Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature

Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature
»Sieht man ja, was es ist«
Der Maler Sigmar Polke und sein filmisches Werk
Von Beate Becker
Produktion: DLF 2016
Redaktion: Tina Klopp
Erstsendung: Freitag, 15.07.2016 , 20:10-21:00 Uhr
Regie: die Autorin
Sprecher: Hüseyin Michael Cirpici
Sprecherin: Nina Lentföhr
Bilderzählerin: Edda Fischer
Urheberrechtlicher Hinweis
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt
und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein
privaten Zwecken genutzt werden.
Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige
Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz
geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
©
1
O-Ton Küster des Großmünsters
Ich hab ihn gesehen, wie er gefilmt hat, vorher, bevor er das gemacht hat, hat er
gefilmt, nachher hab ich ihn nicht mehr gesehen, aber in dieser Phase als er das
Ganze als Projekt angegangen ist, hat er gefilmt.
Sprecherin: Menschensohn, 2009
Bilderzählerin: Ein großes romanisches Kirchenfenster in schwarz-weiß. Einander
zugewandte Profile und lichtüberstrahlte Kelchformen. Kippfigur. Optische
Täuschung. Irritation.
Sprecher:
Eines von 12 Glasfenstern, die Sigmar Polke für das Großmünster in Zürich
geschaffen hat.
O-Ton Küster Großmünster
Was am meisten polarisiert ist das Menschensohn-Fenster, das mit dem Profil.
Mediziner sehen darin ein Röntgenbild oder Kinofans, s/w die sehen dort Hitchcock.
Sprecher: Der Küster des Großmünsters kennt das letzte Werk Sigmar Polkes sehr
genau.
O-Ton Küster
Ich kenne jedes Detail, weil ich bin derjenige, der das am meisten anschaut.
Sprecherin: Freundinnen I, 1965/66
Bilderzählerin: Zwei Frauen, eine mit hellem, eine mit dunklem Haar. Sie schauen
mit selbstsicheren Blicken und Posen in die Kamera. Ein vergrößertes
Zeitschriftenbild. Aus einem Film? Rasterbild.
Musikakzent
Ansage: „Sieht man ja, was es ist“.
Der Maler Sigmar Polke und sein filmisches Werk.
Feature von Beate Becker
2
Sprecher: Sigmar Polke wird 1941 in Oels in Schlesien geboren. Die Familie flüchtet
nach Thüringen und zieht 1953 nach Düsseldorf. Dort absolviert er eine GlasmalerLehre bevor er an der Kunstakademie in Düsseldorf bei Gerhard Hoehme und Karl
Otto Goetz Malerei studiert. 1960 heiratet er, Anna und Georg Polke kommen zur
Welt. 1972 verlässt er seine Familie und zieht nach Willich. Von 1978 bis zu seinem
Tod am 10.6.2010 lebt Sigmar Polke in Köln.
O-Ton Bice Curiger
Sigmar Polke habe ich kennengelernt in den 70er Jahren, genau genommen 74/75 in
Zürich, er sah auffällig aus, hatte lange Haare, so einen grauen Pelzmantel und das
Tollste das waren seine echten Pythonschlangen-Hosen. Und ja er hatte auch immer
eine Fotokamera oft eine Filmkamera unter dem Arm. Wir haben uns sofort sehr gut
verstanden.
Sprecher: Bice Curiger aus Zürich. Lebensfreundin von Sigmar Polke. Kuratorin.
Chefredakteurin der Kunstzeitschrift „Parkett“ und seit 2013 künstlerische Direktorin
der Fondation Vincent van Gogh in Arles.
O-Ton Bice Curiger
Das war eigentlich sehr exzentrisch und auch glamourös irgendwie, dass da einer mit
so einer richtig tollen Profikamera unter dem Arm rumläuft, aber zugleich war es auch
klar, dass er das gegen den Strich einsetzt. Und auch nachts, er hat bei schlechtem
Licht, er hat auf absolute Non-Events sein Objektiv gehalten. Es war sehr aufregend
ihn zu beobachten, wie er eben so n Instrument einsetzt.
Musik
Sprecher:
Laut Art-Report belegt Sigmar Polke unter den ersten 30 der einflussreichsten
zeitgenössischen Künstler den 6. Platz, nach Andy Warhol, Joseph Beuys, Bruce
Nauman, Gerhard Richter und Pablo Picasso.
Sigmar Polke stellte international in allen wichtigen Museen aus, nahm mehrmals an
der Documenta teil und erhielt 1986 auf der Biennale in Venedig den ,Goldenen
Löwen‘.
3
Bislang wenig bekannt ist indes, dass der Maler, Fotograf, Installationskünstler und
Zeichner Sigmar Polke zugleich ein über 100h-stündiges Filmwerk hinterlassen hat.
O-Ton Barbara Engelbach
Sigmar Polkes Tod fällt im Grunde genommen zusammen, mit der Entscheidung des
MoMA, eine große Retrospektive zu machen. Es gab da noch erste Gespräche. 2010
ist eben auch der entscheidende Moment, dass Dietmar Rübel und Petra LangeBerndt die Möglichkeit haben, mit dem Künstler selbst über seine Filme zu sprechen
und auch seine Genehmigung zu bekommen, bestimmte Filme im Rahmen der
großen Ausstellung „Wir Kleinbürger!“ in Filmvorführungen zu zeigen. So wird
überhaupt erst wieder eine Rezeption von Sigmar Polkes Filmen angestoßen.
Sprecher: Barbara Engelbach hat die Ausstellung „Alibis“ im Museum Ludwig in Köln
kuratiert, die zuvor in New York und in London zu sehen war. In diesem Rahmen
wurden Auszüge aus dem umfangreichen Filmmaterial präsentiert.
O-Ton Dietmar Rübel
Als wir angefangen haben mit dem Hamburger Projekt war unsere ursprüngliche Idee
nur die Filme zu zeigen.
Sprecher: Dietmar Rübel, Co-Kurator der Retrospektive.
Musik
O-Ton Dietmar Rübel
Das war die Idee wie wir zu Sigmar Polke gekommen sind. Wir haben gesagt, wir
würden gerne diese Kleinbürger Serie zeigen, ansonsten nur Räume mit Film, weil,
das hätte noch niemand gesehen. Und dann hat Sigmar uns weggeschickt und hat
gesagt, daran hätte er kein Interesse, weil dann müsste er sich Zeit nehmen und die
Filme sichten und schneiden, die seien einfach nicht fertig.
O-Ton Petra Lange-Berndt/Dietmar Rübel
Petra Lange-Berndt Professorin für moderne und zeitgenössische Kunst Universität
Hamburg, kunstgeschichtliches Seminar Er: und Kuratorin Sie: und Kuratorin.
4
Genau. Haha Er: bei mir ist das identisch, ich bin halt Professor für moderne und
zeitgenössische Kunst an der Kunstakademie Dresden und auch Kurator. Und wir
haben halt beide diese große Retrospektive, die letzte – zu Lebzeiten – von Sigmar
Polke gemacht in der Hamburger Kunsthalle. Das waren drei Ausstellungen über ein
Jahr.
Musik:
O-Ton Lange-Berndt
Wir hatten einen Zyklus von 10 Gouachen, entdeckt, ist das falsche Wort, aber den
gab es dann und war auch seit den 70er Jahren nicht mehr zu sehen gewesen. „Wir
Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen“, das ist eben Malerei, aber
Gouache auf Papier und wir konnten den dann wieder ausstellen. Und von diesen 10
Gouachen ausgehend haben wir dann die Ausstellung konzipiert, wobei wir dann
ganz schnell entdeckt haben, dass Sigmar Polke damals in einem ganz spezifischen
Kontext gewohnt und gearbeitet hat, dem Gaspelshof in Willich, das war keine
Kommune, es war ein offenes Haus, wo viele andere noch hinzukommen, da
gearbeitet haben oder viele durchgereist sind.
O-Ton Bice Curiger
Ein und aus gingen da bunte Vögel. Es war halt diese 70er Jahre und man war so in
der Szene, das ist ja so ein Wort aus dieser Zeit und dieses Szenebewusstsein oder
dieser Lifestyle auf das Kollektiv bezogen, das Bewegung in die Gesellschaft bringen
will, gab es auch in Zürich und das hat er bei uns eben auch vorgefunden.
Sprecher: Polke verlässt das bürgerliche Modell „Familie“, das die 1960er Jahre in
Düsseldorf bestimmt hat und sucht die Subkultur in Zürich.
O-Ton Bice Curiger
Aber in der Szene jetzt, da wusste man, das ist ein Künstler, manche wussten, aha,
der hat an der Documenta teilgenommen, aber man wusste nicht wirklich, was er
machte und man beobachtete ihn, er war überaus geistreich, lustig, eine wirklich
charismatische und schillernde und wirklich auch sehr sympathische Figur.
5
Sprecher:
Sigmar Polke lebt von 1972 bis 1978 im niederrheinischen Willich. Willich ist eine Art
„Labor“, ein Experimentierfeld für Drogen, Beziehungen, Lebens-und Arbeitsformen,
und für alle künstlerischen Medien inklusive Film und Fotografie. Neben Polkes
Freundeskreis verkehren dort u. a. Katharina Sieverding, Conrad Schnitzler, Udo
Kier, Martin Kippenberger, Markus und Albert Oehlen, Candida Höfer, Julian
Schnabel und Gilbert and George.
Atmo: Museum
Sprecherin: „Can you always believe your eyes“, (1976).
Bilderzählerin:
Das Bild hat mehrere Schichten. Der Hintergrund ist gelb. Darauf grün, eine
Comiczeichnung. Links steht das Wort Corbeaux. Darüber ist ein Magier zu sehen,
der eine Frau horizontal in der Luft schweben lässt und durch einen Reifen führt.
Über ihrem Kopf im unteren rechten Drittel des Bildes sind abstrakte Farbstreifen in
Weiß, Rot, Grau, Rosa zu sehen. Daneben zwei Greifvögel. Und der Kopf eines
jungen Mannes, der den Magier beobachtet. Wenn man das Licht ausschaltet und es
vollkommen schwarz ist, sieht man in phosphoreszierenden Linien, dass die Frau
keinen Kopf hat.
Musik
O-Ton Dietmar Rübel
Die 70er ist deshalb so ein interessantes Jahrzehnt, weil es eben lange übersehen
wurde und weil es eben kein Jahrzehnt der Malerei war oder der Zeichnung und
auch nicht der Fotografie, weil der Film so eine große Rolle gespielt hat und weil
kollektive Praktiken eine große Rolle gespielt haben. Also das heißt, dass er mit
vielen Leuten zusammen gemalt hat, zusammen gearbeitet hat, zusammen gelebt
hat, zusammen Filme gemacht hat und das war so für die normale Polke-Erzählung
so bisschen ein Tabu.
6
O-Ton Dietmar Rübel
Das Verhältnis hat sich dann über das Projekt sehr verändert, weil Sigmar schon
sehr krank wurde und das war der Moment, wo er auf unseren Vorschlag zurückkam
und hat gesagt, dann könnte wir doch jetzt an die Filme rangehen, weil dann kann
ich die Filme sehen und wenn ihr eine Idee hättet, wer mir helfen könnte, die Filme
zu montieren, wie sie gedacht waren, dann könnte ich das doch jetzt angehen und
dann wir könnten am Ende von eurem Ausstellungszyklus ein paar Filme zeigen.
Sprecher: Die Filme, die Sigmar Polke mit der Unterstützung der Filmemacherin
Astrid Heibach montiert hat und die in der Hamburger Kunsthalle 2009 zu sehen
sind, stammen aus den 1970ern. Der Film HFBK I und II von 1975-89 zeigt ihn mit
seinen Studenten an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, an der Polke
von 1970-71 und von 1977-1991 Professor war.
Sein erster Film entsteht schon 1969.
Musik:
Sprecher: Der 33minütigenFilm „Der ganze Körper fühlt sich leicht und möchte
fliegen“ entsteht 1969 für die Ausstellung Konzeption-Conception. Dokumentation
einer heutigen Kunstrichtung im Städtischen Museum Morsbroich in Leverkusen. Der
Film ist eine Zusammenarbeit mit dem Künstler Christof Kohlhöfer.
Geräusch: Störung
Musik:
O-Ton Anna Polke
Der Kohlhöfer Film ist bei uns in der Kirchfeldstraße entstanden, als wir schon
geschlafen haben. Im Wohnzimmer.
Sprecher: Sigmar Polkes Tochter Anna. Sigmar Polke inszeniert sich selbst, er stellt
unter anderem eine Figur da, die an den vitruvianischen Menschen von Leonardo da
Vinci erinnert, der mit Kreis und Quadrat die perfekten Proportionen des Menschen
gezeichnet hat. Haushaltsgeräte werden zu spiritistischen Apparaturen. Dazu liest er
7
kichernd aus dem Siebten Buch Moses und aus taoistischen Weisheitstexten. Der
Film beschreibt den Prozess der Zeugung
Bilderzählerin
Polke von unten angestrahlt. Mit ausgebreiteten Armen und Beinen, dahinter ein
schwarzes Tuch. Drehbewegung im Oberkörper nach rechts und nach links. Minute
18’15: Polke liegend im Spinnennetz, Arme und Beine ausgebreitet. Hände
geschlossen. Polke liegend, Haare ausgebreitet, mit Polke Schildchen in das Gesicht
geklebt.
O-Ton Dietmar Rübel
Also „Der ganze Körper fühlt sich leicht und möchte fliegen“ ist in dem Sinne natürlich
kein Film. Ich denke das ist eigentlich wie eine verzeitlichte oder ne verräumlichte
Fotografie, was wir sehen. Die Serie Höhere Wesen befehlen, die Christof Kohlhöfer
fotografiert hat, wo Sigmar Polke dann sich in diesen Baum einfühlt, das ist das
Konzept, verzeitlicht mit dem Medium Film.
Sprecher: Eines der bekanntesten frühen Gemälde trägt diesen Titel:
Sprecherin: Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen, 1969
Bilderzählerin: Beigefarbene Leinwand, die rechte Ecke schwarz, darunter der Titel.
O-Ton Michael Oppitz
Das Übernatürliche beim Sigmar muss man das in Gänsefüßchen setzen, die
übernatürlichen Befehle oder wie das da hieß, das kann man wörtlich nehmen, das
kann man aber auch als Zitat oder als Vorsicht nehmen und als Scherz. Es ist
vielleicht beides bei ihm da drin.
Sprecher: Der Ethnologe Michael Oppitz war mit Sigmar Polke befreundet. Bis 2009
leitete er das Ethnologische Museum in Zürich.
8
O-Ton Michael Oppitz:
Aber die Stimmung, die dieser Film hat, das Bein in der Badewanne, um das die
Gurke gurkt, das ist natürlich top, das ist die Umsetzung letzten Endes der
satirischen, humoristischen, aber auch seriösen Haltung, die Polke in seinen Bildern
hatte, auf Film.
O-Ton Petra Lange-Berndt:
Das ist der früheste Film, den Polke ja gar nicht selber gedreht hat, wo Christoph
Kohlhöfer filmt, wo einzelne Episoden eher so neodadaistischer Art
aneinandergereiht sind. Also der Film ist ja sehr sehr anders als die anderen Filme
danach, also da würde ich sagen, dass es auf jeden Fall ein frühes Experiment ist.
O-Ton Dietmar Rübel:
Ich finde das einen ganz großartigen Film, (sie lacht laut) weil es gibt einfach n paar
so wunderschöne Bilder da drin, wenn diese Gurken um diese schrecklichen
Wildlederschuhe kreisen, das ist so ein grandioses Bild, finde ich, da werden so
verschiedene, Eisenstein hat das genannt, so Kettenglieder der Komik, die sich so im
Slapstick verselbständigen und das versuchen die da.
Musik:
Sprecher: “ I am a dot, not a lot”, singt Tony Bennett im Soundtrack. Punkte sind im
Werk von Sigmar Polke sehr wichtig. Anfang der 60er hat Sigmar Polke mit Gerhard
Richter den „Kapitalistischen Realismus“ begründet. Als Antwort auf die
amerikanische Popart. Er malt gerasterte Zeitungsbilder. Die Punkte schwimmen,
vibrieren und versetzen das Bild in Bewegung.
O-Ton Bice Curiger
Mit dem Rasterbild holt Polke natürlich die Zeitungsrealität in sein Werk und das ist
sehr wichtig, weil er verankert da, sein Tun in dem, was wir als Realität definieren
und zugleich konnte er um so weiter dann ausscheren in historische Räume und in
kosmische Räume. Was wirklich ab 80 dann in seinem Werk eine wichtige
Bedeutung hat.
Atmo: Vögel, elektrisch
9
O-Ton Bice Curiger
Polke hat als 22 Jähriger schon angefangen auszustellen und diese frühen
Rasterbilder zu malen und hat mit Gerhard Richter zusammengearbeitet, der 10
Jahre älter war. Es waren vermutlich Millionen Punkte, die er gemalt hat, in diesen
Jahrzehnten. Es begleitet seine Lebenszeit, dieses Punktemalen und die hat er ja
alle von Hand gemalt.
ATMO (Schritte auf Holzboden)
O-Ton Astrid Heibach: Weit weg: Das ist das Atelier, in dem er hier gearbeitet hat.
Nah: Es gab auch andere Ateliers.
Sprecher:
Astrid Heibach, Künstlerin, Filmemacherin kümmert sich seit 2012 darum, das
Filmwerk Sigmar Polkes zu erschließen und zu konservieren. Der Nachlass ist in
dem ehemaligen Atelier von Sigmar Polke in Köln-Zollstock untergebracht. Polke hat
in dem riesigen Atelier gewohnt. Heute finden in seinem früheren Wohnzimmer
Filmsichtungen mit Kuratoren statt.
Atmo Aufschließen Das ist jetzt der Raum Schritte auf Holzboden der jetzt nach
seinem Tod benutzt wird, um Projektionen vorzuführen, wenn wir halt Filme über
Beamer schauen, wenn Kuratoren da sind, wenn eine Filmauswahl stattfindet, wie
jetzt zb für die Ausstellung Alibis, haben wir hier Filme geschaut.
Sprecher: Astrid Heibach bleibt an einem großen Schneidetisch stehen.
O-Ton Astrid Heibach
Sigmar Polke hat selten an Schneidetischen gearbeitet, er hat in der Kamera
geschnitten und geplant und auch eben seine Montage da geplant.
ATMO (Schritte auf dem Holzboden).
Sprecher: Sigmar Polke dreht mit der Handkamera, mit der Beaulieu R 16, in 3minütigen-Einheiten. Das Filmwerk entsteht zwischen 1969 und 2010 und umfasst
über 100 Stunden 16mm Filme, überwiegend ohne Ton, schwarz-weiß und in Farbe.
Die Digitalisierung des gesamten Materials ist abgeschlossen.
10
Atmo Küche Estate
O-Ton Michael Trier
Wir sind jetzt erst in der Lage, die Filme zu betrachten und ich habe defacto noch gar
nicht alles gesehen.
Sprecher:
Michael Trier ist Restaurator und Leiter der Nachlassverwaltung. Er ist einer der
wenigen, den der öffentlichkeitsscheue Künstler, der keine Interviews gab und sein
Telefon in einem Koffer versteckte, in sein Kölner Atelier ließ.
O-Ton Michael Trier
Das sind alles Dinge, die einander beeinflussen die Malerei, die Fotografie und die
Filme. Es sind einfach Prozesse, die er da teilweise in Gang setzt und er verwendet
wahrscheinlich die Filme, um näher ranzugehen, um Dinge in der Vergrößerung zu
sehen, um Bewegung zu sehen und alles Dinge, die ihn einfach interessiert haben,
würde ich sagen.
Atmo + Musik
O-Ton Bice Curiger
Sigmar hat gefilmt, ein bisschen war es wie ein Tagebuch, aber er ist ja nicht eine
Amateur. Das Sehen und das Reflextieren von Bildern, von Erlebnissen, was ist
Wirklichkeit, das ist ja im Zentrum seines künstlerischen Schaffens.
O-Ton Anna Polke
Er hat immer viel gefilmt, er hat in der Natur gefilmt, er hat Ausstellungen gefilmt, hat
den Aufbau gefilmt, die Eröffnung, er hat die Kamera auf ein Stativ gestellt und hat
beim Malen sich auch gefilmt. Er hat sehr viel dokumentiert, auch experimentiert mit
der Kamera. Einerseits auch, um sich zu schützen, aber andererseits auch wie ein
zweites Auge. Die Filmkamera ist sein zweites Auge durch das er anders sehen
konnte oder genauer sehen konnte.
11
O-Ton Bice Curiger
Natürlich kam auch das Moment des Distanznehmen durch das Filmen dazu, es gab
sicher Momente, auch wo die Medien sich ihm annäherte, die wollten ja dauernd,
weil er ja so bekannt war als medienscheu und da hat er dann vielleicht die Kamera
eingesetzt. Es gibt zB einen Fernsehfilm, ich glaube vom ZDF, da hat man ihn
versucht zu filmen und er hat sich schnell hinter einem Baum versteckt und plötzlich
sieht man dann sein Objektiv seiner Kamera hinter dem Baum hervorgucken und
man merkt, dass sich Polke einen Spaß daraus macht, die Fernsehleute zu filmen.
O-Ton Michael Oppitz
Aber ich glaube grundsätzlich kann man sagen, dass das Filmen selbst, mehr der
Film war, als das Filmen mit der Absicht durch Schnitt einen fertigen Film
herzustellen.
O-Ton Bice Curiger
Er hat immer gesagt, es ist eine Verlängerung des Sehens und das Sehen im Werk
von Sigmar Polke ist ganz zentral.
O-Ton Petra Lange-Berndt
Ganz viele Filme wurden aufgenommen und landeten dann in seinem persönlichen
Archiv und wurden bis heute auch nie öffentlich gezeigt, das ist der überwiegende
Teil.
Sprecher: Die Erben gestatten nur wenigen Menschen den Blick auf das gesamte
Material. Journalisten bekommen nur das zu sehen, was Sigmar Polke zu Lebzeiten
autorisiert und öffentlich präsentiert hat - einen winzigen Ausschnitt des
Gesamtwerks.
O-Ton Barbara Engelbach
Immer wenn neues Material digitalisiert war, war es uns ja möglich, Material zu
sehen und darüber ist mir im Grunde genommen klar geworden, dass Sigmar Polke
tatsächlich ab Ende der 60er bis in die 90er Jahre hinein die Filmkamera benutzt hat
und das heißt, dass Film ein ständiger Kunstprozess war, der ihn begleitet hat.
12
O-Ton Bice Curiger
Zb hat er in Zürich bei einem Freund, der hatte eine Ziegenfarm, da hat er viel gefilmt
und als er dann 84 bei Harald Szeemann im Kunsthaus ausstellte, hat er dann auch
gefilmt und plötzlich gab es dieses Übereinandergeraten von Naturwelt mit diesen
Ziegen und die Eutern der Ziegen und dann wieder Harald Szeemann und ich weiß
nicht, die Kunsthauscrew und seine Bilder.
Musik
Sprecher: Mit Doppel- und Mehrfachbelichtungen erzeugt Sigmar Polke
collageartige Überblendungen. Da treffen sich Film und Malerei.
O-Ton Petra Lange-Berndt
Es geht um so eine Art Mehrfachbelichtungseffekt. Dass Konturen sich überlagern in
den Gemälden oder Gouachen und so eine Art Zeichengestrüpp bilden und Dinge
vor- und zurückschwingen oder eben vielschichtige Bilder herstellen und das Ganze
wirkt wie Doppelbelichtung und das spielt in den Filmen eine große Rolle.
O-Ton Barbara Engelbach
Es gibt ein großes Interesse an dem Zufall im Sinne von, wie genau kommt es in den
Doppelbelichtungen zusammen. Was genau passiert, wenn ich das Material
schneide und habe aber als Belichtung unterlegt, ein bestimmtes Motiv, was passiert,
wenn ich die zusammenfasse, da sind natürlich zufällige Konstellationen. Aber wenn
man das Material durchschaut, dann kann man erkennen, dass es auch ganz
bewusste Strukturen gibt in diesen Filmen, die vielleicht 30min lang sind.
O-Ton Anna Polke
Sigmar Polke hat immer gesagt, man muss sich selber hinsetzen und gucken und
sehen. Und sich sein eigenes Bild machen und das kann man gut machen zu den
Filmen.
O-Ton Bice Curiger
Ich habe ihn immer wieder gefragt, was machst du mit den Filmen, zeigst du die,
willst du die mal editieren, schneiden und da hat er sich oft ein bisschen gedrückt
oder sagte, das ist jetzt nicht der Moment. Ich habe mal ein paar Filme gezeigt, sagte
13
er, es gab eine Panne beim Projizieren der Filme und als wir die Panne behoben
haben und ich mich umdrehte, war das Publikum dann weg.
Sprecher: Sigmar Polkes Filme laufen weder im Kino noch auf Festivals. Er nimmt
Ausstellungen zum Anlass, um aus seinem Material fertige Filme herzustellen und
dort zusammen mit anderen Werken in einer Art Multimedia-Show mit Musik
vorzuführen. Zwischen der Aufnahme und der Präsentation können Jahre liegen.
Seine erste Retrospektive hat Polke 1976 in Tübingen, die Ausstellung wandert nach
Düsseldorf und dann nach Eindhoven ins Van Abbemuseum. Sigmar Polke hat
Filmmaterial, das er zwischen 1973 und 1976 aufgezeichnet hat, zu drei Filmen
montiert und dort präsentiert. Quettas blauer dunstiger Himmel/Afghanistan-Pakistan;
How long We are Hesst/Looser und Auf der Suche nach Bohrmann – Brasilien und
die Folgen. Der Soundtrack kommt damals von Musikkassette. Erst durch die
Digitalisierung werden Bild und Ton zusammengeführt.
Musik
Sprecher: Sigmar Polke reist 1974 mit zwei Züricher Freunden über den Libanon
nach Afghanistan und Pakistan.
Bilderzählerin:
Der Film Quetta beginnt mit einer Fahrtaufnahme: eine Landschaft im Libanon, Musik
der Gruppe Grateful Dead. Schnitt in der Kamera auf bunt bemalte Linienbusse.
Bilderzählerin: Mehr als 10 Minuten lang zeigt der Film eine Gruppe von Männern
mit Turbanen beim Genuss und der Zubereitung von Opiumpfeifen. Sie sitzen vor
bunten Kacheln in einem Teehaus und schauen ab und zu freundlich in die Kamera.
Über Musik O-Ton Astrid Heibach
Ja man kann sagen, der Filmemacher ist hier in die Familie aufgenommen, ne. Man
hat keine Bedenken, dass da ein Fremder ist, das Vertrauen ist da und aufgrund
dieses Vertrauens konnten diese Aufnahmen überhaupt entstehen. Und man muss
eines bedenken noch, dass Sigmar Polke ja die Kamera als Handkamera eingesetzt
hat, also er hatte kein Stativ, er hatte kein Team, er hatte nichts Störendes, sondern
halt nur das Gerät, an das man sich wahrscheinlich im Lauf der Zeit gewöhnt hat und
insofern war es möglich da auch sehr intime Situationen herzustellen.
14
O-Ton Dietmar Rübel
Wie stark visuell manche Bildfindungen auch sind, das verdeutlicht vielleicht auch
noch einmal, warum Sigmar Polke so viel gefilmt hat. Weil er eben genau auf der
Suche nach solchen sehr intensiven Bildern war. Auf der Reise nach Quetta filmt er
eben in diesem Männertreff, wo die sich dann einrauchen und nimmt diese Szene
auf und er ist so fasziniert von diesen Ornamenten, von dieser Enge, von dieser
merkwürdigen Atmosphäre, dass er filmt und ihm ist klar es ist etwas Besonderes.
Aber er hat seine Fotokamera nicht dabei, der Fotoapparat war defekt und er lag in
Karatschi und den hatte er dort abgeben zur Reparatur und dann ist er nach Karatchi
runter gefahren, 14h mit dem Auto oder mit dem Bus noch viel länger und hat den
Fotoapparat ausgelöst und ist wieder hochgefahren nach Quetta und hat dann erst
diese berühmten Fotos gemacht. Die später als das Hauptding der 70er angesehen
wurden und die er dann ja auch handcoloriert hat und riesig abgezogen hat. Ihm war
in dem Moment, wo er die Kamera benutzt hat, die Filmkamera, schon klar, das ist
ein besonderes Bild. Also so ein Profi war er auch in diesen visuellen Sachen zu
sammeln, dass er praktisch losging und dann noch mal ne Woche später an
denselben Ort ging und die Sache erst fotografiert hat.
Musik:
Bilderzählerin:
Ein dressierter Affe in einem rosafarbenen Kleidchen. Mal mit Sonnenbrille, mal mit
Krone. Der kleine Affe geht an einem Seil geführt aufrecht und schaut in die Runde
der männlichen Zuschauer, schaut in einen Spiegel, dann wird ihm ein Helm
aufgesetzt und ein Holzgewehr gegeben. Er wird zum Soldaten. Der Affe stellt sich
tot. Gegen Ende des Films greifen drei weiße Hunde einen angeketteten braunen
Bären an.
O-Ton Astrid Heibach
Es ist so, was jetzt als Filmszene sehr stark wirkt und auch unangenehm wirken kann
ist der Tierkampf. Gerade bei dieser Szene kann man sehen, dass die Musik eine
innere Distanz schafft, dass es fast poetisch wirkt. Wenn man jetzt im Gegensatz
dazu sich vorstellen würde, dass diese Sequenz mit Originalatmo unterlegt wäre,
15
dann hätte das eine Brutalität, die man überhaupt nicht aushalten könnte. Ja. Aber
diese Musik und dass kein Originalton existiert, abstrahiert das Geschehen.
MUSIK
Sprecher: Afghanistan 2002: Sigmar Polke dokumentiert mit dem Computerbild
„Jagd auf die Taliban und Al Quaida“ die blitzschnelle Übertragung digitalisierter
Bilder aus dem Krieg. Er hat in seinen Werken immer Bezug genommen auf
politische Ereignisse.
ATMO Brief auffalten.
Sprecher: Bice Curiger zeigt einen Brief, den sie von Sigmar Polke erhalten hat.
O-Ton Bice Curiger
Als ich Sigmar bedrängt hatte mit der Frage, was ist politische Kunst, da schickte er
mir dann so einen Brief, da waren dann Zeichnungen und da sieht man auf der einen
Seite in der Mitte so ein Strich und darunter steht Sichtweite und darüber da sieht
man eine Sonne aufgehen, dann darüber steht dann Sinnhorizont. Der Sinnhorizont
ist noch weiter weg als die Sichtweite und rechts sieht man eine Art Rüsselmaus und
da steht daneben Instinkt und so hat er halt dann geantwortet.
Musik: Applaus-Livekonzertatmo
Sprecher: Der Film How long We are Hesst/Looser 1973-1976.
Bilderzählerin: Häusliche Maskeraden und vom Fernsehen abgefilmte Debatten zur
Begnadigung von Naziverbrechern. Sigmar Polke verkleidet mit einem Turban auf
dem Kopf.
Musik
Sprecher: Durch die Filmmusik von Captain Beefheart entsteht der Eindruck, einer
Performance auf einer Bühne zuzuschauen.
Bilderzählerin: Zwei Freundinnen spielen mit einer Knochenhand. Der Züricher
Freund Paul Saunders (alias Looser) mit einem Gummipenis im Gesicht. Armbinde.
Fernsehbild: Lasst Hess frei. Rudolf Hess.
Musik
16
O-Ton Oppitz
Die ganze Nachkriegshaltung zur Ideologie in der Zeit des 3. Reiches, wie das
sozusagen subkutan noch weiter wirkte, sich davon abzusetzen und zu sagen, wir
sind eine andere Generation, das ist ja der entscheidende Moment meiner
Generation dann auch gewesen, das ist im Werk von Polke vorhanden eindeutig.
Aber noch da drüber ist meiner Ansicht nach der Impetus, die Normen der
Bourgeoisie zu unterwandern und der Lächerlichkeit auch preiszugeben, ich glaube,
das spielte die Hauptrolle in seinem Werk.
Sprecher: Die drei 70er Jahre Filme sind durch identische Szenen und Verweise
miteinander verbunden.
Musik:
Sprecher:
Der Film Auf der Suche nach Bohrmann bezieht sich schon im Titel auf den in
Südamerika vermuteten Nazi Martin Bohrmann. 1975 werden Sigmar Polke, Georg
Baselitz und Blinky Palermo zur Biennale nach São Paulo eingeladen. Achim
Duchow, Katharina Steffen und Astrid Heibach reisen mit. Sigmar Polke gewinnt den
ersten Preis.
Bilderzählerin: Wartende Künstler in einem Ausstellungsraum. Der Zoll hat die
Werke beschlagnahmt. Aufbauarbeiten, die Eröffnung der Ausstellung.
Überblendungen mit den Gemälden Frau Wasserpfeife (Traumfolklore, in der Bar
zum Krokodil), Überblendungen mit Stadtaufnahmen. Minutenlange Bildstörung.
Kaskaden an Licht. Formen. Farben. Ein Traktor auf einem Feld.
O-Ton Astrid Heibach liest Alves: In keinem Land der dritten Welt vollzieht sich der
Prozess raschen Wachstum in wenigen Wirtschaftszentren für wenige Privilegierte…
Sprecher: Katharina Steffen, die damalige Freundin von Sigmar Polke und Astrid
Heibach, lesen Ausschnitte aus dem Buch Brasilien-Rechtsdiktatur zwischen Armut
und Reichtum von Márcio Moreira Alves aus dem Jahr 1972. Der Film kontrastiert
Berichte über die Folter der brasilianischen Militärdiktatur mit den Albernheiten der
Freunde.
17
O-Ton Birgit Hein
Der einzige Film, der mich eigentlich da beeindruckt hat, war der Quetta, weil der ist
auch richtig geschnitten, da wird die Kamera ruhig gehalten, da wird durch die
Kamera geguckt, da geht es wirklich um diese Aktion, die da vor der Kamera
stattfindet. Und das war für mich also hochsubversiv. Dieses tanzende Äffchen,
Kleidchen, die einzige Frau. In dieser ganzen Männergesellschaft ist die einzige Frau
ein verkleidetes Äffchen.
Sprecher:
Birgit Hein ist Filmemacherin, Filmwissenschaftlerin und Performancekünstlerin. Sie
gilt als Wegbereiterin des deutschen Underground- und Experimentalfilms.
O-Ton Birgit Hein
Zum Teil war das auch diese Wackelkamera, am Anfang in den Filmen, woch ja.
Schön lieb und nett, aber in dem Quetta ist eine viel stärkere Kontrolle in dem
ganzen Material und auch am Schluss, wie der Film dann organisiert ist, ist das für
mich ein richtiger Film.
Sprecher: Im Rahmen der Ausstellung „Jetzt. Künste in Deutschland heute“ mit
einem eigenen Filmteil präsentieren Birgit und Wilhelm Hein 1970 auch „Der ganze
Körper fühlt sich leicht und möchte fliegen“ den Polke/Kohlhöfer-Film.
O-Ton Birgit Hein
Es ging darum auch die Künstler, die damals Filme machten, mit einzubeziehen.
Aber alles mit sehr großer Distanz, die Künstler hielten sich schon absolut für
wesentlich wichtiger. Besser. Als Filmemacher. Aber sie fingen eben auch an,
kurzfristig auch mal, Filme zu machen. Die Filme haben uns überhaupt nicht
interessiert.
Sprecher: Nicht nur Birgit Hein, sondern viele Zeitgenossen können sich an Polkes
Filmvorführungen aus den 1970er nicht mehr erinnern.
O-Ton Barbara Engelbach
Wenn man sich intensiv mit den Filmen befasst, zeigen sich Strukturen und zeigt sich
eine ganz spezifische Filmpraxis, die als wesentliches Moment enthält, dass die
18
Filme unbestimmt wirken. Und ich glaube, dass das auch der Punkt ist, den Birgit
Hein provoziert, weil sie als Filmemacherin sehr genaue Filmtechniken im Kopf hat.
Für solche Filmemacher ist im Grunde genommen dieser künstlerische Umgang
damit, wo Unbestimmtheiten, ja, eine wichtige Rolle spielen eine Provokation, weil
das erlebt wird, empfunden wird als Dilletantismus.
O-Ton Petra Lange-Berndt
Und ich denke da liegt natürlich das Konfliktpotential mit Leuten wie Birgit Hein, die
natürlich von der anderen Seite kommen und den Film und das haben sie ja auch
geschafft als Avantgarde-Medium etablieren möchten. Und darum geht es Polke gar
nicht, es ist ein Material unter vielen, das unter der Malerei subsummiert wird,
irgendwo.
O-Ton Barbara Engelbach
Ich glaube, dass das eine unglückliche Zeit war, in der er mit Film begonnen hat.
Ende der 60er Jahre wird der Film im Rheinland für die Kunstszene ungeheuer
wichtig, für die Filmemacher, aber eben auch für die Künstler. Diese Hochzeit des
Films, in der Kunst und auch im Experimentalfilm, die hielt aber nicht lange, die hielt
gerade mal bis Mitte der 70er Jahre. Denn Video kam ja Ende der 60er, Anfang der
70er zeitgleich auf und hatte seinen Siegeszug deutlich Mitte der 70er erreicht.
Polke beginnt mit Film zu arbeiten und in dem Moment als er seine Filme erstmals
öffentlich ausstellt, das war dann 1976 in Eindhoven. Also in dem Augenblick als er
erstmals seine Filme öffentlich zeigt, ist eigentlich der Zeitpunkt für Film vorbei. Und
es war dann wirklich schwierig in Kunstausstellungen Filme überhaupt noch zu
zeigen. D.h. es gab einfach auch gar kein Forum, wo er das hätte zeigen können.
Gleichwohl war es für ihn aber sehr sehr wichtig. Und deswegen ist es glaube ich
auch so entscheidend, dass wir uns mit diesen Filmen befassen. Weil sie für ihn
nachgewiesener Weise ein ganz zentrales Medium dargestellt haben.
Musik
Sprecher: Polke hat wohl kein direktes Vorbild für seine Filmarbeiten, verweist aber
auf die 1920er Jahre, wenn er als seinen Lieblingsregisseur den poetisch-politischen
Dokumentarfilmer Joris Ivens mit seinem Stummfilm „Regen“ von 1929 nennt.
19
Sprecher: 1978 verlässt Sigmar Polke die Künstlergemeinschaft in Willich. 1980/81
unternimmt er eine Weltreise, die eine große Zäsur in seinem Werk markiert.
O-Ton Anna Polke
Nach Willich, gibt es diese große Reise nach Australien und Papua-Neuguinea und
diese Reise hat ihn, glaube ich, sehr verändert. Die hat den Horizont noch einmal
ganz anders eröffnet, dass er die Farben noch einmal ganz anders gesehen hat, die
Landschaft anders gesehen hat und auch aus dem ganzen Kunstbetrieb
rausgegangen ist. Wie so eine Inkarnation, wie eine Reinigung noch mal. Er kam ja
dann wieder und hat ganz anders gemalt, dann sind sozusagen die andere Bilder,
die großflächigen, entstanden, mit den ganzen Lacken und den ganzen Pigmenten,
dann fing er an, sich kunsthistorisch nochmal anders aufzustellen.
Atmo: Museum
Sprecherin: Negativwert I-III. 1982
Bilderzählerin: Linien, Tupfer, Pinselstriche. Umrisse einer Figur. Eine Landschaft.
Rinnsale, Pfützen. Farben. Dunkles Schillern. In Gold. Olivgrün. Anderes Licht - ein
anderes Bild.
Sprecher: 1982 auf der Documenta 7 überrascht Sigmar Polke das Publikum mit
abstrakten Violett-Bildern zu einer Zeit als eher der neoexpressionistische Aufbruch
wie der der Neuen Wilden Thema sind. 1986 ist Polke eingeladen, den Deutschen
Pavillon auf der Biennale von Venedig zu gestalten. Im WDR spricht er über die
Vorarbeiten:
O-Ton Sigmar Polke
Ich bin vorher in diesen leeren Raum gegangen und hab versucht diese Atmosphäre
anhand von schon Vorhandenen bisschen näher zu definieren. Die Spuren, das geht
von kaputten Fenstern, wie sie sehen, das geht Farbkleksen, das geht von
Nagellöchern, wo der Penck dran hing, wo die Bilder von Penck dran hingen und das
sind so diese Elemente, die nach einem Jahr leer stehen, wie Blätter, Laub, Staub
und…diese hab ich dann vergrößert, fotografiert, vergrößert und in der Form, in der
Zufälligkeit oder in der Beliebigkeit, sah ich ein ähnliches Prinzip wie man Bilder
herstellen könnte.
20
Sprecher: „Venedig: Leerer Pavillon“ (1986), ist einer von vier Venedig-Filmen.
Atmo: Italien
Bilderzählerin:
Landung eines Flugzeuges, auf dem Mönchengladbach steht. Der Pavillon von
außen. Ein älterer Herr versucht die Tür aufzuschließen. Zwei junge Männer
versuchen eine Leiter durch ein Fenster in das Gebäude zu bringen. Slapstick.
Lichtflecken an den Wänden, Punkte, leuchtende Rechtecke wie ein Filmstreifen.
Trübe Fenster, Bäume sind dahinter zu erkennen und die Lagune, wie ein
türkisfarbenes Schwimmbecken. Überlagerungen. Mehrfachbelichtungen. Lebende
Gemälde.
O-Ton Dietmar Rübel
Also was auf den ersten Blick etwas Dokumentarisches hat, das verzahnt er dann mit
einer sehr komplexen Filmpraxis, die er eben dann schon hat, weil er schon seit über
10 Jahren filmt und gerade der Film, den er dann in Venedig dreht zu den Bildern der
Biennale, wo durch unglaubliche Überblendungen Räume, Substanzen, Personen,
Geschichte, verschiedenste Oberflächen sich durchdringen erlangt das natürlich eine
unglaubliche Komplexität und da sieht man einfach noch mal, was für ein unglaublich
guter Filmemacher er ist.
Sprecher: Polke erforscht ab den 1980ern Pigmente, er macht Röntgenaufnahmen
von Bildern, stellt Purpurfarbe aus Schneckensaft her, arbeitet mit
Arsenverbindungen, radioaktiven Stoffen, Harzen und Lacken.
O-Ton Sigmar Polke:
Warum gerade Lack? Das ist ein Mittel mit dem man sehr transparent arbeiten kann,
das reflektiert und zurückwirft, wo man sich spiegeln drin kann. Das ist für mich ein
vielfältiges Mittel, womit Äußeres mit ein bezogen wird, in das Innere. Was man als
Inneres als Bild jetzt meinen könnte.
O-Ton Lange-Berndt
Sigmar Polke war Maler, egal ob er nun die Filme gemacht und sich mit Medien
auseinander gesetzt hat, der Focus war immer Malerei, der Hauptfocus und eine
21
Auseinandersetzung auch mit der Materialität von Malerei auf jeden Fall, mit den
Pigmenten mit Technologien des Sehens und Malerei, der Materialität von Malerei.
Und das beides eben verschränkt und das zeichnet ihn wirklich gegenüber anderen
Künstler aus, dass er da eine ganz eigene Art der Untersuchung, der künstlerischen
Forschung entwickelt hat.
Sprecher: Polke gewinnt in Venedig den Goldenen Löwen.
Atmo: Einlass Palazzo Grassi
Sprecher: 30 Jahre später feiert man im Palazzo Grassi in Venedig den 75.
Geburtstag von Sigmar Polke mit einer großen Überblicksausstellung. Vor 10 Jahren
eröffnete der französische Unternehmer und Sammler Franҫois Pinault den Palazzo
Grassi als privates Museum. Michael Trier steht in der Halle vor den großformatigen
Bildern.
Atmo: Palazzo Grassi Halle
O-Ton Trier
Das ist eben dieser tolle späte Zyklus. Die Achsenzeit. Bilder aus den Jahren 2005-7,
die auf der Biennale 2007 von Herrn Pinault gesehen wurden und eben auch gekauft
wurden und seitdem in Venedig hängen, sind jetzt im Palazzo Grassi ausgestellt.
Und das ist aus den letzten 10 Jahren würde ich sagen mit das wichtigste Werk,
neben den Kirchenfenstern
Sprecherin: Achsenzeit 2005-2007, Zyklus
Bilderzählerin: Große Kunstharzbilder. Violette Pigmente. Transparent.
Transzendent. Goldenes Leuchten. Die „Leinwand“ ist so dünn wie ein Filmstreifen.
Man kann durch die Bilder hindurchsehen.
Sprecher: Bice Curiger ist auch da.
O-Ton Bice Curiger
Es ist wirklich ein Fest all diese Bilder wieder zu sehen, es ist wieder ganz anders,
man sieht auch, wie reich das Werk ist. Jetzt habe ich schon so viele Ausstellungen
gesehen, in letzter Zeit und jede für sich öffnet ihn wieder in eine ganz andere
Richtung und ist in sich sehr reich und auch wieder anders.
22
Sprecher: Anna Polke steht in dem Raum, in dem die Venedig-Filme gezeigt werden
und hält die Ausstellung und ihre Besucher mit der Filmkamera fest
O-Ton Anna Polke
Ich filme einfach aus Spaß an der Freude, damit man das dokumentiert. Wir sind
heute in Palazzo Grassi, es gibt eine große Ausstellung, 10 Jahre Pinault Kollektion,
und Monsieur Pinault hat ja viele Bilder von Sigmar Polke. Zum ersten Mal, dass die
Achsenbilder und die Negativwerte zusammen ausgestellt werden, das ist einfach
eine gute Wahl, eine sehr schöne Ausstellung geworden. Und es werden auch Filme
gezeigt, über Venedig damals über diesen Biennale Zyklus und auch drüben
Italienfilme, man kriegt so einen Eindruck, was er alles besucht und gesehen hat.
ATMO : Im Filmvorführraum. Museumsbesucher sind zu hören.
Sprecher: Somit wird neues Filmmaterial öffentlich gemacht: Die Italienfilme. In
einem kleinen Raum läuft der Film „Farbe“, den Sigmar Polke von 1986-1992 gedreht
hat. Er tritt in diesem Film als Maler und als Filmemacher auf.
O-Ton Barbara Engelbach.
Ein sehr sehr sinnlicher Film, wie die Farbpigmente auf der Leinwand versprengt
werden, wenn man die Leinwand in Bewegung bringt, wie sich da plötzlich Strukturen
zeigen, die man gar nicht sieht, wenn man eben in einer anderen
Belichtungssituation ist, sozusagen diese Lust am Farbmaterial, sehr sehr direkt, die
wird da vermittelt.
Man sieht ihn in so einem roten Träger-T-Shirt und Boxershorts mit so einem kleinen
Kindereimerchen und einem großen langen Pinsel. Er sieht da wirklich aus wie eine
lächerliche Figur, und macht so eine herablassende Geste, wie er nun vermeintlich
diese Farbe auf der Leinwand verteilt und die Botschaft, die er gibt, ist, andere malen
noch, ich lasse die Farbe sich selbst malen.
O-Ton Dietmar Rübel
Die liebsten Bilder für Sigmar Polke waren die, die er nicht gemalt hat, sondern die
sich selbst gemalt haben. Das war immer natürlich so ein Spiel, mit dem Topos
seiner Faulheit. So er malt nicht, wenn machen das irgendwelche Fliegen für ihn.
Oder eben höhere Wesen oder Affen oder wie auch immer, das ist natürlich dann
23
etwas, was auf einmal in den 80ern wirklich zum Teil passiert, dass diese Stoffe und
diese unterschiedlichen Substanzen so stark reagieren, dass die auf einmal die
Bilder in Bewegung setzen und das ist auch ein interessanter Moment, wo er dann
zur Kamera greift und diese Prozesse einfängt.
O-Ton Barbara Engelbach:
Er ist wirklich das ausdrückliche Gegenbild zu dem Machogehabe anderer großer
Maler, die in den 80er Jahren als Malerfürsten bezeichnet werden, da inszeniert er
sich als Gegenbild, das wird sehr sehr deutlich. Und später zeigt er sich dann ja auch
mit der Filmkamera, im Schlagschatten auf ein großes Gemälde, er taucht also selbst
auf dem Gemälde als Schatten auf. Das ist sehr schön, wie er da noch einmal
deutlich macht, es gibt diese verschiedenen Instrumente in seinem Schaffen,
Medien, die er alle gleichermaßen und gleichberechtigt einsetzt.
Musik
Sprecher: Die Erforschung seines Filmwerks steht noch am Anfang.
O-Ton Lange-Berndt
Da muss man aber genau hingucken, da kann man nicht von einem vorgegebenen
Kanon ausgehen, sondern man muss sich diesen Bildwelten aussetzen und die auch
dann in dem Kontext von Polkes Werk analysieren, das ist aber bisher noch nicht
passiert.
O-Ton Dietmar Rübel
Und dann gibt es eben noch dieses riesige Konvolut, was der Nachlass jetzt von
Polke aufgearbeitet hat, aber der Status ist natürlich ein schwieriger, einfach.
O-Ton Barbara Engelbach
So wie Sie den Eindruck haben, meine Güte, ich kenne ja nur einen Teil, kann man
sich dann überhaupt schon äußern wird noch sehr sehr lange dieser Eindruck
vorherrschen, dass man noch nicht wirklich einen abschließenden Überblick über die
Filme hat.
24
O-Ton Bice Curiger
Wenn man hier dann wirklich Einblick haben wird in das Konvolut, wird man
wahrscheinlich unter dem Stichwort Subjektivität doch einiges herausdestillieren
können und das ist die interessantere Frage als, sind die Filme wirklich Kunstwerke
oder sind sie es nicht. Man muss die Haltung vom Künstler sehen, in einer großen
großen gesellschaftlichen, politischen Umbruchzeit, der Nachkriegszeit. Vor der
großen Digitalisierung merkt er schon die Bedeutung auch von den Bildmedien, was
da in den 70ern alles geschieht mit uns, niemand wie Polke reingeholt in die Kunst.
Absage
„Sieht man ja, was es ist.“
Der Maler Sigmar Polke und sein filmisches Werk
Feature von Beate Becker
Es sprachen:
Hüysein Michael Cirpiҫi
Nina Lentföhr
und
Edda Fischer
Ton und Technik: Gunther Rose und Kiwi Hornung
Regie: die Autorin
Eine Produktion des Deutschlandfunk 2016
Redaktion: Tina Klopp
25