Der Tagesspiegel

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BERLIN, DONNERSTAG, 9. JUNI 2016 / 72. JAHRGANG / NR. 22 782
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Schlau am Samstag:
Die Lange Nacht der
Wissenschaften – Seite 9
BERLIN / BRANDENBURG 1,50 €, AUSWÄRTS 2,00 €, AUSLAND 2,20 €
Clintons Kandidatur
„Eine Stadt,
die Graffiti
zulässt, ist
nicht unter
Kontrolle“
Berlin - Nicht einmal jeder zweite ArbeitnehmerinDeutschlandbekommt Urlaubsgeld. Nur 41 Prozent der Beschäftigten erhalten die Sonderzahlung. Das geht aus einer Online-Umfrage unter 6400 Beschäftigten hervor, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der
gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ausgewertet hat. Im Jahr 2013 hatten
noch 47 Prozent der Arbeitnehmer angegeben, Urlaubsgeld zu erhalten.
Während jeder zweite Mann Urlaubsgeld bekommt, erhält nur jede dritte Frau
diese Zahlung. Im Westen wird häufiger
Urlaubsgeld gezahlt (47 Prozent) als im
Osten (27 Prozent). Arbeitnehmer profitieren davon, wenn ihre Arbeitgeber tarifgebunden sind: Von den Beschäftigten,
die nach Tarif entlohnt werden, erhalten
61 Prozent Urlaubsgeld – doppelt so viele
wie in Betrieben ohne Tarifbindung. Das
WSI-Institut wertete außerdem Tarifverträge für 22 Branchen aus. Danach variiert
die Höhe des Urlaubsgelds stark nach
Wirtschaftszweig: Die höchsten Beträge
werden in der Holz- und Kunststoffindustrie sowie in der Druck- und Metallindustrie gezahlt, am wenigsten bekamen Arbeitnehmer in der Landwirtschaft und im
Steinkohlebergbau.
Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), Reiner Hoffmann, forderte die Arbeitgeber auf, die
Tarifflucht zu beenden. „Wer einen Tarifvertrag hat, ist laut diesen Ergebnissen
klar im Vorteil – nicht nur beim Urlaubsgeld, auch bei Urlaubstagen, Weihnachtsgeld, Lohnerhöhungen und Arbeitsbedingungen“, sagte Hoffmann dem Tagesspiegel. Immer mehr Arbeitgeber flüchteten
aus der Tarifbindung, weil sie glauben,
dadurch einen Wettbewerbsvorteil zu haben. „Im globalen Wettbewerb gewinnt
man aber nicht durch schlechte Arbeitsbedingungen, sondern durch hohe Qualität der Produkte und gut geführte Betriebe. Und den Wettbewerb um Fachkräfte gewinnt man mit Tarifbindung“,
sagte der DGB-Chef.
Cordula Eubel
Von Christoph von Marschall
A
Ferienwohnungen nur mit Genehmigung
Vermieter unterliegen vor Berliner Verwaltungsgericht / Kläger kündigen Gang durch die Instanzen an
Von Fatina Keilani
und Ralf Schönball
Berlin - Wer in Berlin eine Wohnung als
Ferienwohnung vermieten will, braucht
dafür eine Genehmigung. Deshalb sind
am Mittwoch mehrere Berliner Vermieter vor dem Verwaltungsgericht gescheitert. Ihre Klagen zielten auf die Erteilung
sogenannter Negativatteste – die zuständige Behörde sollte also erklären, dass
die Kläger für ihr Geschäft keine Genehmigung benötigen. Die sechste Kammer
des Verwaltungsgerichts wies die vier
Klagen ab.
Stadtentwicklungssenator AndreasGeisel (SPD) sprach von einem „guten Tag für
die vielen Wohnungssuchenden“. Erfühle
sich in seiner Politik bestätigt. „Das
Zweckentfremdungsverbot will niemanden ärgern. Es hat ein einfaches Ziel: Woh-
Z
auber ist zart und nie von Dauer.
Inmitten des Symphonieorchestermassivs ragt sie golden auf, wie
eine Erinnerung daran, dass Musik nicht
ganz von dieser Welt ist. Zumeist sind es
zierliche Frauen, die mit ihren Beinen
das geschwungene Knie dieses Instruments umschließen. Ein unbedingt keuscherAkt, schließlich wird der Job auf allerlei rosigen Gemälden vonEngeln erledigt. Ob nun Richard Wagner göttliche
Regenbogen spannt, Smetana Flüsse aufrauschen lässt und Debussy Meeresgischtoder Mahler das Torzu eineranderen Welt aufstößt – ohne die Harfe geht
es nicht. Jedenfalls nicht halb so schön.
Der Landesmusikrat hat die Harfe
zum Instrument des Jahres 2016 bestimmt und will ihr nun mithilfe zahlreicher Aktionen mehr Anhänger und vor
allem Anfänger zuführen. Die spektakulärste Aktion ist der Harfenflashmob,
der für diesen Samstag auf der Berliner
Schlossbaustelle anberaumt ist. Um 14
Uhr trifft und stimmt man sich ein, um
15 Uhr wird der erste Satz aus Händels
Konzert für Harfe und Streicher geprobt, um 16 Uhr beginnt das Konzert.
Profis und Laien harfen Saite an Saite –
bestimmt kann man dann über der Kup-
nungen dafür zu nutzen, wofür sie gebaut
wurden – zum Wohnen“, sagte Geisel.
Die Kläger hattendie Auffassung vertreten, das Zweckentfremdungsverbotsgesetz sei nicht anwendbar, da der Senat einen Wohnungsmangel aufgrund falscher
oder falsch bewerteter Indikatoren festgestellt habe. Das mache die korrespondierende Verordnung ungültig, ohne die das
Gesetz nicht anwendbar sei. Außerdem
greife dasVerbot zu stark in die Berufsfreiheit der Ferienwohnungsvermieter ein
undverstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz, dadie ZweckentfremdungvonWohnraum durch Ärzte und Anwälte nicht in
gleicher Weise unterbunden werde.
Das Verwaltungsgericht folgte dem
nicht. Der Senat von Berlin habe den
Wohnungsmangel wirksam festgestellt,
sodass die Voraussetzungen eines Zweckentfremdungsverbots im gesamten Stadt-
Anhalter Bahnhof
Saite
an Saite
pel des Rohbaus das leise Schlagen von
Engelsflügeln vernehmen. Gute Vibrationen sind garantiert, gelang doch laut
Bibel mittels Harfenklang die erste Musiktherapie der Menschheitsgeschichte.
Auch wenn Experten kritisch anmerken,
David hätte nicht Harfe gespielt, um König Saul vom bösen Geist zu befreien,
sondern die Leier.
gebiet erfüllt seien. Die Nutzung von
Wohnraum zur gewerblichen Vermietung von Ferienwohnungen sei eine verbotene Zweckentfremdung. Die neue
Rechtslage verletze die grundgesetzlich
geschützte Berufsfreiheit nicht. Denn die
gewerbliche Vermietung von Ferienwohnungen sei weiter möglich, sie dürfe nur
nicht in geschütztem Wohnraum betrieben werden. Das sei gerechtfertigt, um
der unzureichenden Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum entgegenzuwirken. Auch die schutzwürdigen Eigentümerinteressen blieben gewahrt. Aus der
Eigentumsgarantie folge kein Anspruch,
den Wohnraum mit der größtmöglichen
Gewinnerwartung nutzen zu dürfen. Zudem könne in Ausnahmefällen eine Genehmigung erteilt werden. Auch die unterschiedlichen
Übergangsregelungen
seien sachgerecht, weil die Vermietung
Wer noch eine Harfe im Keller zu stehen hat, kümmert sich für Samstag bitte
schleunigst um einen fachgerechten Instrumententransport oder trainiert
seine Muskeln. Eine ausgewachsene
Konzertharfe mit 47 Saiten misst leuchtende 1,80 Meter Höhe, ihre 2500 Einzelteile addieren sich zu einem Gesamtgewicht von gut 40 Kilo. Diese Last will
verteilt sein. Und Vorsicht: In einen normalen Kofferraum lässt sich das Instrument beim besten Willen nicht quetschen. Aber das sind profane Hindernisse, die einem spontanen Harfentreffen nicht im Wege stehen sollten. Klappt
es mit dem Flashmob, könnte sich der
Klang der Stadt radikal ändern: Am Berliner Dom starten stündlich Harfenrundfahrten, einbeliebterKonzertsaalinNeukölln heißt künftig Heimatharfen und
zum Chillen geht’s in die Rote Harfe am
Kreuzberger Heinrichplatz.
„Wer nie sein Brot mit Tränen aß“,
werden Sie nun vielleicht mit Goethes
„Lieddes Harfners“ seufzen. Kein Instrument des Jahres im Haus! Schauen Sie
dochmal inderSchublademit dennie benutzten Küchengerätschaften nach.
Dort findet sie sich womöglich, die selten gespielte Eierharfe. Ulrich Amling
dtgv.de
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In Berlin und Potsdam.
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Test 02/2016
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von Ferienwohnungen kurzfristig und an
wechselnde Personen erfolge, während
die Nutzung von Wohnraum für gewerbliche und berufliche sonstige Zwecke auf
längerfristige Geschäftsbeziehungen angelegt sei. Die Kammer hat jeweils die Berufung zum Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zugelassen.
Péter Vida, Chefjurist des Vermittlungsportals „Wimdu“, das die Klage unterstützt hatte, kündigte an, die Firma
werde den Streit in die nächste Instanz
tragen. Das Gericht habe das Eigentumsrecht, die Wahlfreiheit des Berufs sowie
den Gleichheitsgrundsatz zu wenig gewürdigt: „Heute ist ein schwarzer Tag für
Berlin. Wir sind verstört über diese Entscheidung und können sie in vielerlei Hinsicht nicht nachvollziehen“, sagt er.
— Seite 2 und Meinungsseite
C
INDEX
D
WIRTSCHAFT & BÖRSEN . . . . . . . . . 15–18
Nach dem guten Vortag Dax
kam es am Mittwoch
zu Gewinnmitnahmen,
der Dax gab 0,7 Prozent
auf 10 217 Punkte nach.
WETTER
............................................
2
Der Donnerstag wird
in Berlin nur zwischendurch
21 / 13 sonnig sein.
Tagsüber überwiegen Wolken,
und es kann vereinzelt regnen.
Die Temperaturen sinken etwas.
SPORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 + 20
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ISSN 1865-2263
40023
4 190662 202006
Foto: Promo
Männer bekommen
im Schnitt mehr als Frauen
Ein Arbeitssieg,
keine Krönung
Foto: Steffen Kugler/pa/dpa
Rudolph Giuliani, New Yorks Ex-Bürgermeister,
spricht im Interview mit dem Tagesspiegel
über sein Bild von Berlin – Seite 7
Arbeitgeber
zahlen weniger
Urlaubsgeld
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merika schlägt ein Kapitel im Geschichtsbuch auf, das für andere
Nationen Alltag ist. Eine Frau an
der Spitze – soll man das 2016 noch einen Meilenstein nennen? Indien wählte
1966 Indira Gandhi zur Regierungschefin, Israel 1969 Golda Meir, Großbritannien 1979 Margaret Thatcher – und
Deutschland 2005 Angela Merkel. Die
USA können sich nun in die historische
Liste einschreiben. Erstmals hat eine
Frau die Chance, ins Weiße Haus einzuziehen. Noch ist Hillary Clinton freilich
nicht gewählt.
Warum so spät? Amerika war Vorkämpfer von „Women’s Lib“, der Emanzipationsbewegung. Es liegt weniger an Frauenfeindlichkeit der Gesellschaft als an den
traditionellen Mechanismen des Politikbetriebs in den USA. Zudem war der
Sturm auf andere Barrieren vielen Bürgern symbolisch noch wichtiger: die
Wahl des ersten dunkelhäutigen Präsidenten, Barack Obama. Lange hatte wohl
auch die richtige Kandidatin gefehlt.
Ist Hillary die Kandidatin, auf die das
Land gewartet hat? Eher nicht. Deshalb
war der Weg zu ihrer Nominierung keine
von Begeisterung begleitete Krönungsprozession. Es ist ein Arbeitssieg, mühsam erkämpft an zwei Fronten zugleich:
gegen den innerparteilichen Rivalen Bernie Sanders sowie den populistischen Rüpel Donald Trump im Gegenlager. Es ist
fast eine Demütigung für Clinton, dass
sie sich mit all ihrer Sachkompetenz
nicht früher durchsetzen konnte. Und zugleich typisch. Sie musste sich alles
durch Hartnäckigkeit und Fleiß erarbeiten. Geliebt wurde sie nicht. Sie ist auch
keine gute Wahlkämpferin. Der Anteil
der Wähler, die ihr misstrauen, ist auf 57
Prozent gestiegen. Im Gespräch mit Menschen kann sie durchaus überzeugen. Im
Fernsehen und bei Massenveranstaltungen wirkt sie wenig authentisch. Sie
klingt, als habe sie ihre Sätze auswendig
gelernt. Viele Amerikaner nehmen sie als
verschlossen wahr, als Person, die nicht
ehrlich über ihre Ansichten und ihr Verhalten Auskunft gibt. Die E-Mail-Affäre
ist nur ein Beispiel von vielen.
Und doch: Wenn Amerika nun die
Wahl zwischen Hillary Clinton und Donald Trump hat, kann es keine Frage sein,
wer von beiden besser wäre: für die USA,
aber auch für Deutschland, Europa und
die Welt. Sie hat sich über Jahrzehnte in
die nationalen und internationalen Sachfragen eingearbeitet. Sie hat Kompetenz.
Trump nicht. Er macht Schlagzeilen mit
Provokationen, flotten Sprüchen und Beleidigungen. Ernsthafte politische Lösungen hat er nicht anzubieten. Er mag die
bessere Rampensau sein. Die Schalthebel
der Macht kann man nur ihr anvertrauen.
Chancenlos ist Trump nicht bei der
Hauptwahl im Herbst. Clinton hat aber
die besseren Aussichten – und das größere Wählerpotenzial: die klare Mehrheit der Frauen, der Afroamerikaner und
Latinos sowie des jüngeren Teils der Bevölkerung. Die jungen Sanders-Fans
muss sie freilich erst überzeugen. Und sie
darf in den fünf Monaten bis zur Wahl am
8. November keine Fehler machen.
Ein Fehler wäre es, wenn sie jetzt
Druck auf Sanders ausübt. Sie muss ihm
die Zeit lassen, die sie selbst 2008
brauchte, um ihre Niederlage zu verdauen. Den Druck machen andere. Er
wird einlenken, damit die Demokraten
sich auf dem Parteitag in sechs Wochen
als große bunte Familie präsentieren, die
der Wunsch eint, Donald Trump zu verhindern und weiter im Weißen Haus die
Geschicke Amerikas zu lenken.