G 02531 NR. 121 / PREIS 2,80 € MONTAG, 27. JUNI 2016 DEUTSCHLANDS WIRTSCHAFTS- UND FINANZZEITUNG 1 Tief unten knistert die Angst Das Erdbeben von London hat die europäischen Völker in Erregung versetzt. Überall kommt es zu Nachbeben. Das Establishment in Brüssel und Berlin setzt auf ein trotziges „Jetzt erst recht“. Das kann nicht gutgehen, meint Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart. Handelsblatt GmbH Abonnentenservice Tel. 0800–0002053 (gebührenfrei innerhalb Deutschland), Fax 0211 887 3605, [email protected] Monatsabonnements: Handelsblatt Print: 60,00 Euro Handelsblatt Print + Digitalpass: 66,99 Euro Belgien 3,50 € Frankreich 3,90 € Großbritannien 3,40 GBP Luxemburg 3,50 € Niederlande 3,50 € Österreich 3,50 € Polen 21,50 PLN Schweiz 5,50 CHF Tschechien 130,00 CZK Ungarn 1200,00 FT S tellen Sie sich vor, zur Wahl des neuen Bundespräsidenten sind die großen Staatsmänner der Volksparteien, Wolfgang Schäuble oder auch Frank-Walter Steinmeier, nicht mehr zugelassen. Rechte und Linke besitzen in der Bundesversammlung die Mehrheit, sie machen die Wahl unter sich aus. So etwas kann nicht passieren? Etwas sehr Ähnliches ist gerade in Österreich geschehen. Stellen Sie sich vor, die Basis der konservativen Volksparteien CDU und CSU ist derart genervt von der eigenen Funktionärskaste, dass sie keinen Politiker für würdig befindet, in ihrem Namen zur Bundestagswahl anzutreten. Stattdessen erscheint ein dubioser Geschäftsmann auf den Plakaten, der nichts von Politik, aber viel vom Beleidigen versteht. Das kann nicht passieren? Es findet gerade in Amerika statt. Stellen Sie sich vor, auch in Deutschland stünden die EU-Kommission und ihre Politik zur Abstimmung. Und am Tag nach dem Abschied herrscht im Lande nicht Katerstimmung, sondern Stolz. Auf Seite 1 unserer großen Boulevardzeitung stünde: „Wir verneigen uns vor Deutschland: Das war der Tag, an dem die schweigende Mehrheit unseres Landes aufgestanden ist gegen eine arrogante politische Elite.“ Das kann nicht passieren? Das stand am Samstag nach dem Brexit auf Seite 1 der britischen „Daily Mail“. Der weltweite Niedergang der politischen Führungsfähigkeit und der Aufstieg des Populismus sind die zwei Seiten der gleichen Medaille. Aber der Zusammenhang ist anders als von den etablierten Parteien behauptet: Ihr Kontrollverlust wurde nicht durch die Populisten herbeigeführt, sondern wird durch sie ausgedrückt. Wir sollten die Empörten dafür nicht beschimpfen: Sie sind die Passagiere eines ins Trudeln geratenen Flugzeugs, die lautstark darauf aufmerksam machen, dass der Pilot im Cockpit zusammengesackt ist. Richtig ist: Diese Passagiere sollten den Jet besser nicht steuern. Aber richtig ist auch: Der Pilot sollte endlich aufwachen. Unsere Politiker dagegen sind auch am dritten Tag nach den Ereignissen von London betäubt. Angela Merkels tonlos vorgetragene Bitte, jetzt nichts zu überstürzen und erst gründlich zu analysieren, wirkte wie die Nacktaufnahme ihrer Überforderung. Was Friedrich Nietzsche seufzend über sich sagte, könnte Merke mühelos auch für sich reklamieren: „Ich lebe noch, doch ohne drei Schritte weit vor mich zu sehn.“ D abei kann der genauere Blick nach Großbritannien, Österreich und den USA hilfreich sein. Was wir dort sehen, ist die Vorschau eines Films, der auch bei uns anlaufen wird. Das politische System des Westens ist dabei, seine Balance zu verlieren. Die politische Mitte, einst der Garant für Stabilität, rebelliert nicht, aber erodiert. Es gibt dafür nicht den einen Grund, aber einen Cocktail von Gründen, der in seiner Mischung toxisch wirkt: Eine Regierung, die nicht in der Lage ist, ihre Grenzen zu schützen, verliert den Rückhalt der Bevölkerung – in jedem Land der Welt. „Großes Herz, keinen Plan“, hat Altkanzler Schröder seiner Nachfolgerin be- ten entsteht oben eine hochbezahlte Schicht von Managern und Experten, unten sammelt sich das Heer der Prekären, und in der Mitte der Gesellschaft entstehen Verluste, echte und gefühlte. Der Streit über das Ausmaß des Befunds ist akademisch: Auch die Gewissheitsverluste einer Gesellschaft sind Verluste. Für die deutsche Volkswirtschaft – ihre Beschäftigten, Führungskräfte und Eigentümerfamilien – ist die Legitimationskrise des politischen Systems ein dramatisches Ereignis, denn sie braucht den ausgleichenden Staat, der in den sozialen Beziehungen Frieden stiftet. Sie ist darauf angewiesen, dass der Eigentumsbegriff das große Weltbeben unbeschadet überlebt. Sie braucht Zuwanderer, aber die richtigen. Sie will Europa, aber was sie nicht will, ist eine bürokratische Vereinheitlichungsorgie und eine Geldpolitik, die das Vermögen der Sparsamen in Richtung der Schuldner transferiert. N scheinigt. Zu Recht. Dass eine Gesellschaft ihre eigene Überforderung vermeiden möchte, sollte man ihr nicht verübeln. Das ist nicht ausländerfeindlich, sondern klug. Eine Regierung, die mit ihrem Sicherheitsapparat nicht in der Lage ist zu verhindern, dass alle drei Minuten eine Haustür aufgebrochen wird, entzieht sich selbst die Legitimation. Ein Innenminister, der als Reaktion auf die Tatsache, dass 97 von 100 Einbrechern ohne Strafe davonkommen, mehr Hilfspolizisten einsetzen will, wärmt die Menschen nicht, sondern lässt sie frösteln. Eine Regierung, die im Exportland Deutschland keinen Weg findet, die Nachteile der weltweiten Wanderungsbewegung von Waren, Kapital und Menschen zu adressieren, verliert die Unterstützung der kleinen Leute. Das, was Bernie Sanders in den USA und Sahra Wagenknecht in Deutschland über die soziale Spaltung erzählen, ist in den Schlussfolgerungen überzogen, aber in der Analyse präzise. Überall im Wes- Nirgends ist man in diesen Tagen weiter von Europa entfernt als in Brüssel. © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected]. irgends ist man in diesen Tagen weiter von Europa entfernt als in Brüssel. Diese Stadt ist zum Symbol für die große Gaukelei geworden. Der Binnenmarkt würde Wohlstand und Arbeitsplätze fördern, war versprochen. In Wahrheit haben sich seither die Wachstumsraten halbiert. Rund 21 Millionen Menschen sind ohne Job, die meisten im Süden des Kontinents. Die europäische Währung wurde nicht zum Stabilitätsanker der Welt, sondern führte zur Renaissance des Dollars. Mit der Europäischen Notenbank entstand keine zweite Bundesbank, sondern die größte Gelddruckmaschine des Kontinents. Jedes Parkverbot wird heute strenger kontrolliert als die Einhaltung der Stabilitätskriterien des Vertrags von Maastricht. Hannah Arendt sprach in „Wahrheit und Lüge“ vom Prozess der „Entwirklichung“, vom bewussten Erzeugen einer „Alice-im-Wunderland-Atmosphäre“. Die Themen wechseln, die Methode aber ist geblieben. Die Ablenkungspolitiker haben derzeit wieder ihren großen Auftritt. „Jetzt erst recht“, rief das Brüsseler Establishment nach dem Votum der Briten. Auf zur nächsten Runde von Vertiefung und Verdichtung. Auf dem Verordnungswege will man den Bürgern ihre Zweifel austreiben. Überall in Europa kommt es derzeit zu Nachbeben. Wenn die Erneuerungsarbeiten an den Fundamenten der Union nicht gelingen, muss um die Statik gefürchtet werden. Der Ex-Bürgermeister Londons und Brexit-Befürworter Boris Johnson weiß, wie man politische Sprengsätze zur Detonation bringt. Es wäre nicht schade um den EU-Adel. Aber es wäre schade um die europäische Idee. Sie ist von allen Ideen, die dieser Kontinent in den letzten 100 Jahren hervorgebracht hat, die wertvollste. Es gibt viele Gründe, die EU abzulehnen, aber keinen Grund, die Idee von Verständigung und wirtschaftlicher Zusammenarbeit zu beerdigen. Sie inspiriert, ermahnt und ermuntert uns – auch zum Widerstand gegen den Brüsseler Operettenstaat und seine Straßburger Fassadendemokratie. So gesehen ist das Votum der Briten ein Weckruf, von dem man nur hoffen kann, dass er in den Trutzburgen der Macht auch als solcher verstanden wird. Die Mauern sind hoch. Das europäische Haus steht nach den Eruptionen der vergangenen Tage schief im Winde. Tief unten knistert die Angst.
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