Manuskript Beitrag: Werbung mit Gesundheit – Falsche Versprechen auf Lebensmitteln Sendung vom 28. Juni 2016 von Jörg Göbel und Julian Prahl Anmoderation: Die Deutschen werden immer dicker. Jede zweite Frau, und zwei von drei Männern gelten als übergewichtig. Bei ungesunder Ernährung, kein Wunder. Beim Einkaufen glauben viel zu viele die Gesundheitsversprechen auf der Packung und wissen nicht, wie viel ungesundes Zeug in Wahrheit drin steckt. Drauf steht: Dem Saft und sogar Bonbons wurden extra Vitamine beigemischt. Joghurt, heißt es da, sei gut für die Verdauung. Eigentlich hat die EU die Täuschungsmanöver der Hersteller schon vor Jahren unterbunden. Doch jetzt heißt es wieder: Verbraucherschutz gegen die Profitinteressen der Industrie. Raten Sie mal, wer gewinnt? Text: „Für das Immunsystem“, „Lernstark“, „angereichert mit 7 Vitaminen“ - viele Lebensmittel versprechen gesunde Ernährung. Doch häufig haben diese Produkte zu viel Fett, zu viel Salz oder zu viel Zucker. O-Ton Armin Valet, Verbraucherzentrale Hamburg: Wir sehen jetzt schon, es wird sehr viel Werbung gemacht für ungesunde Lebensmittel, zum Beispiel für Süßigkeiten, für Lollis, auch für gezuckerte Müslis. Damit kann man werben, dass die gesund, indem man ihnen einfach ein paar Vitamine oder Mineralstoffe zusetzt. Beispiel Ovomaltine Kakaopulver. Auf der Verpackung steht „für körperliche und geistige Leistungsfähigkeit“, enthält aber mehr als 50 Gramm Zucker pro 100 Gramm. Oder Fitness Müsli, Weiße Schokolade, von Nestlé. Wirbt mit Vollkorn, Vitaminen und Mineralstoffen, hat aber 19,6 Gramm Zucker pro 100 Gramm. Ernährungsberatung bei Bettina Halbach. Immer wieder erlebt sie, wie Verpackung und Werbung verführen. Beispiel Actimel, Trinkjoghurt von Danone. O-Ton Daneh Thoenes, Schülerin: Dass es halt auch gut fürs Immunsystem sein soll. Und sowas schadet ja eigentlich nie so, wenn man das dann auch ab und zu mal trinkt und dann auch kauft. Dass 10,5 Gramm Zucker in einem Fläschchen sind, steht im Kleingedruckten. Das entspricht fast vier Stück Würfelzucker. O-Ton Katharina Trabelsi, Auszubildende: Wie viel ist denn der Tagesbedarf? O-Ton Bettina Halbach, Ernährungswissenschaftlerin: Es gibt eine Obergrenze, die heißt 50 Gramm. Eine Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Also nicht mehr als 17 Stück Würfelzucker pro Tag. O-Ton Katharina Trabelsi, Auszubildende: Man kauft das ja, weil man denkt, das ist gesund und das ist gut für den Körper. Aber wenn man dann halt sieht, dass in so einem kleinen Getränk schon vier Stückchen Zucker drin sind, dann kann das ja eigentlich gar nicht gesund für den Körper sein. Werbung mit gesunder Ernährung - eine lohnende Masche. O-Ton Sophie Herr, Verbraucherzentrale Bundesverband: Unternehmen ist es wichtig, Lebensmittel zu verkaufen. Und wenn ich ein Lebensmittel verkaufe, was ernährungsphysiologisch nicht besonders gut ist, dann versuche ich trotzdem dem einen Zusatznutzen im Vergleich zu anderen Produkten zuzuschreiben. Und es ist in dem Fall ein beim Verbraucher sehr beliebter Zusatznutzen: Gesundheit. Um diesen Konflikt zu lösen, sollte die sogenannte europäische Health-Claims-Verordnung regeln: Erstens, welche nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben sind erlaubt. Zweitens, welche Produkte dürfen damit werben. Doch diesen zweiten Teil der Verordnung hat die Politik bis heute nicht umgesetzt. Sogenannte Nährwertprofile sollten genau vorgeben, wie viel Zucker, wie viel Salz, wie viel Fett ein Produkt maximal haben kann, damit ein Unternehmen mit Gesundheit werben darf. O-Ton Sophie Herr, Verbraucherzentrale Bundesverband: Nährwertprofile sind ein essentieller Baustein der HealthClaims-Verordnung und sind absolute Voraussetzung dafür, dass sie gesundheitlichen Verbraucherschutz überhaupt erst möglich macht. Ohne die Nährwertprofile, ohne diese Obergrenzen für Zucker, Fett und Salz können alle Lebensmittel, auch solche die sehr zuckrig, fettig und salzig sind, mit Gesundheitsversprechen werben und sich dadurch das gesunde Deckmäntelchen anziehen. Laut Health-Claims-Verordnung hätte das bis 2009 geschehen sollen. Doch die Lebensmittelindustrie hat sich immer wieder gegen die Einführung der Nährwertprofile gesträubt. In einem Interview mit Frontal 21 sagte der damalige EUKommissionssprecher schon 2012: O-Ton Frederic Vincent, ehemaliger Sprecher EUKommission, am 07.12.1012: Es gab Diskussionen. Sehr häufig waren die Mitgliedsstaaten offen gesagt – ich nenne hier keine Namen – Vertreter ihrer nationalen Wirtschaftsinteressen. Sie waren die Stimme einzelner Unternehmen in Brüssel. Vier Jahre später hat sich die Lebensmittelindustrie offenbar durchgesetzt. Denn jetzt will das EU-Parlament die Nährwertprofile ganz abschaffen. Die deutsche CDUAbgeordnete Renate Sommer hat das vorangetrieben. Sie hält Nährwertprofile für „obsolet“ und „schlichtweg überflüssig“. Sie teilt damit die Forderungen der Süßwarenindustrie. Deren Bundesverband forderte schon Ende 2014: „Nährwertprofile sind nicht mehr erforderlich und sollten nicht weiter verfolgt werden…“ O-Ton Armin Valet, Verbraucherzentrale Hamburg: Auf Druck der Industrie sollen die ganz abgeschafft werden. Das würde dann wirklich die Health-Claims-Verordnung auf den Kopf stellen, weil dann tatsächlich Verbraucher getäuscht werden mit falschen Gesundheitsversprechen auf ungesunden Lebensmitteln. Stattdessen sollen solche Nährwerttabellen auf Verpackungen ausreichen, um die Verbraucher zu informieren. Die Lebensmittelindustrie meint, das sei völlig ausreichend und transparent. Soweit die Theorie, doch in der Praxis schauen nur die wenigsten ins Kleingedruckte. O-Ton Katharina Trabelsi, Auszubildene: Ich hab mir so eine Nährwerttabelle noch nie angeguckt. Gerade eben das erste Mal und war schon sehr erschrocken, dass man halt 90 Prozent der Inhaltsstoffe, die da drin sind, überhaupt gar nicht versteht und auch überhaupt gar nicht kennt, weil man darüber auch halt nie aufgeklärt wird. Das erlebt Ernährungswissenschaftlerin Bettina Halbach immer wieder in ihren Beratungen. O-Ton Bettina Halbach, Ernährungswissenschaftlerin: Was mir immer wieder auffällt, ist, dass die Leute wirklich viel zu unbewusst an die Ernährung rangehen, dass die einfach nicht wissen, was bringe ich da wirklich auf den Teller, wenn sie die Lebensmittel in den Einkaufskorb legen und mit nach Hause bringen. Die sind einfach zu wenig informiert. Warum Nährwerttabellen bei der Kaufentscheidung kaum eine Rolle spielen, hat die Wissenschaftlerin Anke Zühlsdorf untersucht. In einer Studie für die Verbraucherzentrale kommt sie zu dem Schluss: Produkte, die groß werben mit Fitness, Vitaminen oder Abbildungen von schlanken Menschen verkaufen sich besser. O-Ton Anke Zühlsdorf, Konsumforscherin: Im Supermarkt hat der Kunde relativ wenig Zeit, oder man weiß auch Blickregistriermessungen, unter einer Sekunde wird ein Urteil über ein Produkt gefällt. Und der Kunde sucht nach Schlüsselinformationen. Visuelle Informationen oder blickfangmäßig herausgehobene Informationen werden besonders schnell wahrgenommen. Vitamine drin, muss gesund sein. So einfach läuft die Schlussfolgerung beim Kunden im Supermarkt. Die Wissenschaft hat dafür sogar einen eigenen Fachbegriff. O-Ton Anke Zühlsdorf, Konsumforscherin: Das setzt dann bei dem Kunden so eine Kette in Gang, die wir in der Konsumforschung als Halo- oder Heiligenscheineffekt bezeichnen, dass von dem einen Vitamin auf die gesamte Gesundheitswirkung eines Produktes übertragen wird. Warum wehrt sich die Lebensmittelindustrie gegen Nährwertprofile? Auf Nachfrage begründet ihr Spitzenverband seine Ablehnung. Zitat: „Dabei standen aber (…) Zweifel an der wissenschaftlichen Grundlage (…) im Vordergrund und nicht wirtschaftliche Überlegungen.“ Keine wirtschaftlichen Überlegungen? Nachfrage bei der Europäischen Kommission. Die macht klar: Wirtschaftliche Gründe waren entscheidend. Die Einführung von Nährwertprofilen wurde verschoben, weil Zitat: “…bestimmte Bereiche der Lebensmittelindustrie wirtschaftliche Verluste und verminderte Wettbewerbsfähigkeit befürchteten…“ O-Ton Armin Valet, Verbraucherzentrale Hamburg: Wir brauchen hier ambitionierte Nährwertprofile, um die Verbraucher zu schützen, nämlich davor, dass ungesunde Lebensmittel als besonders gesund beworben werden dürfen. Denn dann geht es in die falsche Richtung. Wir haben das große Problem des Übergewichtes, Diabetes 2, und das würde dem ganzen noch Vorschub leisten. Sechs Millionen Menschen leiden in Deutschland unter Diabetes 2. Jede zweite Frau, und sogar zwei von drei Männern gelten als übergewichtig. Das Massenphänomen Übergewicht verursacht Krankheiten und enorme volkswirtschaftliche Kosten. Daran wird sich nichts ändern, wenn die Interessen der Industrie wichtiger sind als Verbraucherschutz. Abmoderation: Wenn gegen den Bürger und für die Industrie entschieden wird kein Wunder, dass die Skepsis gegen Europa wächst. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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