Nationalrat, XXV. GP 16. März 2016 117. Sitzung / 1 13.18 Abgeordneter Dr. Nikolaus Scherak (NEOS): Herr Präsident! Herr Bundesminister! Frau Staatssekretärin! Herr Staatssekretär! Ich muss auch noch einmal das Prozedere ansprechen. Ich habe sonst schon grundsätzlich Verständnis dafür, dass Regierungsmitglieder sich nicht die ganze Zeit bei einer parlamentarischen Debatte hier vor Ort befinden können, da gibt es immer wieder diesbezügliche Situationen. Aber wenn es eine Erklärung der Bundesregierung, vom Bundeskanzler und vom Vizekanzler, gibt – man kann das mögen, was Kollege Kickl, Frau Kollegin Korun, Kollege Wöginger und ich sagen, oder auch nicht, aber wir stellen uns hier gemeinsam der Debatte, hören uns nicht nur die Erklärung an, sondern diskutieren all das, was wir eventuell der Bundesregierung mitgeben wollen –, und die beiden Herren sind nicht da, dann halte ich das für ein gelebtes und selbstbewusstes Parlament wirklich für höchst problematisch. (Beifall bei den NEOS sowie bei Abgeordneten der Grünen.) Der Herr Bundeskanzler hat, glaube ich, zumindest teilweise ganz richtige Dinge gesagt. Er hat einerseits gesagt, die Türkei ist ein Nachbar, wenn auch ein schwieriger, und mit einem Nachbarn muss man reden. Das sehe ich auch so. Ich glaube, es wird nicht funktionieren, dass wir in dem Zusammenhang ohne Nachbarn zu Lösungen kommen werden. Das Zweite, was er gesagt hat, war, es darf keinen inhaltlichen Werteaustausch zwischen der Europäischen Union und der Türkei geben. Das Problem ist nur, dass der Plan, der momentan auf dem Tisch liegt, bis zu einem gewissen Grad so einen Werteaustausch vorsieht. Dieser Plan kann nur dann funktionieren, wenn wir uns auf europäischer Ebene darauf einigen, dass die Türkei einerseits ein sicherer Drittstaat und andererseits ein sicherer Herkunftsstaat ist. Wenn wir das nicht machen, dann wird es auf der einen Seite schwierig werden, dass Griechenland alle Flüchtlinge in die Türkei zurückschickt, und auf der anderen Seite wird es schwierig werden, weil sich viele Kurden, die in der Türkei unter Repressionen leiden müssen, irgendwann einmal, wenn es Visaerleichterungen gibt, auf den Weg machen und bei uns um Asyl ansuchen werden. Es gibt im Plan momentan drei ganz wesentliche Punkte, weshalb dieser Plan einerseits rechtlich wohl nicht in Ordnung und andererseits moralisch auch verwerflich ist: Der erste Punkt ist, dass die Türkei kein sicherer Drittstaat ist; der zweite Punkt ist, dass Massenrückschiebungen, so wie sie vorgesehen sind, weder nach der Flüchtlingskonvention noch nach der Menschenrechtskonvention in irgendeiner Art und Version vom 14. Juni 2016, 16:29 nach § 52(2) GOG autorisiert Nationalrat, XXV. GP 16. März 2016 117. Sitzung / 2 Weise möglich sind; und der dritte Punkt – das haben wir auch schon gehört – ist die momentane Menschenrechtssituation in der Türkei. Ein sicherer Drittstaat ist ein Land, in dem Flüchtlinge, wenn sie dort hinkommen, die Möglichkeit haben, ein Asylverfahren zu beantragen und in dem sie gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention Schutz finden können. Das heißt, sie müssen die Möglichkeit haben, menschenwürdig unterzukommen, einstweilen dort zu leben und dort zu bleiben. Die Voraussetzung dafür ist, dass sie überhaupt einen Asylantrag stellen können, ihr Schutzbegehren ein faires Verfahren bekommt, und dass sie dann auch menschenwürdig aufgenommen werden und unterkommen können, falls sie einen positiven Asylbescheid bekommen. Es ist momentan in der europäischen Aufnahmerichtlinie so geregelt, dass ein sicherer Drittstaat ein Staat ist, der die Genfer Flüchtlingskonvention ohne regionalen Vorbehalt ratifiziert hat. Das hat die Türkei nicht, die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention zwar ratifiziert, aber mit einem Vorbehalt, nämlich dass in erster Linie nur europäische Staatsbürger und europäische Unionsbürger überhaupt um Asyl ansuchen können. Das heißt, hier fällt das einmal raus, demnach kann die Türkei kein sicherer Drittstaat sein. Die zweite Möglichkeit, die es gibt, ist, dass die regionalen Vorbehalte nicht das Problem sind, nach Art. 38 der Aufnahmerichtlinie. Dabei geht es aber auch darum, dass die faktischen Möglichkeiten der Genfer Flüchtlingskonvention – das heißt, dass ich überhaupt um Asyl ansuchen kann und dass die materiellen Garantien überhaupt gewährleistet werden – eingehalten werden. Auch hier sagt die Europäische Kommission selbst, dass ganz massive, gravierende Mängel vorliegen. Das heißt, auch so kann die Türkei kein sicherer Drittstaat sein. Der zweite wesentliche Punkt ist die Frage der Kollektivausweisungen. Ich habe schon gesagt, es geht weder nach der Europäischen Menschenrechtskonvention noch nach der Flüchtlingskonvention noch nach der EU-Grundrechtecharta noch nach den europäischen Verträgen noch geht es in irgendeiner Art und Weise in einem Rechtsstaat, kollektiv Menschen in ein anderes Land zurückzuschicken. (Zwischenruf des Abg. Neubauer.) Das Recht auf Asyl ist ein individuelles Recht. Ich muss die Möglichkeit haben, dass mein eigenes Vorbringen auch entsprechend berücksichtigt, angehört und geprüft wird, und erst dann entschieden wird, ob ein Asylgrund vorliegt oder nicht. Wenn einer vorliegt, muss ich auch die Möglichkeit haben, in dem Zusammenhang Asyl zu bekommen. Version vom 14. Juni 2016, 16:29 nach § 52(2) GOG autorisiert Nationalrat, XXV. GP 16. März 2016 117. Sitzung / 3 Das heißt, es wird auch das nicht funktionieren. (Abg. Lugar: Falsch!) – Es ist richtig, Herr Kollege Lugar. Ich weiß, Sie lesen die Genfer Flüchtlingskonvention, aber so, wie Sie sie wollen, nämlich immer nur bis zur Hälfte und dann hören Sie damit auf. Ich gebe Ihnen gerne einmal Nachhilfe, setzen wir uns zusammen, gehen wir die Grundlagen durch! (Abg. Lugar: Das ist ein Blödsinn! Seien Sie nicht so herablassend!) – Das ist nicht herablassend! Nur weil Sie sie falsch lesen und nicht sinnerfassend verstehen, ist das nicht herablassend. Sie können sie sich mitsamt der Kommentierungen einmal in Ruhe durchlesen. (Beifall bei den NEOS sowie des Abg. Steinhauser.) Das heißt, auch das wird nicht funktionieren, weil kollektive Zurückweisungen nach den diversen Menschenrechtsdokumenten nicht möglich sind. Der letzte Punkt betrifft die Menschenrechtssituation in der Türkei: Dazu kann man einerseits die Berichte der Kommission lesen, andererseits einfach jeden Tag in der Früh die Zeitung aufschlagen und sehen, dass die Kommission von Rückschritten bei der demokratischen Verfasstheit, bei den demokratischen Grundrechten in der Türkei spricht; auch beim Kampf gegen Korruption gibt es Rückschritte. Die Kommission wie auch die österreichische Richtervereinigung bekritteln den Aufbau des Justizsystems in der Türkei. Wir sehen, dass Richter und Staatsanwälte immer wieder unter Druck gesetzt werden. Wir merken, dass es bei der Meinungs- und Versammlungsfreiheit massive Rückschritte gibt und dass Journalisten inhaftiert werden und gegen sie ermittelt wird. Das alles passiert – und das ist das Spannende –, obwohl wir als Europäische Union zwischen 2014 und 2020 4,5 Milliarden € nur als Unterstützung für die Weiterentwicklung der Menschenrechte, Grundrechte und der Demokratie in die Türkei investieren. Es gibt keinen Fortschritt, sondern es gibt einen massiven Rückschritt. Wir sehen, hier investieren wir Geld, aber die Menschenrechtssituation in der Türkei wird noch dazu schlechter. Dieser gesamte Plan, der auf dem Tisch liegt, kann aus drei Gründen nicht funktionieren: die Türkei ist kein sicherer Drittstaat, Massenrückschiebungen sind nicht möglich, und drittens aufgrund der Menschenrechtssituation in der Türkei. Was wir wirklich brauchen würden – dann könnten wir diesen Eiertanz, den wir mit der Türkei veranstalten, beenden –, ist, endlich legale Einreisemöglichkeiten zu schaffen. Dabei hilft es nicht, wenn der Bundeskanzler, die Innenministerin und der Außenminister das immer vollmundig ankündigen, indem sie sagen, wir brauchen das, umgekehrt aber auf legalem Weg, nämlich über Resettlement-Programme, bis Ende Version vom 14. Juni 2016, 16:29 nach § 52(2) GOG autorisiert Nationalrat, XXV. GP 16. März 2016 117. Sitzung / 4 des Jahres 1 900 Leute in Österreich aufgenommen haben wollen. Das heißt, wir brauchen sinnvolle Resettlement-Maßnahmen, damit wir den Schleppern ihre Erwerbsgrundlage entziehen können. Wir müssen es schaffen, Menschen legal die Möglichkeit zur Flucht zu geben. Das müssen wir machen und nicht nur darüber reden, so wie es die Bundesregierung momentan macht., denn 1 900 Leute halte ich persönlich für extrem wenig. Und da wundert es mich auch nicht, dass viele sich auf den Weg machen und einfach so versuchen, nach Österreich und nach Europa zu kommen. Das heißt, wir müssen legale Aufnahmemöglichkeiten schaffen und wir müssen schauen, dass wir diesen Türkei-Deal, so wie er jetzt auf dem Tisch liegt, möglichst so verändern, dass wir uns in irgendeiner Art und Weise als Europäische Union entsprechend unserer Grundwerte auch nachher noch in den Spiegel schauen können. (Beifall bei den NEOS sowie bei Abgeordneten der Grünen.) 13.25 Präsident Ing. Norbert Hofer: Nächster Redner ist Herr Abgeordneter Steinbichler. – Bitte. Version vom 14. Juni 2016, 16:29 nach § 52(2) GOG autorisiert
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