Wie Europa schlechtgeredet wurde

Manuskript
Beitrag: Brüssel als Sündenbock –
Wie Europa schlechtgeredet wurde
Sendung vom 28. Juni 2016
von Joachim Bartz, Anne Gellinek, Hans Koberstein, Katrin Materna, Martina
Morawietz, Tonja Pölitz, Astrid Randerath, Dana Sümening und Andreas
Wiemers
Anmoderation:
Das ist jetzt wohl auch Angela Merkel aufgefallen. Sie will deshalb
künftig etwas sicherstellen: Die Bürger sollen konkret spüren
können, wie sehr die Europäische Union ihr persönliches Leben
verbessert, sagte sie in ihrer ersten Rede nach dem Brexit. Too
late, too late – aus Sicht vieler Briten. Und auch für Deutschland
kommt die Einsicht, dass man die Bürger mitnehmen muss, spät,
vielleicht zu spät. Jahrelang hat die Politik die miese Beteiligung
bei den Europawahlen hin-, aber nicht ernst genommen.
Jahrelang diente Brüssel auch deutschen Politikern als
Sündenbock, wenn’s Ihnen daheim gerade in den Kram passte.
Unsere Autoren zeigen, das könnte sich rächen.
Text:
Dresden. Im Café Europa müssten Fans der EU zu finden sein,
doch auch viele Deutsche fühlen sich abgehängt, von Brüssel
nicht mehr vertreten. Steigende Mieten, unsichere Arbeitsplätze.
Das Gefühl, dass die EU das Leben tatsächlich verbessert, fehlt
bei etlichen.
O-Ton Frontal 21:
Was fällt Ihnen denn Positives ein, wenn Sie an die EU
denken?
O-Ton Theresa Richter:
An was? An die EU - oh Gott, Positives.
O-Ton Oliver Borsch:
Dass da vieles eigentlich nicht deutlich den EU-Bürgern
gemacht wurde, was das bedeutet und wie Dinge
entschieden werden.
O-Ton Jürgen Schulz:
Die vielen Ausländer, die nach Deutschland kommen, ganz
einfach. Wird zu viel - immer mehr, mehr, mehr, mehr. Ich
hab nichts gegen die, aber ich meine, das belastet die
Umwelt, das belastet die Leute, die Menschen. Die verlieren
den Spaß, die Leute. Das ist das Problem, die haben Angst.
24-Stunden-Betrieb - im Café Europa gehen nie die Lichter aus.
Gilt das aber auch für die EU? - fragt man sich hier:
O-Ton André:
Ich denke, das hat was damit zu tun, dass ein negatives Bild
von Europa gepflegt wird in den sozialen Medien, in den
Medien insgesamt, und man oft nur die negativen Dinge, die
von der EU kommen, propagiert bekommt oder gesagt
bekommt. Die ganzen positiven Dinge, die wir davon haben,
die will keiner sehen.
O-Ton Peter van der Deck:
Ich finde, den Politkern, den bringt das mehr als uns
Bürgern. Und der Wirtschaft bringt das mehr, aber nicht uns
Bürgern.
Dass die EU ihre Interessen vertritt - als Bürger und als
Verbraucher - ist vielen heute wichtig. Frieden in Europa, das
alleine zieht nicht mehr.
Das lässt sich auch schon jahrzehntelang an der Beteiligung bei
EU-Wahlen ablesen. Seit 1979 ist sie dramatisch gesunken.
Doch erst am Tag nach dem Brexit stellt die Bundeskanzlerin fest:
Das Image der EU bei den Bürgern muss verbessert werden.
O-Ton Angela Merkel, CDU, Bundeskanzlerin, am 24.06.2016:
Wir müssen deshalb sicherstellen, dass die Bürgerinnen und
Bürger konkret spüren können, wie sehr die Europäische
Union dazu beiträgt, ihr persönliches Leben zu verbessern.
Die Bürger mitnehmen, plausibel machen, wofür Europa steht.
Doch genau das haben deutsche Politiker versäumt. Stattdessen:
Anti-Brüssel-Sprüche, zuletzt bei den EU-Wahlen 2014.
O-Ton Angela Merkel, CDU, Bundeskanzlerin,
Bundesparteitag zur Europawahl am 05.04.2014:
Ölkännchen auf den Tischen von Restaurants und
Duschköpfe mit ihrem Wasserdurchlass, die gehören nicht in
die europäische Entscheidungskompetenz.
O-Ton Martin Schulz, SPD, SPD-Sonderparteitag zur
Europawahl am 26.01.2014:
Warum, frage ich, muss die Kommission den
Wasserverbrauch von Toilettenspülungen regeln oder den
Energieverbrauch von Duschköpfen oder Wasserhähnen?
O-Ton David McAllister, CDU, Spitzenkandidat Europawahl,
am 05.03.2014:
Toilettenspülungen!
O-Ton Horst Seehofer, CSU, Parteivorsitzender, am
10.05.2014:
Oliven – äh, äh – Ölkännchen!
Olivenölkännchen. Toilettenspülungen. Duschköpfe. Was beim
Wähler hängenbleibt: In Brüssel sitzen durchgedrehte EUBürokraten.
Dabei hatten einzelne Mitgliedsstaaten selbst um diese Regeln
gebeten. Der Verbraucher sollte Wasser sparen. Und einige
Südländer wollten offene Ölkännchen wegen der Hygiene
verbieten lassen. Im Wahlkampf aber sind solche Fakten egal.
Es geht um Stimmenfang mit Stimmungsmache gegen die EU.
Manchmal liefern Politiker gleich selbst die Steilvorlage: Angela
Merkel entschied sich für Günther Oettinger als Deutschlands EUKommissar - der war zuvor zurücktreten als Ministerpräsident. Als
Energie-Kommissar ging‘s nach Brüssel mit mangelnden
Fachkenntnissen und mit schlechtem Englisch.
Andere Länder schicken auch nicht gerade die erste Garde nach
Brüssel. Das fällt auch den Wählern auf. Viele nehmen die EU
nicht mehr ernst, was die Wahl von Satiriker Martin Sonneborn
ins EU-Parlament belegt. Der legt sein eigenes EU-Mandat als
Spaßveranstaltung aus.
O-Ton Martin Sonneborn, DIE PARTEI, MdEP, 2014:
Wir möchten diese Gurken-Verordnung wieder einführen –
und zwar nicht für Gurken sondern für Exportwaffen. Das
heißt, dass deutsche Exportwaffen – und andere natürlich
auch – demnächst auf zehn Zentimeter Lauf eine zwei
Zentimeter Krümmung haben müssen.
O-Ton Prof. Ulrike Guérot, Politikwissenschaftlerin,
Universität Krems:
Also, wir haben hier mit einem riesigen Vertrauensverlust
bezahlt in den letzten Jahren - die Europäische Union, das ist
empirisch nachweisbar, jede Statistik gibt das her. Und es
gibt ja diesen Spruch: „Geld kann man verlieren, Vertrauen
nicht“ – ja, weil man es eben auch nicht mehr aufbauen kann.
Beispiel Flüchtlinge. Wie man mit ihnen umgeht, darüber ist die
EU heillos zerstritten. Deutschland ist mit Schuld daran, war zu
lange nicht solidarisch. Erst nicht mit den Flüchtlingen und dann
nicht den EU-Nachbarn.
Eines der schwersten Unglücke ereignete sich am 3. Oktober
2013: Vor der Küste von Lampedusa sinkt ein Flüchtlingsboot,
390 Menschen aus Somalia und Eritrea sterben. Italien rief nach
Solidarität, war überfordert. Doch Deutschland zeigte die kalte
Schulter - nur vier Tage nach der verheerenden Katastrophe.
O-Ton Hans-Peter Friedrich, CSU, ehemaliger
Bundesinnenminister, am 07.10.2013:
Lampedusa gehört zu Italien. Und Italien muss seine
Flüchtlinge natürlich auch versorgen. Und wir erwarten
natürlich auch von Italien, dass es seine Aufgaben erfüllt.
Die Bundesregierung lehnte Forderungen ab, zur Entlastung
Italiens mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Solange Deutschland
selbst nicht betroffen war, ließ Berlin seine Partner an der EUAußengrenze im Stich.
Als die Flüchtlinge im vergangenen September Deutschland
erreichen, ist es die deutsche Bundeskanzlerin, die immer wieder
eines fordert:
O-Ton Angela Merkel, CDU, Bundeskanzlerin:
Eine europäische Lösung!
Die EU-Innenminister einigen sich zwar auf die Verteilung von
Flüchtlingen, doch nur auf dem Papier. Ungarn, Rumänien,
Tschechien und Slowaken machen nicht mit, kritisieren
Deutschland für seine Willkommenskultur. Und der ungarische
Premier Viktor Orbán demonstriert eine vollkommene Abkehr von
der europäischen Solidarität.
O-Ton Viktor Orbán, Ministerpräsident Ungarn, am
03.09.2015:
Das Problem ist kein europäisches Problem, es ist ein
deutsches.
Nur durch Grenzzäune bekommt die EU die Flüchtlingskrise
vorerst in den Griff, bleibt tief gespalten und offenbart, wie wenig
Gemeinschaftssinn in der EU herrscht.
O-Ton Prof. Ulrike Guérot, Politikwissenschaftlerin,
Universität Krems:
Diese deutsche Dominanz, die in den letzten Jahren in
Europa regiert hat, das fing mit der Grexit-Krise an, mit der
Bankenkrise, Frau Merkel entscheidet, die hat Spuren
hinterlassen. Und dass das dann in der Flüchtlingsfrage
nochmal sozusagen durchexerziert wurde, also, erst
entscheidet Deutschland beim Euro mehr oder weniger im
Alleingang, aber obendrauf noch bei der Flüchtlingsfrage,
das hat wirklich emotional in vielen Ländern etwas gerissen.
Was angesichts solcher Krisen völlig verblasst, sind die
Errungenschaften. Zehn Jahre lang kämpfte die EU zum Beispiel
gegen Roaming-Gebühren. Kaum war man über die Grenze,
schon piepte das Handy – der Hinweis: Jetzt wird’s teuer.
O-Ton Mann:
Meine Schwester ist schon mal mit 600 Euro RoamingGebühren beglückt worden, weil sie ahnungslos ihr Handy
an zwei Wochenenden hintereinander in Amsterdam
eingeschaltet ließ.
Nach einer EU-Vorschrift dürfen Mobilfunkanbieter jetzt nur noch
wenige Cent Aufschläge pro Anruf, SMS oder Download
berechnen. 2017 ist auch damit Schluss.
O-Ton Klaus Müller, Verbraucherzentrale Bundesverband:
Vergleichen Sie das mit den USA, mit Asien, mit Afrika, dann
sehen Sie auf Ihrer Telefonrechnung, warum wir Danke
gegenüber Brüssel sagen können.
Die EU hat auch das durchgesetzt. Wer Verspätungen mit
Flugzeug, Schiff oder Bahn erlebt, wird entschädigt. Fluggastrechte sind europaweit einheitlich.
Und auch das machte die EU möglich: Pflegepersonal aus Polen
oder Rumänien – inzwischen unverzichtbar für viele deutsche
Rentner und Pflegeheime.
O-Ton Klaus Müller, Verbraucherzentrale Bundesverband:
Das eine ist tatsächlich, das: „Tue Gutes und rede darüber“.
So wie jeder nationale Politiker immer sofort an seine
Wiederwahl denkt, was ja auch legitim ist, und auch über die
guten Dinge spricht, die man erreicht hat. Ich glaube, das
passiert in Brüssel mindestens bei der Kommission, auch
beim Rat und vielleicht sogar beim Europäischen Parlament
zu wenig.
Manches, was beim Verbraucher längst ankommt, verbucht er
nicht unter EU. Dabei hat die Bevölkerung profitiert von 20 Jahren
EU-Markt, so das Ergebnis einer Prognos-Studie 2014. Danach
verzeichnet jeder Einwohner Deutschlands einen
durchschnittlichen Einkommensgewinn von 450 Euro pro Jahr.
Damit führt Deutschland die Liste in Europa an. Kein EU-Land
verzeichnet jährlich mehr Einkommensgewinne.
O-Ton Prof. Marcel Fratzscher, Direktor Deutsches Institut für
Wirtschaft:
Viele unserer Stärken, der wirtschaftlichen Stärke, weshalb
Deutschland so gut dasteht heute, hat viel mit Europa zu tun,
mit einer starken Währung, mit einer starken globalen
Position, dadurch, dass wir Teil einer Europäischen Union
sind. Und wir brauchen unbedingt wieder einen ehrlicheren
Dialog darüber, was Europa uns bringt und wie wir Europa
reformieren können, dass diese Vorteile, die in den letzten 70
Jahren ohne Zweifel entstanden sind, gesichert werden und
ausgebaut werden können.
Wir erinnern uns: Es gab mal eine Zeit, in der wir in Europa noch
ordentliche Grenzen hatten - mit Schlagbaum und Zoll.
O-Ton Ruprecht Eser, ehemaliger Moderator heute journal,
ZDF, 1991:
Und das Chaos an den Grenzübergängen droht sich zu
Ostern auch auf den Ferienverkehr auszudehnen.
Und jedes europäische Land hatte seine eigene Währung. Wie
viel die gerade wert war, hing vom aktuellen Kurs ab.
O-Ton Frau:
Wir haben hier für diese Kokosnuss-Stücken 9.000 Lire
bezahlt. Das ist aber mehr wie neun Mark jetzt.
So war das damals, als wir noch Grenzen hatten. Und heute?
Heute warnen im Café Europa in Dresden die ersten davor, dass
die EU wieder zerfällt, dass Europa zurückfällt in alte Zeiten.
O-Ton Franz Brazder:
Ohne EU-Hilfen, ohne EU-Gelder ist doch die Hälfte von
Europa, einfach, kann man von der Karte streichen. Und
sonstige Sachen: Wir wollen selbstständig bleiben und wir
machen nur unsere eigene Nummer - das sind Leute von
gestern, das wird nie funktionieren, nie im Leben.
Kurz vor Mitternacht im Café Europa - auch in Brüssel ist es fünf
vor zwölf.
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