- Deutsche Mittelstands Nachrichten

Ausgabe 26
08. Juli 2016
Deutsche
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Mittelstand
Deutsche Industrie von wertvollen Rohstoffen abgeschnitten
Die stetige Digitalisierung in den verschiedenen Branchen erhöht die Nachfrage nach speziellen Rohstoffen wie Lithium
D
ie zunehmende Digitalisierung in al- nen Lithium benötigt wird. Die im Bun- Studie geht davon aus, dass die „Industlen Industrie- und Wirtschaftszwei- deswirtschaftsministerium vorgestellte rie 4.0“ genannte Verschmelzung von ITTechnik und Industrieproduktion
gen treibt laut einer neuen Studie
den Bedarf an bestimmten Rohdie Nachfrage nach bestimmten
stoffen weiter erhöhen dürfte.
Rohstoffen wie Lithium in den
„Nachfrageimpulse,
beikommenden Jahren drastisch in
spielsweise durch die Elektromodie Höhe. Bis 2035 könnte auch
bilität oder Superlegierungen in
der Bedarf für die seltenen Erden
der Luft- und Raumfahrt, werden
Dysprosium und Terbium sowie
die Märkte für Sonder- und NeRhenium auf das Doppelte der
benmetalle in den kommenden
derzeitigen Weltproduktion steiJahren stark bewegen“, sagt Torsgen, heißt es in der Studie „Rohten Brandenburg, Leiter des Arstoffe für Zukunftstechnologien
beitsbereichs Rohstoffwirtschaft
2016“ des Fraunhofer-Instituts
der deutschen Rohstoffagentur
für System- und Innovationsfor(DERA). „Zur Gewährleistung eischung. Verantwortlich sei daner sicheren Rohstoffversorgung
für beispielsweise die verstärkte
BDI-Chef Grillo fordert mehr Unterstützung von der Politik.
Foto: BDI
sollten sich Unternehmen frühNachfrage nach Batterien, in de-
Analyse
Start-ups in Deutschland fehlen finanzielle Mittel
Zwei Drittel der Start-ups in Deutschland wollen ihr Unternehmen internationalisieren. Neben einer exzellenten Idee
bzw. einem guten Produkt benötigen sie
dafür jedoch häufig finanzielle Unterstützung. Genau hieran fehlt es aber den Startups in Deutschland. Viele schätzen die
Situation in den USA viel besser ein als in
Deutschland. Um weiter junge Firmen anzuziehen, bedarf es demnach neuer Standortstrategien.
Berlin hat sich in den vergangenen
fünf Jahren zu einem Zentrum der Startups entwickelt und angesichts des Brexits
könnte sich der Ansturm in die Hauptstadt in den kommenden Monaten noch
einmal verstärken. 31,1 Prozent der Startups in Deutschland haben ihren Hauptsitz in Berlin. Aber auch andere deutsche
Regionen rücken immer stärker in den
Fokus, wie etwa München, die Metropolregion Rhein-Ruhr und Hamburg. „Etwa ein
Viertel (25,1 Prozent) beabsichtigt, innerhalb der EU zu expandieren und sogar 35,3
Prozent planen, ihre Geschäftstätigkeiten
weltweit auszudehnen“, heißt es im aktuellen Start-up Monitor 2015.
Im vergangenen Jahr erzielte etwa
jedes 5. Start-up einen Umsatz von mehr
als einer Million Euro. Die bedeutendsten
Kapitalquellen bei der Finanzierung der
Start-ups sind derzeit die eigenen Ersparnisse der Gründer (79,9 Prozent; 2014: 82,5
Prozent) und die Unterstützung durch
Freunde und Familie (32,0 Prozent; 2014:
32,7 Prozent).
Gerade bei der Internationalisierung
spielen die Finanzquellen eine wichtige
Rolle. 55,3 Prozent der jungen Unternehmen sehen neben der Vermarktung die
Frage der Finanzierung derzeit als dringendste Herausforderung. Dieser Umstand spiegelt sich auch in einer Umfrage
des Digitalverbandes Bitkom wieder. Nur
44 Prozent der Gründer würden wieder in
Deutschland loslegen, wenn sie die freie
Wahl hätten.
Fast jeder Dritte würde sich stattdessen für die USA entscheiden. „Das ist alarmierend“, sagte Bitkom-Präsident Thors-
ten Dirks in Berlin. Er führt das in erster
Linie auf die schwierige Finanzierung
zurück – vor allem für Unternehmen, die
ihr Wachstum mit frischem Geld in Millionenhöhe anschieben wollen. „Da wird es
immer schwieriger“, sagte Dirks. 55 Prozent
nennen deshalb die Finanzierung als großes Hemmnis.
Gleichzeitig hat sich allerdings die
Situation für fast jedes zweite Start-up
in den vergangenen zwei Jahren verbessert. Trotzdem, „wir müssen die Start-upNation werden – nicht eine von vielen“,
so Dirks. Um das zu schaffen, schlägt sein
Verband den Aufbau „digitaler Ökosysteme“ vor. Hier sollen Weltkonzerne mit
dem Mittelstand und Start-ups zusammengebracht werden. Chancen sieht Bitkom vor allem im Bereich Industrie 4.0
– also der Digitalisierung und Vernetzung
der Produktion. „Wir müssen dort ansetzen, wo Deutschland heute schon die Nase
vorn hat“, sagte der Bitkom-Präsident und
nannte als Beispiele die Bereiche Auto, Logistik, Versicherer und Banken.
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zeitig mit den Entwicklungen auf den internationalen Rohstoffmärkten beschäftigen und mögliche Ausweichstrategien in
Betracht ziehen.“
Die deutsche Industrie gibt der Studie Recht. „Die Politik muss das Thema
Rohstoffsicherheit wieder auf die politische Agenda setzen“, so der Präsident des
Industrieverbandes BDI, Ulrich Grillo. Die
Bundesregierung müsse sich dafür einsetzen, dass staatliche Handelsbeschränkungen abgebaut würden. Wegen der Digitalisierung und der Energiewende steige die
Nachfrage nach kritischen Rohstoffen, wie
zum Beispiel Seltene Erden oder Lithium,
deutlich. „Ausgerechnet für etliche dieser
Rohstoffe ist die sichere Versorgung der
Industrie in Gefahr“, warnt Grillo.
Durch Ausfuhrbeschränkungen in
Förderländern sei bei einzelnen Rohstoffen fast das komplette weltweite Angebot
belastet. Als Beispiel nannte Grillo die in
der High-Tech-Industrie zentralen Seltenen Erden, Antimon oder Wolfram. Hier
fielen mehr als 90 Prozent der Produktion
unter Zölle, Quoten und Exportverbote.
Allein mit mehr Recycling und ressourceneffizienter Produktion lasse sich das
nicht auffangen. Massive Probleme gebe
es auch bei Lithium, einem für die Energiewende wichtigen Rohstoff, der bei leistungsfähigen Batterien und bei der Speicherung von Wind- und Sonnenenergie
eine wichtige Rolle spielt. Hier werde die
Nachfrage bis 2035 einer Studie zufolge
drastisch steigen. Schon in den letzten
zwölf Monaten habe sich der LithiumPreis verdreifacht.
In den vergangenen Jahren hatte sich
die befürchtete Rohstoffknappheit etwa
für Metalle der Seltene-Erden-Gruppe
nicht bewahrheitet. Für Stoffe wie Gallium und Scandium habe sich die Nachfragesituation sogar entspannt, auch weil
die Stoffe durch Weiterentwicklungen bei
Hightech-Produkten nicht in dem erwarteten Maße benötigt wurden, hieß es in
der von der Deutschen Rohstoffagentur
(DERA) in Auftrag gegebenen Studie über
die internationalen Rohstoffmärkte.
Tatsächlich, das zeigen die Daten der
EU, haben in den vergangenen acht Jahren
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viele Länder neue Maßnahmen ergriffen,
um die Unternehmen und Märkte des
eigenen Binnenmarktes zu schützen. Vor
allem bei Rohstoffen und Energiegütern
sind Handelsbarrieren vorherrschend.
Im aktuellen Bericht hat sich die EU auf
31 Handelspartner in der Union konzentriert. Insgesamt ist davon auszugehen,
dass die weltweiten protektionistischen
Maßnahmen daher weit über 1.000 liegen. Von mehr als 800 neuen Handelsbarrieren weltweit sprach der Kreditversicherer Euler Hermes bereits im vergangenen
Jahr mit Blick auf den Zeitraum zwischen
2014 und dem zweiten Quartal 2015.
Wie stark die Digitalisierung fortschreitet, zeigt sich auch bei der stetig
steigenden Zahl an Industrie-Robotern.
Diese hatte im vergangenen Jahr ein
neues Allzeithoch erreicht: 248.000. Das
entspricht einem Plus von 12 Prozent. Allein in Deutschland waren es 2015 etwa
20.000. Der International Federation of
Robotics zufolge wurden zwischen 2010
und 2015 weltweit etwa 1,1 Millionen neue
Industrieroboter installiert.
Wirtschaft
Deutschland muss nach Chinas Regeln spielen
Deutschland gerät in die Export-Falle in Richtung China: Westliche Unternehmen werden von den Behörden schikaniert
D
ie Missachtung der Marktwirtschaft, der Menschenrechte, kurzum, des liberalen Verfassungsstaats,
sind im Parteiprogramm der regierenden Kommunistischen Partei Chinas als
Grundsätze festgeschrieben. Allerdings
wird in China auch von „Marktwirtschaft“ gesprochen, doch ist von der „sozialistischen Marktwirtschaft“ die Rede.
Meinungsfreiheit besteht ebenfalls, nur
gemeint ist die „Freiheit“, ausschließlich
die Vorgaben der Partei zu vertreten. In
der Auseinandersetzung mit den Kritikern von außen wird die eigene Sichtweise vertreten und bestritten, dass die
westliche Auffassung von Demokratie
und Marktwirtschaft richtig sei.
Naturgemäß regt sich auch in China
die Opposition gegen die Diktatur der KP.
Bislang gelingt es der Partei aber, Kritiker
rasch mundtot zu machen, die Pressefreiheit zu unterbinden und auch die Kommunikation über das Internet zu kontrol-
lieren. Derzeit sind keine Anzeichen einer
Revolution erkennbar, die für Meinungsfreiheit, Demokratie und eine Marktwirtschaft im westlichen Sinn kämpfen würde.
Derzeit werden die kommunistischen
Grundsätze besonders stark in den Vordergrund gerückt – mit großer Intensität
durch den dominierenden Staatspräsidenten, Xi Jinping. Das Regime setzt sogar eine
Band namens „Parfum“ ein, die mit einem
Lied „Marx, Du bist ein Mitzwanziger. Kommunismus ist süß wie Honig“ für die Ideologie wirbt.
China will Technologie-Führer werden und die eigenen Firmen stärken
Die westlichen Unternehmer beklagen, dass sie nicht mehr so willkommen
sind wie in den vergangenen Jahren. Die
grundsätzliche Erklärung steht im Parteiprogramm: „Die Kommunistische Partei
Chinas führt das Volk bei der Entwicklung
der sozialistischen Marktwirtschaft (…). Sie
entfaltet die fundamentale Funktion des
Marktes bei der Allokation von Ressourcen
und etabliert ein vollständiges System der
makroökonomischen Steuerung.“
Die aktuelle Umsetzung liefert der im
März 2016 beschlossene, neue Fünf-Jahresplan. China ist nicht mehr an Firmen interessiert, die in China die niedrigen Löhne
und geringeren Umweltstandards nutzen,
um günstig zu produzieren. China soll in
den nächsten Jahren zum TechnologieFührer aufrücken. Forschung und Entwicklung werden großzügig dotiert. Chinesische Unternehmen, die eigenständig auf
dem Weltmarkt bestehen können, werden
gefördert. Nur mehr westliche Partner,
die Innovation ins Land bringen und notwendige Technologien anbieten, sind willkommen. Im Ausland bemüht man sich,
hochspezialisierte Betriebe zu erwerben,
die diese Entwicklung begünstigen. In dieses Konzept fügt sich das viel diskutierte
Bemühen um den Roboterhersteller Kuka
ein. Im Jahr 2015 haben chinesische Unter2
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nehmen weltweit für etwa 100 Milliarden US-Dollar Firmen erworben.
Damit nicht genug. Die neue Politik besagt, dass nicht nur Unternehmen
mit Problemen zu kämpfen haben, die
China als kostengünstige, verlängerte
Werkbank benutzen. Auch der Zugang zu
den verschiedenen Bereichen des chinesischen Markts wird erschwert. Man will
erreichen, dass chinesische Firmen den
wachsenden Konsum im Land bedienen
und den expandieren Dienstleistungsmarkt nutzen, man setzt also auf den
Schutz des heimischen Marktes. Der Erwerb chinesischer Unternehmen wird
erschwert und nicht, wie der Westen fordert, erleichtert. Der Finanzbereich bleibt
in dem Maße abgeschirmt, in dem man
nicht auf die Zusammenarbeit mit westlichen Banken, Versicherungen und Börsen angewiesen ist.
Für die KP-Führung sind die Probleme, die aus westlicher Sicht als Krisensignale gedeutet werden, nebensächlich.
Die Überschuldung der Unternehmen
und vieler Privathaushalte, die Kurssprünge des Renminbi und die Volatilität der Börse werden als kapitalistische
Erscheinungen betrachtet, die durch
staatliche Interventionen bei Bedarf zu
korrigieren sind.
Der Westen als nützlicher Helfer
beim Aufbau der Sozialismus
Die Entwicklung der Wirtschaft und
somit auch die Öffnung für westliche
Unternehmen werden als Instrumente
gesehen, die dem Kommunismus dienen. Erneut werden die Unternehmer als
„nützliche Idioten“ gesehen. Getreu dem
Lenin-Satz: „Die Kapitalisten werden uns
noch den Strick verkaufen, mit dem wir
sie aufhängen!“ Auch dieser Grundsatz
ist im Programm der KP Chinas nachzulesen: „China befindet sich jetzt – das
wurde 2012 beschlossen – im Anfangsstadium des Sozialismus und wird sich
über eine längere Zeit in diesem Stadium
befinden. Das ist ein unüberschreitbares
historisches Stadium bei der sozialistischen Modernisierung im wirtschaftlich
und kulturell rückständigen China, das
mehr als einhundert Jahre in Anspruch
nehmen wird.“ Die westlichen Unternehmer müssen zur Kenntnis nehmen, dass
ihr Einsatz in China als Beitrag zum Aufbau des Sozialismus verstanden wird.
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Rüstungsexporte „made in Germany“ sind der aufsteigende Industriezweig.
Foto: Flickr/Tristan Taussac/CC by nd 2.0
Und, um jedes Missverständnis zu
beseitigen, weiter im Text: „Für uns sind
die vier Grundprinzipien – das Festhalten am sozialistischen Weg, der volksdemokratischen Diktatur, der Führung
durch die Kommunistische Partei Chinas
sowie dem Marxismus-Leninismus und
den Mao-Zedong-Ideen – die Grundlage für den Aufbau des Staates. Während
des ganzen Prozesses der sozialistischen
Modernisierung müssen wir an den vier
Grundprinzipien festhalten und die bürgerliche Liberalisierung bekämpfen.“
China soll als Marktwirtschaft anerkannt werden
Vor diesem Hintergrund soll China
nun als Marktwirtschaft anerkannt werden. Das wurde beim 2001 erfolgten Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO
vereinbart. Man ging davon aus, dass in
den fünfzehn Jahren bis jetzt China die
erforderlichen Bedingungen für einen
freien Handel zu fairen Wettbewerbsbedingungen gegeben sein werden. China
hat die Übergangsperiode für die Schaffung liberaler Verhältnisse nicht genutzt,
sondern lehnt diese sogar ausdrücklich
ab. Unter Marktwirtschaft wird die „sozialistische Marktwirtschaft“ im Dienste
des Kommunismus verstanden, die „bürgerliche Liberalisierung muss bekämpft
werden.“ Nach den Vorstellungen des
Regimes soll China ungehindert im Land
einen staatlichen Interventionismus betreiben und den Zugang zu seinem Markt
nach Belieben steuern können, aber freien Zugang zu den westlichen Märkten
erhalten. Das EU-Parlament wehrt sich
bislang zu Recht gegen die Anerkennung
Chinas als Marktwirtschaft, China droht
mit einem Verfahren im Rahmen der
WTO wegen „Verletzung“ der beim Beitritt 2001 geschlossenen Vereinbarung.
Der Hintergrund der Niederschlagung der Studentenrevolution 1989
Zur Illustration eine Rückblende:
1989 erschütterte die brutale Unterdrückung der Studenten-Revolution die
Weltöffentlichkeit. Die Öffnung Chinas
hatte in den vorangegangenen Jahren
weltweit und bei der chinesischen Jugend den Eindruck entstehen lassen,
dass das Land auf dem Weg zu einer Demokratie westlicher Prägung sei. Das war
auch damals ein Missverständnis. In einem Interview mit Mitgliedern des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas bekam man in den achtziger Jahren
folgende Erklärung zu hören: Solange
die Öffnung China nützt und die Macht
der KP nicht in Frage stellt, lassen wir die
Entwicklung zu. Kommt es zu einer Bedrohung der politischen Ordnung, dann
greifen wir ein. Das Interview fand nur
wenige Monate vor den Ereignissen auf
dem Tian’anmen-Platz in Beijing statt:
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Tausende Studenten versammelten sich
ab dem 17. April 1989 auf dem Platz, um
gegen die Politik der Regierung zu protestieren. In der Bevölkerung kam es zu
einer Welle der Sympathie. In der ganzen
Stadt bildeten sich spontan Demonstrationen. Am 3. und 4. Juni 1989 wurde der
Aufstand vom Militär brutal niedergeschlagen. Bis heute erwähnt die KP-Führung dieses Ereignis nicht, Gedenkfeiern
werden unterbunden.
Der spektakuläre Aufstieg Chinas
zur Wirtschaftsmacht, die positive Aufnahme der Investitionen westlicher
Unternehmen, die Entwicklung Shanghais zur einer modernen Weltstadt und
das Entstehen einer Reihe von Wirtschaftszentren ließen die Erinnerung an
Tian’anmen verblassen. Allerdings hat
sich bis heute an den Grundsätzen nichts
geändert. Das im Jahr 2012 beschlossene,
korrigierte Parteiprogramm enthält sogar eine Formulierung, die der Aussage
im Interview aus den achtziger Jahren
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entspricht: „Die Entwicklung ist die allerwichtigste Aufgabe der Partei für die
Machtausübung und die Stärkung des
Landes. Bei aller Arbeit soll man es als
den Hauptausgangspunkt und das Kriterium für ihre Beurteilung betrachten, ob
sie der Entwicklung der Produktivkräfte
in unserer sozialistischen Gesellschaft,
der Erhöhung der umfassenden Landesstärke unseres sozialistischen Staates
und der Steigerung des Lebensstandards
der Bevölkerung dienlich ist.“
Innovation
Elektronische Haut macht Hand zum Display
Neben Kleidung wird auch der Körper immer öfter zum Experimentierfeld für digitale Ideen
D
er Smartphone-Boom ist nach Meinung der meisten Experten vorbei,
die Zukunft der Kommunikationstechnologie liege vielmehr in den sogenannten Wearables, also Geräte die man wie
Kleidung direkt am Körper trägt. Die
Smartwatch ist dafür das aktuell bekannteste Beispiel, doch mit dem kleineren
Bildschirm verringern sich auch die Möglichkeiten zur Interaktion. Um dieses Problem der Bildschirmgröße zu lösen, hat
das französische Start-up Cicret das Konzept dieser sogenannten „Wearables“ einen
Schritt weiter getrieben und will den Unterarm selbst in ein Tablet verwandeln.
Äußerlich betrachtet ist das Cicret
ein schmales Armband, das den FitnessTrackern wie Jawbone und Co sehr ähnlich sieht. Das Armband ist jedoch mit
einem winzigen Pico-Projektor ausgestattet, ebenso mit zahlreichen Sensoren,
die in Richtung des Unterarms ausgerichtet sind. Das Gerät soll es Benutzern
ermöglichen, E-Mails zu senden und zu
empfangen, im Internet zu surfen und
Spiele zu spielen. Es wird auch möglich
sein, das Cicret mit einem vorhandenen
Smartphone oder Tablet zu verbinden,
eingehende Anrufe zu beantworten und
die Freisprech-Funktion auf dem Smartphone zu aktivieren. Das Gerät wird mit
einer Drehung des Handgelenks aktiviert
und projiziert auf Wunsch auch eine Art
Spiegelung eines Tablets oder Smartphones auf den Arm des Nutzers. Die Näherungssensoren erkennen, wo auf der
Projektion sich die Finger des Benutzers
befinden, und ermöglichen so, über diese Android-Schnittstelle mit dem angeschlossenen Gerät zu interagieren.
Zusätzlich bietet das Cicret Armband
demnach einen Beschleunigungsmesser
Leuchtdioden zeigen quasi sofort auf der Haut die Sauerstoffsättigung im Blut an. Foto: Takao Someya, School of Engineering, The University of Tokyo
und ein Vibrationsmodul zusammen mit
einer LED-Leuchte für Benachrichtigungen. Die Verbindung wird über WLAN,
Bluetooth oder einen Micro-USB-Port sichergestellt. Es soll in zwei Modellen mit
32 oder 64 Gigabit verfügbar sein und
250-300 Dollar kosten.
Gewöhnliche Gegenstände oder in
diesem Fall Gliedmaßen in mobile Geräte zu verwandeln, bietet zwar theoretisch
viele Vorteile, allerdings mangelt es den
projizierten Touchscreens typischerweise an Reaktionsschnelligkeit, ebenso wie
an der visuellen Klarheit, die Nutzer von
den Glasscheiben gewohnt sind.
Cicret ist davon überzeugt, die Technologie jedoch so entscheidend zu verbessern, dass die Nutzer sie problemlos
verwenden. Seit dem Start der Kampagne Anfang 2015 erntete das Projekt von
Technologie-Blogs jedoch viel Skepsis,
zumal Gelder via Crowdfunding zunächst ohne funktionierenden Prototypen gesammelt wurden. Inzwischen soll
es jedoch laut Unternehmen einen funktionierenden Prototypen geben und das
Finanzierungsziel von 500.000 Euro sei
fast erreicht.
Cicret sind allerdings nicht mehr
die einzigen, die diese Idee eines Touchscreens auf der Haut verfolgen: Auch die
Konkurrenz hat das Konzept inzwischen
entdeckt und der Tech-Riese Samsung
hat Anfang des Jahres ein eigenes Patent
dazu eingereicht, wie der Blog Hackread
berichtet.
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Innovation
Google-Gründer investiert in fliegende Autos
Google-Mitbegründer Larry Page finanziert privat Start-ups, die fliegende Autos bauen
G
oogle-Mitbegründer Larry Page fi- erfordert große, schwere und teure Bat- satz, den Page seit vergangenem Jahr
nanziert privat zwei Start-ups, die terien. Jedoch wird durch den Boom bei finanziell unterstützt. Dieser wird von
fliegende Autos bauen. Eines der Unter- E-Autos genau dieses Problem derzeit Experten als realistischer angesehen als
nehmen testet bereits
einen funktionsfähigen
Prototypen eines Autos
mit Tragflächen, das andere arbeitet an einer Personen-Transport-Drohne,
berichtet Bloomberg.
Die technologischen
Voraussetzungen
für
fliegende Autos haben
sich in den vergangenen Jahren in dreifacher
Weise enorm weiterentwickelt. Zum einen
ist die Technologie von
Transportdrohnen bereits so ausgefeilt, dass
sie längst über die Testphase hinaus ist und
der kommerzielle Einsatz etwa bei Amazon
oder anderen LogistikStatt Tragflächen könnten Flugautos eher Propeller haben und wie Drohnen aussehen, hier das neue Modell von Terrafugia.
Unternehmen bereits Foto: Terrafugia
begonnen hat. Auch die
entsprechende Regulierung wird durch den
Vormarsch der privaten und kommerzi- von allen Seiten adressiert, Autobauer, der des zweiten Start-ups Zee.Aero, das
ellen Drohnen bereits ausgebaut, sodass Zulieferer und IT-Firmen arbeiten qua- laut Bloomberg bereits seit 2010 mehr
neue Regeln für die Nutzung des Luft- si im Wettlauf an der Verbesserung von als 100 Millionen Dollar von Page erBatterie- und Ladetechnologien. Da- hielt. Zee.Aero hat jedoch bereits einen
raums entstehen.
Zum anderen wird durch die Ent- durch wirkt auch die Herausforderung, Prototypen eines Senkrechtstarters mit
wicklung fahrerloser Autos die notwen- Batterien für fliegende Autos zu erfin- Tragflächen, ein Ansatz, den ebenfalls
dige Hardware und Software für die den, längst nicht mehr so futuristisch zahlreiche Unternehmen bisher verautomatisierte Zuordnung und Vernet- wie noch vor einigen Jahren. Bloomberg folgt haben: Das slowakische Start-up
zung besser, die für die Navigation am zitiert den NASA-Forscher Moore sogar AeroMobil plant den Verkauf fliegender
Himmel und für einen geregelten Luft- mit den Worten, selbstfliegende Flug- Fahrzeuge in zwei bis drei Jahren. Die
verkehr notwendig ist. Insbesondere zeuge seien viel einfacher zu entwickeln Entwickler wollen künftige Modelle mit
Google ist in dieser Hinsicht einer der als das, was die Autohersteller derzeit Autopilot ausstatten und einen fliegenden Taxidienst anbieten.
Vorreiter, sowohl was die Software als mit selbstfahrenden Autos versuchen.
auch was den Kampf für regulatorische
Entsprechend setzt auch der GoogIn jedem Fall zeigt Page mit seinen
Sicherheit angeht.
le-Gründer Page auf ein Start-up, das Investitionen, dass Roboter-Autos nicht
Drittens entwickelt sich die Batterie- bei der Entwicklung weniger an ein das Ende des Innovations-Ehrgeizes bei
Technik für Elektro-Antriebe rasant wei- Auto mit Flügeln als vielmehr auf eine Google sind. Und aus der Perspektive
ter, die derzeit noch das größte Problem Personen-Transport-Drohne
setzt. des Google-Gründers scheint es tatsächfür fliegende Autos darstellt: Die Menge Propeller-Flieger werden auch in den lich realistisch, das Flug-Autos schon
an Energie, die benötigt wird um einen Niederlanden bereits von dem Unter- bald die Lüfte über den Straßen erobern
Menschen durch die Luft zu befördern nehmen Pal-V gebaut und sind ein An- könnten.
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Wirtschaft
Politische Instabilität bestimmt die EU
Über der EU ziehen dunkle Wolken auf: Eine Rezession könnte Europa in eine neue Krise treiben
N
ach Edward Heath, Margaret Thatcher und John Mayor ist David Cameron der vierte konservative Premierminister innerhalb von 42 Jahren, der an
der Europapolitik gescheitert ist. Cameron
hatte durch die Ankündigung eines Referendums dem europafeindlichen Flügel
in seiner Partei sowie der UKIP den Wind
aus den Segeln genommen, um die Wahlen von 2015 zu gewinnen. Dies zum Preis
eines unerwarteten Austritts, den er sel-
usw. Dank seines wirtschaftlichen und vor
allem auch politischen Gewichts konnte
Großbritannien immer Sonderkonditionen durchsetzen.
Das Vereinigte Königreich hat seit den
1980er Jahren ein erfolgreiches, aber einseitiges und ungleichgewichtiges Wachstumsmodell entwickelt. Die Wachstumsraten des BIP/Kopf lagen deutlich höher
als in der Eurozone. Die Wirtschaft basiert
aber primär auf Finanz-Dienstleistungen
Quelle: ONS, Destatis, Obsérvations et Statistiques
ber und die Mehrheit der britischen Wirtschaftselite gar nicht wollten. England und
spezifisch die Konservative Partei haben
in der Nachkriegszeit kein stimmiges Verhältnis zu Europa gefunden. Ein Teil der
Führungsschicht des Vereinigten Königreichs ist gefangen in der Vergangenheit
als Zentrum eines Empires. Sie hat die Entkolonialisierung und eine seit den 1980er
Jahren gescheiterte Anpassung und Modernisierung des britischen Industriesektors nie verwunden. Im Verhältnis zu
Europa ging es ihr immer um einen Spezialstatus, der in der Praxis Rosinenpicken
bedeutete: Kein Euro-Beitritt, kein Schengenraum, Konzessionen bei den Beitragszahlungen, beim Status des Finanzsektors
und auf einem kreditgetriebenen Wachstum des Konsums. Die Sparquote ist seit
Mitte der 1980er Jahre drastisch zurückgegangen, was sich auch in wachsenden Leistungsbilanzdefiziten reflektiert. Die Leistungsbilanzdefizite entstammen allein
dem Güterhandel, während der Finanzsektor inklusive Versicherungen rasch steigende Überschüsse beigetragen hat.
Das Land konsumiert zu viel und
investiert zu wenig. Viel zu wenig Infrastruktur-Investitionen, geringe Ausrüstungsinvestitionen und ein ungenügender
Wohnungsbau sind die Schwachstellen.
Der Wohnungsmarkt ist absolut dysfunktional. Trotz Bevölkerungs- und Einkommenswachstum stagniert die Neubautä-
tigkeit im Wohnungsbau seit Jahrzehnten
auf extrem niedrigem Niveau. Dafür verzeichnet der Immobilienmarkt, der hypothekarisch hoch belastet ist, exorbitante
Preissteigerungen. Die niedrigen Zinsen
der 2000er Jahre und die Nullzinsen seit
2009 haben eine Preisexplosion, aber keine quantitative Angebotsausweitung im
Wohnungsbau ermöglicht. Ein erheblicher
Teil der Erwerbsbevölkerung ist von günstigem Wohnraum ausgeschlossen. Auch
deshalb ist die Sensibilität gegenüber der
Immigration ein zentrales Thema. Die Immigranten werden als Konkurrenten auf
dem Wohnungsmarkt angesehen.
Von der Mitte der 1950er bis Ende
der 1970er Jahre wurden im UK jährlich
300.000 Wohnungen und mehr gebaut,
während eines vollen Jahrzehnts sogar
400.000 Wohnungen. Seither ist die Bautätigkeit nur zurückgegangen, trotz Bevölkerungswachstum und Immigration
seit Mitte der 1990er Jahre und vor allem
seit 2004. Heute beträgt sie nicht einmal
mehr die Hälfte und liegt auch mit vergleichbaren europäischen Ländern weit
im Hintertreffen. Von der Bevölkerungsgröße sind Frankreich (gelbe Kurve) und
Westdeutschland (grüne Kurve) mit dem
Vereinigten Königreich (rote Kurve) etwa
auf der gleichen Höhe.
Einer der wichtigsten Gründe für die
ungenügende Versorgung mit Wohnungen im UK ist, neben der Regulierung des
Bankensektors, die Beseitigung des staatlich finanzierten sozialen Wohnungsbaues unter der Thatcher-Regierung.
Die vollständige Privatisierung des Wohnungsbaues in den 1980er Jahren und die
Regulierung des Bankensektors sind im
Generellen wichtige Gründe für die Eurokrise. Sie haben in Europa zu einem weiten Spektrum von Verzerrungen geführt.
Dies schließt die Unterversorgung mit
günstigem Wohnraum in Großbritannien, in Frankreich, in Italien und neuerdings in Deutschland ein. Es bezieht sich
auf eine extreme Überproduktion von
Wohnungen in Spanien, Griechenland
oder Irland, und zu Überbelehnung der
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Haushalte in zahlreichen Ländern.
Bei der Immigration, die im Referendum eine bedeutende, argumentativ
sogar dominante Rolle gespielt hat, sind
einige Fakten ebenfalls hilfreich. Die
Wohnbevölkerung des Vereinigten Königreichs ist, nachdem sie zwischen den
frühen 1970er Jahren und 1993 praktisch
stagniert hat, von 57 Millionen im Jahr
1993 auf über 65 Millionen Einwohner
im Jahr 2015 angestiegen. Die Zahl der im
Ausland geborenen Wohnbevölkerung
nahm im gleichen Zeitraum von 4 auf 8.5
Millionen Einwohner zu. Die Immigration hat also rund die Hälfte zum Bevölkerungswachstum in diesem Zeitraum beigetragen. Schlüsselt man die Struktur der
im Ausland geborenen Wohnbevölkerung
auf, so ergibt sich folgendes Bild:
Von den rund 8 Millionen Immigranten per Ende 2013 stammen 2.7 Millionen
aus der EU-27, d.h. EU-Ländern ohne dem
Vereinigten Königreich. Das entsprach 4.3
Prozent der Wohnbevölkerung. Der dominante Teil der Immigranten ist anderer
Nationalität, hauptsächlich solche ehemaliger Commonwealth-Länder. Diese machten Ende 2013 8.2 Prozent der Wohnbevölkerung aus. Von den Immigranten aus der
EU waren weniger als die Hälfte aus Osteuropa. Deren Anteil an der Wohnbevölkerung betrug 2.0 Prozent. Schließlich ist
auch die regionale Verteilung der Immigranten von Interesse:
Die gesamte Immigration konzentriert sich also auf den Großraum London. Dessen Anteil an der Gesamtimmigration beträgt rund 36 Prozent. Dort
erreicht der Anteil der Immigranten zwischen 35 und 40 Prozent an der Wohnbevölkerung. In Inner London (+13 Prozent)
und in Outer London (+15 Prozent) ist
auch die Zunahme zwischen 1995 und
2014 am stärksten. Im Rest des Landes
liegen die Anteile zur Hälfte bei 5-7 Prozent. Nur in 5 Regionen ist der Anteil der
Immigranten über 10 Prozent. Die Zunahme beträgt nur in 3 Regionen mehr
als 5 Prozent der Wohnbevölkerung.
Von den 10 wichtigsten Geburtsländern der Immigranten sind 4 aus der EU
exklusive Großbritannien. Darunter ist
auch Irland, welches traditionell eine
starke Auswanderung vor allem in die
Großräume London und Manchester
hat. Nur die Polen mit einem Anteil von
9 Prozent an der gesamten Zahl der Immigranten sind wirklich bedeutend.
Eine Zusammenfassung ergibt folgendes Bild. Die Immigration und ihre
Zunahme ist auf den Großraum London
konzentriert, wo sie weniger als Problem
wahrgenommen wird. Wo sie hingegen
als Kernproblem erscheint, ist in Gebieten mit ausgesprochen niedrigem oder
durchschnittlichem Anteil der Immigranten an der Wohnbevölkerung. Dabei
wird der Fokus noch fälschlicherweise
auf EU-Immigranten und besonders auf
solche aus den osteuropäischen Ländern gelegt.
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grenzung der Einwanderung aus den
acht ostmitteleuropäischen Ländern
nicht genutzt – mit dem Effekt, dass die
Immigration aus diesen acht Ländern
sich auf das Vereinigte Königreich konzentriert hat. Großbritannien hatte eine
Option und isoliert darauf verzichtet, sie
zu ziehen.
Dem Versagen einer vernünftigen
und bezahlbaren Versorgung mit Wohnraum für einen bedeutenden Teil der
Bevölkerung steckt ein komplexes Ursachenbündel zugrunde. Ein wichtiger
Faktor war die exzessive Kreditexpansion des Bankensystems. Diese hat zum
enormen Anstieg der Immobilienpreise
Quelle: Housing Completions, 1950-2010, CLG
Bezüglich der osteuropäischen Immigranten liegen die Ursprünge auch
nicht allein oder primär in Brüssel, sondern vielmehr in London. Es war die
britische Regierung, die sich – aus geopolitischen Gründen – besonders stark
für eine beschleunigte und in gewisser
Hinsicht verfrühte Aufnahme der acht
ostmitteleuropäischen Länder in die
EU eingesetzt hat. Bedenken wegen der
Massenimmigration von osteuropäischen Arbeitskräften und ihrem möglichen Lohndruck hat die Labour-Regierung von Tony Blair souverän beiseite
gewischt. Nur Großbritannien, Irland
und Schweden haben die siebenjährige
Übergangsfrist zur quantitativen Be-
wesentlich beigetragen. Die Deregulierung des Bankensektors nach 2003
und die mangelnde Überwachung der
Großbanken entsprangen Finanzminister Gordon Browns Initiativen und Zukunftsvisionen. Die völlig ineffiziente
Doppelaufsicht der Banken durch die
FSA und die Bank of England war ebenfalls von ihm konzipiert worden. Als die
britischen Großbanken im Wettlauf um
die Spitzenposition im Finanzsektor
2008 zusammenbrachen, mussten sie
mit enormen staatlichen Mitteln gerettet werden.
Die Explosion der Staatsschulden
ist zuallererst und primär der Bankenrettung und dem damit zusammen7
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hängenden konjunkturellen Einbruch
2009 zu verdanken. Die Explosion der
Staatsschulden hat die Konservativen
zur Austeritätspolitik veranlasst, die als
besonders unfair gilt. Die kleinen Leute
bezahlen mit schlechterer Bildung, weniger Kommunalausgaben und Wohlfahrtsmitteln sowie mit höheren Steu-
men der Brexit-Abstimmung haben primär britische Ursprünge und repräsentieren keineswegs Zwangsmaßnahmen
oder Automatismen der EU. Die EU dient
mehrheitlich als Prügelknabe für etwas,
was sie effektiv gar nicht verantwortet.
Eine Ausnahme ist die Personenfreizügigkeit, wo die Sachlage komplexer ist.
Quelle: ONS
ern für die Deregulierungs-Politik unter
der Blair/Brown-Regierung für die darauf folgenden Exzesse der Banken und
für die Austeritätspolitik unter Cameron
und Osborne.
Wohnungsmarkt, Immigration, Bankenkrise, explosionsartig angestiegene
staatliche Verschuldung und unsoziale
Austeritätspolitik – alle wichtigen The-
Die Brexit-Abstimmung wurde von den
Wählern als eine Abstimmung über dieses schiefe Wachstumsmodell sowie über
die Austeritätspolitik von Cameron und
Osborne interpretiert.
Die Labour Partei unter der Führung
von Tony Blair und Gordon Brown ist
politisch verantwortlich für die schwere
Bankenkrise von 2008 und die nachfol-
08. Juli 2016
gende Krise der Staatsfinanzen. Die blindgläubige Deregulierungspolitik von ‚New
Labour’ endete im Finanzsektor und anderswo im Desaster. Viele ihrer heutigen
Exponenten gehören zu dieser ‚neuen
Mitte’ und stellen die Mehrheit der Parlamentsabgeordneten. Die Immigration
aus Osteuropa ist ebenfalls der Politik
von Blair geschuldet. Dass die LabourFührung unter Blair/Brown und ihre
gegenwärtigen Exponenten wenig oder
keine Glaubwürdigkeit bei ihrer Kernwählerschaft mehr haben, erstaunt deshalb
nicht. Diese Politik machte die Arbeitnehmer empfänglich für immigrantenfeindliche und rassistische Parolen.
Doch auch der neue Labour-Parteiführer hat die Chance nicht genutzt. Er ist
im Abstimmungskampf abgetaucht, statt
kraftvoll aufzutreten. Der Brexit wurde
vor allem in den Regionen deutlich befürwortet, welche eigentliche Labour-Hochburgen sind. Dort war den Stimmenden
nicht einmal klar, dass Labour, anders
als die Konservativen, praktisch einstimmig für den Verbleib in der EU eingetreten ist. Der Parteivorsitzende Corbyn hat
eine diffuse Kampagne geführt, welche
ein laues ‚Bremain’ mit harter und detaillierter Kritik an der EU und vor allem an
der Eurozone kombinierte. Bei der wichtigsten Abstimmung in Großbritannien
der letzten 40 Jahre war Labour kein
wichtiger Faktor. Die Exponenten waren
Cameron und Osborne auf der einen,
Farage und Johnson auf der anderen
Seite. Zwei Oberklassen-Exponenten mit
einem als zutiefst unsozial empfundenen Austeritätskurs als Befürworter, ein
rechtsradikaler Fremdenfeind und ein
Populist mit dem einzigen Ziel persönlicher Macht als Gegner waren die Hauptfiguren. Labour ging unter, war fast unsichtbar. Es ging bei dieser Abstimmung
nur darum, ob das Kreuzchen bei ja oder
nein gemacht wird. Nicht ob die EU in
diesem oder jenem Punkt schlecht oder
gut ist. Zudem verwischte Corbyn die EU
und die Eurozone in seiner Kritik.
Die EU ist nicht der Hauptgrund
für die Misere und für den Protest der
Wachstumsverlierer in Großbritannien, ganz im Gegenteil. Das Gesamtbild
ist dasjenige einer kollektiv verzerrten
Darstellung und Wahrnehmung der Re8
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alität.
Die EU ist nicht der Hauptgrund
für die Misere und für den Protest der
Wachstumsverlierer in Großbritannien, ganz im Gegenteil. Das Gesamtbild
ist dasjenige einer kollektiv verzerrten
Darstellung und Wahrnehmung der Realität. Das wirkliche Problem ist die Konzentration des Wirtschaftswachstums
auf den Großraum London und auf die
Finanzindustrie. Der Wachstumsprozess
war von einer unglaublichen und im
internationalen Vergleich einzigartigen
Unfähigkeit begleitet, genügend und
günstigen Wohnraum zur Verfügung zu
stellen Die relativen Wachstumsverlierer
sind vor allem von der Wohnungsnot,
dem Mangel an preisgünstigen Wohnraum betroffen und projizieren dies auf
Immigranten, die für sie als Konkurrenten auf dem Wohnungsmarkt und teilweise auf dem Arbeitsmarkt auftreten.
Diese verzerrte Wahrnehmung geht
von ganz rechts, den Rassisten über die
Empire-Nostalgiker, die Wirtschaftselite,
New Labour bis nach ganz links zu Jeremy Corbyn.
Aber die EU war und ist auch nicht
völlig außen vor. Konkret hat sie auf drei
Ebenen versagt:
– Freihandel/Industriepolitik: Die
Europäische Union hat immer eine Politik des forcierten Freihandels betrieben.
Dabei war Großbritannien oft eine oder
die treibende Kraft, nicht verwunderlich
angesichts von dessen Geschichte als
Mutterland von Industrialisierung und
Freihandel. Was in der Handelspolitik
über die letzten 15 Jahre falsch gelaufen
ist, betrifft keineswegs nur Großbritannien, sondern viele Länder Westeuropas
und nebenbei auch die USA und andere
Länder. Der WTO-Eintritt Chinas repräsentiert im Rückblick nicht Freihandel,
sondern unfairer, staatlich subventionierter und gelenkter Wettbewerb –
eine Form zivilisierten Handelskriegs
mit dem Wechselkurs als eine wichtige
Waffe. China vernichtet gezielt in Kernsektoren Konkurrenten und schottet
gleichzeitig seine Wirtschaft in Schlüsselsektoren ab. Großbritannien war das
Industrieland schlechthin. Jetzt liegen
weite Teile seiner Industrie in Trümmern, aus durchaus anderen Gründen
als China. Die in Wales und Mittelengland basierte Stahlindustrie ist seit zwei
Jahren im Überlebenskampf. China hat
viel zu große Kapazitäten aufgebaut
und wirft seine überschüssigen Stähle
zu Dumpingpreisen auf den Weltmarkt.
Die britische Stahlindustrie ist viel weniger auf Spezialstähle für die Autoindustrie wie diejenige Deutschlands spezialisiert, sondern eher auf traditionelle
Baustähle und deshalb besonders ausgesetzt.
Gerade diese werden von China auf
den Weltmärkten abgeladen, wobei alle
Formen von Tricks zur Gewinnung von
Steuervorteilen ausgenutzt werden.
Dadurch steht die gesamte verbliebene
Stahlindustrie Großbritanniens vor dem
Aus, was über die Stahlindustrie hinaus
Konsequenzen für ganze industrielle
Lieferketten hat. Statt dieser Form von
unfairem Handelskrieg machtvoll entgegenzutreten und die Importe aus China kurzerhand zu unterbinden, hat die
EU-Kommission nur sehr zögerlich und
defensiv agiert. Die britische Industrie
wurde von der EU aktiv geschädigt, um
es sich mit China ja nicht zu verderben.
Diese Erfahrung hat viele in den sterbenden Industrieregionen vom Argument
der Brexit-Befürworter überzeugt, dass
eine von der EU unabhängige Handelspolitik viel besser angemessen ist.
– Personenfreizügigkeit/Immigration/Flüchtlinge: Die Personenfreizügigkeit ist seit 1993 integraler Bestandteil
des Binnenmarktes. Sie funktioniert
aber nur in einem Schönwetter-Umfeld.
Sie muss von starkem Wirtschaftswachstum, aufnahmefähigen Arbeits- und
Wohnungsmärkten und rasch anzupassenden wirtschaftlichen und sozialen
Infrastrukturen begleitet sein.
Gerade deshalb hat die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundeskanzlerin
Angstreflexe bei der Brexit-Abstimmung geschürt. Zuerst der Versuch, eine
große Zahl von Flüchtlingen, organisatorisch völlig unvorbereitet, zwangsweise
auf die EU-Länder zu verteilen. Danach
ein Abkommen mit der Türkei, welche
rasche Visafreiheit und den EU-Beitritt
dieses bevölkerungsreichen Landes
von 80 Millionen Einwohnern vorsieht.
Dies in einem Umfeld, wo der neue Sul-
08. Juli 2016
tan einen Bürgerkrieg mit den Kurden,
einer Minorität von beinahe 30 Prozent der Bevölkerung, anzettelt und im
Bürgerkrieg in Syrien eine zwielichtige
Rolle spielt. Eine solche nicht vorbereitete, nicht abgesprochene und selbstherrliche Politik der Führungsmacht
in der Union kann nur schlimmste Abwehrängste mobilisieren. Es stellt sich
bei manchen unvermeidlich die Frage,
was als nächster Einfall kommen wird.
– Austerität/Geldpolitik. Wer beim
Brexit-Referendum schon mit Cameron und Osborne abrechnen wollte,
kann mit der Eurozone gar nichts am
Hut haben. Die Wahrnehmung im Vereinigten Königreich ist verbreitet, dass
die Eurozone ein gescheitertes Experiment ist. Sie wird auch bei führenden
Exponenten der Wirtschaftspolitik wie
dem früheren Notenbank-Gouverneur
Mervyn King offen so geäußert. Eine
Finanzpolitik, die Mitgliedsländer unbarmherzig ökonomisch und sozial zerstört, gekoppelt mit einer Geldpolitik,
bei der alle Sicherungen durchgebrannt
sind. In diesem Sinn drücken sich auch
viele Kommentare und Leserbriefe von
Lesern in der FT aus. Nur so ist erklärbar,
dass auch viele Angehörige der City den
Austritt befürworteten. Nicht wenige
glaubten deshalb, dass ein Austritt vor
der finalen Katastrophe in der Eurozone
die weniger schlechte Lösung darstellen
würde.
Politische Instabilität und eine Führungskrise in Großbritannien werden
rasche Entscheidungen behindern – wie
auch der Sturm, der sich über der EU zusammenbraut. Die jetzige EU-Führung
fordert eine rasche Scheidung, um den
Zusammenhalt der EU-27 und der Eurozone zu sichern und um Klarheit über
das zukünftige Verhältnis herzustellen.
Doch das mag eine trügerische Hoffnung und Ambition sein.
Die Unsicherheit im Vereinigten
Königreich ist fundamental. Es ist eine
komplett neue, präzedenzlose Situation. Wohin steuert Großbritannien nach
dem Abschied von Europa? Vom Empire
zu little England? Welche Form der Zusammenarbeit mit der EU soll es noch
geben? Schottische Nationalisten wollen eine rasche Loslösung von England.
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Rechtsextreme wollen die Immigration über die EU umgedeutet oder benutzt
stoppen und umkehren. Konservative werden. Kritisch werden diese Wahlen
Kreise jetzt den Wohlfahrtsstaat rich- besonders dann werden, wenn sich die
tig zusammenstreichen. Konservative Wirtschaftslage rapide und deutlich verund Labour, beide historischen Partei- schlechtern sollte.
Die
Wirtschaftsaussichten
für
en sind tief gespalten. Führungsprobleme werden sich auf allen Ebenen Großbritannien: Scharfe Rezession und
auftürmen: Wer soll die Austrittsver- Strukturanpassung, so weit das Auge
handlungen führen, und mit welcher reicht. Anders als Premier Cameron in
Agenda und Absprache mit verschie- seiner Rücktrittsrede und Schatzkanzler
denen Interessensgruppen. Cameron Osborne hervorgehoben haben, ist die
hat ein Referendum ohne Plan B, ohne Wirtschaft des Vereinigten Königreiches
Skript anberaumt. Johnson hat außer nicht sehr gut aufgestellt. Sie ist mit erwohlklingenden Sprüchen und eigenen heblichen Ungleichgewichten belastet.
Ambitionen gar nichts
entwickelt und vorbereitet. Neuwahlen sind
durchaus möglich, weil
die Konservative Partei
so gespalten ist, dass sie
keine stabile Regierung
bilden kann. Und bei
Neuwahlen ist angesichts
der tiefen Krise von Labour eine rechtsextreme
Springflut denkbar – mit
der Wirkung instabiler
Regierungen.
Doch die Unsicherheit beschränkt sich nicht
auf Großbritannien. Auch
für die EU ist das Ganze
Neuland: Bisher war die
EU ein Projekt der Erweiterung. Darin hat die EU
Routine. Jetzt erfolgt ein
erster Austritt, und nicht
von einem kleinen Land, Quelle: www.migrationobservatory.ox.ac.uk
sondern vom wirtschaftlich zweit- oder drittstärksten der Union. Dies
in einer potentiell instabilen Situation Das Vereinigte Königreich hat einen
in einer ganzen Reihe von Mitgliedslän- überdimensionierten Finanzsektor –
dern. Die EU ist in den Verhandlungen erst recht nach dem Austrittsentscheid.
ganz klar in der stärkeren Ausgangslage. Dieser Finanzsektor ist im Export stark
Weil ja Großbritannien die EU verlas- auf Europa und auf die Schwellenländer
sen und die Beziehungen auf eine neue ausgerichtet und zwar breit diversifiziert, aber auch sehr zyklisch. Er ist im
Grundlage stellen will.
Die Möglichkeit eines Zusammen- Übrigen nicht währungssensitiv, so dass
bruchs des ganzen Projekts sollte nicht eine Pfundabwertung nur sehr begrenzt
unterschätzt werden. Zwischen April zur Verbesserung der Nettoexporte
2017 und Mai 2018 werden Wahlen in beiträgt. Dieser internationale Finanzden drei großen Ländern Frankreich, sektor wird sich zurückbilden, mit hoDeutschland und Italien stattfinden. hen Kreditverlusten der Banken in den
Diese können zu einem Referendum Schwellenländern, die unvermeidlich
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kommen werden. Verschiedene europäische und amerikanische Großbanken
werden auch aus der Situation der Unsicherheit Aktivitäten von London in andere Finanzzentren wie Paris, Frankfurt
oder Dublin verlagern.
Der britische Finanzsektor hat in
letzten Jahren die frühere Rolle der
Schweiz übernommen: London ist zu
dem Vermögensverwaltungszentrum
für Potentaten, Oligarchen und Diktatoren aller Couleur, für Steuerflüchtlinge, für Geldwäsche und Mafiagelder
geworden. Dieser Teil des Geschäfts
wird schrumpfen müssen, weil die EU in
den Verhandlungen für die zukünftige
Zusammenarbeit darauf beharren wird
und muss. Transparenz und Kontrolle
der Steuerflucht werden ein wichtiges
Verhandlungsobjekt darstellen.
Der Brexit wird ferner als Entschuldigung für massive Kapazitätsanpassungen im Finanzsektor herhalten
müssen, die aus ganz anderen Gründen
erfolgen. International tätige Banken
werden ihre Niederlassungen in London drastisch verkleinern. Beispiele
dafür werden Credit Suisse und UBS
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sein. Die Schweizerische Nationalbank
hat vor wenigen Wochen bei beiden einen Kapitalmangel von je 10 Milliarden
Schweizer Franken geortet und sie aufgefordert, die Eigenmittel mittelfristig
um diese Beträge zu erhöhen. Dies ist in
einem Umfeld mit Negativzinsen nicht
zu schaffen, weder extern noch aus eigenen Gewinnen. Realisierbar ist eine
solche Verbesserung der EigenkapitalRatios nur mit einem weiteren drakonischen Abbau des kapitalintensiven
Investment-Banking. Der Brexit mag
dann als gute Entschuldigung für weitere oder nachzuholende Strukturanpassungen herhalten. Identisches wird sich
wiederholen bei deutschen, bei französischen, italienischen und spanischen
Großbanken, die allesamt nochmals
deutlich schmalbrüstiger als die beiden
schweizerischen Institute kapitalisiert
sind.
Der Baissemarkt in den Finanzmärkten, bei Aktien, Krediten, IPO’s,
Fusionen und Akquisitionen sowie eine
allfällige globale Rezession werden ohnehin die Volumina in den Finanzmärkten drastisch reduzieren. Das sind alles
superzyklische Aktivitäten. London als
das eine von zwei globalen Finanzzentren, das Zentrum des Investment Bankings vieler europäischer Großbanken
(und der amerikanischen Großbanken
in Europa) wird deshalb redimensioniert werden. Auch die institutionelle
Vermögensverwaltung, eine andere
Spezialität Londons, dürfte unter diesen
Makro-Faktoren leiden.
Die britischen Banken haben auch
im Innern überdimensionierte Kreditausstände. Die Haushalte haben zu hohe
Hypothekarschulden, bei seit über zwei
Jahrzehnten inflationierten Häuserpreisen. Klassische Indikatoren einer Überbewertung im Immobilienmarkt wie
Preis/Einkommen oder Preis/Mieten
liegen außerhalb jeder Norm, dies vor
allem im Großraum London. Das Duo
Cameron/Osborne hat den Wahnsinn
mit Steueranreizen noch angeheizt.
Eine Staatsgarantie hat die maximale
Hypothekar-Belastung für Neukäufer
noch erhöht. Ein Einbruch am Immobilienmarkt und ein erneuter Anstieg fauler Bankkredite werden unvermeidlich
die Bilanzen britischer Banken auch im
Inland beschädigen.
Dem steht ein angeschlagener
und teilweise strukturschwacher Industriesektor gegenüber. Die Erdöl-/
Erdgasindustrie ist in einer weltweiten
Strukturkrise, besonders noch in Großbritannien, wo die Felder bereits stark
ausgebeutet sind und wenig mehr versprechen. Außerhalb der Pharma-, Rüstungs- und Autoindustrie, wobei letztere stark auf Europa ausgerichtet ist,
gibt es in der verarbeitenden Industrie
wenig Erbauliches und Zukunftsträchtiges. Im Gegenteil: Durch die drohende Schließung der Stahlindustrie sind
ganze industrielle Lieferketten bedroht.
Ohnehin werden Investitionen zurückgehalten, solange der Status Großbritanniens in der globalen Handelspolitik
nicht geklärt ist. Auch eine Abwertung
des Pfunds hilft da nicht mehr viel
weiter. Das Pfund müsste und dürfte
extrem stark abwerten, damit es einen
positiven Effekt auf die Netto-Exporte
geben wird, und somit der Wechselkurs
als Stabilisator wirken kann.
Schließlich ist nicht nur der Haushaltsektor übermäßig verschuldet, sondern auch der Staat. Die britische Regierung hat es in der Auseinandersetzung
mit der EU-Kommission virtuos verstanden, so Druck auszuüben, dass das wahre
Ausmaß der Staatsverschuldung verschleiert wird und in den offiziellen Statistiken
nicht erscheint. Die effektive Staatsverschuldung ist um einen Faktor höher als
ausgewiesen. Eine weitere Rekapitalisierungsrunde für die Banken würde zusätzliche Schulden bedeuten. Es würde nicht
überraschen, wenn die Ratings für die britische Staatsschuld rasch und heftig nach
unten angepasst würden.
Für das Vereinigte Königreich ist
eine längere Periode der Identitätsfindung, umfassender Unsicherheit,
rascher Polarisierung und Instabilität
vorgezeichnet. Verbunden wird dies
mit einem raschen und heftigen Einbruch der Wirtschaft sein, vor allem
des Finanzsektors, der Investitionen in
allen Bereichen, von Einkommens- und
Vermögensverlusten und teilweise negativem Eigenkapital der Haushalte im
Wohnungsmarkt. Erhebliche Banken-
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problemen und verschlechterte Staatsfinanzen dürften das Bild vervollständigen.
Dies könnte die Konstellation für
einen perfekten Sturm, für eine kumulativ sich verstärkende und vertiefende
Rezession darstellen. Die klassischen
geldpolitischen Instrumente, um einen
solchen Sturm abzufedern, nur noch begrenzt nutzbar (Zinsen) beziehungsweise zu wenig wirksam (Wechselkurs). Der
Wechselkurs wird massiv und längerfristig unterschießen müssen, um die
Rebalanancierung vom Finanzsektor
zur Industrie zu ermöglichen. In der Finanzpolitik ist, solange die Konservativen an der Macht sind, vorerst mit einer
prozyklisch verstärkenden restriktiven
Politik zu rechnen.
Langfristig ist klar, woher das Wirtschaftswachstum in Großbritannien
kommen muss: Industrie, Infrastruktur
und Wohnungsbau – und damit ganz
klar binnenwirtschaftlich geleitet. Aber
der Weg dorthin wird politisch und ökonomisch beschwerlich sein. Die Sparquote muss erheblich ansteigen, damit
dies finanziert werden kann. Fallende Einkommen im Finanzsektor, eine
Land- und Häuserpreisanpassung sowie ein massiv niedrigerer Wechselkurs
dürften wesentliche Voraussetzungen
oder Begleiterscheinungen dafür sein.
Makroökonomisch dürfte der Brexit das Ende des von Thatcher und New
Labour geprägten Wachstumsmodells
einläuten, das strukturpolitisch den Finanzsektor durch Deregulierung, enorme Subventionen und Steuergeschenke
auf vielen Ebenen zu Lasten der Industrie, der Infrastruktur und des Wohnungsbaues begünstigt hat.
Im zweiten Teil wird dargestellt,
was der Brexit für die Eurozone und
für die Weltwirtschaft bedeuten könnte. Der Brexit ist eine Interaktion von
jahrzehntelangem Versagen und Hypokrisie der politischen und wirtschaftlichen Eliten und fremdenfeindlicher
und böswilliger Diffamierung, die unscheinbar anfängt und plötzlich dominant wird. Darin besteht eine Analogie
zur Eurozone.
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08. Juli 2016
Politik
Rückzug: EU-Kommission lässt nationale Parlamente über CETA entscheiden
Die nationalen Parlamente der EU-Staaten sollen über das Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) entscheiden
D
ie EU-Kommission beschloss in
dieser Woche, von ihrer bisherigen
Linie abzuweichen und das Abkommen
als sogenannte gemischte Vereinbarung
einzustufen. EU-Kommissionschef JeanClaude Juncker hatte vorige Woche beim
EU-Gipfel noch erklärt, dass CETA ein reines EU-Abkommen sei und deshalb nur
das EU-Parlament darüber abstimmen
müsse.
„Die Kommission ist der Auffassung,
dass das Abkommen vom rein juristischen Standpunkt aus betrachtet in die
ausschließliche Zuständigkeit der EU fällt“,
so EU-Handelskommissarin Malmström.
„Angesichts der offenkundigen politischen Situation im Rat verstehen wir jedoch, dass das CETA als „gemischtes“ Abkommen vorgelegt werden muss, wenn
eine rasche Unterzeichnung ermöglicht
werden soll.“ Sobald der EU-Rat und das
EU-Parlament zugestimmt hätten, würde
das Abkommen jedoch schon einmal vorläufig angewandt werden können.
Die EU-Kommission hatte im Zuge
dessen noch einmal darauf hingewiesen,
dass es sich bei CETA um das „bis dato am
weitesten reichende Abkommen seiner
Art“ handele. Es werde zu Wachstum und
Beschäftigung beitragen, indem die Exporte gesteigert, die Kosten der von Unternehmen für die Herstellung ihrer Produkte benötigten Importe gesenkt, größere
Auswahlmöglichkeiten für Verbraucher
geschaffen und gleichzeitig die strengen
EU-Produktstandards
aufrechterhalten
würden.
EU-Kommissionspräsident
Juncker
sagt:
„Das Handelsabkommen zwischen der
EU und Kanada ist unser bestes und fortschrittlichstes Handelsabkommen und
ich möchte, dass es so bald wie möglich
in Kraft tritt. Es schafft neue Chancen für
die europäischen Unternehmen und un-
Jean-Claude Juncker.
termauert gleichzeitig unsere hohen Standards – zum Wohle unserer Bürgerinnen
und Bürger. Ich habe die juristischen Argumente geprüft und mir die Standpunkte der Staats- und Regierungschefs sowie
der nationalen Parlamente angehört. Jetzt
müssen wir liefern. Die Glaubwürdigkeit
der europäischen Handelspolitik steht auf
dem Spiel.“
Bundeswirtschaftsminister und SPDChef Sigmar Gabriel nannte die Haltung
der EU-Kommission daraufhin „unglaublich töricht.“ CETA stößt in Teilen der SPD
ebenso auf Kritik wie das geplante Freihandelsabkommen der EU mit den USA
(TTIP).
Mit der Entscheidung der EU-Kommission steigt das Risiko, dass das bereits
ausverhandelte CETA-Abkommen von
einem der Parlamente abgelehnt wird.
Scheitert CETA, droht auch dem noch umstritteneren TTIP-Vertrag das Aus, gegen
das Grüne, Linke und Verbraucherschützer
Sturm laufen. CETA sollt bei einem EU-Kanada-Gipfel im Oktober ratifiziert werden.
Foto: Consilium
Ob dieser Zeitplan eingehalten werden
kann, ist offen.
Alle Gemüter kann die EU-Kommission mit ihrer neuen Einstufung von CETA
nicht beruhigen. „CETA ist und bleibt eine
Gefahr für die Demokratie, darüber kann
auch die Entscheidung der EU-Kommission, CETA nun doch als gemischtes Abkommen anzusehen, nicht hinwegtäuschen“,
sagt Roman Huber, geschäftsführender Bundesvorstand des Vereins Mehr
Demokratie. „Es steht noch immer im
Raum, dass CETA vorläufig angewendet
wird – und damit werden die Parlamente
ebenfalls umgangen.“Aus demokratiepolitischer Sicht bedeute die heutige Entscheidung jedenfalls keine Entwarnung. „Wir
stellen uns deshalb darauf ein, dass wir
gegen CETA vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.“ Huber zufolge könnten Jahre
vergehen, bis in allen europäischen Mitgliedstaaten abgestimmt wird. Insofern
würde die vorläufige Anwendung bereits
Tatsachen schaffen.
Impressum Geschäftsführer: Christoph Hermann, Karmo Kaas-Lutsberg. Herausgeber: Dr. Michael Maier (V.i.S.d. §§ 55 II RStV).
Redaktion: Anika Schwalbe, Gloria Veeser, Nicolas Dvorak. Sales Director: Philipp Schmidt. Layout: Nora Lorz. Copyright: Blogform
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