Ausgabe 26 08. Juli 2016 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Mittelstand Deutsche Industrie von wertvollen Rohstoffen abgeschnitten Die stetige Digitalisierung in den verschiedenen Branchen erhöht die Nachfrage nach speziellen Rohstoffen wie Lithium D ie zunehmende Digitalisierung in al- nen Lithium benötigt wird. Die im Bun- Studie geht davon aus, dass die „Industlen Industrie- und Wirtschaftszwei- deswirtschaftsministerium vorgestellte rie 4.0“ genannte Verschmelzung von ITTechnik und Industrieproduktion gen treibt laut einer neuen Studie den Bedarf an bestimmten Rohdie Nachfrage nach bestimmten stoffen weiter erhöhen dürfte. Rohstoffen wie Lithium in den „Nachfrageimpulse, beikommenden Jahren drastisch in spielsweise durch die Elektromodie Höhe. Bis 2035 könnte auch bilität oder Superlegierungen in der Bedarf für die seltenen Erden der Luft- und Raumfahrt, werden Dysprosium und Terbium sowie die Märkte für Sonder- und NeRhenium auf das Doppelte der benmetalle in den kommenden derzeitigen Weltproduktion steiJahren stark bewegen“, sagt Torsgen, heißt es in der Studie „Rohten Brandenburg, Leiter des Arstoffe für Zukunftstechnologien beitsbereichs Rohstoffwirtschaft 2016“ des Fraunhofer-Instituts der deutschen Rohstoffagentur für System- und Innovationsfor(DERA). „Zur Gewährleistung eischung. Verantwortlich sei daner sicheren Rohstoffversorgung für beispielsweise die verstärkte BDI-Chef Grillo fordert mehr Unterstützung von der Politik. Foto: BDI sollten sich Unternehmen frühNachfrage nach Batterien, in de- Analyse Start-ups in Deutschland fehlen finanzielle Mittel Zwei Drittel der Start-ups in Deutschland wollen ihr Unternehmen internationalisieren. Neben einer exzellenten Idee bzw. einem guten Produkt benötigen sie dafür jedoch häufig finanzielle Unterstützung. Genau hieran fehlt es aber den Startups in Deutschland. Viele schätzen die Situation in den USA viel besser ein als in Deutschland. Um weiter junge Firmen anzuziehen, bedarf es demnach neuer Standortstrategien. Berlin hat sich in den vergangenen fünf Jahren zu einem Zentrum der Startups entwickelt und angesichts des Brexits könnte sich der Ansturm in die Hauptstadt in den kommenden Monaten noch einmal verstärken. 31,1 Prozent der Startups in Deutschland haben ihren Hauptsitz in Berlin. Aber auch andere deutsche Regionen rücken immer stärker in den Fokus, wie etwa München, die Metropolregion Rhein-Ruhr und Hamburg. „Etwa ein Viertel (25,1 Prozent) beabsichtigt, innerhalb der EU zu expandieren und sogar 35,3 Prozent planen, ihre Geschäftstätigkeiten weltweit auszudehnen“, heißt es im aktuellen Start-up Monitor 2015. Im vergangenen Jahr erzielte etwa jedes 5. Start-up einen Umsatz von mehr als einer Million Euro. Die bedeutendsten Kapitalquellen bei der Finanzierung der Start-ups sind derzeit die eigenen Ersparnisse der Gründer (79,9 Prozent; 2014: 82,5 Prozent) und die Unterstützung durch Freunde und Familie (32,0 Prozent; 2014: 32,7 Prozent). Gerade bei der Internationalisierung spielen die Finanzquellen eine wichtige Rolle. 55,3 Prozent der jungen Unternehmen sehen neben der Vermarktung die Frage der Finanzierung derzeit als dringendste Herausforderung. Dieser Umstand spiegelt sich auch in einer Umfrage des Digitalverbandes Bitkom wieder. Nur 44 Prozent der Gründer würden wieder in Deutschland loslegen, wenn sie die freie Wahl hätten. Fast jeder Dritte würde sich stattdessen für die USA entscheiden. „Das ist alarmierend“, sagte Bitkom-Präsident Thors- ten Dirks in Berlin. Er führt das in erster Linie auf die schwierige Finanzierung zurück – vor allem für Unternehmen, die ihr Wachstum mit frischem Geld in Millionenhöhe anschieben wollen. „Da wird es immer schwieriger“, sagte Dirks. 55 Prozent nennen deshalb die Finanzierung als großes Hemmnis. Gleichzeitig hat sich allerdings die Situation für fast jedes zweite Start-up in den vergangenen zwei Jahren verbessert. Trotzdem, „wir müssen die Start-upNation werden – nicht eine von vielen“, so Dirks. Um das zu schaffen, schlägt sein Verband den Aufbau „digitaler Ökosysteme“ vor. Hier sollen Weltkonzerne mit dem Mittelstand und Start-ups zusammengebracht werden. Chancen sieht Bitkom vor allem im Bereich Industrie 4.0 – also der Digitalisierung und Vernetzung der Produktion. „Wir müssen dort ansetzen, wo Deutschland heute schon die Nase vorn hat“, sagte der Bitkom-Präsident und nannte als Beispiele die Bereiche Auto, Logistik, Versicherer und Banken. 1 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |26/16 zeitig mit den Entwicklungen auf den internationalen Rohstoffmärkten beschäftigen und mögliche Ausweichstrategien in Betracht ziehen.“ Die deutsche Industrie gibt der Studie Recht. „Die Politik muss das Thema Rohstoffsicherheit wieder auf die politische Agenda setzen“, so der Präsident des Industrieverbandes BDI, Ulrich Grillo. Die Bundesregierung müsse sich dafür einsetzen, dass staatliche Handelsbeschränkungen abgebaut würden. Wegen der Digitalisierung und der Energiewende steige die Nachfrage nach kritischen Rohstoffen, wie zum Beispiel Seltene Erden oder Lithium, deutlich. „Ausgerechnet für etliche dieser Rohstoffe ist die sichere Versorgung der Industrie in Gefahr“, warnt Grillo. Durch Ausfuhrbeschränkungen in Förderländern sei bei einzelnen Rohstoffen fast das komplette weltweite Angebot belastet. Als Beispiel nannte Grillo die in der High-Tech-Industrie zentralen Seltenen Erden, Antimon oder Wolfram. Hier fielen mehr als 90 Prozent der Produktion unter Zölle, Quoten und Exportverbote. Allein mit mehr Recycling und ressourceneffizienter Produktion lasse sich das nicht auffangen. Massive Probleme gebe es auch bei Lithium, einem für die Energiewende wichtigen Rohstoff, der bei leistungsfähigen Batterien und bei der Speicherung von Wind- und Sonnenenergie eine wichtige Rolle spielt. Hier werde die Nachfrage bis 2035 einer Studie zufolge drastisch steigen. Schon in den letzten zwölf Monaten habe sich der LithiumPreis verdreifacht. In den vergangenen Jahren hatte sich die befürchtete Rohstoffknappheit etwa für Metalle der Seltene-Erden-Gruppe nicht bewahrheitet. Für Stoffe wie Gallium und Scandium habe sich die Nachfragesituation sogar entspannt, auch weil die Stoffe durch Weiterentwicklungen bei Hightech-Produkten nicht in dem erwarteten Maße benötigt wurden, hieß es in der von der Deutschen Rohstoffagentur (DERA) in Auftrag gegebenen Studie über die internationalen Rohstoffmärkte. Tatsächlich, das zeigen die Daten der EU, haben in den vergangenen acht Jahren 08. Juli 2016 viele Länder neue Maßnahmen ergriffen, um die Unternehmen und Märkte des eigenen Binnenmarktes zu schützen. Vor allem bei Rohstoffen und Energiegütern sind Handelsbarrieren vorherrschend. Im aktuellen Bericht hat sich die EU auf 31 Handelspartner in der Union konzentriert. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die weltweiten protektionistischen Maßnahmen daher weit über 1.000 liegen. Von mehr als 800 neuen Handelsbarrieren weltweit sprach der Kreditversicherer Euler Hermes bereits im vergangenen Jahr mit Blick auf den Zeitraum zwischen 2014 und dem zweiten Quartal 2015. Wie stark die Digitalisierung fortschreitet, zeigt sich auch bei der stetig steigenden Zahl an Industrie-Robotern. Diese hatte im vergangenen Jahr ein neues Allzeithoch erreicht: 248.000. Das entspricht einem Plus von 12 Prozent. Allein in Deutschland waren es 2015 etwa 20.000. Der International Federation of Robotics zufolge wurden zwischen 2010 und 2015 weltweit etwa 1,1 Millionen neue Industrieroboter installiert. Wirtschaft Deutschland muss nach Chinas Regeln spielen Deutschland gerät in die Export-Falle in Richtung China: Westliche Unternehmen werden von den Behörden schikaniert D ie Missachtung der Marktwirtschaft, der Menschenrechte, kurzum, des liberalen Verfassungsstaats, sind im Parteiprogramm der regierenden Kommunistischen Partei Chinas als Grundsätze festgeschrieben. Allerdings wird in China auch von „Marktwirtschaft“ gesprochen, doch ist von der „sozialistischen Marktwirtschaft“ die Rede. Meinungsfreiheit besteht ebenfalls, nur gemeint ist die „Freiheit“, ausschließlich die Vorgaben der Partei zu vertreten. In der Auseinandersetzung mit den Kritikern von außen wird die eigene Sichtweise vertreten und bestritten, dass die westliche Auffassung von Demokratie und Marktwirtschaft richtig sei. Naturgemäß regt sich auch in China die Opposition gegen die Diktatur der KP. Bislang gelingt es der Partei aber, Kritiker rasch mundtot zu machen, die Pressefreiheit zu unterbinden und auch die Kommunikation über das Internet zu kontrol- lieren. Derzeit sind keine Anzeichen einer Revolution erkennbar, die für Meinungsfreiheit, Demokratie und eine Marktwirtschaft im westlichen Sinn kämpfen würde. Derzeit werden die kommunistischen Grundsätze besonders stark in den Vordergrund gerückt – mit großer Intensität durch den dominierenden Staatspräsidenten, Xi Jinping. Das Regime setzt sogar eine Band namens „Parfum“ ein, die mit einem Lied „Marx, Du bist ein Mitzwanziger. Kommunismus ist süß wie Honig“ für die Ideologie wirbt. China will Technologie-Führer werden und die eigenen Firmen stärken Die westlichen Unternehmer beklagen, dass sie nicht mehr so willkommen sind wie in den vergangenen Jahren. Die grundsätzliche Erklärung steht im Parteiprogramm: „Die Kommunistische Partei Chinas führt das Volk bei der Entwicklung der sozialistischen Marktwirtschaft (…). Sie entfaltet die fundamentale Funktion des Marktes bei der Allokation von Ressourcen und etabliert ein vollständiges System der makroökonomischen Steuerung.“ Die aktuelle Umsetzung liefert der im März 2016 beschlossene, neue Fünf-Jahresplan. China ist nicht mehr an Firmen interessiert, die in China die niedrigen Löhne und geringeren Umweltstandards nutzen, um günstig zu produzieren. China soll in den nächsten Jahren zum TechnologieFührer aufrücken. Forschung und Entwicklung werden großzügig dotiert. Chinesische Unternehmen, die eigenständig auf dem Weltmarkt bestehen können, werden gefördert. Nur mehr westliche Partner, die Innovation ins Land bringen und notwendige Technologien anbieten, sind willkommen. Im Ausland bemüht man sich, hochspezialisierte Betriebe zu erwerben, die diese Entwicklung begünstigen. In dieses Konzept fügt sich das viel diskutierte Bemühen um den Roboterhersteller Kuka ein. Im Jahr 2015 haben chinesische Unter2 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |26/16 nehmen weltweit für etwa 100 Milliarden US-Dollar Firmen erworben. Damit nicht genug. Die neue Politik besagt, dass nicht nur Unternehmen mit Problemen zu kämpfen haben, die China als kostengünstige, verlängerte Werkbank benutzen. Auch der Zugang zu den verschiedenen Bereichen des chinesischen Markts wird erschwert. Man will erreichen, dass chinesische Firmen den wachsenden Konsum im Land bedienen und den expandieren Dienstleistungsmarkt nutzen, man setzt also auf den Schutz des heimischen Marktes. Der Erwerb chinesischer Unternehmen wird erschwert und nicht, wie der Westen fordert, erleichtert. Der Finanzbereich bleibt in dem Maße abgeschirmt, in dem man nicht auf die Zusammenarbeit mit westlichen Banken, Versicherungen und Börsen angewiesen ist. Für die KP-Führung sind die Probleme, die aus westlicher Sicht als Krisensignale gedeutet werden, nebensächlich. Die Überschuldung der Unternehmen und vieler Privathaushalte, die Kurssprünge des Renminbi und die Volatilität der Börse werden als kapitalistische Erscheinungen betrachtet, die durch staatliche Interventionen bei Bedarf zu korrigieren sind. Der Westen als nützlicher Helfer beim Aufbau der Sozialismus Die Entwicklung der Wirtschaft und somit auch die Öffnung für westliche Unternehmen werden als Instrumente gesehen, die dem Kommunismus dienen. Erneut werden die Unternehmer als „nützliche Idioten“ gesehen. Getreu dem Lenin-Satz: „Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufhängen!“ Auch dieser Grundsatz ist im Programm der KP Chinas nachzulesen: „China befindet sich jetzt – das wurde 2012 beschlossen – im Anfangsstadium des Sozialismus und wird sich über eine längere Zeit in diesem Stadium befinden. Das ist ein unüberschreitbares historisches Stadium bei der sozialistischen Modernisierung im wirtschaftlich und kulturell rückständigen China, das mehr als einhundert Jahre in Anspruch nehmen wird.“ Die westlichen Unternehmer müssen zur Kenntnis nehmen, dass ihr Einsatz in China als Beitrag zum Aufbau des Sozialismus verstanden wird. 08. Juli 2016 Rüstungsexporte „made in Germany“ sind der aufsteigende Industriezweig. Foto: Flickr/Tristan Taussac/CC by nd 2.0 Und, um jedes Missverständnis zu beseitigen, weiter im Text: „Für uns sind die vier Grundprinzipien – das Festhalten am sozialistischen Weg, der volksdemokratischen Diktatur, der Führung durch die Kommunistische Partei Chinas sowie dem Marxismus-Leninismus und den Mao-Zedong-Ideen – die Grundlage für den Aufbau des Staates. Während des ganzen Prozesses der sozialistischen Modernisierung müssen wir an den vier Grundprinzipien festhalten und die bürgerliche Liberalisierung bekämpfen.“ China soll als Marktwirtschaft anerkannt werden Vor diesem Hintergrund soll China nun als Marktwirtschaft anerkannt werden. Das wurde beim 2001 erfolgten Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO vereinbart. Man ging davon aus, dass in den fünfzehn Jahren bis jetzt China die erforderlichen Bedingungen für einen freien Handel zu fairen Wettbewerbsbedingungen gegeben sein werden. China hat die Übergangsperiode für die Schaffung liberaler Verhältnisse nicht genutzt, sondern lehnt diese sogar ausdrücklich ab. Unter Marktwirtschaft wird die „sozialistische Marktwirtschaft“ im Dienste des Kommunismus verstanden, die „bürgerliche Liberalisierung muss bekämpft werden.“ Nach den Vorstellungen des Regimes soll China ungehindert im Land einen staatlichen Interventionismus betreiben und den Zugang zu seinem Markt nach Belieben steuern können, aber freien Zugang zu den westlichen Märkten erhalten. Das EU-Parlament wehrt sich bislang zu Recht gegen die Anerkennung Chinas als Marktwirtschaft, China droht mit einem Verfahren im Rahmen der WTO wegen „Verletzung“ der beim Beitritt 2001 geschlossenen Vereinbarung. Der Hintergrund der Niederschlagung der Studentenrevolution 1989 Zur Illustration eine Rückblende: 1989 erschütterte die brutale Unterdrückung der Studenten-Revolution die Weltöffentlichkeit. Die Öffnung Chinas hatte in den vorangegangenen Jahren weltweit und bei der chinesischen Jugend den Eindruck entstehen lassen, dass das Land auf dem Weg zu einer Demokratie westlicher Prägung sei. Das war auch damals ein Missverständnis. In einem Interview mit Mitgliedern des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas bekam man in den achtziger Jahren folgende Erklärung zu hören: Solange die Öffnung China nützt und die Macht der KP nicht in Frage stellt, lassen wir die Entwicklung zu. Kommt es zu einer Bedrohung der politischen Ordnung, dann greifen wir ein. Das Interview fand nur wenige Monate vor den Ereignissen auf dem Tian’anmen-Platz in Beijing statt: 3 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |26/16 Tausende Studenten versammelten sich ab dem 17. April 1989 auf dem Platz, um gegen die Politik der Regierung zu protestieren. In der Bevölkerung kam es zu einer Welle der Sympathie. In der ganzen Stadt bildeten sich spontan Demonstrationen. Am 3. und 4. Juni 1989 wurde der Aufstand vom Militär brutal niedergeschlagen. Bis heute erwähnt die KP-Führung dieses Ereignis nicht, Gedenkfeiern werden unterbunden. Der spektakuläre Aufstieg Chinas zur Wirtschaftsmacht, die positive Aufnahme der Investitionen westlicher Unternehmen, die Entwicklung Shanghais zur einer modernen Weltstadt und das Entstehen einer Reihe von Wirtschaftszentren ließen die Erinnerung an Tian’anmen verblassen. Allerdings hat sich bis heute an den Grundsätzen nichts geändert. Das im Jahr 2012 beschlossene, korrigierte Parteiprogramm enthält sogar eine Formulierung, die der Aussage im Interview aus den achtziger Jahren 08. Juli 2016 entspricht: „Die Entwicklung ist die allerwichtigste Aufgabe der Partei für die Machtausübung und die Stärkung des Landes. Bei aller Arbeit soll man es als den Hauptausgangspunkt und das Kriterium für ihre Beurteilung betrachten, ob sie der Entwicklung der Produktivkräfte in unserer sozialistischen Gesellschaft, der Erhöhung der umfassenden Landesstärke unseres sozialistischen Staates und der Steigerung des Lebensstandards der Bevölkerung dienlich ist.“ Innovation Elektronische Haut macht Hand zum Display Neben Kleidung wird auch der Körper immer öfter zum Experimentierfeld für digitale Ideen D er Smartphone-Boom ist nach Meinung der meisten Experten vorbei, die Zukunft der Kommunikationstechnologie liege vielmehr in den sogenannten Wearables, also Geräte die man wie Kleidung direkt am Körper trägt. Die Smartwatch ist dafür das aktuell bekannteste Beispiel, doch mit dem kleineren Bildschirm verringern sich auch die Möglichkeiten zur Interaktion. Um dieses Problem der Bildschirmgröße zu lösen, hat das französische Start-up Cicret das Konzept dieser sogenannten „Wearables“ einen Schritt weiter getrieben und will den Unterarm selbst in ein Tablet verwandeln. Äußerlich betrachtet ist das Cicret ein schmales Armband, das den FitnessTrackern wie Jawbone und Co sehr ähnlich sieht. Das Armband ist jedoch mit einem winzigen Pico-Projektor ausgestattet, ebenso mit zahlreichen Sensoren, die in Richtung des Unterarms ausgerichtet sind. Das Gerät soll es Benutzern ermöglichen, E-Mails zu senden und zu empfangen, im Internet zu surfen und Spiele zu spielen. Es wird auch möglich sein, das Cicret mit einem vorhandenen Smartphone oder Tablet zu verbinden, eingehende Anrufe zu beantworten und die Freisprech-Funktion auf dem Smartphone zu aktivieren. Das Gerät wird mit einer Drehung des Handgelenks aktiviert und projiziert auf Wunsch auch eine Art Spiegelung eines Tablets oder Smartphones auf den Arm des Nutzers. Die Näherungssensoren erkennen, wo auf der Projektion sich die Finger des Benutzers befinden, und ermöglichen so, über diese Android-Schnittstelle mit dem angeschlossenen Gerät zu interagieren. Zusätzlich bietet das Cicret Armband demnach einen Beschleunigungsmesser Leuchtdioden zeigen quasi sofort auf der Haut die Sauerstoffsättigung im Blut an. Foto: Takao Someya, School of Engineering, The University of Tokyo und ein Vibrationsmodul zusammen mit einer LED-Leuchte für Benachrichtigungen. Die Verbindung wird über WLAN, Bluetooth oder einen Micro-USB-Port sichergestellt. Es soll in zwei Modellen mit 32 oder 64 Gigabit verfügbar sein und 250-300 Dollar kosten. Gewöhnliche Gegenstände oder in diesem Fall Gliedmaßen in mobile Geräte zu verwandeln, bietet zwar theoretisch viele Vorteile, allerdings mangelt es den projizierten Touchscreens typischerweise an Reaktionsschnelligkeit, ebenso wie an der visuellen Klarheit, die Nutzer von den Glasscheiben gewohnt sind. Cicret ist davon überzeugt, die Technologie jedoch so entscheidend zu verbessern, dass die Nutzer sie problemlos verwenden. Seit dem Start der Kampagne Anfang 2015 erntete das Projekt von Technologie-Blogs jedoch viel Skepsis, zumal Gelder via Crowdfunding zunächst ohne funktionierenden Prototypen gesammelt wurden. Inzwischen soll es jedoch laut Unternehmen einen funktionierenden Prototypen geben und das Finanzierungsziel von 500.000 Euro sei fast erreicht. Cicret sind allerdings nicht mehr die einzigen, die diese Idee eines Touchscreens auf der Haut verfolgen: Auch die Konkurrenz hat das Konzept inzwischen entdeckt und der Tech-Riese Samsung hat Anfang des Jahres ein eigenes Patent dazu eingereicht, wie der Blog Hackread berichtet. 4 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |26/16 08. Juli 2016 Innovation Google-Gründer investiert in fliegende Autos Google-Mitbegründer Larry Page finanziert privat Start-ups, die fliegende Autos bauen G oogle-Mitbegründer Larry Page fi- erfordert große, schwere und teure Bat- satz, den Page seit vergangenem Jahr nanziert privat zwei Start-ups, die terien. Jedoch wird durch den Boom bei finanziell unterstützt. Dieser wird von fliegende Autos bauen. Eines der Unter- E-Autos genau dieses Problem derzeit Experten als realistischer angesehen als nehmen testet bereits einen funktionsfähigen Prototypen eines Autos mit Tragflächen, das andere arbeitet an einer Personen-Transport-Drohne, berichtet Bloomberg. Die technologischen Voraussetzungen für fliegende Autos haben sich in den vergangenen Jahren in dreifacher Weise enorm weiterentwickelt. Zum einen ist die Technologie von Transportdrohnen bereits so ausgefeilt, dass sie längst über die Testphase hinaus ist und der kommerzielle Einsatz etwa bei Amazon oder anderen LogistikStatt Tragflächen könnten Flugautos eher Propeller haben und wie Drohnen aussehen, hier das neue Modell von Terrafugia. Unternehmen bereits Foto: Terrafugia begonnen hat. Auch die entsprechende Regulierung wird durch den Vormarsch der privaten und kommerzi- von allen Seiten adressiert, Autobauer, der des zweiten Start-ups Zee.Aero, das ellen Drohnen bereits ausgebaut, sodass Zulieferer und IT-Firmen arbeiten qua- laut Bloomberg bereits seit 2010 mehr neue Regeln für die Nutzung des Luft- si im Wettlauf an der Verbesserung von als 100 Millionen Dollar von Page erBatterie- und Ladetechnologien. Da- hielt. Zee.Aero hat jedoch bereits einen raums entstehen. Zum anderen wird durch die Ent- durch wirkt auch die Herausforderung, Prototypen eines Senkrechtstarters mit wicklung fahrerloser Autos die notwen- Batterien für fliegende Autos zu erfin- Tragflächen, ein Ansatz, den ebenfalls dige Hardware und Software für die den, längst nicht mehr so futuristisch zahlreiche Unternehmen bisher verautomatisierte Zuordnung und Vernet- wie noch vor einigen Jahren. Bloomberg folgt haben: Das slowakische Start-up zung besser, die für die Navigation am zitiert den NASA-Forscher Moore sogar AeroMobil plant den Verkauf fliegender Himmel und für einen geregelten Luft- mit den Worten, selbstfliegende Flug- Fahrzeuge in zwei bis drei Jahren. Die verkehr notwendig ist. Insbesondere zeuge seien viel einfacher zu entwickeln Entwickler wollen künftige Modelle mit Google ist in dieser Hinsicht einer der als das, was die Autohersteller derzeit Autopilot ausstatten und einen fliegenden Taxidienst anbieten. Vorreiter, sowohl was die Software als mit selbstfahrenden Autos versuchen. auch was den Kampf für regulatorische Entsprechend setzt auch der GoogIn jedem Fall zeigt Page mit seinen Sicherheit angeht. le-Gründer Page auf ein Start-up, das Investitionen, dass Roboter-Autos nicht Drittens entwickelt sich die Batterie- bei der Entwicklung weniger an ein das Ende des Innovations-Ehrgeizes bei Technik für Elektro-Antriebe rasant wei- Auto mit Flügeln als vielmehr auf eine Google sind. Und aus der Perspektive ter, die derzeit noch das größte Problem Personen-Transport-Drohne setzt. des Google-Gründers scheint es tatsächfür fliegende Autos darstellt: Die Menge Propeller-Flieger werden auch in den lich realistisch, das Flug-Autos schon an Energie, die benötigt wird um einen Niederlanden bereits von dem Unter- bald die Lüfte über den Straßen erobern Menschen durch die Luft zu befördern nehmen Pal-V gebaut und sind ein An- könnten. 5 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |26/16 08. Juli 2016 Wirtschaft Politische Instabilität bestimmt die EU Über der EU ziehen dunkle Wolken auf: Eine Rezession könnte Europa in eine neue Krise treiben N ach Edward Heath, Margaret Thatcher und John Mayor ist David Cameron der vierte konservative Premierminister innerhalb von 42 Jahren, der an der Europapolitik gescheitert ist. Cameron hatte durch die Ankündigung eines Referendums dem europafeindlichen Flügel in seiner Partei sowie der UKIP den Wind aus den Segeln genommen, um die Wahlen von 2015 zu gewinnen. Dies zum Preis eines unerwarteten Austritts, den er sel- usw. Dank seines wirtschaftlichen und vor allem auch politischen Gewichts konnte Großbritannien immer Sonderkonditionen durchsetzen. Das Vereinigte Königreich hat seit den 1980er Jahren ein erfolgreiches, aber einseitiges und ungleichgewichtiges Wachstumsmodell entwickelt. Die Wachstumsraten des BIP/Kopf lagen deutlich höher als in der Eurozone. Die Wirtschaft basiert aber primär auf Finanz-Dienstleistungen Quelle: ONS, Destatis, Obsérvations et Statistiques ber und die Mehrheit der britischen Wirtschaftselite gar nicht wollten. England und spezifisch die Konservative Partei haben in der Nachkriegszeit kein stimmiges Verhältnis zu Europa gefunden. Ein Teil der Führungsschicht des Vereinigten Königreichs ist gefangen in der Vergangenheit als Zentrum eines Empires. Sie hat die Entkolonialisierung und eine seit den 1980er Jahren gescheiterte Anpassung und Modernisierung des britischen Industriesektors nie verwunden. Im Verhältnis zu Europa ging es ihr immer um einen Spezialstatus, der in der Praxis Rosinenpicken bedeutete: Kein Euro-Beitritt, kein Schengenraum, Konzessionen bei den Beitragszahlungen, beim Status des Finanzsektors und auf einem kreditgetriebenen Wachstum des Konsums. Die Sparquote ist seit Mitte der 1980er Jahre drastisch zurückgegangen, was sich auch in wachsenden Leistungsbilanzdefiziten reflektiert. Die Leistungsbilanzdefizite entstammen allein dem Güterhandel, während der Finanzsektor inklusive Versicherungen rasch steigende Überschüsse beigetragen hat. Das Land konsumiert zu viel und investiert zu wenig. Viel zu wenig Infrastruktur-Investitionen, geringe Ausrüstungsinvestitionen und ein ungenügender Wohnungsbau sind die Schwachstellen. Der Wohnungsmarkt ist absolut dysfunktional. Trotz Bevölkerungs- und Einkommenswachstum stagniert die Neubautä- tigkeit im Wohnungsbau seit Jahrzehnten auf extrem niedrigem Niveau. Dafür verzeichnet der Immobilienmarkt, der hypothekarisch hoch belastet ist, exorbitante Preissteigerungen. Die niedrigen Zinsen der 2000er Jahre und die Nullzinsen seit 2009 haben eine Preisexplosion, aber keine quantitative Angebotsausweitung im Wohnungsbau ermöglicht. Ein erheblicher Teil der Erwerbsbevölkerung ist von günstigem Wohnraum ausgeschlossen. Auch deshalb ist die Sensibilität gegenüber der Immigration ein zentrales Thema. Die Immigranten werden als Konkurrenten auf dem Wohnungsmarkt angesehen. Von der Mitte der 1950er bis Ende der 1970er Jahre wurden im UK jährlich 300.000 Wohnungen und mehr gebaut, während eines vollen Jahrzehnts sogar 400.000 Wohnungen. Seither ist die Bautätigkeit nur zurückgegangen, trotz Bevölkerungswachstum und Immigration seit Mitte der 1990er Jahre und vor allem seit 2004. Heute beträgt sie nicht einmal mehr die Hälfte und liegt auch mit vergleichbaren europäischen Ländern weit im Hintertreffen. Von der Bevölkerungsgröße sind Frankreich (gelbe Kurve) und Westdeutschland (grüne Kurve) mit dem Vereinigten Königreich (rote Kurve) etwa auf der gleichen Höhe. Einer der wichtigsten Gründe für die ungenügende Versorgung mit Wohnungen im UK ist, neben der Regulierung des Bankensektors, die Beseitigung des staatlich finanzierten sozialen Wohnungsbaues unter der Thatcher-Regierung. Die vollständige Privatisierung des Wohnungsbaues in den 1980er Jahren und die Regulierung des Bankensektors sind im Generellen wichtige Gründe für die Eurokrise. Sie haben in Europa zu einem weiten Spektrum von Verzerrungen geführt. Dies schließt die Unterversorgung mit günstigem Wohnraum in Großbritannien, in Frankreich, in Italien und neuerdings in Deutschland ein. Es bezieht sich auf eine extreme Überproduktion von Wohnungen in Spanien, Griechenland oder Irland, und zu Überbelehnung der 6 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |26/16 Haushalte in zahlreichen Ländern. Bei der Immigration, die im Referendum eine bedeutende, argumentativ sogar dominante Rolle gespielt hat, sind einige Fakten ebenfalls hilfreich. Die Wohnbevölkerung des Vereinigten Königreichs ist, nachdem sie zwischen den frühen 1970er Jahren und 1993 praktisch stagniert hat, von 57 Millionen im Jahr 1993 auf über 65 Millionen Einwohner im Jahr 2015 angestiegen. Die Zahl der im Ausland geborenen Wohnbevölkerung nahm im gleichen Zeitraum von 4 auf 8.5 Millionen Einwohner zu. Die Immigration hat also rund die Hälfte zum Bevölkerungswachstum in diesem Zeitraum beigetragen. Schlüsselt man die Struktur der im Ausland geborenen Wohnbevölkerung auf, so ergibt sich folgendes Bild: Von den rund 8 Millionen Immigranten per Ende 2013 stammen 2.7 Millionen aus der EU-27, d.h. EU-Ländern ohne dem Vereinigten Königreich. Das entsprach 4.3 Prozent der Wohnbevölkerung. Der dominante Teil der Immigranten ist anderer Nationalität, hauptsächlich solche ehemaliger Commonwealth-Länder. Diese machten Ende 2013 8.2 Prozent der Wohnbevölkerung aus. Von den Immigranten aus der EU waren weniger als die Hälfte aus Osteuropa. Deren Anteil an der Wohnbevölkerung betrug 2.0 Prozent. Schließlich ist auch die regionale Verteilung der Immigranten von Interesse: Die gesamte Immigration konzentriert sich also auf den Großraum London. Dessen Anteil an der Gesamtimmigration beträgt rund 36 Prozent. Dort erreicht der Anteil der Immigranten zwischen 35 und 40 Prozent an der Wohnbevölkerung. In Inner London (+13 Prozent) und in Outer London (+15 Prozent) ist auch die Zunahme zwischen 1995 und 2014 am stärksten. Im Rest des Landes liegen die Anteile zur Hälfte bei 5-7 Prozent. Nur in 5 Regionen ist der Anteil der Immigranten über 10 Prozent. Die Zunahme beträgt nur in 3 Regionen mehr als 5 Prozent der Wohnbevölkerung. Von den 10 wichtigsten Geburtsländern der Immigranten sind 4 aus der EU exklusive Großbritannien. Darunter ist auch Irland, welches traditionell eine starke Auswanderung vor allem in die Großräume London und Manchester hat. Nur die Polen mit einem Anteil von 9 Prozent an der gesamten Zahl der Immigranten sind wirklich bedeutend. Eine Zusammenfassung ergibt folgendes Bild. Die Immigration und ihre Zunahme ist auf den Großraum London konzentriert, wo sie weniger als Problem wahrgenommen wird. Wo sie hingegen als Kernproblem erscheint, ist in Gebieten mit ausgesprochen niedrigem oder durchschnittlichem Anteil der Immigranten an der Wohnbevölkerung. Dabei wird der Fokus noch fälschlicherweise auf EU-Immigranten und besonders auf solche aus den osteuropäischen Ländern gelegt. 08. Juli 2016 grenzung der Einwanderung aus den acht ostmitteleuropäischen Ländern nicht genutzt – mit dem Effekt, dass die Immigration aus diesen acht Ländern sich auf das Vereinigte Königreich konzentriert hat. Großbritannien hatte eine Option und isoliert darauf verzichtet, sie zu ziehen. Dem Versagen einer vernünftigen und bezahlbaren Versorgung mit Wohnraum für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung steckt ein komplexes Ursachenbündel zugrunde. Ein wichtiger Faktor war die exzessive Kreditexpansion des Bankensystems. Diese hat zum enormen Anstieg der Immobilienpreise Quelle: Housing Completions, 1950-2010, CLG Bezüglich der osteuropäischen Immigranten liegen die Ursprünge auch nicht allein oder primär in Brüssel, sondern vielmehr in London. Es war die britische Regierung, die sich – aus geopolitischen Gründen – besonders stark für eine beschleunigte und in gewisser Hinsicht verfrühte Aufnahme der acht ostmitteleuropäischen Länder in die EU eingesetzt hat. Bedenken wegen der Massenimmigration von osteuropäischen Arbeitskräften und ihrem möglichen Lohndruck hat die Labour-Regierung von Tony Blair souverän beiseite gewischt. Nur Großbritannien, Irland und Schweden haben die siebenjährige Übergangsfrist zur quantitativen Be- wesentlich beigetragen. Die Deregulierung des Bankensektors nach 2003 und die mangelnde Überwachung der Großbanken entsprangen Finanzminister Gordon Browns Initiativen und Zukunftsvisionen. Die völlig ineffiziente Doppelaufsicht der Banken durch die FSA und die Bank of England war ebenfalls von ihm konzipiert worden. Als die britischen Großbanken im Wettlauf um die Spitzenposition im Finanzsektor 2008 zusammenbrachen, mussten sie mit enormen staatlichen Mitteln gerettet werden. Die Explosion der Staatsschulden ist zuallererst und primär der Bankenrettung und dem damit zusammen7 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |26/16 hängenden konjunkturellen Einbruch 2009 zu verdanken. Die Explosion der Staatsschulden hat die Konservativen zur Austeritätspolitik veranlasst, die als besonders unfair gilt. Die kleinen Leute bezahlen mit schlechterer Bildung, weniger Kommunalausgaben und Wohlfahrtsmitteln sowie mit höheren Steu- men der Brexit-Abstimmung haben primär britische Ursprünge und repräsentieren keineswegs Zwangsmaßnahmen oder Automatismen der EU. Die EU dient mehrheitlich als Prügelknabe für etwas, was sie effektiv gar nicht verantwortet. Eine Ausnahme ist die Personenfreizügigkeit, wo die Sachlage komplexer ist. Quelle: ONS ern für die Deregulierungs-Politik unter der Blair/Brown-Regierung für die darauf folgenden Exzesse der Banken und für die Austeritätspolitik unter Cameron und Osborne. Wohnungsmarkt, Immigration, Bankenkrise, explosionsartig angestiegene staatliche Verschuldung und unsoziale Austeritätspolitik – alle wichtigen The- Die Brexit-Abstimmung wurde von den Wählern als eine Abstimmung über dieses schiefe Wachstumsmodell sowie über die Austeritätspolitik von Cameron und Osborne interpretiert. Die Labour Partei unter der Führung von Tony Blair und Gordon Brown ist politisch verantwortlich für die schwere Bankenkrise von 2008 und die nachfol- 08. Juli 2016 gende Krise der Staatsfinanzen. Die blindgläubige Deregulierungspolitik von ‚New Labour’ endete im Finanzsektor und anderswo im Desaster. Viele ihrer heutigen Exponenten gehören zu dieser ‚neuen Mitte’ und stellen die Mehrheit der Parlamentsabgeordneten. Die Immigration aus Osteuropa ist ebenfalls der Politik von Blair geschuldet. Dass die LabourFührung unter Blair/Brown und ihre gegenwärtigen Exponenten wenig oder keine Glaubwürdigkeit bei ihrer Kernwählerschaft mehr haben, erstaunt deshalb nicht. Diese Politik machte die Arbeitnehmer empfänglich für immigrantenfeindliche und rassistische Parolen. Doch auch der neue Labour-Parteiführer hat die Chance nicht genutzt. Er ist im Abstimmungskampf abgetaucht, statt kraftvoll aufzutreten. Der Brexit wurde vor allem in den Regionen deutlich befürwortet, welche eigentliche Labour-Hochburgen sind. Dort war den Stimmenden nicht einmal klar, dass Labour, anders als die Konservativen, praktisch einstimmig für den Verbleib in der EU eingetreten ist. Der Parteivorsitzende Corbyn hat eine diffuse Kampagne geführt, welche ein laues ‚Bremain’ mit harter und detaillierter Kritik an der EU und vor allem an der Eurozone kombinierte. Bei der wichtigsten Abstimmung in Großbritannien der letzten 40 Jahre war Labour kein wichtiger Faktor. Die Exponenten waren Cameron und Osborne auf der einen, Farage und Johnson auf der anderen Seite. Zwei Oberklassen-Exponenten mit einem als zutiefst unsozial empfundenen Austeritätskurs als Befürworter, ein rechtsradikaler Fremdenfeind und ein Populist mit dem einzigen Ziel persönlicher Macht als Gegner waren die Hauptfiguren. Labour ging unter, war fast unsichtbar. Es ging bei dieser Abstimmung nur darum, ob das Kreuzchen bei ja oder nein gemacht wird. Nicht ob die EU in diesem oder jenem Punkt schlecht oder gut ist. Zudem verwischte Corbyn die EU und die Eurozone in seiner Kritik. Die EU ist nicht der Hauptgrund für die Misere und für den Protest der Wachstumsverlierer in Großbritannien, ganz im Gegenteil. Das Gesamtbild ist dasjenige einer kollektiv verzerrten Darstellung und Wahrnehmung der Re8 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |26/16 alität. Die EU ist nicht der Hauptgrund für die Misere und für den Protest der Wachstumsverlierer in Großbritannien, ganz im Gegenteil. Das Gesamtbild ist dasjenige einer kollektiv verzerrten Darstellung und Wahrnehmung der Realität. Das wirkliche Problem ist die Konzentration des Wirtschaftswachstums auf den Großraum London und auf die Finanzindustrie. Der Wachstumsprozess war von einer unglaublichen und im internationalen Vergleich einzigartigen Unfähigkeit begleitet, genügend und günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen Die relativen Wachstumsverlierer sind vor allem von der Wohnungsnot, dem Mangel an preisgünstigen Wohnraum betroffen und projizieren dies auf Immigranten, die für sie als Konkurrenten auf dem Wohnungsmarkt und teilweise auf dem Arbeitsmarkt auftreten. Diese verzerrte Wahrnehmung geht von ganz rechts, den Rassisten über die Empire-Nostalgiker, die Wirtschaftselite, New Labour bis nach ganz links zu Jeremy Corbyn. Aber die EU war und ist auch nicht völlig außen vor. Konkret hat sie auf drei Ebenen versagt: – Freihandel/Industriepolitik: Die Europäische Union hat immer eine Politik des forcierten Freihandels betrieben. Dabei war Großbritannien oft eine oder die treibende Kraft, nicht verwunderlich angesichts von dessen Geschichte als Mutterland von Industrialisierung und Freihandel. Was in der Handelspolitik über die letzten 15 Jahre falsch gelaufen ist, betrifft keineswegs nur Großbritannien, sondern viele Länder Westeuropas und nebenbei auch die USA und andere Länder. Der WTO-Eintritt Chinas repräsentiert im Rückblick nicht Freihandel, sondern unfairer, staatlich subventionierter und gelenkter Wettbewerb – eine Form zivilisierten Handelskriegs mit dem Wechselkurs als eine wichtige Waffe. China vernichtet gezielt in Kernsektoren Konkurrenten und schottet gleichzeitig seine Wirtschaft in Schlüsselsektoren ab. Großbritannien war das Industrieland schlechthin. Jetzt liegen weite Teile seiner Industrie in Trümmern, aus durchaus anderen Gründen als China. Die in Wales und Mittelengland basierte Stahlindustrie ist seit zwei Jahren im Überlebenskampf. China hat viel zu große Kapazitäten aufgebaut und wirft seine überschüssigen Stähle zu Dumpingpreisen auf den Weltmarkt. Die britische Stahlindustrie ist viel weniger auf Spezialstähle für die Autoindustrie wie diejenige Deutschlands spezialisiert, sondern eher auf traditionelle Baustähle und deshalb besonders ausgesetzt. Gerade diese werden von China auf den Weltmärkten abgeladen, wobei alle Formen von Tricks zur Gewinnung von Steuervorteilen ausgenutzt werden. Dadurch steht die gesamte verbliebene Stahlindustrie Großbritanniens vor dem Aus, was über die Stahlindustrie hinaus Konsequenzen für ganze industrielle Lieferketten hat. Statt dieser Form von unfairem Handelskrieg machtvoll entgegenzutreten und die Importe aus China kurzerhand zu unterbinden, hat die EU-Kommission nur sehr zögerlich und defensiv agiert. Die britische Industrie wurde von der EU aktiv geschädigt, um es sich mit China ja nicht zu verderben. Diese Erfahrung hat viele in den sterbenden Industrieregionen vom Argument der Brexit-Befürworter überzeugt, dass eine von der EU unabhängige Handelspolitik viel besser angemessen ist. – Personenfreizügigkeit/Immigration/Flüchtlinge: Die Personenfreizügigkeit ist seit 1993 integraler Bestandteil des Binnenmarktes. Sie funktioniert aber nur in einem Schönwetter-Umfeld. Sie muss von starkem Wirtschaftswachstum, aufnahmefähigen Arbeits- und Wohnungsmärkten und rasch anzupassenden wirtschaftlichen und sozialen Infrastrukturen begleitet sein. Gerade deshalb hat die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundeskanzlerin Angstreflexe bei der Brexit-Abstimmung geschürt. Zuerst der Versuch, eine große Zahl von Flüchtlingen, organisatorisch völlig unvorbereitet, zwangsweise auf die EU-Länder zu verteilen. Danach ein Abkommen mit der Türkei, welche rasche Visafreiheit und den EU-Beitritt dieses bevölkerungsreichen Landes von 80 Millionen Einwohnern vorsieht. Dies in einem Umfeld, wo der neue Sul- 08. Juli 2016 tan einen Bürgerkrieg mit den Kurden, einer Minorität von beinahe 30 Prozent der Bevölkerung, anzettelt und im Bürgerkrieg in Syrien eine zwielichtige Rolle spielt. Eine solche nicht vorbereitete, nicht abgesprochene und selbstherrliche Politik der Führungsmacht in der Union kann nur schlimmste Abwehrängste mobilisieren. Es stellt sich bei manchen unvermeidlich die Frage, was als nächster Einfall kommen wird. – Austerität/Geldpolitik. Wer beim Brexit-Referendum schon mit Cameron und Osborne abrechnen wollte, kann mit der Eurozone gar nichts am Hut haben. Die Wahrnehmung im Vereinigten Königreich ist verbreitet, dass die Eurozone ein gescheitertes Experiment ist. Sie wird auch bei führenden Exponenten der Wirtschaftspolitik wie dem früheren Notenbank-Gouverneur Mervyn King offen so geäußert. Eine Finanzpolitik, die Mitgliedsländer unbarmherzig ökonomisch und sozial zerstört, gekoppelt mit einer Geldpolitik, bei der alle Sicherungen durchgebrannt sind. In diesem Sinn drücken sich auch viele Kommentare und Leserbriefe von Lesern in der FT aus. Nur so ist erklärbar, dass auch viele Angehörige der City den Austritt befürworteten. Nicht wenige glaubten deshalb, dass ein Austritt vor der finalen Katastrophe in der Eurozone die weniger schlechte Lösung darstellen würde. Politische Instabilität und eine Führungskrise in Großbritannien werden rasche Entscheidungen behindern – wie auch der Sturm, der sich über der EU zusammenbraut. Die jetzige EU-Führung fordert eine rasche Scheidung, um den Zusammenhalt der EU-27 und der Eurozone zu sichern und um Klarheit über das zukünftige Verhältnis herzustellen. Doch das mag eine trügerische Hoffnung und Ambition sein. Die Unsicherheit im Vereinigten Königreich ist fundamental. Es ist eine komplett neue, präzedenzlose Situation. Wohin steuert Großbritannien nach dem Abschied von Europa? Vom Empire zu little England? Welche Form der Zusammenarbeit mit der EU soll es noch geben? Schottische Nationalisten wollen eine rasche Loslösung von England. 9 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |26/16 Rechtsextreme wollen die Immigration über die EU umgedeutet oder benutzt stoppen und umkehren. Konservative werden. Kritisch werden diese Wahlen Kreise jetzt den Wohlfahrtsstaat rich- besonders dann werden, wenn sich die tig zusammenstreichen. Konservative Wirtschaftslage rapide und deutlich verund Labour, beide historischen Partei- schlechtern sollte. Die Wirtschaftsaussichten für en sind tief gespalten. Führungsprobleme werden sich auf allen Ebenen Großbritannien: Scharfe Rezession und auftürmen: Wer soll die Austrittsver- Strukturanpassung, so weit das Auge handlungen führen, und mit welcher reicht. Anders als Premier Cameron in Agenda und Absprache mit verschie- seiner Rücktrittsrede und Schatzkanzler denen Interessensgruppen. Cameron Osborne hervorgehoben haben, ist die hat ein Referendum ohne Plan B, ohne Wirtschaft des Vereinigten Königreiches Skript anberaumt. Johnson hat außer nicht sehr gut aufgestellt. Sie ist mit erwohlklingenden Sprüchen und eigenen heblichen Ungleichgewichten belastet. Ambitionen gar nichts entwickelt und vorbereitet. Neuwahlen sind durchaus möglich, weil die Konservative Partei so gespalten ist, dass sie keine stabile Regierung bilden kann. Und bei Neuwahlen ist angesichts der tiefen Krise von Labour eine rechtsextreme Springflut denkbar – mit der Wirkung instabiler Regierungen. Doch die Unsicherheit beschränkt sich nicht auf Großbritannien. Auch für die EU ist das Ganze Neuland: Bisher war die EU ein Projekt der Erweiterung. Darin hat die EU Routine. Jetzt erfolgt ein erster Austritt, und nicht von einem kleinen Land, Quelle: www.migrationobservatory.ox.ac.uk sondern vom wirtschaftlich zweit- oder drittstärksten der Union. Dies in einer potentiell instabilen Situation Das Vereinigte Königreich hat einen in einer ganzen Reihe von Mitgliedslän- überdimensionierten Finanzsektor – dern. Die EU ist in den Verhandlungen erst recht nach dem Austrittsentscheid. ganz klar in der stärkeren Ausgangslage. Dieser Finanzsektor ist im Export stark Weil ja Großbritannien die EU verlas- auf Europa und auf die Schwellenländer sen und die Beziehungen auf eine neue ausgerichtet und zwar breit diversifiziert, aber auch sehr zyklisch. Er ist im Grundlage stellen will. Die Möglichkeit eines Zusammen- Übrigen nicht währungssensitiv, so dass bruchs des ganzen Projekts sollte nicht eine Pfundabwertung nur sehr begrenzt unterschätzt werden. Zwischen April zur Verbesserung der Nettoexporte 2017 und Mai 2018 werden Wahlen in beiträgt. Dieser internationale Finanzden drei großen Ländern Frankreich, sektor wird sich zurückbilden, mit hoDeutschland und Italien stattfinden. hen Kreditverlusten der Banken in den Diese können zu einem Referendum Schwellenländern, die unvermeidlich 08. Juli 2016 kommen werden. Verschiedene europäische und amerikanische Großbanken werden auch aus der Situation der Unsicherheit Aktivitäten von London in andere Finanzzentren wie Paris, Frankfurt oder Dublin verlagern. Der britische Finanzsektor hat in letzten Jahren die frühere Rolle der Schweiz übernommen: London ist zu dem Vermögensverwaltungszentrum für Potentaten, Oligarchen und Diktatoren aller Couleur, für Steuerflüchtlinge, für Geldwäsche und Mafiagelder geworden. Dieser Teil des Geschäfts wird schrumpfen müssen, weil die EU in den Verhandlungen für die zukünftige Zusammenarbeit darauf beharren wird und muss. Transparenz und Kontrolle der Steuerflucht werden ein wichtiges Verhandlungsobjekt darstellen. Der Brexit wird ferner als Entschuldigung für massive Kapazitätsanpassungen im Finanzsektor herhalten müssen, die aus ganz anderen Gründen erfolgen. International tätige Banken werden ihre Niederlassungen in London drastisch verkleinern. Beispiele dafür werden Credit Suisse und UBS 10 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |26/16 sein. Die Schweizerische Nationalbank hat vor wenigen Wochen bei beiden einen Kapitalmangel von je 10 Milliarden Schweizer Franken geortet und sie aufgefordert, die Eigenmittel mittelfristig um diese Beträge zu erhöhen. Dies ist in einem Umfeld mit Negativzinsen nicht zu schaffen, weder extern noch aus eigenen Gewinnen. Realisierbar ist eine solche Verbesserung der EigenkapitalRatios nur mit einem weiteren drakonischen Abbau des kapitalintensiven Investment-Banking. Der Brexit mag dann als gute Entschuldigung für weitere oder nachzuholende Strukturanpassungen herhalten. Identisches wird sich wiederholen bei deutschen, bei französischen, italienischen und spanischen Großbanken, die allesamt nochmals deutlich schmalbrüstiger als die beiden schweizerischen Institute kapitalisiert sind. Der Baissemarkt in den Finanzmärkten, bei Aktien, Krediten, IPO’s, Fusionen und Akquisitionen sowie eine allfällige globale Rezession werden ohnehin die Volumina in den Finanzmärkten drastisch reduzieren. Das sind alles superzyklische Aktivitäten. London als das eine von zwei globalen Finanzzentren, das Zentrum des Investment Bankings vieler europäischer Großbanken (und der amerikanischen Großbanken in Europa) wird deshalb redimensioniert werden. Auch die institutionelle Vermögensverwaltung, eine andere Spezialität Londons, dürfte unter diesen Makro-Faktoren leiden. Die britischen Banken haben auch im Innern überdimensionierte Kreditausstände. Die Haushalte haben zu hohe Hypothekarschulden, bei seit über zwei Jahrzehnten inflationierten Häuserpreisen. Klassische Indikatoren einer Überbewertung im Immobilienmarkt wie Preis/Einkommen oder Preis/Mieten liegen außerhalb jeder Norm, dies vor allem im Großraum London. Das Duo Cameron/Osborne hat den Wahnsinn mit Steueranreizen noch angeheizt. Eine Staatsgarantie hat die maximale Hypothekar-Belastung für Neukäufer noch erhöht. Ein Einbruch am Immobilienmarkt und ein erneuter Anstieg fauler Bankkredite werden unvermeidlich die Bilanzen britischer Banken auch im Inland beschädigen. Dem steht ein angeschlagener und teilweise strukturschwacher Industriesektor gegenüber. Die Erdöl-/ Erdgasindustrie ist in einer weltweiten Strukturkrise, besonders noch in Großbritannien, wo die Felder bereits stark ausgebeutet sind und wenig mehr versprechen. Außerhalb der Pharma-, Rüstungs- und Autoindustrie, wobei letztere stark auf Europa ausgerichtet ist, gibt es in der verarbeitenden Industrie wenig Erbauliches und Zukunftsträchtiges. Im Gegenteil: Durch die drohende Schließung der Stahlindustrie sind ganze industrielle Lieferketten bedroht. Ohnehin werden Investitionen zurückgehalten, solange der Status Großbritanniens in der globalen Handelspolitik nicht geklärt ist. Auch eine Abwertung des Pfunds hilft da nicht mehr viel weiter. Das Pfund müsste und dürfte extrem stark abwerten, damit es einen positiven Effekt auf die Netto-Exporte geben wird, und somit der Wechselkurs als Stabilisator wirken kann. Schließlich ist nicht nur der Haushaltsektor übermäßig verschuldet, sondern auch der Staat. Die britische Regierung hat es in der Auseinandersetzung mit der EU-Kommission virtuos verstanden, so Druck auszuüben, dass das wahre Ausmaß der Staatsverschuldung verschleiert wird und in den offiziellen Statistiken nicht erscheint. Die effektive Staatsverschuldung ist um einen Faktor höher als ausgewiesen. Eine weitere Rekapitalisierungsrunde für die Banken würde zusätzliche Schulden bedeuten. Es würde nicht überraschen, wenn die Ratings für die britische Staatsschuld rasch und heftig nach unten angepasst würden. Für das Vereinigte Königreich ist eine längere Periode der Identitätsfindung, umfassender Unsicherheit, rascher Polarisierung und Instabilität vorgezeichnet. Verbunden wird dies mit einem raschen und heftigen Einbruch der Wirtschaft sein, vor allem des Finanzsektors, der Investitionen in allen Bereichen, von Einkommens- und Vermögensverlusten und teilweise negativem Eigenkapital der Haushalte im Wohnungsmarkt. Erhebliche Banken- 08. Juli 2016 problemen und verschlechterte Staatsfinanzen dürften das Bild vervollständigen. Dies könnte die Konstellation für einen perfekten Sturm, für eine kumulativ sich verstärkende und vertiefende Rezession darstellen. Die klassischen geldpolitischen Instrumente, um einen solchen Sturm abzufedern, nur noch begrenzt nutzbar (Zinsen) beziehungsweise zu wenig wirksam (Wechselkurs). Der Wechselkurs wird massiv und längerfristig unterschießen müssen, um die Rebalanancierung vom Finanzsektor zur Industrie zu ermöglichen. In der Finanzpolitik ist, solange die Konservativen an der Macht sind, vorerst mit einer prozyklisch verstärkenden restriktiven Politik zu rechnen. Langfristig ist klar, woher das Wirtschaftswachstum in Großbritannien kommen muss: Industrie, Infrastruktur und Wohnungsbau – und damit ganz klar binnenwirtschaftlich geleitet. Aber der Weg dorthin wird politisch und ökonomisch beschwerlich sein. Die Sparquote muss erheblich ansteigen, damit dies finanziert werden kann. Fallende Einkommen im Finanzsektor, eine Land- und Häuserpreisanpassung sowie ein massiv niedrigerer Wechselkurs dürften wesentliche Voraussetzungen oder Begleiterscheinungen dafür sein. Makroökonomisch dürfte der Brexit das Ende des von Thatcher und New Labour geprägten Wachstumsmodells einläuten, das strukturpolitisch den Finanzsektor durch Deregulierung, enorme Subventionen und Steuergeschenke auf vielen Ebenen zu Lasten der Industrie, der Infrastruktur und des Wohnungsbaues begünstigt hat. Im zweiten Teil wird dargestellt, was der Brexit für die Eurozone und für die Weltwirtschaft bedeuten könnte. Der Brexit ist eine Interaktion von jahrzehntelangem Versagen und Hypokrisie der politischen und wirtschaftlichen Eliten und fremdenfeindlicher und böswilliger Diffamierung, die unscheinbar anfängt und plötzlich dominant wird. Darin besteht eine Analogie zur Eurozone. 11 Deutsche MittelstandsNachrichten powered by Ausgabe |26/16 08. Juli 2016 Politik Rückzug: EU-Kommission lässt nationale Parlamente über CETA entscheiden Die nationalen Parlamente der EU-Staaten sollen über das Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) entscheiden D ie EU-Kommission beschloss in dieser Woche, von ihrer bisherigen Linie abzuweichen und das Abkommen als sogenannte gemischte Vereinbarung einzustufen. EU-Kommissionschef JeanClaude Juncker hatte vorige Woche beim EU-Gipfel noch erklärt, dass CETA ein reines EU-Abkommen sei und deshalb nur das EU-Parlament darüber abstimmen müsse. „Die Kommission ist der Auffassung, dass das Abkommen vom rein juristischen Standpunkt aus betrachtet in die ausschließliche Zuständigkeit der EU fällt“, so EU-Handelskommissarin Malmström. „Angesichts der offenkundigen politischen Situation im Rat verstehen wir jedoch, dass das CETA als „gemischtes“ Abkommen vorgelegt werden muss, wenn eine rasche Unterzeichnung ermöglicht werden soll.“ Sobald der EU-Rat und das EU-Parlament zugestimmt hätten, würde das Abkommen jedoch schon einmal vorläufig angewandt werden können. Die EU-Kommission hatte im Zuge dessen noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich bei CETA um das „bis dato am weitesten reichende Abkommen seiner Art“ handele. Es werde zu Wachstum und Beschäftigung beitragen, indem die Exporte gesteigert, die Kosten der von Unternehmen für die Herstellung ihrer Produkte benötigten Importe gesenkt, größere Auswahlmöglichkeiten für Verbraucher geschaffen und gleichzeitig die strengen EU-Produktstandards aufrechterhalten würden. EU-Kommissionspräsident Juncker sagt: „Das Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada ist unser bestes und fortschrittlichstes Handelsabkommen und ich möchte, dass es so bald wie möglich in Kraft tritt. Es schafft neue Chancen für die europäischen Unternehmen und un- Jean-Claude Juncker. termauert gleichzeitig unsere hohen Standards – zum Wohle unserer Bürgerinnen und Bürger. Ich habe die juristischen Argumente geprüft und mir die Standpunkte der Staats- und Regierungschefs sowie der nationalen Parlamente angehört. Jetzt müssen wir liefern. Die Glaubwürdigkeit der europäischen Handelspolitik steht auf dem Spiel.“ Bundeswirtschaftsminister und SPDChef Sigmar Gabriel nannte die Haltung der EU-Kommission daraufhin „unglaublich töricht.“ CETA stößt in Teilen der SPD ebenso auf Kritik wie das geplante Freihandelsabkommen der EU mit den USA (TTIP). Mit der Entscheidung der EU-Kommission steigt das Risiko, dass das bereits ausverhandelte CETA-Abkommen von einem der Parlamente abgelehnt wird. Scheitert CETA, droht auch dem noch umstritteneren TTIP-Vertrag das Aus, gegen das Grüne, Linke und Verbraucherschützer Sturm laufen. CETA sollt bei einem EU-Kanada-Gipfel im Oktober ratifiziert werden. Foto: Consilium Ob dieser Zeitplan eingehalten werden kann, ist offen. Alle Gemüter kann die EU-Kommission mit ihrer neuen Einstufung von CETA nicht beruhigen. „CETA ist und bleibt eine Gefahr für die Demokratie, darüber kann auch die Entscheidung der EU-Kommission, CETA nun doch als gemischtes Abkommen anzusehen, nicht hinwegtäuschen“, sagt Roman Huber, geschäftsführender Bundesvorstand des Vereins Mehr Demokratie. „Es steht noch immer im Raum, dass CETA vorläufig angewendet wird – und damit werden die Parlamente ebenfalls umgangen.“Aus demokratiepolitischer Sicht bedeute die heutige Entscheidung jedenfalls keine Entwarnung. „Wir stellen uns deshalb darauf ein, dass wir gegen CETA vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.“ Huber zufolge könnten Jahre vergehen, bis in allen europäischen Mitgliedstaaten abgestimmt wird. Insofern würde die vorläufige Anwendung bereits Tatsachen schaffen. Impressum Geschäftsführer: Christoph Hermann, Karmo Kaas-Lutsberg. Herausgeber: Dr. Michael Maier (V.i.S.d. §§ 55 II RStV). Redaktion: Anika Schwalbe, Gloria Veeser, Nicolas Dvorak. Sales Director: Philipp Schmidt. Layout: Nora Lorz. Copyright: Blogform Social Media GmbH, Kurfürstendamm 206, D-10719 Berlin. HR B 105467 B. Telefon: +49 (0) 30 / 81016030, Fax +49 (0) 30 / 81016033. Email: [email protected]. Erscheinungsweise wöchentliches Summary: 52 Mal pro Jahr. Bezug: [email protected]. Mediadaten: [email protected]. www.deutsche-mittelstands-nachrichten.de 12
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