Wenn Mädchen kein sauberes Wasser haben

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Feature
Wenn Mädchen kein sauberes Wasser
haben
Hygienenotstand global
Von Andreas Boueke
Sendung: Mittwoch, 6. Juli 2016
Redaktion: Wolfram Wessels
Regie: Felicitas Ott
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
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ATMO/MUSIK: Flöte
ATMO: lachende Kinder auf Straße
O-TON Florence „To see how people they...:
Spr. Florence:
Die Kinder hier leben im Elend. Es sind einfach zu viele. Deshalb gibt es nicht genug
Wasser. Wenn es doch mal regnet, wird viel Dreck angeschwemmt. Das schmutzige
Wasser macht uns krank.
O-Ton weiter: ...can give people sickness.”
SPRECHER:
Ostafrika: Die fünfzehnjährige Florence [„englische Aussprache“] wohnt in
Namuwongo [„Namuóngo“], einem überfüllten Armenviertel im Zentrum von
Kampala, der Hauptstadt Ugandas.
ATMO: lachende Kinder auf Straße
ATMO/MUSIK: Flöte
ATMO: Fluss
SPRECHER:
Karibik: Die sechszehnjährige Alicia lebt in einer entwaldeten Gegend am Ufer des
Artibonite [„Artibonít“], dem Grenzfluss zwischen den karibischen Staaten Haiti und
der Dominikanischen Republik.
O-TON Alicia: „...spricht Kreol...”
Spr. Alicia:
Hier gibt es keine Bäume mehr. Deshalb regnet es viel zu selten. Aber ich will auch
nicht das Wasser aus dem Fluss trinken. Es macht mir Angst. Ich habe gesehen, wie
Tiere starben, nachdem sie am Ufer getrunken haben.
ATMO: Vogelstimmen im Wald
SPRECHER:
Mittelamerika: Die fünfzehnjährige Analí lebt in dem Dorf La Choleña [„la tscholénja“]
in den Wäldern Guatemalas. Noch gibt es in der Umgebung gutes Wasser, aber seit
kurzem schürft dort ein kanadisches Unternehmen nach Gold
ATMO: Maschinen im Wald
SPRECHER:
Viele Anwohner protestieren gegen das Minenprojekt. Sie sorgen sich um die
Qualität ihres Grundwassers. Analí macht mit, …
O-TON Analí: „Para que no distruyan...
Spr. Analì:
… damit sie unsere Umwelt nicht zerstören, sonst haben wir bald kein Wasser mehr.
Oder wir können das verschmutzte Wasser nicht trinken und für all die Dinge nutzen,
für die man Wasser braucht.
1
O-Ton weiter: ...uno utilisa el agua.“
ATMO/MUSIK: Flöte
Ansage:
Wenn Mädchen kein sauberes Wasser haben
Hygienenotstand global
Feature von Andreas Boueke
ATMO/MUSIK: Flöte
ATMO: Frauen lachen, Baby weint laut
ATMO: Florence: „This is the channel which come from the other side. We see dirty
water plus dirty rubbish on it.”
SPRECHER:
In den Gassen des ugandischen Slums Namuwongo. Florence hüpft flink über
Pfützen und schlängelt ihren dürren Körper vorbei an schwitzenden Marktfrauen,
rostigen Fahrrädern und spielenden Kindern.
O-TON Florence: „People here now they...
Spr. Florence:
Viele Leute in Kampala verdienen ihr Einkommen auf der Straße. Einige verkaufen
Bananen, andere haben was zu essen gekocht. Sie brauchen Geld, um ihren
Familien zu helfen.
O-Ton weiter: ...are like that.”
ATMO: Straße mit aggressiver Musik
SPRECHER:
An einigen morastigen Stellen muss man über morsche Bretter balancieren. Wer
abrutscht, sinkt knöcheltief in schmutziges Wasser.
ATMO: Florence: „To cross? The reason why they have put these things, so that no
one should step on this dirty water.”
ATMO/MUSIK: „Bunyoro” aus Uganda
SPRECHER:
Uganda gehört zu den Ländern mit dem höchsten Bevölkerungswachstum der Welt.
Im Schnitt sind die Menschen so alt wie Florence: fünfzehn.
Sie ist im Norden des Landes zur Welt gekommen, nahe der Grenze zum Südsudan.
Schon als Kleinkind half sie ihrem Bruder beim Ziegenhüten. Später lernte sie, den
Maniok auf dem Feld neben der Hütte zu ernten, Körbe aus Stroh zu flechten, und
Fladenbrot auf offenem Feuer zu backen. Doch dann kamen bewaffnete Männer ins
Dorf, drangen in die Hütten ein, legten sich zum Schlafen in die besten Betten,
schlachteten Ziegen und schossen mit Steinschleudern und Gewehren auf Büchsen
und Hühner.
2
ATMO/MUSIK: „Bunyoro” aus Uganda
SPRECHER:
Nach ein paar Tagen war plötzlich Gloria verschwunden, die älteste Schwester von
Florence. Sie ist nie wieder aufgetaucht. Wenig später zog die Familie in ein anderes
Dorf. Dort starben die Eltern, erst die Mutter, dann der Vater.
O-TON Florence: „My father also died...
Spr. Florence:
Mir hat nie jemand erklärt, woran sie gestorben sind. Einige sagen, es sei wohl ein
Unfall gewesen. Von einer Krankheit war keine Rede, aber vielleicht haben sie
gelogen.
O-Ton weiter:
...so that I do not know anything.”
ATMO/MUSI: „Bunyoro” aus Uganda
ATMO: Wasser kommt aus Leitung, Kinderstimmen
SPRECHER:
In dem Slum Namuwongo gibt es nur eine einzige Stelle, an der die vielen Menschen
ihre Plastikeimer mit Leitungswasser füllen können. Meist sind es Mädchen, die sich
in die lange Warteschlange einreihen. Die Weltgesundheitsorganisation konstatiert,
dass sauberes Wasser und Sanitäranlagen unerlässlich sind für die Gesundheit von
Kindern. Doch eine Milliarde Menschen weltweit haben nicht einmal eine
funktionierende Toilette.
ATMO:
in Hütte, Babystimme, Menschen auf Straße
O-TON (mit viel Atmo), Florence: „The house is just...
Spr. Florence:
Das hier ist unsere Hütte. Wir haben kein Licht. Eigentlich haben wir gar nichts. Wir
haben kein Wasser, wir haben kein Klo. Man kann ja sehen, dass dieses Haus nicht
OK ist.
O-Ton weiter: ...house is not OK.”
SPRECHER:
Wenn Bewohner von Namuwongo, die keine eigene Toilette besitzen, eine nutzen
wollen, müssen sie zahlen. Eine katholische Menschenrechtskommission hat
festgestellt, dass diese Kosten eine der entscheidenden Ursachen für die
Unterernährung vieler Kinder in den Slums von Kampala sind. Einer der Autoren des
Berichts, der Ökonom Alfred Avuni, bestätigt: Eltern lassen ihre Kinder hungern,
damit sie seltener die Toilette nutzen.
3
O-TON, Alfred Avuni: „From our study, over sixty...
Spr. Alfred Avuni:
Über sechzig Prozent der Einwohner Kampalas leben in Slums, in denen die meisten
Hütten keine Toiletten haben. Wenn es doch eine gibt, dann wird die von
durchschnittlich 25 Personen genutzt.
O-Ton weiter: ...used by about 25 people.”
ATMO: Kind weint, Eimer scheppert
SPRECHER:
In dem Bretterverschlag ihrer Tante Alice wohnt Florence zusammen mit 24 weiteren
Kindern und Jugendlichen. Sie alle schlafen in zwei etwa sechs Quadratmeter
großen Räumen. Alice Ndagire erklärt in ihrer Muttersprache Luganda, dass nur drei
der Kinder ihre eigenen sind.
O-TON Alice: „...spricht Luganda...”
Spr. Alice:
Alle meine Geschwister sind gestorben. Ich bin die einzige, die übrig geblieben ist.
Deshalb sind meine Nichten und Neffen zu mir gekommen. Aber einmal hat es so
stark geregnet, dass die Hütte davon geschwemmt wurde. Dabei ist eines der Babys
gestorben.
SPRECHER:
Auch jetzt beginnt es zu regnen. Erst nieselt es nur leicht auf das Wellblechdach,
doch schon bald stürzen große Wassermengen vom Himmel.
ATMO: heftiger Regen auf Wellblechplatten
SPRECHER:
Manchmal werden die Gassen und die Fußböden der Hütten Namuwongos von
Regenwasser überschwemmt. Doch wenn es lange überhaupt nicht regnet, ist das
auch nicht gut, meint Brenda, die Cousine von Florence. Dann bleiben die staubigen
Wege Monate lang trocken und der menschliche Unrat wird nicht weggespült.
O-TON, Brenda: „We don’t have toilets, that’s a fact...
Spr. Brenda:
Wir haben keine Toiletten. Deshalb gibt es so viele Probleme mit Typhus, Cholera
und Malaria. Diese Krankheiten breiten sich aus, weil es hier keine Latrinen gibt,
keine Klos und nicht einmal Duschen.
O-Ton weiter: ... and toilets, even bathrooms.”
SPRECHER:
Durch die beiden Räume der Hütte sind mehrere Wäscheleinen gespannt, an denen
große Mengen Kinderkleider zum Trocknen hängen. Auch deshalb ist die Luft so
feucht. Das gefällt den Moskitos.
4
O-TON Brenda: „We are suffering a lot cause...
Spr. Brenda:
Wir bekommen ständig Malaria. Zwar gibt es in der Nähe ein kirchliches
Krankenhaus, in dem die Behandlung nichts kostet, aber dorthin kommen viel zu
viele Patienten. Die Ärzte sind sehr streng. Einmal hat mir eine Krankenschwester
gesagt: „Fass' mich nicht an! Du kannst mir ja nicht mal ein Stück Seife kaufen. Auf
keinen Fall fasst Du meine Kleider an. Wenn Du das machst, kriegst du keine Hilfe.”
Ich habe geantwortet: „Es tut mir Leid. Entschuldigung.” Aber sie schimpfte weiter:
„Für deine Entschuldigung kann ich mir nichts kaufen.”
Ich habe mich so mies gefühlt. Aber wir hatten ja kein Geld für die Behandlung. Da
blieb mir nichts anderes übrig, als die Situation auszuhalten.
O-Ton weiter: ...bare with the situation.”
ATMO: Schritte, Brenda: „Here behind I want to show you.”
SPRECHER:
Direkt hinter der Hütte liegt eine Brache, eine Art Müllhalde, durch die ein breiter
Kanal führt. Hier wird Brenda ihren Unrat in Plastiktüten los, die sie luftdicht
verknotet.
O-TON Brenda: „We use the porifen bags...
Spr. Brenda:
Dann werfen wir die Beutel in den Kanal. Der spült sie weg. Aber manche Kinder
gehen einfach um die Ecke und machen es dort.
O-Ton weiter: ...there behind and do it there.”
SPRECHER:
Wenn das Wasser des Kanals über seine Ufer tritt, werden die Exkremente in die
Hütten geschwemmt.
O-TON Brenda: „Sometimes it is when...
Spr. Brenda:
Dem Wasser ist es egal, ob es über deine Pfannen und Teller fließt. Das macht
natürlich Probleme, Krankheiten. Es ist schlimm, auch weil es so stinkt.
O-Ton weiter: ...cause it is smelling.“
ATMO: Schritte durch Gassen
SPRECHER:
Die wenigen Toilettenräume in der Umgebung gehören Privatpersonen. Einige
machen Profite mit der Notdurft. In einem gammeligen Toilettenbau gibt es zwölf
kleine Kabinen aus Schimmel-befallenen Steinen, morschen Brettern und rostigem
Wellblech. Davor sitzt ein älterer Mann auf einem verdreckten Plastikstuhl. Die
Toiletten gehören nicht ihm, er passt nur auf, dass auch alle bezahlen.
ATMO: Stimmen, Münzenklingen, Husten
5
SPRECHER:
Schon taucht ein Kunde auf, ein muskulöser Mann in rotem Sportanzug. Er gibt dem
Toilettenmann eine hundert-Schilling-Münze.
ATMO: Kunde: (lacht) „That is normal, I am going inside.”
Frage: „Why?”
Kunde: „I am going to easy myself.”
ATMO: Türen öffnen in Toilette, Schritte, Atmo draußen
SPRECHER:
Florence war noch nie in dieser Toilettenanlage. Dafür hat sie kein Geld. Neugierig
schaut sie sich die Kabinen aus der Nähe an. Es gibt keine Kloschüsseln, nur eine
Öffnung in einem zementgegossenen Deckel. Darunter ist ein großes Loch im
Boden, das alle paar Wochen geleert werden muss.
O-TON Florence: „This toilet it is dirty...
Spr. Florence:
Diese Toilette ist schmutzig. Sie wird nur morgens gesäubert. Nur ein einziges Mal.
O-Ton weiter: ...times. They clean ones.”
ATMO: Fliegen surren
SPRECHER:
Für die meisten Familien in Namuwongo bedeuten die Kosten für grundlegende
Hygieneartikel wie Seife und Toilettenpapier eine große finanzielle Belastung, die sie
sich oft nicht leisten können. Auch deshalb sterben viele Kleinkinder an
Magendarminfektionen. Doch meist wird die Todesursache gar nicht festgestellt. In
Namuwongo gibt es keine realistischen Statistiken über die Verbreitung von
Krankheiten - und auch keine effektive Seuchenprävention.
ATMO: Hände waschen in Wasser, Hände reiben
SPRECHER:
Zumindest kann man sich vor der Toilettenanlage unter einem Wasserhahn die
Hände waschen.
O-TON Florence: „I feel bad bad...
Spr. Florence:
Ich finde es furchtbar hier. Ich weiß auch nicht, wo die Mädchen hingehen sollen.
Manche gehen in diese Kabine, andere dort drüben hin. Jeder kann reinkommen, ob
Junge oder Mädchen. Das ist wohl egal.
O-Ton weiter: ...they don’t mind.”
SPRECHER:
Dass die Toiletten für Männer und Frauen nicht getrennt werden, ist ein großes
Problem.
6
O-TON Florence: „Here I am not comfortable...
Spr. Florence:
Ich fühle mich nicht wohl hier, weil die Männer immer die Mädchen anhalten. Ich
hasse es, dass diese Männer Frauen vergewaltigen und sie dann einfach schwanger
und allein zurücklassen.
O-Ton weiter: ...and they leave them there.”
ATMO: ruhige Atmo draußen, Kinderstimmen
SPRECHER:
Eine ältere Frau in einem weiten, bunten Kleid kommt näher.
ATMO: Florence: „There is Dusawe Miram. She is my neighbor and she is the
coordinator of the hygiene. Let's talk to her.” (ATMO)
SPRECHER:
Florence und Brenda knien sich ehrfürchtig auf den Boden und beugen ihre Köpfe
zum Gruß. Miriam Dusawe ist die Kommissarin für Hygienefragen des
Selbsthilfekomitees im Viertel. Sie macht sich Sorgen um den hygienischen Notstand
in Namuwongo, unter dem vor allem die Mädchen leiden.
O-TON, Miriam Dusawe „spricht Luganda”...
Spr. Miriam Dusawe:
Niemand spricht mit ihnen über die Infektionsgefahren. Die meisten wissen gar nicht,
wie wichtig es gerade für uns Frauen ist, sich regelmäßig zu waschen. Und selbst
wenn sie es wissen, ändert das nicht viel an ihrer Situation. Hier gibt es ja keine Orte,
an denen sie sich ungestört um ihre Hygiene kümmern könnten. Überall müssen sie
damit rechnen, von Männern beobachtet zu werden. Und wenn ein Mann erstmal die
nackte Haut eines Mädchens sieht, verliert er alle Hemmungen.
SPRECHER:
Auch in ihrer eigenen Hütte haben die meisten Mädchen keine Privatsphäre.
O-TON Florence: „If now you have small...
Spr. Florence:
Wenn du in einem kleinen Raum mit vielen Leuten wohnst, dann kannst Du dich
nirgendwo umziehen. Du musst warten, bis es Nacht wird. Ich mag mich nicht
umziehen, wenn meine Cousins da sind. Zum einen, weil ich mich schäme, und zum
anderen, weil es mir Angst macht.
O-Ton weiter: ...they are there.”
SPRECHER:
Florence verdient ein wenig Geld mit Kunsthandwerk. So kann sie ihre Tante Alice
unterstützen. Sie möchte von niemandem abhängig sein, schon gar nicht von einem
Mann. Auch von der Regierung erwartet sie keine Hilfe. Zwar kennt sie das kleine
Gebäude der Bezirksbehörde am Rande des Armenviertels, aber sie hat noch nie mit
den Leuten dort gesprochen.
ATMO: Männer in Büro, draußen Autoverkehr
7
SPRECHER:
Das Amt wird gerade renoviert. Drei kräftige Männer erneuern den Kalkputz an den
Wänden. Das Büro der Bezirkskommissarin Yaquelin Soweo ist schon fertig. Sie sitzt
auf einem ledergepolsterten Schreibtischsessel und zeigt kein großes Interesse für
die Lage der Mädchen in dem Slum nebenan.
O-TON Yaquelin Soweo: „They are just like...
Spr. Yaquelin Soweo:
So sind sie eben: erst kriegen sie Kinder, dann überlassen sie die Babys ihren
Müttern. Einfach so. Und diese Kinder werden später auch so. Es gibt viele
Mädchen, die nichts lernen wollen. Wer motiviert ist, geht zur Schule. Wenn sie keine
Eltern haben, bekommen sie Hilfe von einer Nichtregierungsorganisation. Aber wenn
du ihnen sagst: „Ihr solltet was lernen. Das ist eure Zukunft“, dann antworten sie:
„Ach, wir haben keine Lust.“ Die Regierung gibt sich Mühe, aber die Mädchen laufen
einfach weg. Auch die Nichtregierungsorganisationen geben sich Mühe, aber wenn
die Mädchen nicht mitmachen wollen, kannst Du nur scheitern.
O-Ton weiter: ...want. So we fail.”
ATMO: Männer in Büro, draußen Autoverkehr
SPRECHER:
Wahrscheinlich wird die Regierungsvertreterin nicht lange auf dem Posten bleiben.
Sie mag die Umgebung nicht.
O-TON Yaquelin Soweo: „Of course, for us we grow...
Spr. Yaquelin Soweo:
Leute wie ich sind in einer Familie aufgewachsen, in der wir nicht einmal wissen,
dass es Menschen gibt, die so leben. Das habe ich erst hier gesehen. Mein Vater
war ein Doktor. Als Tochter von so einem Mann wächst du in einer guten Familie in
einem schönen Haus auf. Genau das möchte ich für meine Kinder.
O-Ton weiter: ...also to grow the same.”
SPRECHER:
Auch Florence und Brenda wünschen sich, eines Tages in einem Haus mit eigenem
Badezimmer zu wohnen. Manchmal, wenn Brenda ihre Mutter ins Stadtzentrum auf
Behördengänge begleitet, sieht sie solche Häuser, in denen es richtige WCs gibt, mit
Plastiksitz und Spülkasten.
O-TON Brenda: „Now if you go and see...
Spr. Brenda:
Wenn du so eine gute Toilette siehst, so eine, auf die du dich setzen kannst, dann
denkst du dir: Das ist wie ein Wunder.
O-Ton weiter: ...it is just a miracle.”
ATMO/MUSIK: „Bunyoro” aus Uganda
ATMO: Meeresrauschen
8
SPRECHER:
Zwölftausend Kilometer entfernt:
Auch in Haiti gibt es Orte, an denen die Menschen keine Toiletten haben.
ATMO: Musik, Männerstimmen
SPRECHER:
Im Schatten einer schwarzen Plastikplane hocken vier junge Männer und starren auf
ein Brett im Staub. Sie spielen Domino. Keiner hat Arbeit. In der Gegend gibt es
niemanden, der sie einstellen könnte. Die Siedlung Parc Cadeau [„Parkadó”] liegt in
der Nähe der Südküste Haitis auf einem Hügel oberhalb von Anse-á-Pitre
[französisch-nasales „An..” - „Ansapítre” ], einem verarmten Zwanzigtausend-SeelenOrt an der Grenze zur Dominikanischen Republik.
ATMO: Musik, Männerstimmen
SPRECHER:
Ein Mädchen kommt vorbei. Die Männer schauen zu ihr hinüber. Einer kommentiert
ihre hübschen Beine.
ATMO: Alicia ruft
ATMO: schnelle Schritte
SPRECHER:
Die sechzehnjährige Alica [„Alíßia”] ist auf ihrem Weg zum Wasserholen. Sie grüßt
die Jungen auf Kreol, der Sprache der meisten Haitianer.
O-TON, Alicia: „... spricht Kreol...”
Spr. Alicia:
Mein Großvater konnte sich noch an die Zeit erinnern, als es hier Quellen gab,
Wälder und Äcker. Heute gibt es keine Bäume mehr, das Wasser ist versiegt und der
fruchtbare Boden weggespült.
ATMO: schnelle Schritte
SPRECHER:
Ein paar hartnäckige Büsche und stachelige Kakteen widersetzen sich den widrigen
Umständen der staubigen Landschaft.
Alicia läuft über ausgetretene Pfade bis zu einer Stelle, an der Wasser aus einem
faustdicken Plastikrohr fließt, das ein Ingenieursteam der Europäischen Union vor
drei Jahren verlegt hat. Das Wasser kommt aus einem mehrere Kilometer entfernten
Flussabschnitt. Doch ein Filtersystem war nicht Teil des Projekts, obwohl das Wasser
aus demselben verseuchten Fluss stammt, der an Parc Cadeau vorbeifließt.
ATMO: Alicia säubert Plastikeimer mit Sand
SPRECHER:
Bevor Alicia ihren Plastikeimer mit Wasser füllt, reibt sie ihn mit Sand sauber.
9
O-TON, Alicia: „...spricht Kreol...”
Spr. Alicia:
Mein Vater schimpft, wenn ich nicht glasklares Wasser nach Hause bringe. Aber
einige Leute sagen, das Wasser aus dem Rohr sei verseucht. Vielleicht haben
deshalb so viele Menschen Durchfall und sterben.
ATMO: an Wasserstelle
SPRECHER:
Die Wasserstelle ist ein sozialer Treffpunkt. Alle Kinder, Frauen und Männer, die hier
warten, kennen das Gerücht, dass das Wasser aus dem weißen Rohr mit
gefährlichen Bakterien verseucht sei. Doch was bleibt ihnen anderes übrig als zu
hoffen, dass es zumindest etwas gesünder ist als das Wasser aus dem Fluss, in dem
sie baden und ihre Wäsche waschen?
ATMO: Wasser fließt in Eimer
SPRECHER:
Alicia hat ihren Eimer gefüllt. Nach ihr ist ein sehr schmutziger Mann an der Reihe. Er
wäscht sich die Hände, die Füße, das Gesicht.
O-TON Oscar: „Miseria aquí esta matando...
Spr. Oscar:
Unser Elend interessiert niemanden, dieses Elend, das uns den Tod bringt. Alle
sprechen von der Cholera. Aber in Wirklichkeit sterben wir an Hunger: die Kinder
verhungern, die Erwachsenen, die Jugendlichen. Und niemand tut etwas. Die
haitianische Regierung hat gesagt, sie würde unser Problem lösen, aber nichts ist
passiert. Wir alle werden sterben, denn hier gibt es nichts mehr, das uns am Leben
hält. Nicht einmal ein paar Kräuter oder Bananenstauden. Kein Zuckerrohr, das die
Kinder kauen könnten. Alle Welt hat eine Regierung, die ihnen hilft, aber uns hilft
niemand, obwohl wir verhungern.
O-Ton weiter: ...va a morir de hambre.“
SPRECHER:
Der Mann heißt Oscar Lima. Er spricht nicht Kreol, sondern Spanisch, die Sprache
von Haitis Nachbarland auf der Insel, der Dominikanischen Republik. Oscar Lima ist
einer von rund tausend Migranten, die aus der ehemals kleinen Siedlung Parc
Cadeau ein großes, informelles Lager gemacht haben. Täglich kommen neue
Flüchtlinge hinzu, Menschen haitianischer Herkunft, die über Jahrzehnte in der
Dominikanischen Republik gelebt haben, zum Teil in der zweiten, dritten Generation.
Doch im Jahr 2015 begann die dominikanische Regierung mit einem
Deportationsprogramm. Daraufhin sind viele aus Angst nach Haiti geflohen, obwohl
sie das Land ihrer Großväter nur aus Erzählungen kannten. Nach Parc Cadeau sind
rund hundert solcher Flüchtlingsfamilien gekommen.
ATMO: Stimmen, Lachen
SPRECHER:
Die blauen Plastiklatschen von Oscar Lima, sein kurzes Hemd und die zerrissene
Hose sind übersät mit schwarzer Asche. Er hat den Tag über Holzkohle produziert.
10
O-TON Oscar: „Cargarlos para llevarlo...
Spr Oscar:
Eben gerade habe ich einen Sack voll Kohle nach Anse-á-Pitre getragen und ihn für
zwei Pfund Reis eingetauscht. Würde ich das nicht machen, hätten wir heute
überhaupt nichts zu essen. Aber wenn wir nichts essen, verhungern wir. Deshalb
komme ich um sechs Uhr Morgens aufs Feld, zum Wurzelngraben.
Wieviel Uhr ist es jetzt? - Vier Uhr nachmittags.
Bisher habe ich noch nichts gegessen. Niemand in meiner Familie hat etwas
gegessen.
O-Ton weiter: ...de mi familia mia tampoco.“
SPRECHER:
Er hat eine kleine Plastiktüte voll Reis in der Hand.
O-TON Oscar: „Adonde yo tengo seis hijos, y la mujer mia, siete, yo, ocho. Entonces
mira (Tüte raschelt) esto para ocho gente.”
Spr. Oscar:
Ich habe sechs Kinder, mit meiner Frau sind wir sieben. Ich, acht. Schau' her, dies
bisschen Reis ist für acht Personen.
SPRECHER:
Während des kühleren Morgens hat Oscar auf einem nahegelegenen Hang
Baumwurzeln aus der Erde geholt und sie zu Holzkohle verarbeitet. Auch jetzt noch
graben dort einige Männer Löcher in den Boden.
ATMO: Schläge mit Hacke
SPRECHER:
François, ein dürrer Mann, der viel jünger ist als er aussieht, ist sich bewusst, dass
seine Arbeit dem geschundenen Ökosystem einen weiteren Todesstoß versetzt.
O-TON, François: „... spricht Kreol...”
Spr. François:
Aber was sollen wir machen? Es tut mir weh, all die Löcher zu sehen, die wir
hinterlassen. Ich würde viel lieber etwas pflanzen. Aber hier wächst nichts mehr. Uns
bleibt nichts anderes übrig, als Holzkohle zu produzieren. Es ist ein Elend.
ATMO: Schläge mit Stein
SPRECHER:
François schlägt mit einem schweren Stein gegen alte Baumstümpfe.
Es gab eine Zeit, da war Haiti mit seinen boomenden Zuckerplantagen die reichste
Kolonie Frankreichs. Heute ist es die ärmste und am meisten entwaldete Nation des
amerikanischen Kontinents.
Alicia weiß nur wenig über die Geschichte ihres Landes. Sie hat ihr gesamtes Leben
in Parc Cadeau verbracht.
Traurig schaut sie den grabenden Männern bei der Arbeit zu.
11
O-TON, Alicia: „...spricht Kreol...”
Spr. Alicia:
Natürlich ist es nicht gut, dass sie die letzten Wurzeln aus der Erde holen. Das ist so,
als würden sie die Erinnerung an eine bessere Zeit ausgraben und zu Holzkohle
verarbeiten.
ATMO: Mann spricht Kreol, „...colera, Anse-á-Pitre...“, Schritte
SPRECHER:
Eine halbe Stunde Fußmarsch von dem staubigen Feld entfernt steht die Kirche der
Gemeinde von Pastor Bilma Tham. Der fromme Mann bringt manchmal ein paar
Pfund Reis in das Lager Parc Cadeau und predigt über Gottes Hoffnungsbotschaft.
O-TON, Pastor Bilma Tham: „...spricht Kreol...”
Spr. Pastor:
Die Leute dort sehen keine Zukunft. Sie denken nicht weiter als bis zum nächsten
Tag. Denn sie wissen nicht, ob sie morgen etwas essen werden. Außerdem haben
sie kein Wasser, denn das Wasser aus dem Fluss macht sie krank.
SPRECHER:
In ganz Haiti stößt man auf dasselbe Problem.
O-TON Pastor Bilma Tham: „...spricht Kreol...”
Spr. Pastor:
Ich kenne viele Orte, an denen die Leute zehn, zwölf Kilometer weit laufen, um
Wasser zu holen. In meinem Heimatdorf Enmapu gab es früher einen Fluss mit
gutem Wasser. Aber dann hat es aufgehört zu regnen und eines Tages war das
Flussbett leer. Jetzt gibt es auch dort kein Wasser mehr.
ATMO: im Büro
SPRECHER:
Vier Stunden Autofahrt entfernt, auf der anderen Seite der Grenze in Santo Domingo,
der Hauptstadt der Dominikanischen Republik.
Die britische Sozialwissenschaftlerin Bridget Wooding sitzt in einem Büro, an dessen
Wänden Luftaufnahmen der Insel hängen. Auf den Bildern ist deutlich zu erkennen,
wie weit die Entwaldung im Nachbarland Haiti fortgeschritten ist.
O-TON Bridget Wooding: „The use of charcoal...
Spr. Briget Wooding:
Die Produktion von Holzkohle ist ein Grund dafür, dass so viele Waldgebiete zerstört
wurden. Das hat zur nahezu vollständigen Entwaldung des Landes geführt.
O-Ton weiter: ...and forest cover.”
SPRECHER:
Internationale Umweltorganisationen schätzen, dass 98 Prozent des ursprünglichen
Waldbestands Haitis abgeholzt worden sind. Auch deshalb ist der Niederschlag auf
der haitianischen Seite der Insel so gering.
12
O-TON Bridget Wooding: „The issue of water...
Spr. Briget Wooding:
Das Ergebnis ist Wassermangel. Die haitianische Regierung hat es nie geschafft, ein
funktionierendes System für Naturreservate durchzusetzen. Der wichtigste Fluss des
Landes, der Artibonite [„Artibonít“], führt immer weniger Wasser. Und in Haiti sind
rund fünf Millionen Menschen von seinem Wasser abhängig.
O-Ton weiter: ...some 5 million people.”
SPRECHER:
Aber der Artibonite bringt den Menschen nicht nur Leben, sondern auch Tod. Er hat
den Choleraerreger in die Küstenregion um Antes-á-Pitre gespült. Bis zum Januar
2010 war Haiti von der Choleraplage verschont geblieben. Dann haben nepalesische
Soldaten der Vereinten Nationen ihre verseuchten Latrinen in den Fluss entleert.
Seither haben sich rund eine Millionen Menschen infiziert. Mindestens zehntausend
sind gestorben. Es ist die schlimmste Choleraepedemie der jüngeren
Menschheitsgeschichte.
O-Ton weiter: ...obviously would need to be addressed.”
ATMO: Kinderstimmen, spielen mit Blechreifen
SPRECHER:
Doch in Parc Cadeau kümmert sich niemand um Vorbeugemaßnahmen. So trägt
Alicia jeden Tag ihren vollen Eimer zurück ins Lager, ohne zu wissen, ob das Wasser
Cholera-verseucht ist oder nicht.
ATMO: im Camp, Stimmen von Leuten
SPRECHER:
Das Mädchen stellt den Eimer in einen Verschlag mit Wänden aus Wellblechplatten
und Plastikmüll, die Küche ihrer Familie. Ein paar Schritte dahinter steht ein weiterer
kleiner Raum. Alica öffnet die Tür.
O-TON Alicia: (Atmo Tür geht auf) „...spricht Kreoll,...un toilet...“
Spr. Alicia:
Dies ist unsere Toilette. Sie ist nicht schön. Wir haben kein Wasser. Deshalb riecht
es auch so. Aber wir tun unser Bestes, um alles sauber zu halten.
SPRECHER:
Über dem Loch im Boden liegt der Deckel einer Blechtonne. Die meisten anderen
Bewohner Parc Cadeaus haben keine Latrine. Sie gehen einfach hinter den
nächsten großen Felsen.
ATMO: Trommel, Klapper
SPRECHER:
In Alicias kleinem Schlafraum steht eine große Trommel. Sie schlägt ein paar Takte.
ATMO: Trommel, Klapper, Singen beginnt
13
SPRECHER:
Plötzlich beginnt draußen jemand zu singen.
ATMO: Frau singt, Klatschen
SPRECHER:
Innerhalb weniger Augenblick versammeln sich viele Menschen vor der Hütte. Sie
singen fröhlich mit.
ATMO: Alicia spricht Kreol
SPRECHER:
Alicia sagt, sie liebe Musik, weil sie ihr Hoffnung macht.
ATMO: Trommel, Gesang, Stimme von Alicia
SPRECHER:
Auch ihre Mutter singt mit, während sie gebückt über einem Bottich voller
Seifenlauge steht und Kleider wäscht.
ATMO: Frau lacht beim Kleiderwaschen
SPRECHER:
Das wenige Wasser ist genauso braun wie der nasse Erdboden, auf dem sie steht.
Es stammt auch aus dem Artibonite, dem mit 240 Kilometern längsten Fluss der
Insel. Bevor er an Parc Cadeau vorbeifließt, leiten die Bewohner Hunderter
Siedlungen und Dörfer ihren Unrat in sein Wasser.
ATMO: Alicia spricht, lacht, Frauenstimmen, Lachen
SPRECHER:
Eine der Nachbarinnnen von Alice ist eine alte Frau, die meist reglos auf einem Tuch
vor ihrer Hütte sitzt.
O-TON Alicia: „Mami...fragt auf Kreol, ”
Spr. Alicia:
Du bist krank. Was hast du?
Frau antwortet auf Kreol: „...”
Spr. Frau:
Ich habe viele Krankheiten. Deshalb bin ich auch blind. Der ganze Körper tut mir
weh, alle Knochen.
Alicia fragt auf Kreol: „...hospital...“
Spr. Alicia:
Warst Du schon im Krankenhaus?
Frau antwortet auf Kreol: „...”
Spr. Frau:
Das kann ich mir nicht leisten.
14
SPRECHER:
Eigentlich sollte die Behandlung in dem öffentlichen Krankenhaus von Anse-á-Pirtre
nichts kosten. In der Praxis aber müssen alle Patienten zahlen. Wer kein Geld hat,
wird abgewiesen. Auch Totkranke.
ATMO: LKW fährt vorbei
SPRECHER:
Mitten durch das Lager Parc Cadeau führt eine Staubpiste, über die täglich
zahlreiche Lastwagen des Roten Kreuzes oder einer UNO-Mission fahren. Haiti ist
das einzige Land der Welt, in dem die Vereinten Nationen in Friedenszeiten einen
jahrelangen Militäreinsatz durchführen. Der soll helfen, die Politik und Wirtschaft des
Landes zu stabilisieren.
Bis vor wenigen Wochen war auch in Anse-á-Pitre eine Truppe stationiert. Doch
außer des Staubs, den die Laster aufwirbeln, sehen die Menschen in Parc Cadeau
kein Ergebnis der Arbeit der Vereinten Nationen.
Nach dem Abzug der Blauhelme sind zivile UNO-Mitarbeiter in die ehemalige
Militärbaracke gezogen.
ATMO: Klopfen, Andreas: „Bonjour...“
junger Mann „Bonjour … spricht Kreol.“
Spr: junger Mann:
Wir sind eine Gruppe des UNO-Entwicklungsprogramms für Frauen und arbeiten zu
Familienplanung. Sie sollten mit der Ärztin Pamela Merisma [„Merísma“] sprechen.
SPRECHER:
Genau genommen ist die junge Frau noch keine Ärztin. Der Einsatz in Anse-á-Pitre
ist Teil ihres Medizinstudiums, doch mit den Symptomen der Cholera kennt sie sich
aus.
O-TON Pamela Merisma: „...spricht Fransösisch/Kreol...”
Spr. Pamela:
Die sind auf der ganzen Welt dieselben. Es beginnt mit Erbrechen und Durchfall, der
wie Reiswasser ausssieht und wie verdorbener Fisch riecht. Manche Kranke müssen
dreißig bis vierzig Mal am Tag auf die Toilette. Das kann zu Dehydration führen. Die
meisten Cholerapatienten sterben an Wassermangel.
SPRECHER:
Lebensbedingungen wie die in Parc Cadeau waren der jungen Medizinerin bisher
völlig fremd. Sie selbst wohnt mit ihren Eltern in Petionville [„Pétionvíl”], einer
privilegierten Gegenden im Osten der Hauptstadt Port-au-Prince.
O-TON Pamela Merisma: „...spricht Fransösisch/Kreol...”
Spr. Pamela:
Ich als Haitianerin war erstaunt, sowas zu sehen. An solche unwirtlichen Orte bin ich
nicht gewöhnt. Das ist schon erschreckend. Trotzdem bleibe ich hier und mache
meine Arbeit.
ATMO: lautere Stimmen im Lager
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SPRECHER:
Alicia wiederum kann sich das Leben der Menschen in den schicken Stadtteilen von
Port-au-Prince kaum vorstellen. Sie war noch nie jenseits der Hügel um Anse-á-Pitre.
Die meisten ihrer Angehörigen wohnen in der Nähe. Heute besucht sie ihre Tante
Noimel [„Noimél”], die vor kurzem ihren Vater in die Krankenstation gebracht hat vergeblich.
O-TON Noimel: „...spricht Kreol...”
Spr. Noimel:
Er hatte eine Mageninfektion. Die Ärzte sagten mir, sie müssten eine
Laboruntersuchung machen. Aber dafür hatte ich kein Geld. Deshalb wurden wir
fortgeschickt. Das war am Montag, am Mittwoch ist mein Vater gestorben, hier in
Parc Cadeau.
SPRECHER:
Noimel sagt, sie habe die Ärzte angefleht, ihren Vater zu behandeln, ohne Erfolg.
O-TON Noimel: „...spricht Kreol...”
Spr. Noimel:
Wenn Ausländer ins Krankenhaus kommen, wird ihnen gesagt, alles sei gratis. Aber
wenn ich dahin gehe, ist nichts gratis.
ATMO/MUSIK: haitianische Musik, Oliver Duret: „Danre Ra“
SPRECHER:
Vielleicht kommt eines Tages eine kompetente Organisation und nimmt sich der
Situation in Parc Cadeau an. Falls nicht, geht es so weiter wie bisher: Die Menschen
sterben an Hunger und an Cholera.
Alicia nimmt es gelassen.
O-TON, Alicia: „… spricht Kreol...”
Spr. Alicia:
Über die Zukunft kann ich nichts sagen. Nur über das Jetzt. Wer weiß schon, was
morgen sein wird?
ATMO/MUSIK: haitianische Musik, Oliver Duret: „Danre Ra“
SPRECHER:
Ein Mädchen wie Alicia ist den Konsequenzen der Waldzerstörung in Haiti
weitgehend hilflos ausgeliefert. Anderswo aber gibt es Jugendliche, die sich dafür
einsetzen, dass ihre Umwelt gesund bleibt. In dem mittelamerikanischen Land
Guatemala haben sich Tanja und Analí der Oppositionsbewegung gegen eine
Goldmine angeschlossen.
O-TON, Analí: „Mi nombre es Analí Castellanos...
Spr. Analì:
Ich heiße Analí Castellanos [„Kastejános“], bin sechzehn Jahre alt und wohne in dem
Weiler La Choleña [„tscholénja“] San José [gurgurales „ch“ „Choßé“] del Golfo
[„Gólfo“]. Seit Kurzem schürft ein Bergbauunternehmen ganz in unserer Nähe Gold.
Das macht mir große Sorgen. Ich fürchte, dass es hier bald kein Wasser mehr geben
wird. Was sollen wir machen ohne Wasser? Es gibt uns Leben. Gold gibt kein Leben.
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O-Ton weiter: ...oro no nos da vida.“
SPRECHER:
Seit eine kanadische Firma in der Gegend ein Bergwerk betreibt, hat sich Analís
Bewusstsein und das ihrer Kameraden verändert.
O-TON, Analí:„Antes solo hablaban de futból...
Spr. Analì:
Früher haben die Jungs nur über Fußball gesprochen und wir Mädchen über unsere
Serien im Fernsehen. Jetzt reden wir darüber, was passieren wird, wenn die Mine
wirklich hundert Prozent arbeitet. Wohin sollen wir dann gehen? Es sind jetzt solche
Fragen über die wir Jugendliche uns Sorgen machen.
O-Ton weiter: ... los jovenes.“
ATMO: Motorrad fährt vorbei
SPRECHER:
Keine zwei Kilometer von Analís Schule entfernt liegt eine Weggabelung im Wald.
Dort hat sich vor vier Jahren eine aufmüpfige Frau mitten auf die enge Schotterpiste
gestellt, um einen Lastwagen aufzuhalten. Er hatte Baumaterialien für die Goldmine
El Tambor [„Tambór“] geladen. Als der Fahrer nach einer Weile beschloss,
unverrichteter Dinge umzukehren, war das die Geburtsstunde der gewaltfreien
Protestbewegung „La Puya” [„Puhja”], benannt nach dem Waldstück.
ATMO: in la Puya, Stimmen
SPRECHER:
Schon am ersten Tag schlossen sich Dutzende Anwohner der Umgebung dem
Protest an. Felicia Murayes [„Felíßia Murájes”] war von Beginn an dabei. Die
Hausfrau mit flotter Zunge und herzlichem Lachen protestiert noch immer, obwohl sie
schon mehrfach von Knüppeln der Polizei schwer verletzt wurde.
O-TON Felica Murayes: „Hasta el 23 de mayo de 2014 estuvimos...
Spr. Murayes:
Bis zum 23. Mai 2014 haben wir den Eingang der Mine versperrt. Niemand konnte
rein und niemand raus. Die Arbeiter mussten über Waldpfade gehen, um auf das
Gelände der Mine zu gelangen. Benzin und Baumaterial wurde von Hubschraubern
gebracht und sie konnten nur wenig arbeiten.
O-Ton weiter: ...combustible y trabajaban así, poso.”
SPRECHER:
Zwei Jahre lang ist es den Demonstranten gelungen, den Bau der Goldmine zu
verzögern. Sie haben ein kleines Protestdorf gebaut, in dem man vor allem auf
Frauen trifft, die sich nie zuvor an einem solchen Konflikt beteiligt hatten. Weshalb
also führen sie jetzt einen gewaltfreien Kampf gegen ein transnationales
Minenunternehmen und gegen die guatemaltekische Regierung?
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O-TON Felicia Murayes: „Estoy aqui en la resistencia...
Spr. Felicia Murayes:
Ich habe mich dem Widerstand La Puya angeschlossen, um das Leben zu
verteidigen, das Wasser und die Natur.
O-Ton weiter: … su proyecto la tienen en parte …
Spr. Felicia Murayes:
Das Minenprojekt hat sich oberhalb unserer Dörfer angesiedelt. Es verbraucht und
verschmutzt große Mengen Quellwasser. Für uns bleibt immer weniger sauberes
Wasser übrig. Wir müssen rationieren. Aber das interessiert die Minenbetreiber nicht.
O-Ton weiter: ...no quieren entender eso.“
ATMO: religiöser Gesang, trabajadores schimpfen, schreit: „Pase, pase hombre“
SPRECHER:
Während einer Mahnwache vor dem Eingang der Mine öffnet sich das Tor. Rund
dreißig wütende Arbeiter kommen aus dem Minengelände und beschimpfen die
Demonstranten.
ATMO: Stimmen trabajadores.... „malditos“ Applaus
„Y que no les tenemos miedos, respetamos drechos humanos, pero si encontramos
a estos malditos, insultandonos con su camera, partida de maricones, huecos.“
Spr. Demo:
Wir haben keine Angst vor Euch. Wir respektieren die Menschenrechte, aber wenn
wir auf solchen Abschaum treffen, respektieren wir nichts mehr.
Ihr Hosenscheißer!
Schwule Bande!
Ich hoffe, dass Eure ganze Scheiße explodiert, jetzt sofort.
Atmo weiter: Applaus „vamos a respetar, pero a estos mariconos jamas … que le
tiende la mano a este hueco, que esta mierda estalla y que estalla ahorita“ „Bravo“
ATMO: Lied laut bei Demo: „Que nos amemos todos como nos ama dios“
SPRECHER:
Wie so oft ist Felica Murayes an vorderster Front dabei. Sie versucht, die Arbeiter zu
beruhigen.
ATMO: „Vamonos“ „Que se va este hijo de puta“
Felica Murayes: „No crea problema mejor evite. Ya están las cosas por
solucionarse, mejor evite.“
Spr. Felica Murayes:
Macht doch keine Probleme. Vermeidet das lieber. Es wird bald eine Lösung geben.
O-TON Felica Murayes: „Quisieron quitarnos las...
Spr. Felica Murayes:
Sie wollten unsere Hütten zerstören. Sie haben uns rausgezogen und verletzt. Sie
wollen uns loswerden und den Widerstand von La Puya brechen.
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O-Ton weiter: ...la puya, con la resistencia.“
SPRECHER:
Wenn es mal wieder hoch hergeht in La Puya, kommen oft Hunderte Personen aus
der Umgebung, um sich an dem Protest zu beteiligen. Meist ist auch Analí dabei.
O-TON Analí: „Entonces de ver que...
Spr. Analì:
Als ich gesehen habe, wie sie Steine auf unsere Leute warfen, bin ich wütend
geworden. Meine Mutter musste ins Krankenhaus. Da habe ich auch einen Stein
geworfen.
O-Ton weiter: ...la labor ya no estaba alli.”
SPRECHER:
Dafür wurde Analí von den anderen Frauen gerügt. Ihnen ist die absolute
Gewaltfreiheit des Protests sehr wichtig.
O-TON, Analí: „Ahorita me pongo a llorar...
Spr. Analì:
Jetzt muss ich weinen, weil es mich so zornig macht, dass sie so herzlos zu uns sind.
Sie wollen nicht sehen, dass wir um unser Leben kämpfen. Sie bewerfen und
attackieren uns, weil wir für unsere Rechte und für die Natur kämpfen.
O-Ton weiter: ...derechos por la naturalesa.“
SPRECHER:
In dem Protestdorf stehen Hütten aus Holz und Wellblech, Schlafräume, eine Küche,
ein Speisesaal und ein Altar auf einer Bühne, vor dem an jedem ersten Sonntag des
Monats ein katholischer Priester eine Messe feiert.
O-TON Pater Angel: „Yo considero que esta resistencia...
Spr. Pater Angel:
Ich halte diesen Widerstand für gerechtfertigt. Er entspricht zwar nicht den Zielen der
Regierung, aber er ist legal. Die Gesundheit der Bevölkerung sollte wichtiger sein als
die Profitgier der Minenkonzerne.
O-Ton weiter: ...particular de las mineras.”
SPRECHER:
Der spanische Pater Angel [„Ánchel”] ist vor über fünfzig Jahren nach Guatemala
gekommen. Er unterstützt den Widerstand gegen immer neue Projekte ausländischer
Bergbaukonzerne. Doch seine Kraft lässt nach. Kürzlich musste er sich einer
Herzoperation unterziehen. Er ist froh, dass die junge Generation nachrückt.
O-TON Pater Angel: „Todo mundo saben quien es...
Spr. Pater Angel:
Alle kennen die kleine Tanja und wissen, wer sie ist. Ein lebenslustiges Mädchen,
solidarisch mit ihrer Gemeinschaft. Sie schaut nicht darauf, wie viel Zeit sie investiert.
Sie kümmert sich um den Zusammenhalt der Menschen, damit es inmitten der Armut
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ein wenig Freude gibt. Sie ist ein sehr mutiges, bewundernswertes Kind. Mit ihrer
Jugend und ihrer Stärke gibt sie uns viel Kraft.
O-Ton weiter: ...nos esta dando ejemplo a todos.”
O-TON Tanja: „El padre Angel aca es una...
Spr. Tanja:
Pater Angel steht immer an unserer Seite. Wir respektieren ihn und sind dankbar für
seinen Zuspruch.
O-Ton weiter: ...animos que nos viene a dar. … Si no hacemos nada, las...
Spr. Tanja:
Es ist doch so: Wenn wir nichts machen, wird die Situation immer schlimmer. Ich
denke, dies ist ein gerechter Kampf, vor allem wegen des Wassers. Das Wasser ist
sehr knapp geworden. Wir haben längst nicht mehr jeden Tag Wasser, aber das
Bergbauunternehmen kann soviel Wasser nutzen wie es will.
O-Ton weiter: ...necesite sin ninguna problema.”
SPRECHER:
Tanja ist froh, dass es noch keine Toten gegeben hat. Bei ähnlichen Protesten in
anderen Landesteilen werden oft Menschen verletzt oder gar ermordet. Der Gründer
des ökologischen Aktionszentrums CALAS [„Kálas”], Yuri Mellini [„Júri Melíni”] hat
einen Anschlag überlebt.
O-TON Mellini: „El tipo bajo la prensa y empezó...
Spr. Mellini:
Der Typ hatte die Pistole unter einer Zeitung verborgen und drückte einfach ab. Eine
Kugel hat meine Lunge durchbohrt, eine andere mein Knie. Ich bin gestürzt. Da stand
er plötzlich über mir. Er wollte mir den Gnadenschuss geben. Bis heute weiß ich
nicht, warum er nicht noch ein letztes Mal abgedrückt hat.
O-Ton weiter: ...no me dio el tiro de gracia.”
SPRECHER:
Der Arzt und Ökoaktivist Mellini überlebte schwer verletzt. Für ihn steht fest, dass er
auf Grund seines Engagements für den Umweltschutz zur Zielscheibe eines
Auftragskillers geworden ist. Im Laufe der vergangenen Jahre hat er mehrere
Gerichtsverfahren gegen Bergbaukonzerne angestrengt.
O-TON Mellini: „Coseche estos balazos producto...
Spr. Mellini:
Diese Schusswunden sind ein Ergebnis unserer Arbeit zur Verteidigung der
Menschenrechte und der Natur. Immer wieder kämpfen wir gegen die
Wirtschaftsinteressen von mächtigen Geschäftsleuten. Es ist nicht leicht, so zu
arbeiten, wenn dein Gegenüber politische und wirtschaftliche Macht hat und
außerdem noch gewalttätig ist.
O-Ton weiter: ...eocnomico y maneja la fuerza.”
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SPRECHER:
In keinem anderen Land Mittelamerikas gibt es so viele Wälder und so große
Wasservorkommen wie in Guatemala. Trotzdem hat ein Drittel der Bevölkerung
keinen Anschluss an Leitungswasser.
O-TON Mellini: „El estado todavia no le garantisa...
Spr. Mellini:
Dem Staat gelingt es nicht, der Bevölkerung ihr Recht auf sauberes Wasser zu
garantieren. Trotzdem wird der Bergbauindustrie erlaubt, großes Wassermengen zu
nutzen, ohne dafür zu bezahlen und ohne das verschmutzte Wasser wieder zu
säubern. Wir halten diesen Umgang mit den natürlichen Ressourcen für
unverantwortlich.
O-Ton weiter: ...de los bienes naturales.”
SPRECHER:
Yuri Mellini ist sich sicher, dass die industrielle Verschmutzung des Wassers
zahlreiche Krankheiten verursacht.
O-TON Mellini: „Vemos casos de hombres y mujeres...
Spr. Mellini:
Wir beobachten, wie immer mehr Männer, Frauen und Kinder unter Hidroarsenicosis
cronica ademica leiden, HACRE [„Hákre”]. Zu dieser Krankheit kommt es, weil die
Menschen Wasser mit einem sehr hohen Arsen-Gehalt konsumieren. Das schädigt
zuerst die Leber, dann die Haut. So entstehen auch die besonders auffälligen
Symptome der vertrockneten Haut, wie bei einem Reptil. Außerdem erkranken immer
mehr Leute an Krebs, auch Kinder.
O-Ton weiter: ...y en niños menores.”
SPRECHER:
Mellini ruft die Bevölkerung dazu auf, sich den ausländischen Investoren in den Weg
zu stellen. Den gewaltfreien Protest in La Puya hält er für beispielhaft.
O-TON Mellini: „Es un muy bien ejemplo...
Spr. Mellini:
Besonders Tanja zeigt uns, wie selbst ein Mädchen die Stimme erheben kann. Sie
hat die Angst verloren und ist Zeugin des Kampfes ihrer Gemeinde.
O-Ton weiter: ...demás personas están liberando.“
O-TON Tanja: „Prevenir es siempre lo mejor...
Spr. Tanja:
Natürlich ist diese Arbeit gefährlich. Vorbeugende Vorsicht ist wichtig. Ich zum
Beispiel vermeide es, allein aus dem Haus zu gehen. Ich suche mir immer eine
Begleitung. Viele von uns nennen auch nicht ihren richtigen Namen. Das ist sicherer.
O-Ton weiter: ...por seguridad de uno y de los demás.“
ATMO: fiepender Minenlärm
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SPRECHER:
Das Wohnhaus von Tanjas Familie steht ganz in der Nähe der Mine. Früher wollte
sie Krankenschwester werden. Aber jetzt denkt sie darüber nach, in die Lokalpolitik
zu gehen. Sie hofft, so mehr für den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung
erreichen zu können.
O-TON Tanja: „El tema de salud aca en la region es bastante bajo se va al puesto
de salud y no hay medicina.”
Spr. Tanja:
Die Gesundheitsversorgung hier in der Region ist ziemlich schlecht. In der
Krankenstation gibt es keine Medikamente.
ATMO: in leisen Gängen der Gesundheitsstation
SPRECHER:
Im Erdgeschoss des öffentlichen Gesundheitszentrums von San José del Golfo
warten einige Patienten auf den Arzt. Eine Frau klagt über Magenschmerzen, doch
niemand kann ihr sagen, ob der steigende Arsengehalt im Wasser etwas mit ihren
Beschwerden zu tun hat. Auch Doktor Rodolfo Cano [„Káno“] ist sich nicht sicher,
obwohl er für die Gesundheitsvorsorge am Ort zuständig ist.
O-TON Rodolfo Cano: „Nosotros encontramos precisamente...
Spr. Rodolfo Cano:
Als wir immer mehr Arsen im Wasser der Umgebung von San José del Golfo
gefunden haben, mussten wir einige Brunnen schließen.
O-Ton weiter: ...al sierre del poso.”
SPRECHER:
Schon von Natur aus enthält das Wasser der Gegend eine so große Menge des
giftigen Halbmetalls, dass sie um nahezu das Hundertfache höher liegt als der von
der Weltgesundheitsorganisation vorgeschlagene Grenzwert von 0,01 Milligramm pro
Liter. Das Zermalmen von tonnenweise Gestein in der Mine setzt noch mehr Arsen
frei. Der Direktor der Gesundheitsstation, Doktor Godoy, rechnet damit, dass sich die
Wasserqualität weiter verschlechtern wird.
O-TON Mario Godoy:
„Como agudas...
Spr. Mario Godoy:
Neben den Magenerkrankungen wird es immer mehr chronische Probleme geben,
außerdem Blasenkrebs und Lungenkrebs. Auch Diabetes kann auf Grund des
Arsens entstehen.
O-Ton weiter:
...hay algun predisponente del arsenico.”
SPRECHER:
Einen eindeutigen Beweis für den Zusammenhang zwischen der Häufung der
Symptome, dem Arsen im Wasser und den Aktivitäten der Bergbaufirma haben die
Mediziner nicht.
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61. O-TON, Rodolfo Cano:
„Como en Guatemala no se hacen...
Spr. Rodolfo Cano:
Hier in Guatemala führt niemand die notwendigen Studien durch. Oft weiß man nicht
genau, warum jemand stirbt. Heutzutage gibt es viele Krebstote, aber es wird nicht
untersucht, was den Krebs hervorgerufen hat. Die Gründe der Sterblichkeit müssten
genauer erforscht werden.
O-Ton weiter: ...seguimineto a los casos de muerte.“
SPRECHER:
Die Krankenschwester Miriam wohnt selber in San José del Golfo. Sie nutzt dasselbe
Wasser wie ihre Patienten.
O-TON Krankenschwester: „Lo primero que se noto...
Spr. Krankenschwester:
In letzter Zeit ist die Wassermenge zurückgegangen. Früher hatten wir 24 Stunden
am Tag Wasser, jetzt nur noch ab und zu. Und das Wasser ist nicht mehr sauber.
Womöglich ist das der Grund, weshalb heute viel mehr Leute
Verdauungsbeschwerden haben.
O-Ton weiter: ...traido una consecuencia.”
SPRECHER:
Die Veränderungen spürt sie auch am eigenen Körper.
O-TON Krankenschwester: „Que después del baño queda una...
Spr. Krankenschwester:
Nach der Dusche juckt die Haut. Das liegt an der Verschmutzung des Wassers. Das
ist eine neue Entwicklung. Früher gab es das nicht.
O-Ton weiter: ...sido de siempre.”
SPRECHER:
Die Mitarbeiter des Gesundheitszentrums von San José del Golfo sind
Staatsangestellte. Sie können sich nur zurückhaltend äußern. Der unabhängige
Mediziner Manuel Ramirez aber kann seine Meinung offen sagen. Er wohnt in San
Pedro Ayampuc [„Ajampúk“], einer anderen Ortschaft in der Nähe der Mine.
O-TON Manuel Ramirez: „Eso lo que va a hacer es...
Spr. Ramirez:
Es wird zu einem stillen Tod kommen. Irgendwann wird man fragen, wer
verantwortlich ist für all die Krankheiten. Aber dann wird die Mine womöglich schon
geschlossen sein. Unterdessen schweigt das Unternehmen und verschmutzt leise
weiter das Wasser.
O-Ton weiter: ...y contaminando las aguas.“
23
SPRECHER:
Auch Doktor Godoy kann sich vorstellen, dass in der Gegend eines Tages kein
gesundes Leben mehr möglich sein wird.
O-TON Mario Godoy: „Ysi ya definitvamente el...
Spr. Godoy:
Wenn der Schaden wirklich schlimmer wird, dann müsste alles streng überwacht und
die Bevölkerung umgesiedelt werden.
O-Ton weiter: ...trasladarse la poblacion y con una vigilancia estricta.”
SPRECHER:
Tanja hat schon von Planspielen für eine Umsiedlung ihres Dorfes la Choleña gehört.
In der guatemaltekischen Geschichte gibt es viele Fälle, in denen solche
Umsiedlungen auf Vertreibungen hinausliefen. Gerade verarmte und weitgehend
wehrlose Bevölkerungsgruppen müssen immer wieder Platz machen für industrielle
Großprojekte. Eine angemessene Entschädigung bekommen sie so gut wie nie.
O-TON Tanja: „En el estudio de impacto ambiental...
Spr. Tanja:
Es gibt eine Umweltstudie, in der von einer Umsiedlung der Gemeinden die Rede ist.
Mehrere Dörfer grenzen direkt an die Mine. Wir sind sehr besorgt, dass wir unsere
Heimat verlassen müssen, falls es uns nicht gelingt, das Projekt zu stoppen. Wohin
sollten wir gehen? Die Regierung hat ja überall Bergbaulizenzen vergeben.
O-Ton weiter: ...en concesiones mineras.“
SPRECHER:
Tanja und ihre Familie wohnen keine 300 Meter Luftlinie von der Mine entfernt.
O-TON Tanja: „Bueno ahorita vamos a ver de aca a unos metros...
Spr. Tanja:
Wir brauchen nur ein paar Meter weit zu gehen.
(ATMO Hundebellen)
Hier sieht man, dass zwischen uns und der Mine nur eine Schlucht liegt. Dort drüben
ist die Anlage. Wenn wir abends zu Bett gehen, hören wir die Maschinen.
O-Ton weiter: ...vamos a escuchar eso.“
ATMO: Hundegebell, Tanja zwängt sich durch Büsche
SPRECHER:
Zwischen den Häusern mit rostigen Dächern und dem modernen Bergwerk liegt ein
bewaldeter Graben.
O-TON Tanja: „Solo nos divide un sanjon alla...
Spr. Tanja:
In letzter Zeit finden wir hier immer wieder tote Vögel. Sie sterben erst, seit die Arbeit
in der Mine begonnen hat. Die Vögel trinken das Wasser aus den Auffangbecken.
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Außerdem wird das Wasser für unser Dorf knapp. Früher gab es jeden Tag Wasser
in den Leitungen, jetzt kommt es nur noch jeden dritten oder vierten Tag. Wir müssen
rationalisieren und große Eimer kaufen, die man gut verschließen kann. Würden wir
das Wasser offen stehen lassen, gäbe es noch mehr Mücken, die Krankheiten
übertragen.
O-Ton weiter: ...no transmita enfermedades. (ATMO)“
ATMO/MUSIK 1: Flöte
SPRECHER:
Die Ortschaft San José del Golfo liegt am äußersten Rand eines wachsenden
Gebiets, das als „trockener Korridor” bezeichnet wird, weil das Wasser dort so knapp
ist. Trotzdem hat die Regierung Lizenzen für 15 Bergbauprojekte in dieser Gegend
vergeben. Dafür hat Tanjas Freundin Analí kein Verständnis.
O-TON Analí: „Antes nos ibamos con mi mama...
Spr. Analì:
Früher sind wir mit meiner Mutter immer zu einem Bach gegangen, um Wäsche zu
waschen. Heute ist das nicht mehr möglich, weil der Bach verschmutzt ist.
O-Ton weiter: „...Seguir luchando hasta verle...“
Spr: Analì:
Uns bleibt nichts anderes übrig, als weiter zu kämpfen. Hoffentlich werden wir
gewinnen, damit die Bergbaufirmen unser Leben nicht völlig zerstören. Am Besten
wäre es, wenn sie einfach weggehen würden und nicht noch mehr kaputt machen.
O-Ton weiter:
...la vida que se vayan y ya no la siguen destrozando más.“
ATMO/MUSIK: Flöte
Absage:
Wenn Mädchen kein sauberes Wasser haben
Hygienenotstand global
Feature von Andreas Boueke
Es sprachen: Robert Arnold, Manuel Harder, Svenja Liesau, Marcus Michalski, Rahel
Ohm, Nathalie Thiede und Lisa Wildmann
Ton und Technik: Burkhard Pitzer-Landeck und Sabine Klunzinger
Regie: Felicitas Ott
Redaktion: Wolfram Wessels
Produktion: Südwestrundfunk 2016
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