PDF-Download - Katholische Kirche beim hr

Dr. Peter-Felix Ruelius, Wiesbaden
hr 1 Zuspruch
Dienstag 5. Juli 2016
Mit dem Leben leben: Strandhafer
Manchmal wachsen mir die Dinge über den Kopf. Noch ein Termin. Noch eine
Anfrage. Noch ein Auftrag. Und dann noch die Steuer, die schon längst fertig sein
müsste. Und von den manchmal kleinen, manchmal größeren Sorgen rede ich gar
nicht. Manchmal wächst mir alles über den Kopf.
Der Gedanke an den bevorstehenden Urlaub tut dann gut. Eine kleine Alltagsflucht.
Aber nicht nur das. Ich freue mich auch darauf, eine meiner Lieblingspflanzen
wiederzusehen. Eine, die weiß, wie das ist, wenn einem alles über den Kopf wächst.
Die Rede ist vom Strandhafer. Er wächst an allen Dünen in Europa. Er ist der König
des Küstenschutzes. Und er hat so ein paar kleine Strategien, die mich ermutigen.
Die erste: Wenn der Sturm ihn mit Sand zudeckt, wenn er wieder und wieder
zugeweht wird, dann fängt er an zu wachsen. Er durchwächst einfach das, was ihm
über den Kopf wächst. Kaum eine Schicht ist ihm zu dick. Bis zu einem Meter Sand
kann er im Jahr durchdringen.
Und die zweite Strategie: Dort wo der Strandhafer überwuchert wird, bildet er neue
Wurzeltriebe aus, die sich als Geflecht, wie ein ganzes System, unter der Erde
verzweigen. Eine Pflanze kann so einen Radius von fünf Metern haben. Und aus den
einzelnen Wurzeln wachsen neue Triebe nach oben. Stück für Stück entsteht so ein
stabiles Gebilde. Wer über die Dünen läuft, der läuft über eine gut verzweigte und
befestigte Welt.
Der Strandhafer macht das einfach so. Weil in ihm angelegt ist, sich nicht
unterkriegen zu lassen. Weil er mit dem Leben an der Küste lebt. Mit dem Sand, mit
den Stürmen. Er erobert das, was ihm über den Kopf wächst.
Wenn mir mal wieder alles zu viel wird, dann denke ich daran. An den Urlaub und an
den Strandhafer. Mir ist von Gott etwas geschenkt, das ist wie die Strategie dieser
Küstenpflanze. Ich lebe nicht gegen das Leben, sondern mit ihm. Was mir über den
Kopf wächst, kann ich beharrlich durchwachsen und durchdringen. Ich kann mich fest
in den Boden einwurzeln, auf dem ich stehe. Ich kann mich mit anderen vernetzen
und verbinden. Ich kann Neues versuchen – und so Stück für Stück ans Licht
kommen. Was dann entsteht: Das sind keine Wanderdünen, das ist der stabile Grund
meines Lebens.