Integrationsparameter, Anfangs- und Randwertprobleme Beispiel Freier Fall im homogenen Schwerefeld. Wir betrachten einen massiven Körper unter Vernachlässigung der Reibung bei konstanter Schwerebeschleunigung. Die Höhe zum Zeitpunkt t wird beschrieben durch s = s (t) Höhe s −g Schwere− beschlgg. Die Geschwindigkeit zum Zeitpunkt t ist dann Erdoberfläche: s=0 v = v (t) = ṡ (t) Die Beschleunigkung zum Zeitpunkt t schließlich ist konstant a = a(t) = s̈ (t) = −g Wir erhalten also diese einfache (autonome und explizite) lineare DGl zweiter Ordnung: s̈ = −g Diese DGl lässt sich leicht durch zweimaliges direktes Integrieren lösen: Z Z ṡ = s̈ dt = (−g) dt = −g · t + C1 Z Z g s = ṡ dt = (−g · t + C1 ) dt = − · t2 + C1 · t + C2 2 Wir erhalten so die allgemeine Lösung dieser DGl g s = − · t2 + C1 · t + C2 2 Diese enthält zwei freie Parameter, nämlich die beiden Integrationskonstanten C1 und C2 . Generell hat eine DGl. zweiter Ordnung eine allgemeine Lösung, die zwei freie Parameter enthält. Übrigens spricht man bei dem Vorgang, eine DGl. zu lösen, oft davon, dass man „die DGl. integriert“, und zwar auch dann, wenn die Lösungsmethode gar nichts mit direkter Integration zu tun hat. Die allgemeine Lösung ist natürlich in Wirklichkeit nicht eine Lösung der DGl., sondern Sie umfasst unendlich viele mögliche Lösungen: nämlich für alle möglichen Kombinationen von Werten der Parameter C1 und C2 jeweils eine. Um konkrete Werte für die freien Parameter C1 und C2 zu bekommen, braucht man zusätzliche Informationen. Eine Möglichkeit sind hier sogenannte Anfangsbedingungen: s (0) = s0 ṡ (0) = v0 die Anfangshöhe zur Startzeit t = 0 die Anfangsgeschwindigkeit zur Startzeit t = 0 Die Parameter C1 und C2 werden durch diese Anfangsbedingungen festgelegt. Wir erhalten C1 = v0 C 2 = s0 Auf diese Weise wird aus der allgemeinen Lösung eine spezielle Lösung ausgewählt, die auf die vorgegebenen Anfangsbedingungen passt. In unserem Fall ist diese passende spezielle Lösung g s = − · t2 + v0 · t + s0 2 Wenn eine Funktion mit ihren Ableitungen über einem gegebenen Definitionsbereich eine DGl. erfüllt, so ist diese Funktion eine Lösung der DGl. Eine DGl. n-ter Ordnung hat eine allgemeine Lösung mit n unabhängigen Parametern. Wählt1 man feste Werte dieser Parameter, so erhält man jeweils eine spezielle Lösung der DGl. Um die freien Parameter zu bestimmen, sind zusätzliche Bedingungen (z.B. Anfangsbedingungen) nötig, und zwar eine pro Parameter. Beispiel y 00 + y = 0 oder auch: y 00 = −y Wenn wir den Sinus zweimal ableiten: d sin (x) = cos (x) dx sehen wir, dass in der Tat und d2 sin (x) = − sin (x) dx2 d2 sin (x) + sin (x) = 0 dx2 Also ist y1 = sin (x) eine Lösung dieser DGl., aber natürlich nicht die allgemeine Lösung, denn diese müsste ja zwei unabhängige Parameter enthalten. Es handelt sich um eine spezielle Lösung der DGl. Ganz entsprechend findet man eine weitere spezielle Lösung der DGl., nämlich y2 = cos (x) . Wie sieht nun die allgemeine Lösung aus? Wegen der Linearität der Ableitung gilt mit y100 = −y1 und y200 = −y2 auch (A y1 + B y2 )00 = A y100 + B y200 = A (−y1 ) + B (−y2 ) = − (A y1 + B y2 ) Die allgemeine Lösung ist y = A y1 + B y2 = A sin (x) + B cos (x) Anfangsbedingungen geben die Werte der Lösungsfunktion und (ggf. einer oder mehrerer) ihrer Ableitungen an einer Stelle, d.h. für einen Wert der unabhängigen Variablen, vor. Eine DGl. mit vollständig2 festgelegten Anfangsbedingungen nennt sich Anfangswertproblem (AWP) oder auch Anfangswertaufgabe (AWA). Randbedingungen geben die Werte der Lösungsfunktion und ggf. ihrer Ableitungen an zwei Stellen (Anfangs- und Endpunkt eines Intervalls) vor. Eine DGl. mit vollständig2 festgelegten Randbedingungen nennt sich Randwertproblem (RWP) oder auch Randwertaufgabe (RWA). 1 Manchmal gibt es sogenannte singuläre Lösungen einer DGl., die man nicht durch Festlegen der Parameter der allgemeinen Lösung erhalten kann. 2 Vollständig heißt: bei einer DGl. n-ter Ordnung hat man n Anfangs- bzw. n unabhängige Randbedingungen. Beispiel AWP: y 00 + y = 0, y 0 (0) = −1 y (0) = 3, Gesucht ist diejenige spezielle Lösung der DGl, die den Anfangswert y (0) = 3 und die Anfangssteigung y 0 (0) = −1 hat: x = 0 ⇒ y = 3 und y 0 = −1 Die allgemeine Lösung der DGl. haben wir schon (s.o.). Wir berechnen noch ihre Ableitung y = A sin (x) + B cos (x) y 0 = A cos (x) − B sin (x) und setzen x = 0 ein. Wenn wir die beiden Anfangsbedingungen berücksichtigen, erhalten wir die beiden Gleichungen 1111111 0000000 Anfangs− 0000000 1111111 0000000 steigung 1111111 Anfangs− wert 3=A·0+B·1 −1 = A · 1 − B · 0 und erhalten A = −1 und B = 3. Die angepasste spezielle Lösung ist also y = − sin (x) + 3 cos (x) Beispiel RWP: y 00 + y = 0, y (0) = 3, y π 2 =2 Gesucht ist diejenige spezielle Lösung der DGl., die an der Stelle x = 0 den Wert 3 und an der Stelle x = π2 den Wert 2 hat: x=0 ⇒ y=3 und x= π 2 ⇒ y=2 Wir setzen x = 0 bzw. x = π2 in die allgemeine Lösung ein und erhalten unter Berücksichtigung der Randbedingungen die beiden Gleichungen 3 = A sin (0) + B cos (0) 2 = A sin π2 + B cos π2 Anfangs− punkt 3 Endpunkt 2 oder 0 3=A·0+B·1 2=A·1+B·0 Es ergibt sich A = 2 und B = 3. Die angepasste spezielle Lösung ist also y = 2 sin (x) + 3 cos (x) π/2
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