Ein Kämpfer gegen das Vergessen Ellie Wiesel, Holocaust-Überlebender und Friedensnobelpreistäger, ist tot ▶ Seite 5 AUSGABE BERLIN | NR. 11060 | 27. WOCHE | 38. JAHRGANG MONTAG, 4. JULI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND GERxit abgewendet! H EUTE I N DER TAZ EM Seit zehn Jahren zieht das deutsche Team bei jedem großen Turnier mindestens ins Halbfinale ein. Wie schaffen die das nur? ▶ EM taz SEITE 17 AUSZ EICHN UNG Sha- ron Dodua Otoo erhält den 40. Ingeborg-Bach mann-Preis ▶ SEITE 17 ANS CHLAG Lalon San der über islamistische Terroristen in Bangla desch ▶ SEITE 4 ABSCHIEBUNG CDU- Innensenator Frank Henkel versucht sich zu profilieren. Dabei reißt er sogar Familien auseinander ▶ SEITE 21 Fotos: ORF, ap (oben) YASAK Merhaba, sayın yetkililer! Neue Runde in der „Böhmermann-Affäre“: Zwar hat das Hamburger Landgericht dem TV-Satiriker bereits untersagt, große Teile seines Gedichts „Schmähkritik“ über den türkischen Präsidenten öffentlich zu wiederholen – aber Recep Tayyip Erdogan will Jan Böhmermanns Verse ganz verbieten. Nun ist aber jedes Satire-Verbot in Deutschland aus historischen Gründen … schwierig. Gut unterrichtete Kreise gehen davon aus, dass nun nach und nach immer weitere Teile von „Schmähkritik“ verboten werden, bis nur noch ein kleiner Rest übrig bleibt: Sch…! Berlin, Straße des 17. Juni, am Samstagabend: Das 1:0 gegen Italien sorgt für Spitzenstimmung auf der Fanmeile Foto: Björn Kietzmann Briten wollen Europäer bleiben Kritik an Vattenfall BREXIT Inzwischen rund vier Millionen Unterschriften für neues Referendum LONDON dpa | Zehntausende Bri- ten sind am Samstag in London für den Verbleib ihres Landes in der EU auf die Straße gegangen. Bei ihrem Protestmarsch trugen sie Europaflaggen mit sich, riefen „Ich liebe die EU“ und verlangten, der Brexit solle ungeachtet der Mehrheit beim Referendum abgewendet werden. Viele Teilnehmer meinen, die Mehrheit am 23. Juni sei nicht zuletzt durch Falschinformationen und unehrliche Versprechen des Austritts-Lagers zustande gekommen. Sie fordern, das Parlament solle das Votum des Referendums aufheben oder die Regierung keinen Antrag auf Austritt stellen. Inzwischen haben rund vier Millionen Bürger Großbritanniens eine Onlinepetition für ein zweites Referendum unterschrieben. Allerdings hat das zuständige Komitee im Unterhaus Zweifel geäußert, ob alle Unterschriften gültig seien. ▶ Schwerpunkt SEITE 2, 3 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 10 BRAUNKOHLE Greenpeace gegen Tschechien-Deal HAMBURG/BERLIN epd | Die Um- weltschutzorganisation Green peace hat den geplanten Verkauf der ostdeutschen Braunkohlesparte des staatlichen schwedischen Energiekonzerns Vattenfall an einen tschechischen Investor kritisiert. „Vattenfalls schmutziges Braunkohlegeschäft feige weiterzurei- chen ignoriert wissenschaftliche Erkenntnisse“, erklärte Greenpeace am Sonnabend in Hamburg. Wenn die auf der Weltklimakonferenz von Paris vereinbarten Ziele erreicht werden sollten, müsse ein Großteil der Kohle im Boden bleiben. ▶ Wirtschaft + Umwelt SEITE 7 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 10 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.040 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 10627 4 190254 801600 KOMMENTAR VON RALF SOTSCHECK ÜBER DIE ANTI-BREXIT-DEMONSTRATIONEN M Demokratie ist mehr als Facebook-Likes ehr als 40.000 Menschen haben am Samstag in London gegen das Ergebnis des Brexit-Referendums demonstriert. Mehr als 4 Millionen Menschen unterzeichneten eine Onlinepetition, mit der sie die Wiederholung der Volksabstimmung fordern. Es sind vor allem junge Leute, die den Alten vorwerfen, dass sie ihnen mit ihrem Votum für den Austritt aus der EU die Zukunft verdorben haben. Sie hätten sich vor dem Volksentscheid an die Geschichte des gläubigen Christen erinnern sollen, der Abend für Abend betet, Gott möge ihm einen Lottogewinn bescheren. Irgendwann wird es Gott zu bunt, und er antwortet: „Gib mir eine Chance. Kauf einen Lottoschein.“ Auf das Brexit-Referendum übertragen, heißt das, die jungen Leute hätten das ihnen unangenehme Ergebnis verhindern können, wenn sie sich die Mühe gemacht hätten, ihre Stimme abzugeben. 73 Prozent der 18- bis 24-Jährigen haben für den Verbleib in der EU gestimmt. Laut einer Untersuchung der London School of Economics hat fast die Hälfte dieser Altersgruppe bei der Verkündung des Ergebnisses geweint. Das sind beeindruckende Zahlen. Aber nur 36 Prozent dieser Altersgruppe haben überhaupt gewählt – im Gegensatz zu 83 Prozent der über 65-Jährigen. War es Faulheit? Immerhin gab es 41.000 Wahllokale, mehr als in den USA. Und wem es trotzdem zu umständlich war, hätte an der Briefwahl teilnehmen können. Warum haben sie es nicht getan? Befragungen deuten darauf hin, dass viele junge Leute das Wahlverfahren für anachronistisch halten. Mit einem Stift ein Kreuz auf einem Blatt Papier machen? Und manche wussten offenbar gar nicht, dass es überhaupt noch eine Briefpost Bei einer Wiederholung würde die EU noch mehr an Glaubwürdigkeit verlieren gibt. Vielleicht hätte man das Referendum über Facebook aufziehen sollen. Dann hätte die EU genügend „Likes“ für den britischen Verbleib bekommen. Natürlich kann man das Volk erneut an die Wahlurne bitten. In Irland haben die Politiker es ja bei zwei Referenden über EU-Verträge auch getan, weil ihnen das Nein nicht gepasst hatte. Mit einer Wiederholung der Brexit-Abstimmung würde die EU allerdings den letzten Rest demokratischer Glaubwürdigkeit verlieren. Die britische Anti-BrexitBewegung muss mit dem Ergebnis leben und das Beste daraus machen. Es wäre ein Anfang, sich dem rapide ausbreitenden Rassismus entgegenzustellen. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT Schwerpunkt MONTAG, 4. JU LI 2016 Für die EU NACH RICHTEN DEUTSCH E RÜSTUNGSGÜTER Hilft noch Protest gegen den Brexit? Oder muss eine soziale Union her? Exporte 2015 fast verdoppelt BERLIN | Die deutschen Rüs- Der neue Bischof von Limburg: Georg Bätzing Foto: dpa Unautoritäre Autorität E s ist weiß Gott kein rühmlicher Posten: Georg Bätzing, Generalvikar in Trier, tritt die Nachfolge von Franz-Peter Tebartz-van Elst als Bischof von Limburg an. Papst Franziskus überlasst ihm damit den Nachlass des prunkverliebten Bischofs, der mit seinem 31 Millionen teuren Luxustempel nicht nur die Barmherzigkeit der Limburger Katholiken, sondern auch die des Vatikans strapaziert hatte. Bätzings Begeisterung schien sich am Freitag bei der Bekanntgabe seiner Ernennung zunächst in Grenzen zu halten. „Als mich am Montagabend die Nachricht der Wahl durch das Domkapitel erreicht habe, war ich zutiefst erschrocken“, sagte der 55-Jährige, der in Trier viele Jahre lang die Priesterausbildung geleitet hat. Er gilt als umgänglich im Ton und tiefkatholisch. Das bedeutet für Bätzing auch, Entscheidungen von oben zu gehorchen: Nie habe er eine Aufgabe gewünscht, sondern immer genommen, wie ihm der Bischof aufgetragen habe. 2007 etwa hat Reinhard Marx, damals Bischof von Trier, Bätzing zum Leiter der HeiligenRock-Wallfahrt erhoben, einer Prozession zu einer Reliquie im Trierer Dom, die Fragmente der Tunika Jesu Christi enthalten soll. Die Ernennung zum Generalvikar 2012, der rechten Hand von Bischof Ackermann, wurde zum Höhepunkt seines steilen Aufstiegs: Bätzing ist einer von den Karrieremenschen in der Kirche, sagt Hanspeter Schladt, Sprecher der Bewegung „Wir sind Kirche“. Als Vertreter der reformorientierten Kirchenvolksbewegung saß der in der Trierer Synode, einem 300-köpfigen Gremium, unter der Leitung von Bätzing. BürgerInnen und weltlichen Vertretern wurde hier Gelegenheit zur Mitsprache bei der Bistumspolitik gegeben, das sei deutschlandweit einzigartig, sagt Schladt. Die Kirchenvolksbewegung hofft deshalb, dass Bätzing auch in Limburg weltliche Vertreter anhören werde, wenn es über den künftigen Weg des in Verruf geratenen Bistums geht. Tebartz-van Elst hatte das Bistum nicht nur in eine finanzielle Krise gestürzt, auch sein autoritärer Führungsstil war von vielen kritisiert worden. Schadt, der Bätzing in der Synode erlebt hat, beschreibt ihn als geradlinigen Katholiken, der hier einen Unterschied machen könnte. MICHAEL GRUBER tungsexporte haben sich laut einem Bericht der WamS im vergangenen Jahr nahezu verdoppelt. „Im Jahr 2015 wurden Einzelgenehmigungen für die Ausfuhr von Rüstungsgütern in Höhe von 7,86 Milliarden Euro erteilt“, heißt es demnach im Rüstungsexportbericht 2015 des Wirtschaftsministeriums, den das Kabinett am Mittwoch beschließen wird. 2014 hatte die Regierung Ausfuhrgenehmigungen für Rüstungsexporte im Wert von 3,97 Milliarden Euro erteilt. Die Rüstungs exporte sind damit auf den höchsten Stand in diesem Jahrhundert gestiegen. Mit 7,86 Milliarden Euro übertraf das Volumen auch jene 7,5 Milliarden Euro, die Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) im Februar unter Berufung auf vorläufige Zahlen genannt hatte. Insgesamt lehnte die Bundesregierung 2015 wie im Vorjahr 100 Anträge ab. Für 12.687 erteilte sie grünes Licht, 597 mehr als 2014. (epd) NACH TÖDLICH EN ANGRI FFEN Israels Armee riegelt Hebron ab Londoner Marsch für Europa GROSSBRITANNIEN 40.000 Menschen verlangen, dass das Brexit-Referendum das Parlament nicht binden soll. Mehrheit der Demonstranten kommt aus dem Bürgertum AUS LONDON DANIEL ZYLBERSZTAJN „Never gonna give you up“, sang der britische Musiker Rick Astley im Jahr 1987. „Never gonna give EU up“ sangen am vergangenen Samstag viele der 40.000 Menschen, die sich in London dem „Marsch für Europa“ anschlossen. Die friedliche Protest schlängelte sich durch das Londoner Zentrum, vorbei an vielen Regierungsgebäuden bis hin zum Parliament Square. Als der Demonstrationszug die Downing Street 10 passierte, den Regierungssitz von Premierminister David Cameron, riefen viele im Chor: „Shame on you“ – „Schande über dich“. Viele der protestierenden Briten und in Großbritannien lebenden EU-Ausländer hatten Europafahnen dabei und warben auf selbst gebastelten Plakaten für den Verbleib Großbritanniens in der EU. Auf Trans- parenten kritisierten sie falsche Versprechungen vor dem Referendum seitens der Brexit-Befürworter Michael Gove und Boris Johnson von den Tories und dem Ukip-Politiker Nigel Farage. Die Botschaft der Demonstranten an Letzteren war eindeutig: „Fromage statt Farage“. „Never gonna give EU up“ SLOGAN AUF DER DEMONSTRATION „Shame on you“ SPRECHCHÖRE VOR DEM SITZ CAMERONS Unter den Teilnehmenden, die sich selbst als die „48 Prozent“ bezeichneten – jener Anteil der Wählenden, der nicht für Brexit gestimmt hatte –, waren viele mit schickem Hemd, Kleid oder Sakko bekleidet. Beim „Marsch für Europa“ handelte es sich offensichtlich um einen Protest des eher gut situierten und gebildeten Bürgertums. Auf der Abschlusskundgebung am Parliament Square sprach unter anderem der irische Rockmusiker Bob Geldof, und der beliebte junge englische Kommentator Owen Jones trat ans Mikrofon. Die gemeinsame Botschaft: Der Brexit sei eine Attacke auf das multikulturelle Großbritannien, ein Sieg des Kleinkarierten im Land. Die Redner betonten unisono, dass Großbritannien eine parlamentarische Demokratie sei und in einer solchen das Unterhaus das letzte Wort zum Referendum habe. Die Abstimmung sei als rein beratend zu verstehen. Am gleichen Tag äußerte sich Königin Elizabeth, wenn auch nicht mit direktem Bezug zum Brexit, unmissverständlich zur Lage des Vereinigen Königreiches. Während einer Vorsprache im schottischen Parlament Holyrood empfahl sie allen Briten eine klare und ruhige Haltung, denn in einer zunehmend komplexen und herausfordernden Welt würden Entwicklungen in beachtlicher Geschwindigkeit vor sich gehen. Eines der Kennzeichen von Führungsstärke sei es, dass sie genügend Raum für „ruhiges Nachdenken und Einkehr“ gebe. Dies ermögliche „tiefere, kühlere Überlegungen“ darüber, wie „Herausforderungen und Möglichkeiten“ am besten angegangen würden. Üblicherweise äußert die Queen grundsätzlich nicht zu politischen Entwicklungen. HEBRON | Nach den tödlichen Attacken von Palästinensern auf Israelis hat die israelische Armee die Stadt Hebron und umliegende Dörfer im besetzten Westjordanland abgeriegelt. Ein Militärsprecher sagte, die Maßnahmen und die erhöhte Präsenz der Einsatzkräfte sollten die „Kette tödlicher Attacken durchbrechen“. Am Donnerstag war ein junger Palästinenser in die jüdische Siedlung Kirjat Arba bei Hebron eingedrungen und hatte dort ein 13-jähriges schlafendes Mädchen erstochen. Er wurde von Sicherheitskräften erschossen. Südlich von Hebron schoss am Freitag ein Palästinenser auf das Auto einer israelischen Familie. Bei dem dadurch verursachten Unfall wurden ein Israeli getötet und drei weitere Insassen verletzt. Wie lange die Abriegelung in Kraft bleiben sollte, blieb ebenfalls unklar. (afp) HAMBURG/NÜRN BERG Ex-Boss der MongolsRocker verhaftet HAMBURG | Der untergetauchte frühere Boss der Hamburger Mongols-Rocker ist in Nürnberg verhaftet worden. Das SEK Nordbayern nahm den mit Haftbefehl gesuchten 37-Jährigen am Samstagabend in der Innenstadt fest. Zielfahnder des Hamburger LKA hatten seit gut einer Woche nach dem Mann gefahndet. Er galt als wichtige Figur im Konflikt mit dem konkurrierenden Rocker-Club „Hells Angels“. Das Hamburger Amtsgericht hatte den Mann erst vor knapp zwei Wochen wegen Verstößen gegen das Waffen- und Betäubungsmittelgesetz zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Der Angeklagte müsse nun aber mit einer Haftzeit von drei Jahren rechnen; die Bewährung für eine frühere Haftstrafe werde wohl widerrufen, so das Gericht. Dennoch sei die Strafe nicht so hoch, dass man davon ausgehen müsse, er werde sich ins Ausland absetzen. Der Mann kam gegen Auflagen frei. (dpa) Etwas spät: Liebeserklärungen für die EU, Hassbotschaften an Brexit-Freunde Foto: Daniel Zylbersztajn Lob den jungen Briten, Versprechen an alle Sigmar Gabriel will die EU-Skepsis mit einem Wachstums- und Investitionsprogramm kontern und so die Ungleichheit bekämpfen. Jungen Briten sollen die doppelte Staatsbürgerschaft erhalten können SPD BERLIN taz | SPD-Parteichef Sig- mar Gabriel hat als Reaktion auf den Brexit mehr Investitionen im europäischen Süden gefordert. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt müsse endlich „auch zu einem Wachstumspakt“ werden, verlangte er auf einer SPDKonferenz am Samstag in Berlin: „Wir müssen Europa besser machen“, sagte er. Der SPD-Chef hatte bereits vor wenigen Tagen in einem gemeinsamen Papier mit EUParlamentspräsident Martin Schulz für mehr Investitionen geworben. Unter dem Titel „Europa neu gründen“ heißt es dort: „Das Grundproblem Europas besteht in zu großer wirtschaftli- che und sozialer Divergenz.“ Die zentrale Herausforderung sei es, der „Ungleichheit mit einem dynamisch wachsenden und sozialeren Europa“ zu begegnen. Unklar ist bisher allerdings, wie ein solcher Wachstumspakt finanziert werden soll. In Berlin sprach der SPD-Parteichef davon, dass in Zukunft Konzerne wie Google und Amazon, die sich bisher einer Besteuerung in Europa weitgehend entziehen können, herangezogen werden sollen. Diese scheitert bis dato auch an der Bundesregierung, die im Gegensatz zu Frankreich oder Großbritannien nicht hart gegen die US-Konzerne bei der Besteuerung vorgeht. Gabriel lobte die jungen Briten, die bei dem Brexit-Votum mehrheitlich gegen einen EUAustritt gestimmt hatten. „Sie wussten besser als die britische Elite, dass es um ihre Zukunft ging“, sagte er. Man müsse überlegen, den jungen Briten eine doppelte Staatsbürgerschaft anzubieten. Dass weite Teile der Arbeiterschaft für den EU-Austritt gestimmt hatten, erwähnte Gabriel nicht. In Deutschland will er EU-Skeptiker mit den Vorteilen der Mitgliedschaft überzeugen: „Wir sind doch Nettogewinner. Geht in die Betriebsversammlungen und sagt den Beschäftigten, eure Jobs sind weg, wenn ihr aus Europa austretet.“ Die Vorschläge von Gabriel und Schulz sind bisher nicht abgestimmt, auch nicht mit europäischen Schwesterparteien. Eher vorsichtig äußerte sich Außenminister Frank-Walter Steinmeier auf der SPD-Programmkonferenz. Einige wollten, dass Deutschland eine Führungsrolle übernehme und „den europäischen Karren aus dem Dreck zieht“. Es gebe aber auch Sorge vor deutscher Dominanz. Die Konferenz, zu der rund 300 Sozialdemokraten kamen, war Teil einer Veranstaltungsreihe, bei der die SPD über ihr Bundestagswahlprogramm berät. MARTIN REEH Meinung + Diskussion SEITE 10 Schwerpunkt Gegen die EU MONTAG, 4. JU LI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Nach dem Brexit-Votum hofft die französische Rechte auf Auftrieb. Kommt es in der Europäischen Union zu einem Dominoeffekt? Brexit, Nexit, Öxit, Danexit AUS PARIS RUDOLF BALMER Die jahrhundertealte Rivalität zwischen Frankreich und Großbritannien erklärt zum Teil die Häme in vielen französischen Kommentaren zum Brexit. In den Spott mischen sich schnell die Klischees über die „Roastbeefs“, wie die Engländer gern genannt werden. In den Gesprächen an der Theke heißt es oft, die Briten seien ja nie wirklich in der EU dabei gewesen, ihr Austritt sei verständlich. Und die Folgekosten gönnt man ihnen von Herzen. „Sie sind aus der EM eliminiert, jetzt auch aus der EU – logisch, oder?“, meint ein Fußballfan in der Pariser „Bar des Amis“. Nicht wenige in Frankreich spielen aus Ärger Nicht nur in Frankreich lassen sich Rechtspopulisten vom Brexit inspirieren RAUS BERLIN taz | Nach dem Brexit-Re- ferendum diskutieren mehrere europäische Staaten einen EUAustritt. Die von Rechtspopulisten erhoffte Begeisterung bleibt vielerorts aus. Niederlande „Die Engländer sind aus der EM eliminiert, jetzt auch aus der EU – logisch, oder?“, meint ein Fußballfan über die Politik und die Strukturen der Gemeinschaft mit der Idee einer Abstimmung. „Aber uns fragt ja nie jemand um unsere Meinung …“, kommt wie im Refrain. Ein Pariser Immobilienhändler dagegen reibt sich schon die Hände. Er bekommt angeblich bereits Anrufe mit zusätzlichen Anfragen von betuchten Briten, die ihr Domizil nach Paris verlegen wollten. Nachteile für die eigene Wirtschaft befürchten derzeit offenbar die wenigsten. Zehn Tage danach haben ohnehin schon die meisten anders im Sinn. Nicht so die Einwohner von Calais in Nordfrankreich. Sie erhoffen sich vom Brexit endlich eine Lösung für das Flüchtlingsproblem am Ärmelkanal. Laut dem konservativen Vorsitzenden der nordfranzösischen Region, Xavier Bertrand, wird nun nämlich das 2003 unterzeichnete Abkommen von Touquet hinfällig, mit dem Frankreich für Großbritannien die Grenzkontrolle übernommen und sich damit verpflichtet hat, die Tausende von Migranten und Flüchtlingen auf dem europäischen Festland zu stoppen. Wie Bertrand meinen auch die anderen Politiker, jetzt sollen die Briten gefälligst diesen undankbaren Job selber übernehmen. In der Bevölkerung herrscht Erleichterung. In der Brasserie „Sixties“ meint die frühere Wirtin Valérie G.: „Jetzt werden wir ganz einfach die Kontrollen lockern und die Migranten durchgehen lassen. Auch ein Polizist hat mir gesagt, die Wachsamkeit werde entsprechend gesenkt. Sollen doch die Engländer die Grenzkontrollen auf ihrem Boden machen, wenn sie aus Europa ausscheiden wollen!“ Die anderen nicken zufrieden. Mit der Zahl der Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten, die via Calais um jeden Preis nach Großbritannien übersetzen wollen, aber daran gehindert werden, wuchs mit den Jahren die fremdenfeindliche Stimmung. Auch lokale Politiker, die wie Bürgermeisterin Natacha Bouchart gelegentlich Mitgefühl für das „humanitäre Drama“ gezeigt haben, hoffen , dass dank dem Brexit der „Jungle“ und die anderen desolaten Flüchtlingscamps bei Calais (und den anderen Hafenstädten am Ärmelkanal) verschwin- 03 Irgendwann will sie dort Chefin sein: Marine Le Pen am 25. Juni auf den Stufen des Élysée-Palastes in Paris Foto: Christophe Saidi/dpa Den Champagner kalt gestellt den. Feststimmung herrscht weiterhin an der Rue des Suisses im Pariser Vorort Nanterre: Im Hauptquartier des rechtsextremen Front National hatte Marine Le Pen in gewisser Erwartung des Siegs der Brexit-Anhänger für den Tag nach dem Referendum den Champagner kalt stellen lassen. Sie hatte es geahnt: Eine Mehrheit der Briten würde die Chance nicht ungenutzt vorübergehen lassen, den „Eurokraten“, ihrer eigenen Regierung und Elite eine Abfuhr zu erteilen. Sie fühlt sich ganz im Trend Genau dasselbe erhofft sie sich innigst auch für Frankreich. Sie fühlt sich ganz im Trend und macht schon mit Plakaten Stimmung für eine Volksbefragung in Frankreich. „Brexit – et maintenant la France“ steht darauf als Ankündigung, dass nach dem Brexit „jetzt Frankreich“ an der Reihe sei, Brüssel mit einem Fußtritt in die Wahlurne die Gefolgschaft zu verweigern. Allerdings hat Marine Le Pen keine Zeit mit Feiern zu verlieren: Bald nach dem Brexit-Referendum wurde sie – wie alle anderen führenden Politiker der im Parlament vertretenen Parteien – von Staatspräsident François Hollande im ÉlyséePalast empfangen. Diesem unterbreitete sie zwei Forderungen: Die Regierung solle eine Abstimmung über Frankreichs EU-Mitgliedschaft (und im Fall eines „Frexit“ anschließend auch einen Austritt aus dem Euro) organisieren. Außerdem verlangte sie die Einführung des Verhältniswahlrechts auf nationaler Ebene, damit der FN in der Nationalversammlung seiner Stimmenzahl entsprechend (stark) repräsentiert werde. Marine Le Pen verweist darauf, dass laut einer Umfrage im März dieses Jahres 53 Prozent der französischen Bürger wie FOLGEN Frankreichs Rechtsextremisten fühlen sich durch den Brexit bestärkt. Front-NationalChefin Le Pen drängt nun auf ein Referendum. Doch Präsident Hollande wird sich hüten, seinen unzufriedenen Landsleuten die einmalige Gelegenheit zu bieten, ihren Zorn abzureagieren die Briten über den Verbleib in der EU abstimmen möchten. Der Ausgang einer „Frexit“Abstimmung wäre unberechenbar: Die von der Universität Edinburgh in sechs EU-Staaten durchgeführte Untersuchung belegt, dass die Franzosen nach den Briten am meisten gegen die EU eingestellt sind. Während die Deutschen mit 60, die Polen mit 66 oder die Spanier mit 68 Prozent für die EU-Mitgliedschaft votieren würden, wären es in Frankreich nur gerade 45 Prozent; 33 wären klar für einen „Frexit“ und 22 hätten dazu noch keine eindeutige Position. Nach dem (für die Meinungsforscher überraschenden und kompromittierenden) Ergebnis in Großbritannien könnten sich aber diese Anteile zugunsten der EU-Kritiker verschoben haben. Nur das nicht Beide FN-Forderungen lehnt Hollande aus guten Gründen kategorisch ab. Er will ja nicht als „Zauberlehrling“ wie der britische Premier David Cameron in die Geschichte eingehen. Mit einem „Referendum“, wie man in Frankreich eine Volksabstimmung nennt, gäbe der sehr unpopuläre Staatschef seinen unzufriedenen Landsleuten die einmalige Gelegenheit, ihren ganzen angestauten Zorn abzureagieren. Der Ausgang einer „Frexit“Abstimmung wäre auch so schon unberechenbar. Die Umfragen dazu sind zu widersprüchlich. Klar ist hingegen, dass die Position der EU- und fremdenfeindlichen Populisten in Frankreich vom Brexit gestärkt wird. Darum meint Marine Le Pen in ihrer Analyse, dieselben Themen (natio nale Souveränität kontra EU- Bürokratie, Sicherheit, Immigration und Flüchtlingskrise), die in Großbritannien das Ergeb- nis bestimmt haben, würden ihr in Frankreich zum Triumph verhelfen. Nach der fruchtlosen Unterredung der FN-Führung mit Hollande sagte FN-Vizepräsident Florian Philippot, der britische Präzedenzfall werde bestimmt viele noch zögernde Franzosen zur Nachahmung ermutigen: „Das gibt der Idee, dass man (aus der EU) austreten kann, Kredit und verstärkt die Debatte über Europa in Frankreich. Vielleicht hatten einige wirklich die Frage gestellt, ob das (ein Austritt) überhaupt machbar wäre oder ob das im Gegenteil eine Apokalypse wäre.“ Dass der britische Austritt wegen der negativen Folgen und Kosten die übrigen Mitgliedsländer abschrecken könnte, fürchten die EU-Gegner offenbar nicht. Wegen der Forderung nach einer Rückkehr zu einer uneingeschränkten Souveränität werden die EU-Gegner in Frankreich „Souveränisten“ genannt. Zu ihnen zählen neben dem FN der ebenfalls für die Präsidentschaftswahlen kandidierende Gaullist Nicolas Dupont-Aignan mit seiner Bewegung „France debout“ (die mit der basisdemokratischen „Nuit debout“ gar nichts zu tun hat!) sowie der Ultrakonservative Philippe de Villiers und sein „Mouvement pour la France“. Für sie, wie auch für Nicolas Sarkozys „Les Républicains“, war bisher eine Allianz mit dem FN ein Tabu. Doch die ideologische Annäherung geht – ermuntert durch das Vorbild Brexit – an der Basis der rechten Wählerschaft weiter. Was bis zum letzten Freitag als pure politische Fiktion in Frankreich galt, hat sich mit dem britischen Präzedenzfall geändert. Jetzt geht in Frankreich das Gespenst eines „Frexit“ um – mit der Machteroberung durch Marine Le Pen als Zugabe im politischen Albtraum. Ende Juni stimmte das Parlament in Den Haag über ein Nexit-Referendum ab. Geert Wilders, dessen Partij voor de Vrij heid (PVV) seit Jahren einen EU-Austritt propagiert, hatte einen entsprechenden Antrag gestellt. Nur 14 der 150 Abgeordneten waren dafür. Weniger eindeutig ist die Stimmung in der Bevölkerung. In einer Umfrage kurz vor dem Brexit-Referendum wollten 54 Prozent der Teilnehmenden eine Abstimmung. 48 Prozent davon wären für einen Nexit, 45 dagegen. Die Socialistische Partij (SP) will eine Abstimmung über den EU-Einfluss auf die niederländische Politik. Diesen will sie begrenzen, Gestaltungsoptionen eines sozialeren Europas aber erhalten. Österreich FPÖ-Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer erklärt, er wolle den Öxit, wenn die Weichen in der Union weiter „in Richtung Zentralismus“ stünden. Auch ein EU-Beitritt der Türkei bilde „einen legitimen Grund, das österreichische Volk zu fragen, ob es weiterhin in einem solchen Umfeld bleiben wolle oder nicht“, sagte der Rechtspopulist der italienischen Zeitung Corriere della Sera am Samstag. Finnland „Missä EU, siellä ongelma“ – wo die EU ist, da ist ein Problem. Das ist seit Jahren das Credo von Finnlands Außenminister Timo Soini, der auch Vorsitzender der „Wahren Finnen“ ist. Eine Volksabstimmung hält Soini für „eine gute Sache“. Laut Koali tions vereinbarung soll es eine solche in der laufenden Legislaturperiode aber nicht geben. Kommen bei dem derzeit laufenden Volksbegehren aber 50.000 Unterschriften zusammen, muss das Parlament darüber beraten und entscheiden. In sozialen Medien wird allerdings vor allem darüber gestritten, ob das Ganze nun „Fixit“ oder „Finexit“ heißen soll. Laut einer Umfrage wollen nur 27 Prozent der Bevölkerung eine Volksabstimmung. Zwei Drittel wären bei einem Referendum gegen einen Exit, nur ein Fünftel dafür. Dänemark Enger ginge es wohl bei einer „Danexit“-Abstimmung aus. Die DänInnen würden laut Umfragen nur mit einer knappen Mehrheit von 44 zu 42 Prozent gegen einen Austritt votieren. Ein Referendum fordert aber nur die linke „Einheitsliste“. Zuletzt sei die Bevölkerung 1972 befragt worden, nun solle eine neue Generation ihre Meinung zum EU-Verbleib äußern können. Die EU-kritische „Dänische Volkspartei“ will erst einmal abwarten, wie es mit dem Brexit weitergeht. WOLFF UND TM mit dpa und afp
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