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11. Schweizerischer Stromkongress,
Referat Kurt Rohrbach, Präsident VSE
12. Januar 2017
Offenheit ist gefragt – und davon eine Menge
Es gilt das gesprochene Wort
«Wir machen klassische Energieversorger überflüssig!»
Bis vor einiger Zeit liess ein solcher Satz aufhorchen. Er wurde allerdings bisher auch nicht allzu ernst
genommen. In der Zwischenzeit lässt der Satz nicht mehr fest aufhorchen. Er wird dafür aber ziemlich ernst
genommen.
Es ist der Slogan eines Startups aus Deutschland. Die nicht gerade bescheidene junge Firma hat sich zum
Ziel gesetzt, Prosumer, PV-Anlagen, Batteriespeicher und andere Produzenten von erneuerbaren Energien
virtuell miteinander zu vernetzen – und die elektrische Leistung für den Markt zu poolen. Von «SchwarmEnergie» ist da etwa die Rede. Ein anderes, ähnliches Angebot fasst die Absicht im Werbetext blumiger
zusammen: «Der Energiemarkt verändert sich. Die Zeit der Dinosaurier-Kraftwerke geht vorbei. Immer mehr
Menschen erzeugen und speichern selbst saubere Energie vor Ort – zum Beispiel mit Photovoltaikanlagen,
Blockheizkraftwerken, Wärmepumpen, Solarbatterien oder den Batterien von E-Mobilen. Menschen werden
zu Energieproduzenten. Nicht mehr Konzerne, sondern Verbraucher entscheiden, welche Energie wann und
wo erzeugt wird.»
Leere Worte? Nein. Wir können heute beobachten, wie ganze Märkte innert Monaten wegbrechen – denken
Sie etwa an den SMS-Markt, der durch WhatsApp pulverisiert wurde. Deshalb haben wir gelernt, solch
kernige Slogans ernst zu nehmen. Wir haben gelernt, dass Kontinuität falsch und «disruptiv» richtig ist. Wir
haben das – in der Theorie und in Reden zumindest – schon so gut verinnerlicht, dass wir die Disruption,
diesen Unterbruch des Bestehenden, bereits fortschreiben.
Doch wir gehen in der Schweiz noch weiter. Wir nehmen sogar den Totalausfall voraus. Sicher haben Sie
mitbekommen, wie sich das Fernsehen mit dem Thema «Blackout» beschäftigt hat. Ich meine: Uns wird
langsam bewusst, dass bei unseren Netzen der Ausbau aus Verfahrensgründen dramatisch im Hintertreffen
liegt. Und wir spüren, wie empfindlich unsere Infrastruktur durch Cyber-Attacken getroffen werden kann. Die
Vorbereitung auf solche Ereignisse ist also wichtig, auch wenn die Wahrscheinlichkeit eines Eintretens klein
ist. Übrigens: Die Branche ist bei weitem nicht so naiv und schlecht organisiert, wie dies in den kürzlich
ausgestrahlten Videos von SRF dargestellt wurde.
Disruption – und wie wir ihr begegnen. Blackout – und wie wir ihn vermeiden. Schon das ist Stoff genug für
einen interessanten Stromkongress, zu dem ich Sie
[Anreden]
Hintere Bahnhofstrasse 10, Postfach, 5001 Aarau, Telefon +41 62 825 25 25, Fax +41 62 825 25 26, [email protected], www.strom.ch
ganz herzlich begrüsse und willkommen heisse. Für Ihr Interesse und Ihre Beiträge danke ich Ihnen
bestens.
Ich möchte meine Ausführungen – nach der etwas langen Einleitung – unter den Titel «Offenheit» stellen.
Offenheit gegenüber tiefgreifenden Veränderungen, denen auch die Strombranche aktuell ins Auge sieht.
Offensichtlich ist, dass die Grenzen zwischen Produzenten und Konsumenten von Energie immer mehr
verschwimmen. «Hier das Kraftwerk, dort der Kunde» – dieses Gefüge wird in Frage gestellt. Stattdessen ist
von Millionen kleiner Energieanlagen die Rede, die ein funktionsfähiges Netzwerk bilden sollen.
Ob es so herauskommt wissen wir nicht, aber es lohnt sich, selbst diesen Ansatz unvoreingenommen
anzuschauen.
Es gibt diverse Ursachen für all diese Umwälzungen. Die technische Entwicklung und die Massenproduktion
bei Sonnen- und Windenergie liessen die Gestehungskosten dramatisch sinken. Der Zubau von
Produktionsanlagen wurde gefördert. Die Überkapazitäten in der Erzeugung stiegen dadurch an. Und wir
lassen sie weiter ansteigen, so dass Energie kaum mehr einen Preis hat. Das allein macht die traditionellen
Energieversorger noch nicht überflüssig. Aber kombinieren Sie diese Überkapazitäten mit «Big Data», bzw.
der Digitalisierung. Und Sie werden sehen: Da kommt Einiges in Bewegung.
Lassen Sie mich anhand von zwei anderen Branchen zeigen, was passiert, wenn Unternehmen
Ineffizienzen und Lücken im Markt gezielt ausnutzen:
Fragen Sie Ihren Sohn oder Ihre Tochter einmal, wie sie ihre Übernachtungsgelegenheiten für eine Reise
organisieren. Die Antwort dürfte in vielen Fällen «natürlich AirBnb» heissen. Und was ist AirBnb? Es ist die
grösste Plattform für die Vermittlung privater Räume und Wohnungen, ja ganzer Häuser, an andere Private.
Über 2 Millionen Unterkünfte in 191 Ländern können Sie im Nu und bequem von Ihrem Smartphone aus
buchen. Die Hotelbranche klagt und erzittert. Ihr wird das Monopol auf eine Dienstleistung entrissen. Ein
Netzwerk aus privaten Anbietern bietet diese Dienstleistung gleich weltweit an. Und der Unternehmenswert
nach einem Börsengang? Die Finanzwelt schätzt ihn auf etwa 30 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Der
Schweizer Energie- und Automatisierungstechnikkonzern ABB ist etwa 48 Milliarden Dollar wert.
Sie können auch das Beispiel «Uber» und die Taxibranche anschauen, das ich hier nicht näher ausführe.
Der geschätzte Börsenwert des Unternehmens: 66 Milliarden Dollar.
Während in der Strombranche also die Grenzen zwischen Produzent und Verbraucher verschwimmen,
verschwimmen in der Hotelbranche die Grenzen zwischen Hotel und Hotelgast. Und in der Taxibranche
verschwimmen die Grenzen zwischen Fahrer und Gefahrenem. Geschäftsmodellen, die sich jahrzehntelang
bewährt haben, wird durch die Dezentralisierung und Digitalisierung der Boden entzogen. Ein Umdenken ist
gefragt. Neue Geschäftsmodelle müssen her.
Die Frage stellt sich: Was ist denn das Gemeinsame beim Strom, bei der Übernachtung und beim Transport
von A nach B?
Auf den ersten Blick ist es beruhigend, dass es bei allen nicht ohne handfeste Einrichtungen geht. Sie
schlafen wahrscheinlich nach wie vor lieber in einem weichen Bett als auf einem Laptop. Für den Transport
brauchen Sie ein Auto, weil Smartphones partout noch nicht fahren können. Und fürs Kochen benötigen Sie
immer noch Strom. Mit Bits und Bytes wird das Wasser einfach nicht heiss. Assets sind also nach wie vor
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unumgänglich. Die Krux ist aber bei allen Beispielen: Es gibt viel zu viele unbenutzte Betten, zu viele Autos
und zu viel Strom. Und es wird wohl noch über Jahre zuviel davon geben. Die IT-Welt und «Big Data»
machen dies unerbittlich sichtbar. Sie helfen damit, die Nutzung zu verbessern. Sie decken
Quersubventionen bei der Kalkulation schonungslos auf. Und das wird dazu führen, dass gezielter und
marktnäher investiert werden muss.
Solange diese Überkapazitäten bestehen, müssen wir damit leben: Investitionen in neue Geschäftsmodelle
bleiben wohl noch eine Zeit lang lukrativer als Investitionen in feste Assets. Sprich: Man investiert vorläufig
nicht weiter in Betten, Autos, Kraftwerke und Netze.
Diese Erkenntnisse sind zwar interessant, Sie helfen aber den Unternehmen der Energieversorgung nicht
weiter. Diese verfügen nun mal über physische Werte. Sie verfügen über ein geballtes Know-how,
jahrzehntelange Erfahrung und häufig auch über einen gesetzlichen Auftrag. Diese Kompetenzen, die ihren
Wert behalten, müssen weiter gepflegt werden. Sie aufzugeben wäre fatal! Sie sind aber nicht zu
verschenken, sondern zu vermarkten. Doch dazu ist es wichtig, neue Dienstleistungen anzubieten. Es wäre
fürs Überleben ebenso fatal, die Energiewelt der Zukunft nicht mitzuprägen.
Wir brauchen ergo Antworten auf folgende Fragen: Wie wird sich der Markt entwickeln? Welche
Dienstleistungen werden gefragt sein? Welche Rollen werden dabei von wem eingenommen?
Meine Damen und Herren: Wer diese Fragen beantworten will, kann es kaum mehr mit numerischen
Modellen, also mit «nackten Zahlen» tun. Die Energiewelt ist viel zu komplex geworden für quantitative
Prognosen. Der VSE wählt deshalb einen beschreibenden, also qualitativen Ansatz. Mit dem Projekt
Energiewelten wirft er einen Blick in die Energiezukunft der Schweiz. Konkret ins Jahr 2035. Wir sind dabei
offen gegenüber dramatischen Wendungen und Umwälzungen im Markt. Unser Projekt «Energiewelten»
beschreibt deshalb erst einmal vier sehr unterschiedliche Welten. In ihren Ausprägungen sind sie alle
extrem. In der «Smart World» etwa werden alle Lebensbereiche von der Informations- und
Kommunikationstechnologie komplett durchdrungen. Eine völlig flexible dezentrale Versorgung und
Verbrauchssteuerung ist Realität geworden. In der «Trust Word» hingegen sieht es ganz anders aus: Die
Integration der Erneuerbaren ist gescheitert. Europaweit überwiegt die zentrale Energieproduktion. In der
Schweiz dominieren vor allem Wasser- sowie neu auch Gaskraftwerke.
«Was bringen solche Extremwelten?», können Sie sich zu Recht fragen. Der VSE möchte damit – einfach
gesagt – die Grenzen des Möglichen abstecken. Wir können die Zukunft nicht vorhersagen, aber wir können
uns bestmöglich auf sie vorbereiten – in dem wir eben unterschiedlichste Entwicklungen und deren
Konsequenzen analysieren. «Die Strombranche stochert im Nebel» titelte ein renommiertes Blatt dazu. Nun,
immerhin geht es in dem Fall dem Weltenergierat WEC mit seinen Mitgliedern aus über 90 Ländern – und
tausenden von Experten – nicht anders als dem VSE. Am Weltenergiekongress 2016 vor drei Monaten
stellte auch der WEC nicht eines, sondern drei mögliche Szenarien vor, wie die Energiezukunft aussehen
könnte. Auch der Weltenergierat trifft verschiedenste Annahmen bezüglich Markt, Politik und technischen
Fortschritt. Und er beschreibt hernach die möglichen Konsequenzen für die Energiewelt. (Zugegeben: Diese
Konsequenzen sind bei den WEC-Szenarien – dank Unterstützung des Paul Scherrer Instituts PSI – auch
quantitativ hinterlegt, was wir nicht bieten können). Aber selbst der Weltenergierat legt sich auf kein
Szenario fest.
Ich resümiere: Unsere Mitglieder wissen einerseits selber, dass sie neue Formen und Modelle finden und in
vielen Bereichen grundsätzlich umdenken müssen. Die «Energiewelten» des VSE können dabei aber
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wertvolle Inputs liefern. Auch in der Politik und bei Behörden können die Zukunftswelten helfen, passende
Marktmodelle und Ordnungsrahmen zu schaffen.
Meine Damen und Herren, ich habe darüber gesprochen, wie sehr die Strombranche im Umbruch ist. Ich
habe ausgeführt, dass diese Entwicklungen andere Branchen gleichermassen betreffen. Zudem habe ich
kurz umrissen, wie wir uns diesen Herausforderungen stellen wollen. Wir halten uns an Offenheit und neue
Denkmodelle, von denen sich letztlich neue Geschäftsmodelle ableiten lassen.
Doch wofür steht die Branche im Kern und wofür setzt sie sich ein? Was ist die eigentliche Vision?
Hier die Kurzfassung: Energie soll auch in Zukunft ausreichend und erschwinglich verfügbar sein. Die
Energiewirtschaft übernimmt weiterhin Verantwortung für die Versorgungssicherheit. Sie setzt sich tatkräftig
für geeignete Rahmenbedingungen ein. Dezentrale Produktion, Speicher und Verbrauch werden
schweizweit so eingebunden, dass die Netzstabilität gewährleistet bleibt. Das bedingt – natürlich – eine gut
ausgebaute Netzinfrastruktur. Langfristig streben wir in der Schweiz mit Nachdruck eine CO₂-arme
Energieversorgung und Stromproduktion sowie umweltgerechte Lösungen an – in Einklang mit dem
Klimaabkommen von Paris. Unser Land behält bei alledem einen hohen Eigenversorgungsgrad. Die
Schweiz nimmt jedoch auch an einem diskriminierungsfreien EU-Energiebinnenmarkt teil.
Der VSE wird weiterhin seine Verantwortung wahrnehmen, damit diese Vision zur Realität wird – durch
einen aktiven Beitrag in der Energiepolitik. Wir tun dies durch Früherkennung und Einordnung von Themen.
Wir definieren klare Positionen und vertreten diese nach aussen. Wir pflegen unsere Kontakte zu
Verwaltung, Parlament, Verbänden und Organisationen. Und mit unserem geballten Fachwissen bieten wir
als Dachverband jederzeit Hand zu pragmatischen Lösungen.
Bei der Gestaltung der neuen Marktregeln müssen wir unsere Interessen – möglichst gemeinsam mit
Verbündeten – auch auf europäischer Ebene artikulieren. Nur dann werden wir als Branche unsere
Produktion und unsere Produkte weiterhin in einem internationalen Kontext einsetzen können. Wir können
heute zwar noch nicht wissen, wie sich diese Produktion in 20 Jahren zusammensetzt – und welche
Produkte sowie Dienstleistungen Energieversorger dann anbieten werden. Wir wissen aber: Strom, Anlagen
und Netze wird es immer brauchen – ebenso wie einen weisen Regulator.
Mit diesen Überlegungen möchte ich meine Einleitung hier am 11. Stromkongress beschliessen. Es ist mein
letzter Kongress in der Funktion als Präsident des VSE. Ich freue mich aber sehr, dass der Stromkongress
auch weiterhin Bestand hat. Und ich wünsche meinem Nachfolger sowie allen Mitarbeitenden, die für die
Organisation des Kongresses verantwortlich sind, bereits jetzt alles Gute und viel Erfolg!
Ihnen, geehrte Damen und Herren, wünsche ich weiterhin einen anregenden Stromkongress. DANKE für
Ihre Aufmerksamkeit!
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