Kommentar - Wirtschaftsuniversität Wien

Kommentar der anderen
Donnerstag, 30. Juni 2016
der Standard 31
Die EU am besten neu gründen
ten, ist – wie sich gerade im Fall
von Großbritannien, das ja die
risen haben auch immer et- meisten Ausnahmen hatte (kein
was Gutes. Sie ermöglichen Euro, kein Schengen, Ausnahmen
einen Neuanfang. Das ist in der Charta der Grundrechte),
das Positive am Brexit. Nicht nur zeigt – nicht zielführend. Das
das politisch gespaltene und bald Kernstück der EU, der Binnenmarkt, wird gerade durch
vom Groß- zu Kleinbridie Flexibilisierung imtannien
geschrumpfte
mer wieder dadurch geLand muss sich jetzt neu
schwächt, weil Staaten,
orientieren, auch die zahdie nicht in der Eurozone
lenmäßig, ökonomisch
sind, im Falle von Krisen
und
militärisch
gejederzeit gegen die Euroschwächte EU kann nicht
länder abwerten und sich
mehr so weitermachen
so unfaire Wettbewerbswie bisher.
Fritz Breuss:
vorteile
herausholen
Allenthalben wird jetzt
nach Reformen gerufen. Verträge muss können.
man ohnehin
Die EU war ein wunAber die EU, wie sie derändern.
derbares Projekt (nicht
zeit konstituiert ist mit
Foto: Hendrich
zu Unrecht 2012 mit dem
ihren vielen Ausnahmen
Friedensnobelpreis aus(Europe à la carte), ist weder krisenfest noch überlebensfä- gezeichnet) in der Nachkriegszeit.
hig und daher auch schwer refor- Allerdings war es für Schönwetmierbar. Die nun wieder ange- terperioden konzipiert. Zwei grodachte weitere Flexibilisierung, ße Krisen (die Eurokrise im Zuge
d. h. die Ausweitung des Kon- der globalen Finanz- und Wirtzepts des „Europe à la carte“ (oder schaftskrise 2008/09 ab 2010) und
konzentrische Kreise) mit weite- die Flüchtlingskrise (seit 2015)
ren Ausnahmen für EU-Mitglie- trafen sie aber völlig unvorbereider, um sie bei der Stange zu hal- tet. Die Eurokrise schwelt weiter –
Fritz Breuss
K
FLORIAN SCHEUBA
Nur Schlechte sind Echte
Nun wissen
wir also endlich, was mit
unserer Nationalmannschaft bei der
EM wirklich
los war.
„Wir waren
schlecht vorbereitet. Die Spieler gingen nicht einmal zum
Golfen, obwohl der Platz
neben dem Hotel war“ deckt
Toni Polster in der Sonntagsausgabe der Zeitung Österreich
auf. Eine erschütternde Information. Kein Wunder, dass
Alaba und Dragović nur die
Stange treffen, wenn sie zuvor
schon das Einlochen verweigern. Schuld daran hat laut
Polster natürlich Marcel Koller, der nicht nur „die EM in
den Sand gesetzt“, sondern
auch noch „David Alaba ‚enteiert‘ hat“. Ob wir uns Kollers
Vorgehen bei der „Enteierung“
chirurgisch oder eher nach der
Versteckmethode des Osterhasen vorstellen müssen, bleibt
offen.
est steht, dass TrainerKritik aus dem Munde
Polsters wirkt wie eine
Beschwerde Donald Trumps
über Niveauverlust in der Politik, zumal die bemerkenswerteste Leistung in Polsters Trainerkarriere bislang darin bestand, als einziger Ex-Internationaler noch erfolgloser zu
sein als Hans Krankl. Dass
beide nun in Österreich ihre
fachliche Expertise unter dem
Motto „Wir hätten es sicher
besser gemacht“ absondern
dürfen, passt zur stark fiktional orientierten Linie des Blattes. Ebenso wenig überrascht,
wie schnell das zweite Zentralorgan der verdeckten Presseförderung, die Kronen Zeitung, von haltlos überzogener
Euphorie auf die gewohnte
Schäbigkeit umgestellt hat
und sofort nach dem EM-Ausscheiden die Gage des zuvor
bejubelten Teamchefs zu skandalisieren versucht.
F
Eher unerwartet aber, dass
sich auch der ORF-Sport auf
dieses Niveau begibt. Nach
dem Spiel gegen Island wurden nur das Stadion verlassende, aggressiv schimpfende
Matchbesucher interviewt.
Wer jedoch im Stadion selbst
saß, konnte sehen, dass nahezu alle österreichischen Fans
auf ihren Plätzen blieben, um
sich von den geknickten
Teamspielern mit Applaus zu
verabschieden. Ein Bild der
Sportlichkeit, wie man es
auch nach den wenig bis gar
nicht geglückten Partien gegen
Portugal und Ungarn erleben
durfte. Offensichtlich unterscheiden sich die Unterstützer
unseres Teams in einem wesentlichen Punkt von den sich
als „Stimme des Volkes“ aufspielenden Medien: Sie sind
keine schlechten Verlierer.
iese Erkenntnis sollte
sich die FPÖ zu Herzen
nehmen. Nach der Einvernahme von 67 Zeugen
durch den VfGH wurde kein
einziger Verdacht geäußert,
wonach auch nur eine Stimmauszählung zu einem falschen
Ergebnis gekommen sei. Angesichts dessen weiterhin eine
Wiederholung der Wahl zu
fordern ist wie der Wunsch
nach der Neuaustragung eines
verlorenen Matches, weil beim
Gegner ein gesperrter Spieler
zwar nicht gespielt, aber auf
der Ersatzbank gesessen sei.
Für Verlierer in Politik und
Fußball gilt: Nur schlechte
sind echte. Und so wie der
Fußball dieser Zielgruppe
einen Toni Polster bietet,
haben die Freiheitlichen eine
Ursula Stenzel. Die meint beispielsweise, dass die Radiofrequenz einer Sendung mit Norbert Hofer „wie im Kalten
Krieg“ absichtlich unterbunden wurde. Ob Toni Polster
das auch als „Enteiern“ analysiert hätte? Oder war Stenzel,
so wie gelegentlich auch Polster, empfangstechnisch einfach in einer anderen Welle?
D
vor allem in der Peripherie – und
dämpft das Wachstumspotenzial
der EU. Die Flüchtlingskrise hat
drastisch offenbart, wie schwach
die im EU-Vertrag verankerte und
vielbeschworene
Solidargemeinschaft im Krisenfall ist.
Da im Zuge des in den
nächsten zwei Jahren zu
verhandelnden
Austrittsvertrags
(vulgo
„Scheidungsvertrags“)
mit Großbritannien ohnehin eine Reform der
EU-Verträge ansteht (zumindest müssen alle Großbritannien betreffenden
Passagen gestrichen bzw.
die britischen finanziellen
Beiträge umverteilt werden), könnte man sich
gleich an eine Neugründung der Europäischen
Union heranwagen. Diese
müsste von der Bevölkerung getragen sein und
sollte gleich in die Vereinigten Staaten von
Europa (VSE) münden.
Im Folgenden wird
eine solche Neugründung skizziert:
Parallel
Q Erstens
zu den Austrittsverhandlungen
mit Großbritannien wird ein
Konvent eingerichtet (ähnlich
dem Verfassungskonvent 2002/03), der eine Verfassung für einen föderalen Staat,
die VSE, entwickelt. Als Vorbild
könnte das Zweikammersystem
der USA mit einem Präsidenten
herangezogen werden. Die Mitgliedstaaten wären Bundesstaaten
mit Gouverneuren an der Spitze.
Zur Weiterentwicklung von Recht
könnte das Schweizer Modell der
direkten Demokratie angewandt
werden, um den Rückhalt der Bevölkerung zu haben.
Die Vereinigten Staaten von
Europa würden dann – ohne Ausnahmen – wie ein Staat funktionieren mit einheitlichem Binnenmarkt und gemeinsamer Währung (den Euro haben wir schon)
und Geldpolitik (EZB), zentraler
Fiskalpolitik, gesteuert durch das
VSE-Finanzministerium; Verteidigung; Schutz der Außengrenzen. Der einzige Unterschied zu
den USA wären dann noch das
Fehlen einer gemeinsamen Sprache.
Q Zweitens Der VSE-Verfassungsvertrag müsste dann in allen
27 Rest-EU-Staaten obligatorisch
einem Referendum unterzogen
werden. Dann würde vielleicht
nur die Hälfte mitmachen wollen.
Die Außenminister
der EU-Gründungsstaaten (Luxemburg,
Italien, Deutschland,
Belgien, Niederlande
und Frankreich) trafen
einander zuletzt in
Berlin, um über die
Krise zu beraten.
Foto: Reuters
Wer nach dem Brexit auf dem Beibehalten
der bisherigen Strukturen der EU beharrt,
unterstützt aktiv das politische Weiterwursteln.
Ein Plädoyer für eine Neugründung der Union
als Vereinigte Staaten von Europa.
Aber diese nun verkleinerte EU
wäre vom Volk legitimiert und
würde die VSE bilden. Jeder europäische Staat – auch bisherige
Nicht-EU-Mitglieder – sollte später dazustoßen dürfen.
Q Drittens Mit Gründung der VSE
würde die EU-27 aufgelöst werden. Die nicht am Projekt VSE teilnehmenden Länder (das gilt nun
auch für Großbritannien) würden
mit den VSE umfassende Freihandels- und Investitionsabkommen
(Comprehensive Investment and
Trade Agreements – Citas; nach
dem Vorbild etwa von Ceta mit Kanada) schließen können. Damit
wäre der Freihandel für Waren
und Dienstleistungen und den Kapitalverkehr (Direktinvestitionen)
in Europa gewährleistet. Den Personenverkehr – und damit auch
die Immigration- und Asylfragen –
müssten die Nicht-VSE-Staaten
selbst regeln.
Q Viertens Alle bisherigen Beziehungen der Europäischen Union
mit Nicht-EU-Mitgliedern (Freihandelsabkommen mit der Efta;
Zollunion mit der Türkei; EWRAbkommen; die beiden bilateralen Verträge mit der Schweiz etc.)
würden von den VSE gekündigt
werden und durch einheitliche
Citas ersetzt werden.
Wenn der große Wurf zur Bildung der VSE nicht gelingen sollte, wird die EU-27 – mit kleinen
Retuschen da und dort – so weiterwursteln wie bisher und von
einer zur anderen Krise taumeln.
Der Rückhalt in der Bevölkerung,
der schon jetzt zusehends kleiner
wird, würde noch weiter abnehmen und könnte zum von allen
EU-Granden derzeit vehement bestrittenen Dominoeffekt des Brexit
führen.
Zwischenzeitlich wird mangels
des Korrektivs Großbritanniens
und der ökonomischen Schwäche
Frankreichs (die bisher wichtige
deutsch-französische Achse hat
ausgedient) und Italiens diese EU
dann von Deutschland politisch
und ökonomisch dominiert. Ob
das den mehrheitlich kleinen EUMitgliedern passen wird, ist mehr
als fraglich.
FRITZ BREUSS (Jahrgang 1944) ist JeanMonnet-Professor für wirtschaftliche
Aspekte der Europäischen Integration an
der Wirtschaftsuniversität Wien und leitet am Wifo den Forschungsschwerpunkt
„Internationale Wirtschaft“.
Rechnungshof: Es geht mehr
Einige Anmerkungen anlässlich der Angelobung der neuen RH-Präsidentin Kraker
Franz Fally
uf den ersten Blick sieht die
Bilanz von Exrechnungshofpräsident Josef Moser
nicht schlecht aus: Von den in
1000 Rechnungshofberichten abgegebenen Empfehlungen seiner
Ära wurden immerhin 80 Prozent
umgesetzt. In seiner Abschiedsrede vor dem Nationalrat appellierte Moser an die Abgeordneten, für
die Umsetzung der verbliebenen
20 Prozent zu sorgen, und verwies
auf die „Positionen für eine nachhaltige Entwicklung Österreichs“
– ein Papier, das in mehrfacher
Hinsicht unbefriedigend ist:
Q Der RH selbst schreibt von „stets
wiederkehrenden
Empfehlungen“, die nie berücksichtigt werden. Dazu zählen die Bereinigung
des Kompetenzwirrwarrs, die Zusammenführung von Ausgaben-,
Aufgaben- und Finanzierungsver-
A
antwortung, die Analyse der
Zweckmäßigkeit von Ausgaben
und deren gründliche Planung
und die Festlegung von Zielen.
Die Erfolge des Rechnungshofs
sind stark zu relativieren, wenn
bei diesen Themen keine Fortschritte erzielt werden konnten.
Q Häufig verfällt das Papier ins
Phrasenhafte, was auf einen Mangel an Substanz hinweist. Man
vergleiche Berichte aus den Amtszeiten der Vorgängerpräsidenten
Tassilo Broesigke oder Franz Fiedler mit dem Positionspapier: Der
qualitative Unterschied ist auffallend.
Q Von jeher differenziert der Rechnungshof zu wenig zwischen Bereichen, in denen es um enorme
Geldbeträge geht, und vergleichsweise kleinen Problemfeldern. So
wird im Positionspapier zwar das
Problem „hoher finanzieller Belastungen zukünftiger Generatio-
nen im Schienenverkehr“ genannt, am überzogenen Ausbauprogramm der Schiene mit einem
Gesamtvolumen von rund 65 Milliarden Euro wird aber nicht gerüttelt. Dafür wird beispielsweise
mehr als eine halbe Seite im Positionspapier für einen Bericht über
Mehrkosten bei der Innsbrucker
Nordkettenbahn von 15,2 Millionen Euro verwendet.
Diese drei Punkte zeigen, dass
sich die Arbeit des Rechnungshofs noch deutlich verbessern ließe. Zu hoffen ist, dass sich die
neue Präsidentin des Rechnungshofs ihrer Aufgabe engagiert widmen und dabei auch vor den großen Themen nicht zurückschrecken wird.
FRANZ FALLY ist Unternehmer in Wien
und fungiert als Sprecher der Vereinigten Bürgerinitiativen gegen den Bau des
Semmeringbasistunnels.