelspringer-syndication.de/lizenzierung DW-2016-06-27-zgb-ekz- 85b4e0c6c97ca06576d27517209dfaea ISSN 0173-8437 148-26 ZKZ 7109
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