Originalarbeit · Original Article Interdisziplinär Chir Gastroenterol 2002;18:282–285 Epidemiologie der Analinkontinenz B. Roche R. Chautems R. Rakotoarimanana O. Berclaz M.-C. Marti† Policlinique de Chirurgie, Hôpitaux Universitaires de Genève Schlüsselwörter Analinkontinenz: Risikofaktoren, Prävalenz, epidemiologische Studie Key Words Anal incontinence: risk factors, prevalence, epidemiologic study Zusammenfassung Einleitung: Erst in den letzten Jahren wurde die Analinkontinenz gründlicher untersucht und damit konnten die Zusammenhänge besser verstanden werden. Zu dieser Problematik sind aber noch weitere epidemiologische Untersuchungen notwendig, um die Tragweite dieser Symptomatologie für das öffentliche Gesundheitswesen besser verstehen und beurteilen zu können. Methoden: Wir untersuchten die Prävalenz der Stuhlinkontinenz in einer repräsentativen Kohorte von 686 Personen der Bevölkerung anhand eines Fragebogens. Ergebnisse: 71 Patienten (10,3%) waren inkontinent, davon 55 Frauen und 16 Männer. 29 Patienten (41%) hatten eine Doppelinkontinenz, d.h. eine Urin- und eine Stuhlinkontinenz. Wir fanden eine hohe Inzidenz der Stuhlinkontinenz bei Patienten mit vorangegangenen kolorektalen Eingriffen (20 von 69). Für Frauen sind weder die Menopause noch das Geburtsgewicht ihrer Kinder (>4 kg) Risikofaktoren, eine Stuhlinkontinenz zu entwickeln. Im Gegensatz dazu sind Zangengeburten und Perineumsläsionen während des Gebärens Risikofaktoren. Schlussfolgerungen: Es scheint, dass die männliche Inkontinenz keine Seltenheit und so nicht zu unterschätzen ist. Man sollte aus diesem Grund auch andere Ursachen als Geburten als Risikofaktoren für Inkontinenzen suchen. Aufgrund der Komplexität des Inkontinenzproblems (gleichzeitige Urininkontinenz, Inkontinenz bei Männern) sollte die Behandlung von einem multidisziplinären Gesichtspunkt aus angegangen werden. Summary Epidemiology of Anal Incontinence Introduction: Anal incontinence has only recently been studied and better understood. There is a need for epidemiological data to evaluate the importance of this problem in terms of public health. Methods: We evaluated the prevalence of faecal incontinence in 686 people representing the general population by using a questionnaire. Results: 71 patients (10.3%) were incontinent, among them 55 females and 16 males. 29 (41%) of these patients also suffered from urinary incontinence (double incontinence). There is a high incidence (29%) of anal incontinence in patients who previous had colorectal surgery (20 out of 69). For women, menopause as well as the baby’s weight at birth (>4 kg) are no risk factors for anal incontinence. Rather, the use of forceps and tears of the perineum during childbirth are both risk factors. Conclusions: It seems that incontinence in males is not marginal and has to be taken into account. Therefore, other causes than childbirth for anal incontinence should be looked for. Nevertheless, due to the complexity of the problem of incontinence (associated urinary incontinence, incontinence in males), its treatment should be considered from a multidisciplinary point of view. © 2002 S. Karger GmbH, Freiburg Fax +49 761 4 52 07 14 E-mail [email protected] www.karger.com Accessible online at: www.karger.com/journals/cga PD Dr. B. Roche Policlinique de Chirurgie, H.U.G. Rue Micheli-du-Crest 24 CH-1211 Genève 14 (Suisse) Tel. +41 22 372 79-34, Fax -09 E-mail [email protected] Einleitung Lange wurde die Analinkontinenz (AI) als ein Symptom des Alterns und des weiblichen Geschlechts betrachtet; sie wurde bis vor wenigen Jahren kaum gründlich untersucht. Vier Faktoren trugen dazu bei, die AI aus dem Schattendasein ans Licht zu führen: 1. Das zunehmende Verständnis der Behinderung und der verminderten Lebensqualität von Seiten des Patienten. 2. Der wirtschaftliche Aspekt in der Gesundheitspolitik. 3. Das Verständnis zweier physiopathologischer Mechanismen, der Kompressionsneuropathie [1] und der okkulten Ruptur eines oder beider Analsphinkter [2]. Sie haben der AI verholfen, ihr Label «idiopathisch» zu verlieren. 4. Die Fortschritte in der Untersuchungstechnik erlauben es uns, eine zufriedenstellende Bilanz der Läsionen darzustellen. Neue therapeutische Behandlungsmethoden mit wachsender Effizienz stehen uns heute zur Verfügung. Diese vier Faktoren ermöglichten es im letzten Jahrzehnt, epidemiologische Studien durchzuführen und so den aktuellen Bedarf des Gesundheitswesens besser zu erfassen. Dazu haben wir die Prävalenz der AI bei einem repräsentativen Bevölkerungskollektiv beurteilt. Material und Methode An 686 Patienten wurde ein anonymer Fragebogen ausgegeben. Diese waren aufgrund verschiedenster Diagnosen, die mit einer Inkontinenz nichts zu tun hatten, zur Therapie in einer Rehabilitationsklinik. Die Fragebögen wurden mit Hilfe eines Arztes, der von dieser Studie unabhängig war, ausgefüllt. Dabei wurden die Patienten befragt, ob sie an einer AI oder Urininkontinenz oder an beiden (Doppelinkontinenz) leiden. Die AI wurde dabei nach dem Punkte-Score von Miller bewertet. Außerdem wurden «Risikofaktoren» erarbeitet, die die Inkontinenz erklären könnten. Diese Faktoren waren meist ein chirurgischer Eingriff oder ein Trauma des Perineums und für die Frauen die Parität (Kinderzahl), ein Geburtsgewicht des Kindes >4 kg, eine Zangengeburt, ein obstetrisches Trauma, vorangegangene gynäkologische Operation(en) und die Menopause. Darüber hinaus wurden die Patienten über ihre Lebensweise und Lebensqualität befragt, etwa ob sie z.B. nur ihnen vertraute Toiletten (mit WC) aufsuchen, ihre Ernährung umgestellt haben oder eventuell schon wegen Inkontinenzproblemen unter ärztlicher Betreuung waren. Tab. 1. Patientenkollektiv der Prävalenzstudie Patientenzahl, n Mittleres Alter, Jahre Analinkontinenz, n (%) Urininkontinenz, n (%) Doppelinkontinenz, n (%) Frauen Männer Gesamt 418 61,8 55 (13,1) 101 (24,1) 26 ( 6,2) 268 60,2 16 (5,9) 46 (17,2%) 3 (1,1) 686 71 (10,3) 147 (21,4) 29 ( 4,2) In unserem Kollektiv fanden wir keine AI, die auf ein Trauma oder einen chirurgischen Eingriff zurückzuführen waren. Es scheint jedoch, dass die kolorektale Chirurgie, der sich 69 unserer Patienten unterzogen, eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von AI erzeugen. In unserem Kollektiv waren 15 Frauen und 5 Männer analinkontinent, das sind insgesamt 28,9% der Operierten. Im Frauenkollektiv (n = 418) fanden sich 311 Frauen in der Postmenopause (74,4%), wobei 39 (12,5%) davon inkontinent waren. Von 106 Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter waren 14 (13,1%) inkontinent. 267 Frauen hatten ein oder mehrere Kinder, 31 Patientinnen in dieser Gruppe waren inkontinent, das entspricht 11,6%. Die Ergebnisse für das Auftreten von Inkontinenz bei einem Geburtsgewicht des Kindes >4000 g, Zangengeburt, perinealem Trauma, gynäkologischen Operationen und Frauen in der Menopause zeigt Tabelle 3. Sieben Frauen und 2 Männer haben ihr Verhalten der Behinderung angepasst und vermeiden Orte an denen sie die Toiletten nicht kennen. 13 Patienten achten auf ihre Ernährung, 8 unter ihnen aufgrund einer AI. Acht Patienten (1,2%) beklagen sich über eine fehlende Analsensibilität ohne klinische Manifestation einer AI. Es ist interessant zu vermerken, dass nur 28 Patienten von 71 (40%), d.h. 21 Frauen (38,8%) und 7 Männer (43,7%), mit ihrem Arzt über ihre AI gesprochen haben. Diskussion Insgesamt wurden 418 Frauen mit einem mittleren Alter von 61,8 Jahren (Extremwerte 24 und 100 Jahre) und 268 Männer mit einem mittleren Alter von 60,2 Jahren (Extremwerte 23 und 98 Jahre) befragt. 71 Patienten litten unter einer AI, 147 Patienten hatten eine Urininkontinenz und 29 Patienten wiesen eine Doppelinkontinenz auf (Tab. 1). Die Ergebnisse bei Unterteilung der AI in Untergruppen mit Inkontinenz für Flatus, Inkontinenz für flüssigen und festen Stuhl sind in Tabelle 2 aufgeführt. Die AI ist durch einen unwillkürlichen Abgang von Wind, flüssigem oder festem Stuhl gekennzeichnet. Dies kann gelegentlich, monatlich, wöchentlich, täglich, am Tag oder in der Nacht geschehen. Daher hängen die Prävalenzstudien von der Definition ab, die zur Beurteilung eine AI eingesetzt werden. Fünf Studien haben die Prävalenz der AI in der Gesamtbevölkerung mit repräsentativen Kohorten von 500–6569 zu Hause lebenden Personen untersucht [3–7]. Unabhängig von ihrer Ursache und Häufigkeit lag die Prävalenz der AI dabei zwischen 2,2% [5] und 19,6% [7]. Eine schwere AI (gemäß den Studien definiert als AI für festen Stuhl oder AI mindestens 1 Mal pro Woche) lag zwischen 0,7% [6] und 4,8% [7]. Unsere Studie ergab vergleichbare Resultate mit einer Prävalenz der Epidemiologie der Analinkontinenz Chir Gastroenterol 2002;18:282–285 Ergebnisse 283 Tab. 2. Analinkontinenz (Einteilung nach dem Miller-Score) Inkontinenztyp Frauen n % Männer n % Gesamt n % Inkontinenz allgemein Windinkontinenz (Score 1–3) Inkontinenz für flüssigen Stuhl (Score 4–9) Inkontinenz für festen Stuhl (Score 10–18) 55 28 20 7 16 8 7 1 71 36 27 8 Tab. 3. Inkontinenz und vorbestehende gynäkologische Affektionen Gynäkologische Affektionen Frauen gesamt n % Inkontinenz n % Geburtsgewicht des Kindes >4000 g Zangengeburt Obstetrisches Trauma Gynäkologische Operation(en) Menopause 41 45 34 147 311 2 11 4 25 39 15,4 16,8 12,8 35,2 74,4 4,8 24,4 11,8 17,0 12,5 AI, unabhängig ihrer Ursache und Frequenz, von 10,3%. Eine schwerwiegende AI, definiert als AI für festen Stuhl, fanden wir in 1,2% der Fälle. Stützt man sich bei den Untersuchungen auf die Patientenanamnese, so verkennt man eine gute Anzahl der AI, da ein Großteil der Patienten lieber das Wort «Durchfall» benutzen als eine AI zuzugeben [8]. Bei einer Beschränkung auf die den Arzt wegen einer AI konsultierenden Patienten wird die Prävalenz stark unterschätzt, da die wegen einer Inkontinenz konsultierenden Patienten in der Minderzahl sind [3, 4, 9]. In unserer Studie hat weniger als ein Viertel der inkontinenten Patienten (22,5%) dem Arzt ihr Problem mitgeteilt. Die AI ist generell häufiger bei Frauen als bei Männern. Zwei Studien bestätigen diese Prävalenz: 13 versus 9% [3] und 1,4 versus 0,8% [4]. In unserer Auswertung kommen wir zu demselben Schluss mit einer weiblichen Prävalenz der AI von 13,1% versus 5,9% bei den Männern. Demgegenüber stehen 4 Studien, die keinen signifikanten Unterschied für beide Geschlechter finden: 7,7 versus 7,9% [6], 15 versus 21% [9], 3,1% versus 4,5% [5] und eine Studie ohne konkrete Daten [10]. Für den klinischen Alltag ist festzustellen, dass in der Mehrzahl der Studien das weibliche Geschlecht kein Risikofaktor für die AI darstellt und dass die AI in den 6 zitierten Studien 284 Chir Gastroenterol 2002;18:282–285 13,1 6,7 4,7 1,6 5,9 2,9 2,6 0,4 10,3 5,2 3,9 1,2 auch beim Mann eine hohe Prävalenz aufweist. Die AI betrifft nicht nur geriatrische Patienten, sondern auch beim jungen Patienten sollte nach Symptomen einer AI gesucht werden. Diese Diagnose ist beim jungen Patienten umso wichtiger, da er nur selten aus diesem Grund einen Arzt aufsucht. Wie wir bereits in früheren Untersuchungen aufgezeigt haben, ist die AI oft mit einer Urininkontinenz kombiniert. Man findet sie in 20–30% der Fälle (in unserem Kollektiv sind es 20% der Fälle). Die Patienten konsultieren den Arzt oft wegen einer Urininkontinenz oder einem Genitalprolaps [11, 12]. Deshalb sollte man eine «Gesamtbehandlung des Perineums» in Betracht ziehen und sich nicht auf das Symptom, das den Patienten zur Konsultation bewog, beschränken. Die Menopause ist eine Zeitspanne, in der die Diagnose einer AI wichtig ist: 12,5% unserer Patientinnen leiden nach der Menopause an einer AI. Donnelly et al. [13] zeigten in einer nicht randomisierten Studie, dass eine hormonale Substitutionstherapie das Auftreten einer AI verringern könnte. Die Mehrzahl der Prävalenzstudien der AI stammt aus einer einzigen Klinik. Sie exponieren sich so der Selektion einer ihr referierten Kohorte. Eine Unterschätzung der Prävalenz der AI ist häufig, da die Patienten nur schwer ihr Problem realisieren oder verbal ausdrücken können [8, 14]. Frauen sprechen häufiger über ihre Inkontinenzprobleme als Männer [4]. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die AI ein sehr häufiges Symptom darstellt, das nur selten dem Arzt mitgeteilt wird und so vom ihm häufig verkannt wird. Die AI ist ein Symptom, das Kenntnisse der Pathologie jener Fachgebiete verlangt, die sich mit dem Perinealbereich beschäftigen. Mehrere epidemiologische Studien zeigen erstaunlicherweise, dass die Inzidenz der AI auch in der männlichen Bevölkerung nicht zu unterschätzen ist [6, 14]. Dies muss uns dazu anregen, andere, nichtobstetrische Ursachen für die AI zu suchen [15]. In Anbetracht dieser hohen Prävalenz und der Beteiligung mehrerer Disziplinen muss eine Strukturierung in der Behandlung der AI in den kommenden Jahren in Betracht gezogen werden. Roche/Chautems/Rakotoarimanana/ Berclaz/Marti† Literatur 1 Henry MM, Swash M: Faecal incontinence. B. Pathogenesis and clinical features; in Henry MM, Swash M (eds): Coloproctology and the Pelvic Floor. Pathophysiology and Management. London, Butter-Worths, 1985, p 222. 2 Sultan AH, Kamm MA, Hudson CN, Thomas JM, Bartram CI: Anal sphincter disruption during vaginal delivery. N Engl J Med 1993;329:1905–1911. 3 Denis P, Bercoff E, Bizien MF, Brocker P, Chassagne P: Etude de la prévalence de l’incontinence anale chez l’adulte. Gastroenterol Clin Biol 1992; 16:344–350. 4 Nelson RL, Norton N, Cautley E, Furner S: Community based prevalence of anal incontinence. JAMA 1995;274:559–561. 5 Talley NJ, O’Keefe EA, Zinsmeister AR, Melton III LJ: Prevalence of gastrointestinal symptoms in the elderly: A population-based study. Gastroenterology 1992;102:895–901. 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