Wer hat hier ein Neonaziproblem? Rechtsextreme Hooligans werden in mehreren osteuropäischen Staaten von Politikern und Funktionären geduldet. Und mehr als das. Seite 21 Foto: dpa/Peter Powell Sonnabend/Sonntag, 18./19. Juni 2016 71. Jahrgang/Nr. 141 Bundesausgabe 2,30 € www.neues-deutschland.de STANDPUNKT Russische Sportler ausgeschlossen Nicht irgendwo, irgendwann TASS: Leichtathletikweltverband verlängert Sperre bis Olympia Katja Herzberg fordert rasche Folgen aus dem Mord an Jo Cox Die fabelhaften 70 Prozent des Herrn de Maizière Mensch hätte meinen können, die Zeit der politischen Attentate auf Amtsträger wäre überwunden. Doch dieses perfide Mittel, seine Überzeugungen mit aller Gewalt durchzudrücken, ist längst nicht mehr nur als abstrakte Gefahr zurück im Alltag der politischen Auseinandersetzung. Die Anzeichen dafür waren lange erkennbar: in Form von Morddrohungen, Steckbriefen, Angriffen auf Büros und das persönliche Umfeld von Engagierten – nicht nur in Deutschland. Mit der damaligen Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker wurde eine Politikerin lebensgefährlich verletzt. Nun ist die britische Abgeordnete Jo Cox Mordopfer eines Mannes geworden, der zumindest in Verbindung zu nationalistischem und rassistischem Gedankengut steht. Was auch immer die unmittelbaren Auslöser der Tat waren, sie geschah in einem Klima, das kaum aufgeheizter sein könnte. Die Bluttat ereignete sich eben nicht irgendwo irgendwann, sondern in einer besonderen Situation für Großbritannien und Europa. Es ist trotz seines Wohlstands politisch in Gefahr, auch wegen Aufhetzern wie jenen von UKIP und AfD. Drohungen, wie sie auch Cox erhielt, dürfen nicht länger ignoriert werden. Gefährdete Personen müssen geschützt werden. Und es gilt, trotz des schockierenden Attentats für eine hohe Beteiligung beim Brexit-Referendum zu sorgen. Dieses demokratische Instrument zur Willensbildung muss nun genutzt werden, um jenen, die Ängste und Hass schüren, den nächsten Erfolg zu versagen. Innenminister macht mit erfundener Zahl Stimmung gegen Flüchtlinge Berlin. Thomas de Maizière ist Angela Merkels Mann für alle Fälle – er war schon Kanzleramtschef, Verteidigungsminister, nun ist er Innenminister. Als Leiter des Statistischen Bundesamts hingegen ist er ungeeignet. Spätestens, seit er jetzt freihändig behauptet hat, 70 Prozent der männlichen Flüchtlinge unter 40 Jahren würden »vor einer Abschiebung für krank und nicht transportfähig erklärt«. De Maizières Vorwurf: Ärzte stellten zu viele ungerechtfertigte Atteste aus. Allerdings kam schnell heraus, dass statistisch belastbare Daten für eine solche Behauptung fehlen. Sagt jedenfalls de Maizières eigenes Ministerium. Lediglich »spotlight-artig« sei ihm von solchen Fällen berichtet worden. Der Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte reagierte empört. Dessen Vorsitzender Wulf Dietrich urteilt, dem Minister sei unbekannt, dass hinter den Zahlen Menschenschicksale stehen. Fluchtversuche durch die Sahara oder über das Mittelmeer seien »keine Betriebsausflüge« und verursachten oft schwere Traumata. Aus Protest gegen die EU-Asylpolitik erklärte die Vereinigung Ärzte ohne Grenzen, auf Finanzhilfen von EU-Staaten künftig zu verzichten. wh Seiten 2, 5 und 22 Foto: dpa/Kay Nietfeld UNTEN LINKS Nachdem in mehreren Studien bewiesen wurde, dass die Arbeitswoche mit dem Montag beginnt, hat sich die Untersuchungs- und Nachfragewissenschaft endlich gründlich mit diesem Tag beschäftigt und Fragen gestellt, auf deren Beantwortung unsereins seit Jahrzehnten wartet. Schlafen die Montagsbetroffenen schlecht? Trinken sie Kaffee oder Tee? Wie oft machen sie blau oder schlagen auf dem Arbeitsweg um sich? Helfen lilalustige Montagsmützen gegen den Frust oder besser gleich ein Montagstherapeut? Bei welcher Musik verstärkt sich die Aggression? Was muss an diesem Tag verboten werden: Zeitung lesen, Flugzeug fliegen, Gesetze verabschieden, Mutti beschwindeln? Würde es helfen, Montag mit Donnerstag zu tauschen? Brauchen wir ein Unterrichtsfach für Montagsstrategien? Wäre es besser, den Montag in Nachdemsonntag-Tag umzubenennen wie in Kaschubien und Bulgarien? Oder soll man ihn ganz abschaffen? Zutreffendes bitte ankreuzen und bis Montag abgeben. ott ISSN 0323-3375 Mörder von Jo Cox hatte Nazikontakte Labour-Politikerin wurde schon vor Monaten bedroht / Brexit-Debatte hat die Stimmung aufgeheizt Der Abstimmungskampf um den Verbleib Großbritanniens in der EU ruhte am Freitag. Das Land gedachte der ermordeten Abgeordneten Jo Cox. Der Täter soll Nazikontakte gehabt haben. Von Peter Stäuber, London Einen Tag nach der Ermordung der Parlamentsabgeordneten Jo Cox trauert Großbritannien und sucht nach den Gründen für die Bluttat. Die 41-jährige Politikerin der Labourpartei wurde am Donnerstag in ihrem Wahlkreis in der Grafschaft Yorkshire mit mehreren Pistolenschüssen und Messerstichen niedergestreckt und starb kurz darauf im Spital. Politiker aller Parteien bekundeten ihren Respekt für Cox, die als eine engagierte und lebhafte Abgeordnete galt. Die Kampagnen für und gegen den Verbleib des Landes in der EU wurden vorerst suspendiert. Premierminister David Cameron und Labourchef Jeremy Corbyn traten gemeinsam im Wahlkreis des Opfers auf. Die Konservative Partei hat angekündigt, aus Respekt keinen Kandidaten für die Nachfolge Cox’ aufzustellen. Der Mann ist offenbar mit großer Brutalität vorgegangen: Er ha- be der bereits zu Boden gegangenen Politikerin ins Gesicht geschossen, sagte ein Augenzeuge der BBC. Dabei habe der Täter »Britain First« (Großbritannien zuerst) und »Vorrang für das Vereinigte Königreich« gerufen. »Er hat es zwei oder drei Mal gerufen«, sagte der Café-Besitzer Clarke Rothwell. »Er rief es, bevor er auf sie schoss und nachdem er auf sie geschossen hatte.« Britain First – »Er rief es, bevor er auf sie schoss und nachdem er auf sie geschossen hatte.« Augenzeuge »Britain first« ist zum einen der Slogan der Befürworter des EUAustritts, zum anderen eine rechtsextreme Partei im Vereinigten Königreich, die stark islamophob ist und nach eigenen Angaben die »britische und christliche Werte« verteidigt. Unmittelbar nach dem Attentat äußerte sich die Partei »Britain first«. Es sei nicht erwiesen, dass der Angreifer den Slogan »Britain first« ge- rufen habe, so Paul Golding, Vorsitzender der Partei. Er kritisierte die Medien für die – nach seinen Worten – unsachgemäße und unwahre Berichterstattung. Der Bruder des Festgenommenen berichtete gegenüber der Zeitung »Daily Telegraph« derweil von einer langen Vorgeschichte psychischer Probleme des Mannes. »Es fällt mit schwer zu glauben, was passiert ist«, sagte Scott Mair der Zeitung. »Mein Bruder ist nicht gewalttätig, und er ist nicht besonders politisch.« Der Bruder sei psychisch krank, sei aber in Behandlung gewesen, sagte Mair. Über die möglichen Motive des mutmaßlichen Täters, des 52-jährigen Thomas Mair, hat die Polizei bislang noch keine Angaben gemacht. Bekannte bezeichneten ihn als einen fürsorglichen und stillen Einzelgänger, der angeblich psychische Probleme gehabt habe. Allerdings gibt es auch Hinweise, dass er in der Vergangenheit Beziehungen zu rechtsextremen Gruppen gepflegt hat: Eine US-amerikanische Bürgerrechtsgruppe hat Unterlagen veröffentlicht, die belegen, dass Mair Ende der 90er-Jahre Material einer Neonazi-Gruppe gekauft hat. Cox war bekannt für ihr Engagement für syrische Flüchtlinge und hatte die britische Regierung wiederholt dazu aufgerufen, mehr zu tun, um die humanitäre Situation im Kriegsgebiet zu verbessern. Sie soll bereits vor Monaten gegen sie gerichtete Drohungen gemeldet haben. Nachdem sich die Politikerin über »bösartige Mitteilungen« beschwert hatte, sei im März ein Mann festgenommen und verwarnt worden, teilte die britische Polizei mit. Ob ihre Ermordung etwas mit der EU-Debatte zu tun hat – Cox war eine starke Verfechterin eines Verbleibs in der EU –, ist nicht klar. Aber mehrere Kommentatoren und Politiker haben kritisiert, dass die aufgepeitschte Stimmung eine solche hasserfüllte Tat wahrscheinlicher gemacht habe. Die Emotionen und die Wut, die im Verlauf der Kampagne immer stärker zum Vorschein gekommen sind, hätten die Debatte vergiftet. Yvette Cooper, Labour-Abgeordnete und ehemalige Arbeitsministerin, sagte etwa, dass Leidenschaft und Meinungsverschiedenheiten wichtig seien, aber dass es derzeit mehr »Gehässigkeit in der öffentlichen Debatte« gebe. Sogar Angela Merkel hatte die Briten gemahnt, ihre Rhetorik während des Abstimmungskampfs zu mäßigen. Seite 6 Berlin. Der Leichtathletikweltverband IAAF hat nach russischen Angaben die seit November 2015 wirksame Sperre für den nationalen Verband bestätigt. Das meldete die Agentur TASS am Freitag unter Berufung auf den Generalsekretär des russischen Verbandes, Michail Butow. Damit droht den russischen Leichtathleten der Ausschluss von den Olympischen Spielen in Rio. Das IAAF-Council hatte zuvor beraten, ob es die am 13. November ausgesprochene Suspendierung der Russen aufheben oder verlängern soll. Grundlage der neuen Entscheidung war der Lagebericht der eigenen Task Force. Sie sollte die russischen Reformbemühungen nach der Aufdeckung von flächendeckendem Dopingbetrug in Russlands Leichtathletik überwachen. Die Kriterien für eine Wiederaufnahme in die IAAF seien aber nicht erfüllt worden, meldeten mehrere Medien am Nachmittag. Ob Russlands Leichtathleten in Rio starten dürfen, entscheidet letztendlich das Internationale Olympische Komitee. Agenturen/nd Tourismusminister macht den Abflug Brasiliens Kabinett verzeichnet dritten Rücktritt wegen Korruption Brasília. Gut einen Monat nach ihrem Amtsantritt hat die brasilianische Übergangsregierung bereits den dritten Minister aufgrund von Korruptionsvorwürfen verloren. Tourismusminister Henrique Eduardo Alves gab am Donnerstag (Ortszeit) seinen Amtsverzicht bekannt, nachdem ihm die Annahme von umgerechnet fast 400 000 Euro vom Ölkonzern Petrobras zur Last gelegt worden war. Er wolle »der Regierung keine Probleme verursachen«, erklärte Alves, der zur rechtsliberalen PMDB-Partei von Interimspräsident Michel Temer gehört. In den vergangenen Wochen waren bereits der Planungsminister Romero Jucá und der Minister für Transparenz, Fabiano Silveira, nach der Veröffentlichung von Mitschnitten kompromittierender Telefonate zurückgetreten. Die jüngsten Vorwürfe in der Affäre gehen auf eine Erklärung des früheren Chefs der Petrobras-Tochter Transpetro, Sergio Machado, zurück. Unter den von Machado belasteten 20 Politikern befindet sich auch Interimspräsident Temer. AFP/nd Seiten 2 und 7 US-Diplomaten: Raketen auf Assad Note an Außenminister Kerry Washington. Im US-Außenministerium regt sich Widerstand gegen die Syrien-Politik der eigenen Regierung. Eine Gruppe von Diplomaten habe ihre abweichende Meinung in einer Note an die Ministeriumsleitung übermittelt, sagte Außenamtssprecher John Kirby am Donnerstag (Ortszeit) in Washington. US-Medien berichteten, dass die unzufriedenen Diplomaten den direkten Einsatz des US-Militärs gegen die Regierung von Syriens Präsident Baschar al-Assad fordern. Laut »New York Times« schlagen die Verfasser der Note den Einsatz von Raketen, Drohnen und notfalls auch der US-Luftwaffe gegen Assads Truppen vor. Ein »vernünftiger Einsatz« solcher Waffen durch die USA könnte Bewegung in den festgefahrenen Konflikt bringen. Das »Wall Street Journal« berichtete, die Note sei von 51 Diplomaten der mittleren bis gehobenen Ministeriumsebene unterzeichnet worden. Nach Angaben des Ministeriumssprechers wurde die Note durch einen internen Kommunikationskanal übermittelt, der eigens für die Formulierung abweichender Meinungen eingerichtet wurde. AFP/nd
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