Manuskript Beitrag: EU-Türkei-Abkommen – Umstrittener Flüchtlingsdeal Sendung vom 28. Juni 2016 von Christian Esser, Birte Meier, Asli Özarslan und Joe Sperling Anmoderation: Schon vor dem Brexit musste sich Angela Merkel mit einem anderen Austrittskandidaten rumschlagen. Horst Seehofer, der noch vor ein paar Monaten mit dem Exit aus der Christlichen Union drohte. Nach einem Treffen mit der Kanzlerin gab er sich jetzt zufrieden. Es kämen weniger Flüchtlinge, sagte er, und es bestehe nicht mehr der Eindruck, dass Deutschland alle haben wolle. Aha. So kann man Probleme weg reden, obwohl sie nicht gelöst sind. Unterdessen möchte eine Künstlergruppe Syrer per Flugzeug ins Land bringen oder Tigern zum Fraß vorwerfen. Unsere Autoren über politische Spiele in ernster Lage. Text: Heute Morgen in Berlin-Mitte. Der Polit-Provokateur Philipp Ruch zeigt, wo heute Abend angeblich Flüchtlinge von lybischen Tigern gefressen werden sollen. O-Ton Philipp Ruch, Zentrum für Politische Schönheit: Das ist die Schleuse, wo die Flüchtlinge heute Abend reinkommen. Frontal 21: Wo kommen die her? O-Ton Philipp Ruch, Zentrum für Politische Schönheit: Von da draußen. Frontal 21: Und dann, was passiert dann? O-Ton Philipp Ruch, Zentrum für Politische Schönheit: Dann werden sie gefressen. Selbstmord mit Tigern – so versuchen die Aktivisten vom Zentrum für Politische Schönheit seit über einer Woche, die Bundesregierung unter Druck zu setzen, für eine aus ihrer Sicht gute Sache: 100 syrische Flüchtlinge sollen ohne gültige Reisepapiere aus der Türkei ausgeflogen werden. O-Ton Jochen, Zentrum für Politische Schönheit: Wir haben einfach die Daten von 100 syrischen Flüchtlingen gesammelt, deren Familienangehörige hier in Deutschland sitzen. Und die warten auf Familiennachzug und dafür haben wir das hier gesammelt, dass die einfliegen dürfen. Weil die Bundesregierung sagt ja immer, das Bundesinnenministerium, dass sie gewisse Daten brauchen, um ein Visum auszustellen. Und das sind alle Daten, die man braucht. Also, die Bundesregierung muss jetzt nur noch sagen: „Ja“ oder „Nein“. Sie sagte „Nein“. Stattdessen informierte die Bundespolizei die türkischen Behörden, und die Fluggesellschaft sagte den Flug kurzfristig ab. Klar war da schon: Das Bundesinnenministerium hatte die Aktion verurteilt – als zynisch. O-Ton Philipp Ruch, Zentrum für Politische Schönheit: Das Bundesinnenministerium hat sich als Theaterrezensent geoutet und hielt das für unangemessen und zynisch, was wir da machen, die Inszenierung. Wir haben erst gedacht, sie reden von ihrer Inszenierung an der Libyschen Küste, aber gemeint hatten sie diese Aktion. Das Dramatische ist, dass diese unglaublichen barbarischen Zustände, die wir um Europa herum haben, an der EU-Außengrenze. dass die hier keiner sieht. Und das, was man hier sieht, darüber regt man sich dann gerne auf. Das Ziel der Aktion: mehr Aufmerksamkeit für die Flüchtlinge, die im Mittelmeer zu Tausenden zu Tode kommen. Sie sterben, weil es für sie keinen sicheren Fluchtweg gibt. Die Künstler wollen provozieren, präsentieren eine junge Syrerin: Bayan. Angeblich will sie sich den Tigern zum Fraß vorwerfen. O-Ton Frontal 21: Was ist Ihr Plan heute hier? O-Ton Bayan, Geflüchtete aus Syrien: Also, wir haben heute diese Aktion „Flüchtlinge fressen“ und ich bin ganz bereit, fressen zu lassen. O-Ton Frontal 21: Sie wollen sich allen Ernstes fressen lassen? O-Ton Bayan, Geflüchtete aus Syrien: Ja. O-Ton Frontal 21: Ist Ihnen das ernst? O-Ton Bayan, Geflüchtete aus Syrien: Ja klar. O-Ton Frontal 21: Warum? O-Ton Bayan, Geflüchtete aus Syrien: Naja, mein Leben ist nicht wichtiger als das Leben all dieser Leute, die Hunderte oder Tausende, die jetzt gestorben sind im Meer. Die müssten diese ganze Strecke machen, um hier nach Europa, Deutschland, Frankreich oder Holland zu kommen. Dabei sollte das Abkommen zwischen der EU und der Türkei eigentlich legale Fluchtwege eröffnen – zumindest für syrische Flüchtlinge. Die Rede war einmal von mindestens 18.000. Doch davon ist die Politik weit entfernt. Bislang nahmen erst wenige EU-Staaten syrische Flüchtlinge über den legalen Weg aus der Türkei auf – darunter Deutschland: 292 Menschen, Schweden: 187, Niederlande: 52, Luxemburg: 27, und Finnland: 11. Insgesamt gelangten so lediglich 584 syrische Flüchtlinge aus der Türkei in die EU. Millionen sitzen in der Türkei fest. Und das Land schottet sich ab, baut eine Mauer an der Grenze. Es häufen sich Berichte von Menschenrechtsverletzungen. Sogar von Schüssen an der syrischen Grenze ist die Rede. Das ist bislang unbestätigt. Vergangenen Mittwoch im Bundestag. Die Opposition verlangt Aufklärung: Was wissen die Nachrichtendienste von den Vorwürfen? O-Ton Renate Künast, B´90/GRÜNE, MdB: Seit Dezember wissen diese Dienste über die Vorwürfe, über die Hinweise, dass zum Beispiel Amnesty und andere sagen: Dort wird geschossen und dort gibt es entsprechend Vorrichtungen. Da muss es doch ein Aufklärungsinteresse und einen Aufklärungswillen geben, dazu sind doch Dienste da. Und deshalb frage ich: Was haben die militärischen Dienste ganz konkret unternommen, um zu recherchieren? O-Ton Ursula von der Leyen, CDU, Bundesverteidigungsministerin: Zunächst einmal möchte ich auf das Schärfste zurückweisen, Ihre Unterstellung, das militärische Nachrichtenwesen würde die Augen schließen und weggucken. All das, was Sie eben geschildert haben, ist ja schon ein erheblicher Vorwurf, den Sie da aussprechen. Den weise ich auf das Schärfste zurück. O-Ton Sevim Dağdelen, DIE LINKE, MdB: Ja, die Bundesregierung informiert sich vom türkischen Geheimdienst, von der türkischen Regierung lässt sie sich informieren, statt den Berichten von Vereinten Nationen, Human Rights Watch, Amnesty International, also seriösen Quellen sozusagen zu folgen und eigene Untersuchungen anzustellen. Wenn die Bundesregierung das nicht macht, dann macht sie sich zum Komplizen der Verbrechen der türkischen Regierung. Harte Vorwürfe, die sie hier, beim Zentrum für Politische Schönheit, teilen. Sie fragen demonstrativ: „Mama, warum kommen die Flüchtlinge nicht einfach mit dem Flugzeug?“ Eine einfache Frage mit ernstem Hintergrund: Denn das Aufenthaltsgesetz bestraft Fluggesellschaften, wenn diese Passagiere ohne gültige Papiere in die EU fliegen. Damit ist der legale Weg für viele Flüchtlinge versperrt. Auch das macht die Opposition zum Thema im Bundestag, vergangenen Freitag. O-Ton Ulla Jelpke, DIE LINKE, MdB: Deswegen fordert die Linke auch in einem Antrag, dass wir endlich legale und sichere Wege brauchen. Aktionen gegen Transportunternehmen gehören ersatzlos gestrichen. O-Ton Ulla Schmidt, SPD, Vizepräsidentin Deutscher Bundestag: So, jetzt können Sie es wieder herunternehmen, Frau Jelpke. O-Ton Ulla Jelpke, DIE LINKE, MdB: Das ist nur ein Flugzeug, Frau Präsidentin. O-Ton Sevim Dağdelen, DIE LINKE, MdB: Fakt ist ja, dass die Menschen tatsächlich weiterhin sterben – allein bis letzten Monat diesen Jahres haben wir 2.500 Tote gehabt – insofern eine kleine einfache, ganz konkrete Maßnahme, die zur Beendigung des Massensterbens im Mittelmeer beitragen könnte. Ist das nicht eine Möglichkeit? O-Ton Thorsten Frei, CDU, MdB: Nein, Frau Kollegin Dağdelen, das ist aus unserer Sicht keine Möglichkeit. Ich werde gleich noch etwas sagen zum Thema legale Migration. Aber wenn Sie glauben, dass man 1,8 Millionen illegale Grenzübertritte nach Deutschland im vergangenen Jahr zu legalen machen sollte, dann sage ich klipp und klar „Nein“ dazu. Gestern Abend. Das Zentrum für Politische Schönheit hat einen besonderen Gast: Bundesrichter Thomas Fischer. Er zweifelt, dass das Beförderungsverbot für Menschen ohne Papiere mit dem Geist des Grundgesetzes vereinbar sei. O-Ton Thomas Fischer, Richter am Bundesgerichtshof: Ich würde eine Initiative für die Abschaffung dieser Regelung durchaus befürworten. Wenn die Menschen einfach mit dem Flugzeug herfliegen könnten, das würde ein Zehntel davon kosten, wäre komfortabel und sicher. Und man könnte die Asylverfahren dann immer noch hier abwickeln. Es ist klar, das will die deutsche Öffentlichkeit und die deutsche Politik nicht, weil man die großen Flüchtlingslager nicht rund um den Frankfurter Flughafen haben möchte, sondern lieber in Izmir. Seine Familie sitzt fest, in der Türkei. Maher Alhalabi hätte sie heute gerne empfangen. Diese Hoffnung hatten die Künstler geweckt. O-Ton Maher Alhalabi, syrischer Flüchtling: Ich bin alleine gekommen, weil viele Boote untergegangen sind. Ich habe selbst mein Leben riskiert, ich wollte jedoch nicht das Leben meiner Familie aufs Spiel setzen. Ich hatte große Hoffnung, dass meine Angehörigen in kürzerer Zeit hierherkommen können, aber es dauert wohl noch anderthalb bis zwei Jahre, das ist eine lange Zeit. Wenn meine Familie so lange in der Türkei bleibt, wird sie zerstört. Ich danke denjenigen, die diese Aktion durchführen wollten. Kurz vor sieben Uhr vor der Tiger-Arena. Countdown beim „Flüchtlinge fressen“. Gefressen wird am Ende niemand. Offensichtlich braucht es Provokation und Spektakel, um Aufmerksamkeit zu schaffen für die vielen Toten im Mittelmeer. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. 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