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Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC
Ausgabe 09/2016
TEMPO
TEMPO
1
TEMPO
Was ist Zeit?
Zeit ist eine physikalische Größe
und beschreibt eine Abfolge von
Ereignissen. Zeit wird in verschiedenen
Wissenschaften unterschiedlich betrachtet.
So ist sie in der Physik ein messtechnisch
Wer fährt am
erfassbarer Wert, in der Psychologie steht
meisten mit der Bahn?
hingegen die Frage nach der ZeitwahrWas sagen Chronos
Keine Überraschung, die Schweizer.
nehmung und dem Zeitgefühl im
und Kairos aus?
Sie legten im Jahr 2014 2 429 km pro Einwohner
Vordergrund, die Ökonomie
zurück, wie der aktuelle MarktbeobachtungsIn
der
Antike
wies man der Zeit zwei
wiederum betrachtet
bericht der IRG-Rail, die europäische Plattform der
Gottheiten zu: Chronos und Kairos, die
die
Zeit
als
unabhängigen Eisenbahnregulierungsbehörden,
Götter der messbaren und der gefühlten Zeit.
Wertgegenstand.
belegt. Die Österreicher fuhren 1 426 km
Chronos versinnbildlicht die Quantität bzw. den
pro Einwohner mit dem Zug, was Platz zwei
Ablauf der (Lebens-)Zeit. Damit verbunden ist der
der europaweiten Erfassung entspricht und
Gedanke, die Zeit, die der Mensch zur Verfügung hat,
laut Studie mit den im EU-Vergleich
zu nutzen, zu lernen und in ihr zu reifen.
relativ günstigen Fahrpreisen sowie
Kairos hingegen steht für die Qualität der Zeit.
einem dicht ausgebauten
Er stellt den besten Zeitpunkt einer Entscheidung
Schienennetz
dar: eine günstige Gelegenheit, deren ungenutztes
zusammenhängt.
Verstreichen nachteilig sein kann. Kairos sagt
Ab wann
somit aus, dass man keine Zeit, sondern
wurde unser Leben
nur Gelegenheiten
schneller?
verlieren kann.
Einen exakten Zeitpunkt zu
nennen, ist nicht möglich. Großen
Einfluss auf die Beschleunigung
unseres Lebens hatte aber wohl die
Erfi ndung der mechanischen Uhr im
Was bedeutet
14. Jahrhundert. Ab diesem Zeitpunkt
das Wort Espresso?
gab nicht mehr nur die Natur,
Welches ist das
sondern mehr und mehr
Die Wurzeln des Espressos, einer
schnellste Pferd
der
Stundenzeiger
bestimmten Art der Kaffeezubereitung,
der Welt?
den Takt an.
liegen im italienischen Mailand zu Beginn des
Obwohl Forscher der britischen
20. Jahrhunderts. Die Bezeichnung verleitet zur
University of Exeter kürzlich belegten,
Annahme, dass es sich dabei um einen schnell
dass auch Rennpferde stetig schneller
zubereiteten und schnell zu konsumierenden Kaffee
werden, gilt das 1764 geborene britische
handelt, da er mitunter schnell an der Bar getrunken
Rennpferd Eclipse als schnellstes Pferd
werden kann. Sprachwissenschafter aber sehen die
der Welt. Der Hengst soll für eine
Herkunft des Wortes Espresso im italienischen
7 190 Meter lange Rennstrecke
espressivo (von esprimere, dt. Gefühle
6,4 Minuten gebraucht haben.
ausdrücken), mit dem einst ein explizit
Das entspricht einer
für den Gast zubereitetes
Durchschnittsgeschwindigkeit
Gericht bezeichnet
von 71,9 km/h.
wurde.
Schneller gehen,
länger leben?
Australische Forscher gingen in
einer Studie der Frage nach, ob eine
schnellere Schrittgeschwindigkeit ein längeres
Leben ermöglicht. Dazu nahmen sie das Schritttempo von 1 705 Männern im Alter über 70 Jahren
unter die Lupe. Das Ergebnis: Jene, die schneller
als 3,2 km/h gingen, zeigten im Vergleich zu
langsameren Männern ein geringeres Risiko,
innerhalb des Untersuchungszeitraums zu
versterben. Die optimale Schrittgeschwindigkeit,
um auch fünf Jahre nach Beginn
der Studie noch am Leben zu sein,
lag bei 4,8 km/h.
Impressum und Offenlegung
Medieninhaber und Herausgeber
Österreichischer Automobil-, Motorrad- und Touring Club (ÖAMTC),
Schubertring 1-3, 1010 Wien, Telefon: +43 (0)1 711 99 0
www.oeamtc.at
ZVR-Zahl: 730335108, UID-Nr.: ATU 36821301
Vereinszweck ist insbesondere die Förderung der Mobilität unter
Bedachtnahme auf die Wahrung der Interessen der Mitglieder.
Rechtsgeschäftliche Vertretung
DI Oliver Schmerold, Verbandsdirektor
Mag. Christoph Mondl, stellvertretender Verbandsdirektor
Konzept und Gesamtkoordination winnovation consulting gmbh
Chefredaktion DI Anna Várdai (ÖAMTC),
Dr. Gertraud Leimüller (winnovation consulting)
Chefi n vom Dienst Silvia Wasserbacher-Schwarzer, BA, MA
Mitarbeiter dieser Ausgabe Dipl.-Bw. Maren Baaz-Eichhorn, Ancuta Barbu,
Mag. Gabriele Gerhardter, Catherine Gottwald, Margit Hurich, Mag. (FH) Christian Huter,
Mag. Claudia Kesche, Mag. Astrid Kuffner, Dr. Daniela Müller, Dr. Ruth Reitmeier,
Teresia Tasser, Silvia Wasserbacher-Schwarzer, BA, MA
Fotos Karin Feitzinger; Umschlag: Karin Feitzinger
Grafi k Design, Illustrationen Drahtzieher Design & Kommunikation, Barbara Wais, MA
Korrektorat Mag. Christina Preiner, vice-verba
Druck Hartpress
Blattlinie Querspur ist das zweimal jährlich erscheinende Zukunftsmagazin des ÖAMTC.
Ausgabe 09/2016, erschienen im Juni 2016
Download www.querspur.at
Das Leben wird immer schneller, zumindest kommt es uns so vor – wann erlebt
der Mensch seine Zeit am intensivsten?
Von Ruth Reitmeier
Alles auf Schiene
Vom Achterbahn-Rausch und dem
Fahrvergnügen in der Bummelbahn.
Von Astrid Kuffner
Need for Speed
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Am Puls der Stadt
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Schneller als je zuvor
Geschwindigkeit war immer ihr Element –
Susie Wolff im Interview.
Von Catherine Gottwald
London, New York, Beijing –
was macht eine schnelle Stadt aus?
Von Teresia Tasser
Der Sauseschritt des schnellsten
Mannes der Welt kann einen Gepard
noch immer nicht überholen.
Von Silvia Wasserbacher-Schwarzer
Morgen
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Rasend Schnell
14
Die Fracht-Starter
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Tanzen mit allen Sinnen
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Fast wie echt
24
Die Ruhe vor dem Bus
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Start-ups
Hochgeschwindigkeitszüge als Alternative
zu Auto und Flugzeug, in Zukunft mitunter
auf Luftkissen statt auf Schienen.
Von Catherine Gottwald
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Foto: © Williams/LAT– Susie Wolff
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10
Foto: © s(c) Fraunhofer IPK
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Suche nach der verlorenen Zeit
Eine Idee ist schnell geboren, der Erfolg
eines Start-ups hängt aber von vielen
Faktoren ab.
Von Ruth Reitmeier
Körper und Emotion verbinden und an
drei Wochenenden ein bühnenreifes
Tanztheaterstück entwickeln. Choreograph
und Tänzer Vinicius im Interview.
Von Daniela Müller
Simulierte Realität wird in Zukunft eine
Komplexität erreichen, an der man heute
schon forscht.
Von Ruth Reitmeier
Was tun, wenn man warten muss?
Von Astrid Kuffner
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Foto: © https://anamericaninmontreal.wordpress.com
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Foto: © Karin Feitzinger
Heute
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Spannende Ideen zum Thema
Geschwindigkeit.
Von Ancuta Barbu
TEMPO
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Foto: © Karin Feitzinger
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SELBST IM MODERNEN, DIGITALISIERT-BESCHLEUNIGTEN LEBEN GILT:
ZEIT ERLEBT DER MENSCH AM INTENSIVSTEN, WENN ER EINFACH
STILL IST ODER ABER WENN ER NEUE ERFAHRUNGEN MACHT, ALSO
ETWAS ERLEBT. DIE MONOTONE HEKTIK DES ALLTAGS HINGEGEN
IST EIN ZEITKILLER. Von Ruth Reitmeier
Wieder einmal zu spät zum ohnehin
nur halbjährlich stattfindenden Treffen mit den Freundinnen. Etwas aufgelöst, abgehetzt, im Hirn nach einer
Entschuldigung kramend. Doch zwei
kurze Worte genügen, und alle nicken
verständnisvoll: der Stress. Jeder
kennt ihn, jeder hat ihn. Das war doch
nicht immer so, oder?
HEUTE HABEN
MENSCHEN MEHR
ZEIT ALS FRÜHER,
ABER SIE NEHMEN
ES NICHT SO WAHR
Ein Schönheitsfehler der Gegenwart
ist freilich, dass sie mit der Vergangenheit nicht mithalten kann. Tatsache
ist, dass die meisten Menschen heute
kürzer arbeiten denn je, sie haben
viel mehr Freizeit, nennen jede Menge Gerätschaften ihr Eigen, die Hausund andere Arbeiten enorm rationalisiert haben und fühlen sich dennoch
gestresst, getrieben, mitunter aufgerieben in ihrem durchstrukturierten
Alltag. Eigentlich erstaunlich, denn
wenn wir unser Leben mit jenem der
Generation unserer Großeltern vergleichen, ist es zweifellos leichter.
Und dabei soll es hier gar nicht um
die Härten der Kriegs- und Nachkriegszeit gehen, sondern einfach
nur um den Alltag.
MEHR FREIZEIT,
MEHR STRESS?
Die Großmutter der Autorin etwa hatte
außer Arbeit nicht viel zu tun. Denn
sie hatte drei Kinder, einen Vollzeit-
job, einen Haushalt, einen Garten.
Ihr Leben war anstrengend, und sie
war abends rechtschaffen müde. Gestresst war sie aber nicht. Was sie
nämlich nicht hatte, waren permanenter Termindruck, Mails, Messages,
Handy, Internet. Sie verspürte auch
keinen Optimierungsdruck à la Marathon-Training oder Spanisch-Privatunterricht, zumal dafür ohnehin kein
Geld übrig war. Und da sie nur wenig
Freizeit hatte, hatte sie auch keinen
Freizeitstress.
Der tatsächliche Arbeitsaufwand kann
es nicht sein, der uns stresst. Denn
unterm Strich haben unsere Großeltern und auch unsere Eltern viel mehr
Zeit mit Erwerbstätigkeit verbracht.
Die gesetzliche Wochenarbeitszeit
wurde in Österreich in den vergangenen 100 Jahren schrittweise auf die
aktuelle 38,5 Stunden-Woche gekürzt. 1918 wurde der 8-Stundentag
mit einer einhergehenden 48-Stunden-Woche umgesetzt, gefolgt von
der 45-Stunden-Woche ab dem Jahre
1959 und einer etappenweisen Einführung der 40-Stunden-Woche ab
1969.
WIR ARBEITEN HEUTE
KÜRZER, WOLLEN ABER
MEHR UNTERBRINGEN
Das Leben damals war härter und zugleich übersichtlicher. Es ist wohl
eher das viele Andere, das sich seither exponenziell vermehrt hat. Wir arbeiten kürzer, doch die Arbeit hat sich
verdichtet und das wird Vielen zu viel.
Eine Umfrage der Statistik Austria aus
dem Jahr 2014 ergab, dass rund eine
TEMPO
Million Österreicher über eine gesundheitliche Beeinträchtigung klagen, die von der Arbeit verursacht
wurde – mit Rückenproblemen an der
Spitze. Ein Vergleich mit einer Erhebung aus dem Jahr 2007 zeigt einen
deutlichen Anstieg der Probleme. Vor
allem der Anteil jener, die Zeitdruck
als Faktor angeben, der ihr psychisches Wohlbefinden am stärksten beeinträchtigt, war von 29 auf 37 Prozent gestiegen.
DIE ERSEHNTE RUHE
IST ZU BEGINN MEIST
EIN ZIEMLICHER
SCHOCK
Die Beschleunigung des modernen,
digitalisierten Lebens ist kein Mythos.
Keiner will sie, doch jeder macht mit.
Hört man Berichte von Menschen, die
sich von ihrem hektischen Alltag zwischenzeitlich für ein paar Tage in ein
Kloster zurückziehen, ist es ausgerechnet die ersehnte Ruhe, die viele
zunächst überwältigt und emotional
fordert. In der Stille hört der Mensch
(auf) sich selbst. „Als ich vor einem
Jahr das erste Mal im Stift Heiligenkreuz zu Gast war, kam ich bewusst
ohne Handy, E-Mail, Internet an. Doch
das war, wie sich herausstellte, zu radikal. Ich hatte die Stille unterschätzt
und empfand sie fast als unerträglich.
Ich dachte, ich werde verrückt“, sagt
Sonja Scheibenreif. Die Gespräche
mit einem ihr vertrauten Pater und die
Teilnahme am Chorgebet der Mönche
halfen ihr, die Umstellung zu meistern.
Und nach nur einer Woche im Kloster
hatte sie die Kraft der Stille schätzen
5
Foto: © Karin Feitzinger
gelernt. Seither nimmt sie sich auch in
ihrem Tagesablauf bewusst Auszeiten,
wo zwischendurch das Handy stumm
bleibt, wo sie zur Ruhe kommen und
abschalten kann. „Es ist so wichtig,
dass man sich nicht vom Alltag auffressen lässt“, sagt sie.
IN DER MONOTONIE
DES ALLTAGS LÄUFT
UNS DIE ZEIT DAVON
Wissenschaftliche Untersuchungen
zur menschlichen Wahrnehmung von
Zeit zeigen, dass diese nämlich vor allem dann rast, wenn eigentlich nichts
Wesentliches passiert. Eine Reise mit
Erlebnissen und Begegnungen wird
in der Erinnerung als viel länger empfunden als die gleiche Zeit, die in der
Monotonie des Alltags verbracht wird.
So lässt sich auch erklären, warum
das Leben Erwachsener viel schneller
zu vergehen scheint, als etwa die
Kindheit und Jugendzeit. Das liegt daran, dass man später nur noch wenige
grundlegend neue Erfahrungen macht.
6
WISSENSCHAFTER
SUCHEN NOCH IMMER
NACH DER INNEREN
UHR DES MENSCHEN
Das retrospektive Erleben von Zeit ist
gut erforscht, die momentane Zeitwahrnehmung hingegen noch nicht
vollständig geklärt. Das Wissenschaftsmagazin Spektrum berichtet,
dass Hirnforscher seit einigen Jahren
die innere Uhr des Menschen suchen,
die für Zeitschätzungen im Minutenund Sekundenbereich zuständig ist.
Durch Experimente im Floating-Tank –
ein mit Salzwasser gefülltes, geschlossenes Becken, in dem äußere
Reize weitgehend ausgeschaltet werden und nur der Körpersinn präsent
ist, versucht man, die unmittelbare,
momentane Zeitwahrnehmung von
Menschen zu ergründen. Auf dem
Wasser treibend, in völliger Dunkelheit und Isolation zeigt sich jedenfalls, dass dem Zeitbewusstsein die
Körperwahrnehmung zugrunde liegt.
Dabei spürt der Mensch die Zeit un-
mittelbar am eigenen Leib. Zeitbewusstsein entspringt also nicht nur
äußeren Reizen, sondern aus dem
Menschen selbst. Durch sein Körpergefühl und durch Signale wie die
Atmung entsteht ein Gefühl für
die Zeit.
EUSTRESS IST GUTER
STRESS UND MACHT
DIE MENSCHEN KREATIV
Zurück ins stressige Leben. „Nur Tote
haben keinen Stress“, sagte Hans
Selye, der erste offi zielle Stressforscher. Der aus Wien stammende Arzt,
der 1934 vor den Nationalsozialisten
nach Kanada flüchtete, entwickelte
die Lehre vom Stress und kreierte den
Begriff. Er wollte den Stress keinesfalls abschaffen, mahnte jedoch, dass
jeder sein Belastbarkeitslevel finden
und die eigenen Grenzen beachten
sollte. Beim Stress macht die Dosis
das Gift. Stress kann Menschen krank
machen, doch zunächst macht er sie
kreativ und produktiv. Es ist schon
Im Alltagstrott verfliegt die Zeit. Viel bewusster
und intensiver erleben wir sie, wenn wir Neues
kennen lernen. Zum Beispiel im Urlaub, oder in
neuen Lebenssituationen.
paradox, dass gerade in der Leistungsgesellschaft das Wort Stress
so negativ besetzt ist. Gestresst sein
klingt nach Überforderung, dabei können wir gerade in Situationen, in welchen wir gefordert sind, über uns hinauswachsen und Großes vollbringen.
Positiver Stress hat mit Leidenschaft
zu tun, mit Einsatz und Vertrauen in
die eigenen Fähigkeiten. Es ist der
Stoff, aus dem Action-Filme sind.
NOTFALLMEDIZINER
HABEN IN
UNERWARTETEN
SITUATIONEN AUCH
HERZKLOPFEN
Am letzten Tag des Jahres 2015, unterwegs auf der deutschen Autobahn,
hatte der Wiener Arzt Andreas Gatterer kurz vor Regensburg ein berufliches Erfolgserlebnis. Und dabei war
er nicht einmal im Dienst. „Ein Staubeginn machte sich bemerkbar, in der
Ferne waren Warnblinkanlagen zu erkennen, in der Kolonne dahinter gingen die Bremslichter an“, erinnert sich
Gatterer. Er sieht, dass etwa 300 bis
500 Meter entfernt, ein Pkw quer auf
der Fahrbahn sowie Menschen auf
dem Pannenstreifen stehen. Ein Unfall ist passiert und kein Blaulicht in
Sicht, es sind also noch keine Einsatzkräfte am Unfallort. In diesem Moment wird aus dem Urlaubsreisenden
der Notarzt und eine Kette zielgerichteter Handlungen nimmt ihren Lauf: Er
muss sofort dorthin, um Erste Hilfe zu
leisten. Gatterer ist Anästhesist- und
Intensivmediziner sowie Notarzt. Jede Notfallsituation ist selbst für Pro-
fis zunächst einmal eine Herausforderung, die Zeitwahrnehmung verändert
sich. Jede Sekunde wird viel intensiver wahrgenommen.
Am Unfallort stellt sich heraus, dass
zwei Pkw mit mehreren Insassen, darunter ein Kind, beteiligt sind. Nachdem
sich Gatterer mithilfe von Freiwilligen
einen Überblick über die Verletzungsgrade der am Unfall beteiligten Personen gemacht hat, leistet er Erste Hilfe.
Am Tag danach liest er in den Polizeinachrichten, dass alle Verletzten den
Unfall überlebt haben. „Natürlich war
das Stress, aber ein durchwegs positiver. Ich bin stolz, dass ich helfen konnte.
Das ist ein gutes Gefühl“, sagt er.
HELLWACH UND HOCH
KONZENTRIERT – IN
DER SCHRECKSEKUNDE
REAGIERT DER MENSCH
SEIT URZEITEN GLEICH
Wer zwischenzeitlich gestresst ist,
kurbelt die eigene Schaffenskraft
an und entwickelt sich weiter. Einzig den Dauerstress gilt es, zu vermeiden, denn der macht krank. Was
als Stress empfunden wird, ist zudem
höchst individuell. Die Reaktionsabfolge, die im Körper dabei ausgelöst
wird, ist jedoch stets die gleiche, wie
sie schon unsere Urahnen in der Begegnung mit dem Säbelzahntiger erlebten, in jener Schrecksekunde, wo
die überlebenswichtige Entscheidung
Flucht oder Kampf getroffen werden
musste. In der Stresssituation ist der
Mensch hellwach, konzentriert und er
priorisiert. Im Gehirn wird eine Reaktionskette ausgelöst: Adrenalin wird
TEMPO
ausgeschüttet, Blutdruck und Puls
steigen, die Muskulatur spannt sich
an, Körper und Geist sind in Alarmbereitschaft. Etwa zehn Minuten nach
dem Adrenalinausstoß folgt Cortisol,
das den Körper vor zu viel Adrenalin
schützt und noch eine Zeitlang für erhöhte Aufmerksamkeit sorgt. Wichtig
ist, dass man danach den CortisolSpiegel wieder herunterfährt. Probleme drohen Dauergestressten, die es
verlernt haben, sich aus dem CortisolZustand wieder zu befreien.
PAUSE EINLEGEN,
MÜSSIGGANG
GENIESSEN UND DANN
NEU DURCHSTARTEN
Der renommierte österreichische
Stressforscher Sepp Porta warnt
vor der „pausenlosen Gesellschaft“.
Denn erst in der Pause entsteht die
Kraft für kommende Anforderungen.
Wer jedoch permanent arbeitet, nimmt
Körper und Geist die Möglichkeit zur
Regeneration. Überlastung, Erschöpfung und Burnout sind mögliche Folgen. Es gibt also keinen Grund, ein
schlechtes Gewissen zu haben, wenn
man ab und zu „alle fünf gerade sein“
und die Arbeit liegen lässt. Müßiggang ist also in keiner Weise aller
Laster Anfang, sondern notwendiger
Ausgleich. Insbesondere Momente
der Stille sind wahre Erholungsquellen in unserer schnellen Welt. Workaholics sollten das Eintauchen in die
Stille laut Experten behutsam angehen. Für den Einsteiger genügen ein
paar Minuten täglich, in denen er wieder ganz Herr seiner Zeit ist. 7
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DIE FREIZAHN, DER DAMPF. Von Astrid Kuffner
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Wer schon einmal Hochschaubahn gefahren ist, kennt das: Veronika Lauss reizt die Mischung aus Überwindung, AdRacketacke-racketacke-racketacke – so wird die Wagen- renalin, Geschwindigkeit, Schwerelosigkeit und Orientiekette bergauf gezogen. Auf der Kuppe ist es einen Herz- rungslosigkeit – das gesicherte Abenteuer. Loopings mag
schlag lang still, der Atem setzt kurz aus, dann wird aus- sie besonders. Am ersten Tag des gemeinsamen Abenteugeklinkt und der Zug saust auf Schienen bergab, legt sich erurlaubs umkreist sie mit ihrer Freundin die Objekte der
in die Kurve oder stellt im Looping alle auf den Kopf. Dann Begierde meist nur und erfasst mit Augen und Ohren die
schreit Veronika Lauss, fällt ein in den Chor der Adrenalin- Angstlust der anderen Fahrgäste. Dabei überzeugen sich
freunde und genießt das kalkulierte Risiko, einen vorgege- die Beiden gegenseitig davon, dass sie es wagen wollen.
benen Parcours in rasantem Tempo, gut angeschnallt, zu Denn eigentlich weiß man nie, was auf einen zukommt, bis
absolvieren. Nach einigen Minuten bremst der Zug ab, alle man es selbst probiert hat.
steigen beschwingt und schwindelig aus, atmen tief durch Jedes Jahr schneller und höher. Mehr interessiert die beiden
und entscheiden: Noch einmal. Oder: Nie wieder.
jungen Frauen nicht. Auch physikalische Details der Anlage
Schon als Kind ließ sich die kleine Veronika beim jährlichen oder technische Rekorde sind ihnen eher egal. Natürlich ist
Urfahraner-Markt in Linz gern von Fahrgeschäften drehen, ein Wing Coaster (die Fahrgäste sitzen links und rechts der
rütteln und schleudern. Ihre Vorliebe für Hochschaubahnen Schiene, über und unter ihnen ist Luft) anders zu fahren als
entdeckte die heute 35-jährige Juristin in einer Rechtsab- ein klassischer Roller Coaster (Zug auf Schienen). „Jedes
teilung erst vor sechs Jahren. Bei einer Geburtstagsparty Jahr fangen wir mit den ruhigeren Bahnen an und steigern
schwärmte ein Gast vom Europapark in Rust (Deutschland). uns langsam“, erklärt Veronika Lauss. Es gibt auch nicht DIE
„Meine Freundin Renate und ich waren so angetan von den Wunsch-Adrenalinschleuder, mit der sie unbedingt fahren
lebhaften Schilderungen, dass wir beschlossen, selbst hin- wollen. Es geht ihnen vielmehr um das gemeinsame Eintauzufahren“, erzählt Veronika Lauss. Anfangs schlichen die chen in eine Themenpark-Welt. Der Park sollte auch eine
beiden mit Heidenrespekt um die Achterbahnen herum. Hier gewisse Größe haben, damit die beiden drei Tage gut befindet man auch die zweithöchste und viertschnellste Ach- schäftigt sind.
terbahn Europas: „Zuerst dachten wir: ‚Das trauen wir uns Die ärgsten Achterbahnen fahren die robusten Naturen am
nie‘! Dann haben wir es doch versucht und sind dabei ge- zweiten Tag, ausgeschlafen und mit einem guten Frühstück
blieben.“ Seither ist das Mädels-Wochenende im Freizeit- im Bauch. Schlecht geworden ist ihnen noch nie. Abends
park ein jährlicher Fixpunkt. Gemeinsam waren sie schon schwankt der Boden manchmal noch, wenn sie im Bett liein Spanien, mehrmals in Deutschland und auch in Holland.
gen – wie nach einem Tag in einem Boot auf dem Meer.
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Fotos: © Veronika Lauss
USERSTORY
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Foto: © Gerhard Ulram
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Die Wei nung stellen
Entspan
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde im Weinviertel – auch bahnen – „sicher mit einem Schuss Verklärung“, lächelt Ullram.
für den Export landwirtschaftlicher Produkte – ein dichtes Seit 2003 ist Gerhard Ullram Gründungsmitglied des
Netz an Lokalbahnen errichtet. Bis zur Mitte der 1970er- „Vereins Neue Landesbahn“, der die Strecke Ernstbrunn–
Jahre pfauchten Dampflokomotiven durch den Nordosten Mistelbach (NÖ) durch die landschaftlich reizvollen Leiser
Niederösterreichs. Ab den späten 1960er-Jahren gesellten Berge erhält und touristisch nutzt. Die Fahrgäste können eisich betagte Dieseltriebwagen dazu, die aus dem Regel- nen Nostalgie-Express vom Wiener Praterstern nach Ernstbetrieb ausgeschieden waren. Ab 1988 wurde ein Großteil brunn nehmen, mit der Weinvierteldraisine nach Asparn an
des Lokalbahnnetzes eingestellt, „ein Trend, der zumindest der Zaya radeln und sich mit dem Zayataler Schienentaxi,
in Niederösterreich leider bis heute anhält“, erklärt Gerhard zusammengestellt aus ehemaligen ÖBB-Bautrupp-FahrUllram. Zumindest am Wochenende und in der Sommersai- zeugen, mit 20 km/h zurück nach Mistelbach chauffieren
son wird ein Teilabschnitt der Strecke von Hobby-Bahnfah- lassen. Im Schienentaxi versieht der 45-Jährige regelmäßig
rern benutzbar gehalten.
in der Freizeit Dienst als Fahrer, Betriebsverantwortlicher
Einer davon ist Gerhard Ullram, der in seiner Freizeit die Liebe oder Schaffner. Die Dampflok stampft auf den „Mollmannszur Bummelbahn pflegt. Als Kind besuchte er mit seinem dorfer Berg“, der Steigungen wie die Semmering-Strecke
Opa regelmäßig die Bahnhöfe in Mistelbach: den Staats- aufweist, die Radreifen quietschen bei 25 km/h Reiseund den Landesbahnhof – in Gehweite von seinem Zuhause. geschwindigkeit, die Fahrgäste schauen zufrieden – und
Dort verfolgte er den Betrieb der alten Loks mit leuchtenden Gerhard Ullram entspannt sich.
Augen. An eine Bahnfahrt im Jahr 1975 – damals war er vier In Mistelbach wurde 2009 der Erlebnisbahnhof eröffnet, vor
Jahre – durch das Zayatal nach Dobermannsdorf und retour dem Gerhard Ullram 2013 standesgemäß im Rahmen einer
mit einer Dampflok der Reihe 93 (Baujahr 1928) erinnert er Dampfzug-Sonderfahrt geheiratet hat. Seine Frau ist ebensich noch gut. „An den Enden der grünen Personenwagen falls an der Bahn aufgewachsen, allerdings in Oberösterkonnte man auf der Plattform stehen, die Nase in den Rauch reich, und unterstützt ihn vor allem bei Sonderfahrten – kulider Maschine halten und die Landschaft genießen“, schwelgt narisch und als Schaffnerin. An betriebsfreien Tagen widmet
der Bahn-Nostalgiker in Erinnerungen. Es ist wohl kein Zufall, er sich Grünschnitt- und Wartungs-Arbeiten entlang der
dass er heute bei der ÖBB-Infrastruktur arbeitet.
Strecke. „Im Alltag muss man sich den Anforderungen und
Die ferrophile Vorbelastung geht aber noch weiter: Sein Onkel dem Tempo der heutigen Zeit stellen“, sagt Gerhard Ullram,
war bis zur Pensionierung Schaffner und erzählte gerne Ge- „aber nicht nur ich, sondern auch gehetzte Städter schalten
schichten über die „gute alte Zeit“ bei den Weinviertler Lokal- bei der ‚Neuen Landesbahn‘ vom Alltag ab“. TEMPO
9
Need for Speed
SCHNELLIGKEIT WAR EINSTMALS EINE ÜBERLEBENSFRAGE. DER
URZEITLICHE DRANG, GESCHWINDIGKEITSGRENZEN AUSZUTESTEN,
WIRD IM MOTORSPORT BIS HEUTE KULTIVIERT UND ZELEBRIERT.
EIN INTERVIEW ÜBER DIE SUCHT NACH GESCHWINDIGKEIT MIT
EX-RENNFAHRERIN SUSIE WOLFF, DER SCHNELLSTEN FRAU DER WELT.
Das Gespräch führte Catherine Gottwald
querspur: Seit Urzeiten sind
Menschen vom Phänomen
Geschwindigkeit fasziniert.
Manche erliegen dem Rausch der
Geschwindigkeit geradezu, andere
fürchten sich davor. Sie waren in
Ihrer aktiven Zeit die erste Frau in der
Formel 1 nach 22 Jahren und haben
immer wieder betont, Geschwindigkeit
regelrecht zu lieben. Ist Speed für Sie
noch immer die ganz große Liebe?
Susie Wolff: Total. Diese Liebe hat
bei mir schon ganz früh begonnen:
Mit zwei Jahren saß ich zum ersten
Mal auf einem kleinen Motorrad.
Schnell(er) sein zu wollen liegt wohl
in meiner Natur. Es hängt von der
Persönlichkeit ab, ob man Geschwindigkeit liebt oder nicht. Bei mir war
diese Liebe von Anfang an da. Auch
heute noch, nach meiner aktiven
Karriere als Test- und Entwicklungsfahrerin in der Formel 1, macht mir
alles Riesenspaß, was mit Speed zu
tun hat und mir die Möglichkeit
gibt, schnell zu fahren: Radfahren,
Schifahren …
GESCHWINDIGKEIT
KANN SÜCHTIG
MACHEN
querspur: Sie haben sich als AdrenalinJunkie und „Speed-Freak“ bezeichnet.
Macht der Rausch der Geschwindigkeit
im Motorsport süchtig?
Wolff: Ja, bestimmt. Speed hängt mit
Adrenalin zusammen. Wenn man
schnell fährt, spürt man das Adrenalin. Ich mag das Gefühl, wenn ich
irgendwo auf der Piste schnell unterwegs bin und das Adrenalin durch
meinen Körper strömt. Es ist unbeschreiblich! Nun aber, da ich seit
November 2015 meine Karriere als
aktive Rennfahrerin an den Nagel
gehängt habe, muss ich lernen mit
weniger Adrenalin auszukommen …
querspur: Lässt sich diese Euphorie,
die hohe Geschwindigkeiten bei Ihnen
auslösen, mit einem anderen Hochgefühl vergleichen, etwa mit dem Gefühl
zu gewinnen?
Wolff: Nein. Speed – und die damit
verbundenen Eindrücke und Emotio-
nen – ist einzigartig. Natürlich ist es
auch ein tolles Gefühl auf einem Podest zu stehen und einen Pokal in der
Hand zu halten, aber es ersetzt das
Glücksgefühl nicht, das du empfindest,
wenn du schnell fährst. Speed ist eine
Form von Ekstase, die ich in keiner
anderen Form gefunden habe. Wer
sie erlebt, wird süchtig danach.
querspur: Die Formel 1, in der Sie
zwischen 2012 und 2015 als Test- und
Entwicklungsfahrerin tätig waren, gilt
nicht umsonst als Königsklasse. Mit den
Rennwagen werden Geschwindigkeiten
von weit über 350 km/h erreicht. Wie erlebten Sie ein solch unfassbares Tempo?
Wolff: Das ist sehr schwer zu beschreiben. Bei einem Formel 1-Auto erlebst
du die Erdschwerebeschleunigung
(von Frau Wolff in Folge als „G-Kraft“
bezeichnet) wie einen Schock (Anm.:
Die Pilotin wird beim Start entgegen der Beschleunigungsrichtung
nach hinten in den Sitz gepresst*). Du
merkst es sofort. Die G-Kraft ist unglaublich groß, besonders beim Bremsen und in den schnellen Kurven.
*Zum Vergleich: Während der Beschleunigung eines PKWs wirkt auf
die Insassen eine Beschleunigung von ca. 0,3 g, der Pilot eines
Rennwagens erfährt beim Start 1–1,5 g und in Kurvenfahrten bis 5 g.
10
Foto: © Williams/LAT– Susie Wolff
Susie Wolff, Jahrgang 1982, startete ihre
Motorsportkarriere 1996 im Kartsport und
duellierte sich dort u. a. mit den späteren Formel 1-Piloten Nico Rosberg, Lewis Hamilton
und Kimi Raikonnen. Nach Karrierestationen,
in der britischen Formel 3 und dem Tourenwagensport, wurde Wolff 2012 Test- und Entwicklungsfahrerin das Williams-Teams in der
Formel 1, der Königsklasse des Motorsports.
Susie Wolff hatte es mit ihrem Kampfgeist und
Siegeswillen sogar geschafft, in der von Männern dominierten Formel 1 Proberunden der
Grands Prix von Großbritannien und Deutschland im Jahr 2014 zu fahren. Diese Leistung
war vor ihr erst einer Frau, Giovanna Amatti im
Jahr 1992 gelungen. 2015 beendete Wolff ihre aktive Karriere als Test- und Entwicklungsfahrerin, wohl auch, weil die Formel 1 noch
TEMPO
nicht sehr bald für eine „leistungsfähige Rennfahrerin bereit (ist), die auf höchstem Niveau
mithalten kann“, wie sie in einem Blog für die
Huffington Post bedauert. Im Jänner 2016 rief
Wolff vielleicht auch deshalb die Initiative
„Dare To Be different“ ins Leben, eine Plattform, die talentierte junge Frauen und Mädchen als Nachwuchs für den Motorsport begeistern und fördern möchte.
11
Das geht bis zu 4,8 g (1 g = Maß für
Erdbeschleunigung). 1 g ist das Doppelte deines Körpergewichts. 4,8 g ist
also fast das Fünffache des eigenen
Körpergewichts und damit unglaublich
viel. Das ist wie in einer Achterbahn.
Gleichzeitig musst du aber den Kopf
genau in der gleichen Position halten.
Für den Nacken und den Rücken ist es
eine Riesenbelastung. Wenn du auf einer Geraden bis zu 340 km/h fährst,
drückt dir die G-Kraft das Hirn weg.
Das ist die Hauptherausforderung.
querspur: Im Cockpit vertrauen Sie
auf Ihre durch hartes Training erworbenen Stärken und die Leistung Ihres
Wagens. Wie wirkt sich das Wissen um
Ihre Kapazitäten auf das Austesten von
Geschwindigkeitsgrenzen aus? Können
Sie – im Unterschied zu Amateurpiloten – bei hohen Geschwindigkeiten Risiken besser und kompetenter einschätzen?
Wolff: Erstens: Wer nicht fit genug ist,
ist gar nicht in der Lage, das Auto zu
fahren. Es wäre zu anstrengend. Nach
drei bis fünf Runden wäre er/sie körperlich am Ende und könnte den Kopf
nicht mehr hochhalten. Zweitens: In
der Formel 1 arbeiten wir nur mit
den besten Leuten. Das gilt natürlich
auch für die Ingenieure und Mechaniker. Ich habe vollstes Vertrauen in
mein Team.
SICHERHEITSGEFÜHL
TROTZ ENORMEN
RISIKOS – VERTRAUEN
IN DIE TECHNIK
querspur: Fühlen Sie sich, trotz des
Wissens um das hohe Risiko, in diesen
Autos sicher?
Wolff: Ganz sicher. Schließlich sind die
Autos ja so gebaut, dass sie den Aufprall bei einem Unfall abdämpfen.
Ich habe Vertrauen in mein Team, die
Leute, die das Auto gebaut haben,
und weiß, dass solche Dinge immer
passieren können. Dieser Sport ist
immer noch gefährlich, obwohl die
FIA (Fédération Internationale de
l’Automobile, Internationaler Auto-
12
mobil Dachverband) für die Sicherheit kämpfen und es viel sicherer als
früher ist, können Unfälle auch weiterhin passieren. Doch mir stellt sich
die Frage nicht, ob ich Angst habe.
Ich habe Vertrauen, wenn ich im
Auto sitze, und ich bin bereit, dieses
Risiko anzunehmen.
querspur: Die Angst fährt also
nicht mit?
Wolff: Nein. Angst hatte ich nie. Ich
habe immer gesagt, ich höre sofort auf,
wenn ich Angst habe. Respekt vor der
Geschwindigkeit hat man immer. Alles
kann sehr, sehr schnell passieren. Beim
kleinsten Fehler steckst du nämlich im
Kiesbett. Konzentration ist wichtig.
BIS AN DIE GRENZEN
GEHEN – EIN
EINZIGARTIGER
AUGENBLICK,
FÜR DEN MAN LEBT
querspur: Apropos Konzentration:
Erreichen Sie beim Fahren wirklich
einen Flow-Zustand, also einen Zustand höchster Konzentration, indem
Sie Ihre Wahrnehmung so steuern oder
verlangsamen können, dass Sie außer
Acht lassen, wie schnell Sie tatsächlich
unterwegs sind oder in welcher Gefahr
Sie sich bewegen?
Wolff: Durchaus. Auf der Rennstrecke
gibt es in deinem Kopf nichts anderes,
als das, was im Moment passiert. Du
pusht die Limits, denn du willst noch
schneller fahren. Du willst bis an
deine absoluten Grenzen gehen und an
die deines Autos. Das ist der Augenblick der Wahrheit. Unverfälscht. Einzigartig. Rein. Ein Augenblick voller
Klarheit. Du lebst für diesen Moment.
Deswegen mögen so viele Leute Hochleitungssport, weil sich alles auf einen
einzigen Moment konzentriert.
querspur: Kann man diese Art
Konzentration lernen?
Wolff: Ja. Dafür gibt es eigene
Übungen. Man kann das trainieren
und verbessern.
querspur: Wir haben schon über die
Rolle des Teams gesprochen. Lassen
Sie mich noch einmal drauf zurückkommen: Wie sehr ist der Rennerfolg
Leistung des gesamten Teams,
also Rennfahrer(in), Auto,
Konstrukteure, etc.?
Wolff: Es ist immer ein Teamerfolg.
Darauf weise ich auch gern hin: Die
Formel 1 sieht nach außen hin aus
wie ein Einzelsport, weil der Pilot
oder die Pilotin den ganzen Ruhm
abbekommt und der Name des Fahrers auf dem Auto steht. Tatsächlich
ist es ganz sicher ein Teamsport. Bei
Williams gibt es über 500 Leute, die
an zwei Rennautos bauen. Der Fahrer ist einfach das letzte Glied in der
Kette. Rennfahren ist ein Teamsport
und jede Abteilung muss hart arbeiten, damit das Auto schnell unterwegs ist. Auch im Rennen, wenn die
Strategie falsch ist oder ein Fehler
beim Boxen-Stopp passiert, kann
das Rennen falsch laufen. Deswegen
nimmt sich jeder Fahrer Zeit, das
Team zu motivieren und gute Stimmung im Team zu kriegen. Die
Besten können das sehr, sehr gut.
Michael Schuhmacher ist bekannt
dafür, Felipe Massa und Lewis
Hamilton machen das auch
sehr gut.
SCHNELLE WELT:
AUCH FÜR NIKI LAUDA
VERGING DIE ZEIT IN DER
FORMEL 1 SCHNELLER
ALS ANDERSWO
querspur: Niki Lauda hat einmal
gesagt: „In der Formel 1 geht alles so
rasch vorbei. Das heißt, zehn Jahre
dort sind wie 40 Jahre im normalen
Leben.“ Sehen Sie das auch so?
Wolff: Ja. Das ist eine sehr, sehr
schnelle Welt. Man muss immer
auf Zack sein, man muss schnell
entscheiden und schauen, wie sich
alles entwickelt, und die Welt sieht
dabei zu. HOCHGESCHWINDIGKEITSZÜGE GELTEN AUF DISTANZEN ZWISCHEN
300 UND 800 KM ALS KONKURRENZFÄHIGE ALTERNATIVE ZUM FLUGZEUG.
WELTWEIT FÄHRT JÄHRLICH EIN DRITTEL ALLER BAHNREISENDEN MIT EINEM
DER 3.605 HOCHGESCHWINDIGKEITSZÜGE, UM SICHER, PÜNKTLICH UND VOR
ALLEM BLITZSCHNELL AN IHR ZIEL ZU GELANGEN. IN ZUKUNFT KÖNNTEN ZÜGE
STATT AUF SCHIENEN AUF LUFTPOLSTERN IN VAKUUMTUNNELN UNTERWEGS
SEIN. Von Catherine Gottwald
////// SCHNELLE ZÜGE IM ENERGIESPARMODUS /////
Schnellfahrten auf Schienen haben Tradition: Schon 1903 raste in Deutschland der erste Drehstromtriebwagen der Firma AEG mit 210,2 km/h über die Gleise. Für die Anwendung im Alltag
war die Technik jedoch noch nicht ausgereift genug, die Weiterentwicklung hatte in der Kriegszeit
keine Priorität. Heute werden jene Züge des Eisenbahnverkehrs als Hochgeschwindigkeitszüge bezeichnet, die im regulären, fahrplanmäßigen Betrieb Geschwindigkeiten von mindestens
250 km/h erreichen, wenn sie auf eigens dafür eingerichteten Neubau-Schnellfahrstrecken fahren. Der französische TGV schafft sogar 320 km/h. Auf konventionellen Strecken erreichen Hochgeschwindigkeitszüge nur 200 km/h. Der Hochgeschwindigkeitsverkehr (HGV) versteht sich
als komplexes System, das nur dann funktioniert, wenn eine Vielzahl von Komponenten präzise
aufeinander abgestimmt sind: eine entsprechende Infrastruktur aus neuen und ausgebauten konventionellen Strecken, besonders antriebsstarken Schienenfahrzeugen, welche zusätzlich gegen
plötzliche Druckschwankungen geschützt sind („druckertüchtig“) sowie speziellen Signal- sowie
Sicherheits- und Leitsystemen. Der Großteil der High-Speed-Trains läuft im sog. „Rad-SchieneSystem“ (mit Rädern auf den Gleisen, im Gegensatz zur Magnetschwebebahn, s. u.) und reduziert
durch Faktoren wie aerodynamisches Design, ein homogenes Geschwindigkeitsprofil, geringere
Masse durch leichtere Materialien, effizientere Elektroniksysteme u. a. den Energieverbrauch um
bis zu 15 % gegenüber konventionellen Zügen.
////// FAST SO SCHNELL WIE FLUGZEUGE //////////////
Technologisch sind im HGV aber die Magnetschnellbahnsysteme auf der Überholspur:
Magnetschwebebahnen sind spurgeführte Züge, die durch magnetische Kräfte auf eigens angefertigten Strecken geräusch- und verschleißarm in Schwebe gehalten und in Spur geführt werden, ohne jedoch die Schiene zu berühren. Auch der Antrieb und die Bremsung erfolgt im System. Ein Beispiel ist der Shanghai Transrapid Maglev. Er verbindet seit 2003 den Finanzdistrikt mit
dem Shanghai Airport und ist mit einer Höchstgeschwindigkeit von 431 km/h das fahrplanmäßig
schnellste spurgebundene Fahrzeug der Welt im regulären Betrieb. Außerhalb eines regulären
Fahrplans ist der Weltrekordhalter in Sachen Geschwindigkeit der japanische Yamanashi Maglev L0 (A07), ebenfalls eine Magnetschwebebahn: Am 21. April 2015 erreichte er auf einer Teststrecke 603 km/h. Der private Betreiber Central Japan Railway plant, den Zug ab 2027 auf der
Strecke Tokio–Nagoya einzusetzen (350 km in 40 Minuten). Bis 2045 soll via Magnetschwebebahn auch Osaka von Tokio aus in 60 Minuten für etwa 400 km erreichbar sein.
////// IN ZUKUNFT AUF LUFT STATT SCHIENE ///////////
Nicht mehr Schienen, sondern Luftkissen könnten in Zukunft für den Massentransport eine Rolle
Bilder: © Hyperloop; wikipedia; Bombardier
spielen, wenn es nach dem Visionär Elon Musk geht. Er möchte auf der 600 km langen Strecke
von Los Angeles nach San Francisco das Hochgeschwindigkeitstransportsystem „Hyperloop“
einführen und dieses in Folge auch nach Europa und Asien exportieren. Hyperloop befördert
Passagiere in elektrisch betriebenen Transportkapseln, die ähnlich wie bei bestehenden Magnetschwebebahnen berührungsfrei, allerdings auf Luftpolstern bei 1 220 km/h energieeffizient und
schadstoffarm durch evakuierte Stahlröhren gleiten. Energieeffizient, weil der Strom zum Antrieb
der Kapsel aus alternativen Energiequellen (Solarenergie) gewonnen werden soll. Die Kapsel
fasst 28 Passagiere; geplant sind auch Hyperloop-Cargo-Kapseln. Erstmals bemannt getestet
wird der Hyperloop 2016 auf einer acht km langen Teststrecke in Quay Valley. Ab 2020 könnte
der Hyperloop beispielsweise auch die Städte Wien und Bratislava in nur acht Minuten verbinden. Erste Gespräche sind schon am Laufen.
http://hyperlooptech.com
TEMPO
13
KOMPLEXES EINFACH ERKLÄRT
RASEND SCHNELL
Abbildung: © Cargometer
DIE FRACHT-STARTER
DASS ES BEI START-UPS IMMER GANZ SCHNELL ZUGEHT, TRIFFT NUR AUF
EINEN KLEINEN TEIL DER GRÜNDERSZENE ZU. BEI AUFWÄNDIGEN ENTWICKLUNGEN HINGEGEN GILT DIE DEVISE: BEHUTSAM STARTEN UND ERST SPÄTER
VOLLGAS GEBEN. DAS WIENER TECHNOLOGIE-START-UP CARGOMETER HAT
EIN SYSTEM ZUR EXAKTEN BESTIMMUNG VON LKW-LADUNGEN ENTWICKELT.
ZWISCHEN ERSTER PRODUKTIDEE UND NULLSERIE LAGEN ZIRKA FÜNF JAHRE.
NUN STEHT DAS UNTERNEHMEN AN DER STARTRAMPE ZUM MARKTEINTRITT
UND JETZT SOLL ES SCHNELL GEHEN. Von Ruth Reitmeier
14
Start-up heißt ja nicht nur Unternehmensneugründung, sondern bedeutet
auch durchstarten. Entsprechend dynamisch klingt der Begriff, nach mehr,
nach von null auf hundert, einfach machen, schnell sein. Man assoziiert damit
geniale Business-Ideen, die ihre Schöpfer
binnen weniger Jahre vom Garagenmieter zum Milliardär machen oder auch
fulminant scheitern lassen, um irgendwann vielleicht dann doch noch das
ganz große Business auf die Beine zu
stellen. Viele dieser modernen Mythen
spielen im kalifornischen Silicon Valley,
der Traumfabrik angehender Unternehmer. Ab und zu gibt es so eine Story
auch aus Österreich. Diese Geschichten
sind zweifellos inspirierend, jedoch in
der Realität Ausnahmen, die die Regel
bestätigen. Das Gros österreichischer
Start-ups braucht Zeit für Entwicklung,
Markteintritt, um Kunden zu gewinnen,
ein Vertriebssystem aufzubauen und
Gewinne zu schreiben. Auch technologische Innovationen, für deren Anwendung es oft mehr als eine Internet-Plattform braucht, benötigen Zeit und Geld.
IM E-BUSINESS IST
SCHNELLES HANDELN
EIN SCHLÜSSELFAKTOR
ZUM ERFOLG
„Speed ist vor allem im E-Business ein
Thema, denn ist die Zeit für eine Geschäftsidee erst reif, muss diese möglichst schnell und mit viel Marketingkapital auf den Markt gebracht werden“,
sagt Werner Wutscher – Business Angel
und Gründer der Investmentboutique
New Venture Scouting, die innovative
Start-ups und etablierte Unternehmen
zusammenbringt. Ist ein Geschäftsmodell hochgradig skalierbar, so müssen
dies in der Regel auch die Finanzmittel
fürs Marketing sein. In der öffentlichen
Wahrnehmung von Start-ups sind vor
allem E-Commerce-Modelle und Apps
präsent. Ein großer Bereich ist jedoch
jener der Hardware und anderer aufwändiger Technologie-Entwicklungen,
deren Teams üblicherweise einen langen
Atem brauchen. „Das ist eine ganze andere Welt“, betont Wutscher.
Zwischen Am Schöpfwerk und dem
Wienerberg im zehnten Wiener
Gemeindebezirk in einem langgestreckten Gewerbekomplex befindet sich der
High Tech Campus Vienna, wo Michael
Baumgartner seinen Arbeitsplatz hat.
AM START ZUM
MARKTEINTRITT: HIGHTECH-ENTWICKLUNG
MIT POTENZIAL AM
WELTMARKT
Er ist Gründer und Geschäftsführer von
Cargometer. Das Wiener MesstechnikUnternehmen wurde 2013 gegründet
und steht nunmehr am Start zum Markteintritt. Was hier entwickelt wurde, ist
ein innovatives Fracht-Messsystem, das
derzeit in Nullserie bei der Spedition
Gebrüder Weiss im Testbetrieb läuft.
Die neue Technologie löst ein kostspieliges Problem in der Logistikbranche.
Durch den Einsatz dieses Systems, das
mittels Sensoren das Frachtvolumen von
Lkw-Ladungen exakt bestimmt und verrechnet, können Transportunternehmen
ihre Umsätze um bis zu fünf Prozent
steigern – errechnete Cargometer. Rund
90 Millionen Tonnen an so genannten
Stückguttransporten – also mit Lebensmitteln, pharmazeutischen Produkten,
Autozubehör oder Elektrogeräten beladene Paletten – sind im Lkw in gesamt
27 Ländern Europas pro Jahr grenzüberschreitend unterwegs. Die tatsächliche
Entwicklung des Produkts nahm drei
Jahre in Anspruch, vor allem das Programmieren des Messsystems war zeitaufwändig, doch jetzt heißt es: Gas geben. Gerade im Hightech-Sektor ist
flottes Wachstum des Unternehmens
oft mals dem organischen vorzuziehen,
um bloß nicht von Kopisten überholt
zu werden. Jetzt, an der Schwelle zum
Markteintritt, führt das Unternehmen
intensive Gespräche mit Investoren
zwecks Anschubfinanzierung. Rund
800 000 Euro benötigt das Unternehmen
für den Roll-out. „Wir wollen die ersten
im Markt sein“, sagt Baumgartner.
2018, also fünf Jahre nach der Unternehmensgründung, will Cargometer den
Break-even erreicht haben – ein laut
TEMPO
Experten seriöses Ziel. Neben Kapitalgebern wird deshalb auch ein Vertriebspartner gesucht, der bereits über einen
soliden Kundenstock in der Branche
verfügt. Dies ist im Übrigen eine Variante,
die laut Start-up-Experten Wutscher viel
mehr Jungunternehmen nutzen sollten.
STRATEGISCHE
PARTNERSCHAFTEN
ZWISCHEN START-UPS
UND ETABLIERTEN
UNTERNEHMEN ALS
ERFOLGSFAKTOR
Denn durch eine strategische Partnerschaft mit einem etablierten Unternehmen ist das Start-up viel schneller im
Markt positioniert und erspart sich den
mühsamen Aufbau eines eigenen Vertriebssystems. Hinzu komme der nicht
zu unterschätzende Vorteil, dass bei einer
Vertriebspartnerschaft keine Unternehmensanteile abgetreten werden müssen.
„Solche Kooperationen werden üblicherweise über eine Umsatzbeteiligung des
Vertriebspartners geregelt“, sagt Wutscher.
Wobei Partnerschaften mit großen Konzernen für Start-ups schwieriger sein
können als etwa die Zusammenarbeit mit
einem KMU. Je größer der Konzern, desto langwieriger die Entscheidungsprozesse. Das passt oftmals mit Ausrichtung
und Geschäftsidee des Start-ups nicht zusammen. Für ein KMU hingegen ist die
Zusammenarbeit mit einem innovativen
Jungunternehmen üblicherweise Chefsache. Steht der Eigentümer dahinter, kann
eine Kooperation auch rasch umgesetzt
werden.
DIE RICHTIGEN
MITARBEITER ZU FINDEN,
IST FÜR GRÜNDER OFT
SCHWIERIG
Cargometer will jedenfalls zunächst
den Heimmarkt bearbeiten sowie deutsche Spediteure als Kunden gewinnen.
Grundsätzlich ist für ein Produkt wie
dieses der Weltmarkt das Ziel. Das Unternehmen ist derzeit ein Fünf-MannBetrieb mit zwei Geschäftsführern und
beschäft igt des Weiteren ein Team aus
15
Grafik: © www.cargometer.com
Die scheinbar schnelle Start-up Welt braucht in bestimmten Abschnitten auch ihre Zeit. Vor allem High-Tech-Ideen lassen
sich nicht über Nacht entwickeln. Wie im Fall von Cargometer, ein österreichisches Start-up, das mit seiner Lösung für die Logistik den
Weltmarkt anstrebt und gute Chancen hat diesen zu erobern.
drei Technikern, die allesamt erst einmal gefunden werden mussten. Auch
das war ein Prozess. Neben dem Aufbau
der richtigen Mannschaft und Unternehmensstruktur bremsten zwischenzeitlich Finanzlücken die Entwicklung,
etwa jene zwischen den Auszahlungen
einzelner Tranchen von Fördergeldern.
DIE FINANZIERUNG
WIRD VON VIELEN
UNTERSCHÄTZT
Der Geldfluss ist ein Bereich, den viele
Start-ups unterschätzen. „Geld muss
dann eingesammelt werden, wenn man
es eigentlich noch gar nicht braucht“,
sagt Wutscher. Denn es vergehen üblicherweise viele Monate zwischen einer
Finanzierungszusage und dem Eingang
der Finanzmittel auf dem Firmenkonto.
Zurück zu Cargometer: Zirka zwei Jahre
lagen zwischen der ersten Produktidee
und dem Startschuss zur Entwicklung.
Der Weg von der Idee zum marktreifen
Produkt ist zudem eine klassische Geschichte von Versuch und Irrtum. Um
sie zu verstehen, muss man in diesem
Fall zunächst runter von der Straße und
hinein in die Umschlaghalle, wo Stückgut am laufenden Band palettenweise
ver- und umgeladen wird.
GENAUE MESSUNG VON
FRACHTGUT WAR BIS
DATO KAUM MÖGLICH
Bis heute werden Ladungen zumeist gar
nicht oder aber mühselig von Hand
abgemessen. Die Frachtscheine selbst
liefern keine Daten über die Dimension
einer Ladung, die Logistiker wissen
folglich auch nicht, wie sie daherkommt.
Sie schätzen das Volumen anhand des
Frachtgewichts und liegen damit oft zu
16
ihrem finanziellen Nachteil daneben.
Eine noch unveröffentlichte Studie der
Technischen Universität Wien kommt zu
dem Schluss, dass rund 60 Prozent der
Lkw-Ladungen untertarifiert abgerechnet
werden und etwa 20 Prozent übertarifiert.
Fazit: Lkw-Ladungen werden größtenteils falsch abgerechnet. Dieses Nichtwissen um die tatsächliche Dimension
von Ladungen führt zu vage kalkulierten
Rechnungen, Planungsdefiziten, schlecht
ausgelasteten Logistik-Netzwerken und
halbleeren Lkws. All das bringt nicht
nur die ohnehin mageren Margen der
Spediteure unter Druck, es führt auch
zu CO2-Belastung, die man einsparen
könnte. Und genau aus dieser Ecke kam
die ursprüngliche Idee für dieses Produkt, denn Gründer Michael Baumgartner ist Klimaforscher. Seine Dissertation
zum Thema CO2-Reduktion im Schwerverkehr verfasste er am renommierten
Max-Planck-Institut für Meteorologie in
Hamburg.
MEHRERE ANLÄUFE,
UM ZUM KERN DER
GESCHÄFTSIDEE
VORZURÜCKEN
Aus Hamburg hatte er zudem ein Patent
für eine „Vorrichtung und Verfahren zur
Erfassung der Ausnutzung eines bewegbaren Laderaums“ mitgebracht. Bis sich
daraus Cargometer entwickelte, brauchte es allerdings mehr als einen Anlauf.
Als schließlich auch der perfekte Ort gefunden war, um die Lkw-Ladungen am
besten zu messen – nämlich die großen
Lkw-Tore zur Umschlaghalle, weil genau
dort der Gabelstapler mit der Ladung
durchfährt und der Arbeitsablauf in der
Halle nicht behindert wird – tauchte
ein praktisches Problem auf: Die Umsetzung war einfach zu teuer und wurde
erst mit der rasanten Weiterentwicklung
der Sensortechnik rentabel. Seit ein paar
Jahren sind nun die benötigten Time-offl ight-Sensoren in einer Preisklasse erhältlich, bei der sich eine Bestückung
mehrerer Tore rund um eine Umschlaghalle rechnet. Und dies markierte quasi
den offi ziellen Start von Cargometer.
EINFACHE RECHNUNG:
LADUNG + PALETTE –
GABELSTAPLER =
FRACHTVOLUMEN
Die Sensoren, die Cargometer heute einsetzt, schießen bis zu 30 Aufnahmen pro
Sekunde. Auf dem Bildschirm entsteht
daraus ein 3D-Modell, das sich nach und
nach zu einer glatten und vor allem exakten Oberflächendarstellung der Ladung
zusammenfügt. Der Computer zieht
letztlich die Maße des Gabelstaplers ab
und zeichnet die Kanten eines Quaders
rund um die Ladung – Palette inklusive. Mit genau diesen Abmessungen steht sie
wenig später im Lkw. Mittels der gewonnen
Daten über die Dimension stimmt nicht
nur die Rechnung des Spediteurs, die Bilder
liefern nebenbei einen Beweis für etwaigen
Diebstahl oder Beschädigung der Fracht.
Auf Basis solcher Daten werden künftig die Flotten und Netzwerke der Transportunternehmen effizienter genutzt werden. So wird es möglich sein, Fahrpläne
nicht mehr zirka halbjährlich, sondern
sehr kurzfristig dem tatsächlichen Bedarf
anzupassen. „Ist die Strecke Wien–Berlin
etwa mittwochs schlecht ausgelastet, so
wird das Logistikunternehmen die Waren eben in einem kleineren Lkw bis zur
Umschlaghalle in München liefern und
anschließend von dort aus diese Fracht
zusammen mit weiteren Ladungen in einem größerem nach Berlin weiter transportieren“, sagt Baumgartner. Foto: © René Baumgartner
Tanzen mit
allen Sinnen
DER TÄNZER, TANZPÄDAGOGE UND CHOREOGRAF VINICIUS VERFOLGT
IN SEINEM TANZTHEATER-PROJEKT MOMENTOS EINE STRATEGIE:
NACH NUR DREI WOCHENENDEN IST EIN STÜCK AUFFÜHRUNGSREIF.
ZUSÄTZLICHER SCHWIERIGKEITSGRAD: VIELE TÄNZER HABEN KEINE
ODER WENIG TANZERFAHRUNG. Das Gespräch führte Daniela Müller
querspur: Vinicius, wie kam
es zu Momentos?
Vinicius: Bei meiner Arbeit mit
Profis und Laien habe ich gemerkt,
dass Kreativität einen besonderen
Raum braucht, wenn sie sich unabhängig von Zeit und Druck entfalten
soll. Unter solchen Voraussetzungen
entsteht etwas, das ich Kreativraum
nenne. Er ist die Vereinigung des
Räumlichen, Geistigen und Emotionalen. Sobald man den Tänzerinnen
und Tänzern diese drei Ebenen zu
öff nen hilft , sind sie in der Lage, innerhalb kurzer Zeit neue Bewegungsideen zu kreieren.
IN DER UNERPROBTEN
SITUATION ENTSTEHEN
BEWEGUNGEN MIT
BOTSCHAFTEN
Dann wird es auch interessanter und
reizvoller, weil es nichts mehr mit Abspulen bereits trainierter Bewegungsabläufe zu tun hat. Es geht eher um
eine individuelle Ausdrucksform, die
zwischen dem Gesprochenen und
dem Körperlichen, also der Bewegung
und dem Ausdruck, schwebt. Eine solche Ausdrucksform kann „ungreifbare“ Botschaften vermitteln. Diese
werden nicht in erster Linie durch den
TEMPO
Verstand erfasst, sondern durch
einen anderen menschlichen Kanal:
die Intuition.
querspur: Das Ziel von Momentos
ist, innerhalb von nur drei Wochenenden mit Menschen ohne oder mit wenig
Tanzerfahrung etwas Qualitatives auf
die Bühne zu bringen. Wie geht das?
Vinicius: Momentos ist eher als
Workshop-Situation zu verstehen.
Hier geht es um das Experimentieren
und Improvisieren. Da liegt der Fokus
schon mal woanders als in der Perfektion: Wir schauen, was man in der
Zeit schafft und nicht, was man nicht
17
Foto: © Gerrit Freitag
Vinicius, in Rio de Janeiro geboren, kam 1992
nach Deutschland und verwirklichte dort seinen
Traum, auf großen Bühnen zu tanzen. Er absolvierte Ausbildungen als Tanztheatertänzer,
Tanzpädagoge und Choreograph in Deutsch-
18
land und London. Vinicius arbeitet heute freiberuflich, vorwiegend in Deutschland und Österreich, leitet aber auch Tanzprojekte in anderen
europäischen Ländern und in Brasilien. Das
Projekt Momentos entstand im Sommer 2011
in Wien und wurde später nach Innsbruck und
Rio de Janeiro gebracht.
www.fantastartist.de
www.facebook.com/vinicius.de
geschafft hat. Alle Mitwirkenden
sollen dabei eine individuelle Verbindung zum Thema entwickeln und
daraus ihren Beitrag leisten, sie sollen
die Verbindung zwischen Tanz,
Musik und Raum spüren. Zudem erfahren die Teilnehmenden einiges
über die enorme Disziplin und Ernsthaft igkeit, die hinter so einer Produktion steckt und was es braucht, um
Kunst im quasi professionellen Bereich zu kreieren und zu realisieren.
AUFWÄRMEN IST NICHT
NUR FÜR DEN KÖRPER
WICHTIG, SONDERN
BEREITET AUCH DIE
EMOTIONALE EBENE
DER TÄNZER VOR
querspur: Wie geht es den
Teilnehmenden mit dieser Situation?
Vinicius: In der Regel sind sie nach
dem Aufwärmen schon ganz anders
eingestimmt, weil schon beim Aufwärmen eine mentale Vorbereitung
auf die kommende Arbeit passiert:
Viele denken, dass es beim Aufwärmen nur um die Muskeln geht. Doch
in meiner Arbeit ist es der Zentralpunkt für den Eingang zur Sensibilisierung der emotionellen Ebene, zur
Fokussierung des Denkens im Hier
und Jetzt und zur Erfahrung der
Qualität des eigenen Körpers. Erst
auf einer zweiten Ebene geht es um
die muskulären und tänzerischen
Fähigkeiten. Mit diesem Aufwärmen
werden die Tänzerinnen und Tänzer
bestens für schnelle kreative und
ausdrucksstarke Ergebnisse vorbereitet.
querspur: Wie genau entsteht das,
was am Ende aufgeführt wird?
Momentos entsteht, indem ich den
Teilnehmenden Fragen stelle, auf die
sie mir in Form von Bewegung antworten. In einem weiteren Moment
lasse ich sie ihre Solo-Arbeiten
gegenseitig präsentieren. Infolgedessen fallen viele Hemmungen und
Unsicherheiten. Zugleich versuche
ich, Verknüpfungspunkte zwischen
den Soli zu erkennen, sie in Form von
choreografischen Gruppenarbeiten
zusammen zu bringen und daraus
feste Szenen für das Tanzstück vorzubereiten. Das lässt ein Tanzstück –
ein Wechselspiel zwischen den Tanzenden und mir – unheimlich schnell
entstehen.
querspur: Aber es wird doch einen
gewissen Erwartungsdruck geben?
Vinicius: Eigentlich habe ich viel
mehr Erwartungen als Erwartungsdruck, d. h., ich habe immer den
Wunsch neue Bilder und bewegte
Momente mit meinen Tänzerinnen
und Tänzern zu schaffen. Momentos
entwickelt sich entlang individueller
Fähigkeiten, die die Teilnehmenden
mitbringen: wie sie sich bewegen,
ausdrücken und inspirieren. Druck
versuche ich zu vermeiden. Das ist
kontraproduktiv. Kreativität und
Produktivität entstehen eher, indem
man das Bewusstsein für sich und die
Umgebung schärft und sich darüber
im Klaren ist, mit welchen Gefühlen
man im Raum ist.
MIT DIESER ART
DES TANZENS
LASSEN SICH AUCH
ALLTAGSSITUATIONEN
BESSER MEISTERN
querspur: Ich würde das von Ihnen
Beschriebene als „ganzheitliche“
Lernsituation beschreiben. Kann
man ein solches Lernen auch im
Alltag umsetzen?
Vinicius: Zu mir kommen beispielsweise immer wieder Lehrende um
Tipps, wie sie ihre Schülerinnen und
Schüler für das Lernen begeistern
können, einzuholen. Dazu muss
gesagt werden, dass Lehrende in der
Regel in einer Welt arbeiten, in der es
einen festen Arbeitsrahmen gibt mit
wenig Spiel- und Zeitraum, um den
Lehrstoff zu vermitteln. Und das, obwohl wir mittlerweile wissen, dass
es vier verschiedene Lerntypen gibt.
Hier bremse ich ein und hole die Lehrenden erst einmal aus ihrer LehrerRolle heraus, indem ich sie spüren
lasse, wie es sich anfühlt, Individuum
zu sein, sich selbst und die Welt der
Emotionen zu erfahren, damit sie in
einem weiteren Schritt im eigenen
Körper erleben, wie es ist, wenn das
TEMPO
Gelernte ein ausgeglichenes Erlebnis
von Erleben und Fühlen ist. Nicht nur
bei den Schülerinnen und Schülern,
sondern auch bei sich selbst.
querspur: Ein allgemeingültiger
Rat wäre zu kurz gegriffen?
Vinicius: Das Befolgen eines Rates
hat meistens mit einem kognitiven
Verstehen einer Aufgabe zu tun, ist
oft aber nicht ausreichend, um bestimmte Dinge in Gang zu setzen.
Manche Dinge muss man einfach erfahren und ausprobieren, um sie zu
verstehen. Ein Beispiel dafür ist, mit
einem Blatt Papier durch einen leichten Gegendruck zu tanzen. Um es zu
erreichen, genügt es nicht aus zu sagen:
Nutze den Gegendruck, um das Blattpapier an deiner Handfl äche festzumachen. Zuerst muss ich die Sinne
des Teilnehmenden für Leichtigkeit
im Körper sowie in der Bewegung
und zugleich Gegendruck sensibilisieren. Die Übung spiegelt oft wider,
wie man selber im Leben drauf ist:
Manche geben sich viel Druck im
Leben und lassen das Blatt Papier
trotzdem schnell fallen. Andere
können sich kaum Gegendruck
leisten, weil sie eher weich im Leben
sind, und auch hier fällt das Blatt
Papier zu Boden. Es geht um eine
spielerische und andere Form der Balance von Raum, Geist und Emotion,
der im Leben selten Aufmerksamkeit
geschenkt wird.
IN DER SITUATION DIE
RICHTIGE ENTSCHEIDUNG
TREFFEN
querspur: Was haben Sie
bei Momentos gelernt?
Vinicius: Bei diesem Tanzprojekt
lerne ich die Menschenseele zu verstehen, meine Intuition zu schärfen,
die Fähigkeit, im Moment zu sein und
dabei die richtige Entscheidung für
das Tanzstück oder für die Gruppendynamik zu fi nden. Aber auch kreativ
und effektiv zu sein und mit kleinen
oder großen Herausforderungen umgehen zu können. 19
Foto: © Fraunhofer IGD
Fast
wie
echt
SIMULIERTE REALITÄT WIRD DIE PRODUKT- UND PROZESSENTWICKLUNG
REVOLUTIONIEREN. UM 2020 WERDEN IN DER AUTOMOBILENTWICKLUNG
VERSUCH UND IRRTUM NUR NOCH EINE ZEHNTELSEKUNDE VONEINANDER
ENTFERNT LIEGEN. MASCHINENBAUER MÜSSEN BEI REPARATUREN NICHT
MEHR ZWANGSLÄUFIG ZUM STANDORT DER JEWEILIGEN ANLAGE REISEN.
ES DARF SO RICHTIG GETÜFTELT WERDEN. Von Ruth Reitmeier
In naher Zukunft: Immer dann, wenn
sie auf der Suche nach einer Idee ist,
spaziert die Autodesignerin morgens
an einem Brunnen aus den 1960er
Jahren vorbei, dessen biomorphe
Formen (also künstliche Gebilde,
die natürlichen Lebensformen nachempfunden sind) sie für ihre Arbeit
immer wieder inspirieren. Und sie
findet dort einmal mehr erneut eine
Antwort. Diesmal darauf wie sie das
Heck, an dem sie gerade tüftelt und
das vorerst nur auf Bildschirm in 3D
existiert, fließender hinbekommt.
Ein wenig später, an ihrem Arbeitsplatz, ändert sie ein paar Details.
Dann drückt sie aufs Knöpfchen
und schickt das virtuelle Auto mit verändertem Blechkleid in die simulierte
Realität eines Windkanals, um die
Aerodynamik zu testen. Im Bruchteil
einer Sekunde hat sie ein Ergebnis.
Bingo! Schönheit und technische
Anforderungen ergänzen einander
perfekt.
DIE REALITÄT AM
COMPUTER SIMULIEREN
– DAS REDUZIERT DAS
RISIKO
Ab 2020 wird dies möglich sein, werden Versuch und Irrtum in der Produktentwicklung nur Zehntelsekunden
voneinander entfernt liegen. Durch die
laufende rechnergestützte Absicherung von Zwischenergebnissen wird
mit wenig Risiko vieles ausprobiert
werden können. Denn mittels simulierter Realität lassen sich Szenarien der
realen Welt im Computer abbilden
und Aus- sowie Vorhersagen treffen.
Das Besondere an dieser Art der
Simulation ist, dass sie virtuell und
interaktiv ist. Sie bezieht also ihre
Umgebung mit ein, genauso wie das,
was dort passiert. Diese Art der
virtuellen Realität hat nichts mit dem
zu tun, was wir schon heute etwa
aus der Architektur kennen, wo z. B.
virtuelle Wohnungspläne dem Mieter
oder Käufer das Raumempfinden
nahebringen sollen.
MODERNE SIMULATION
IST HOCHKOMPLEX
UND OFT NOCH IM
ENTWICKLUNGSSTADIUM
Das Konzept dieser hochentwickelten
simulierten Realität wird vor allem für
komplexe Systeme wie Verkehr und
hochmoderne Produktionsprozesse
eingesetzt. Zum Beispiel im Flugzeugbau: Denn erst wenn absolut
sicher ist, dass der neue Flieger auch
oben bleibt, wird testgeflogen, davor
wird simuliert.
Auch der Autobau bedient sich längst
der realitätsnahen Simulation. Dennoch steht gerade hier ein großer
Sprung nach vorne an. Anders als
noch heute üblich wird in wenigen
Jahren simulierte Realität fi xer Bestandteil in frühen Stadien des Produktentwicklungsprozesses sein.
Dieser Fortschritt wird durch die Anforderungen des Weltmarktes angetrieben, wo, um wettbewerbsfähig zu
bleiben, neue Produkte innerhalb kürzester Zeit Serienreife erreichen und
folglich schneller und kostengünstiger
entwickelt und produziert werden
müssen.
IN VIRTUELLEN WELTEN
WIRD KÜNFTIG DAS
RENNEN GEMACHT
Zugleich pushen die neuen Player
wie der Internetkonzern Google oder
Elektroautohersteller Tesla die
Entwicklung. Denn im Zuge der sich
vollziehenden Neuerfindung des
TEMPO
Autos zum automatisierten, autonomvernetzten Fahrkonzept wird der Autobau um einiges komplexer. PS, das
war einmal, Automobilhersteller definieren sich heute über ihre digitalen
Stärken – wohlwissend, dass Umbrüche, wie sie sich zurzeit in ihrer
Branche abspielen, in der Lage sind,
unsterblich geglaubte Riesen hinweg
zu fegen.
OPTIMALE
ERGONOMISCHE
ARBEITSABLÄUFE
KANN DER
COMPUTER BESSER
BERECHNEN
„Es gibt Aufgabenstellungen, da ist
der Zugang des Computers geeigneter als die menschliche Intelligenz“,
sagt Philipp Slusallek vom Deutschen
Forschungszentrum für Künstliche
Intelligenz (DFKI). Das renommierte
Research Center in Saarbrücken arbeitet aktuell an einem Forschungsprojekt mit der Daimler AG mit dem
Ziel, ergonomisch optimierte Arbeitsabläufe von Menschen in der Werkshalle zu entwickeln. Denn das erfordert eine Arbeitswelt, in der die
Jungen weniger werden, die Älteren
älter, in der Menschen mit Behinderungen integriert werden, und
zugleich die Produktion flexibler,
vernetzter, komplexer wird. Reale Bewegungen von Arbeitskräften bilden
dabei die Datenbasis, diese werden
mit Informationen zum Körperbau des
Menschen sowie ergonomisch optimalen Bewegungsabläufen kombiniert
und daraus ein Bewegungs- und Arbeitskonzept für den Mitarbeiter errechnet.
Intelligente, simulierte Realität bildet
Ausschnitte der Wirklichkeit im Computer nach, wobei die Umwelt ein-
21
bezogen wird. Dieser Computerwelt
wird Leben eingehaucht, etwa durch
die Arbeiter in der Produktion und ihr
Handeln. Diese Modelle sind hochkomplex, bleiben jedoch ein Grundgedanke. „Eine realistische Abstrak tion
ist keine Kopie der Realität. Die ist
sehr viel komplexer“, betont Slusallek.
Im Computer könne nicht alles bis ins
letzte Detail – also bis in den atomaren oder gar subatomaren Bereich –
dargestellt werden.
SIMULATION IST WIE
FOTOGRAFIE:
EIN BESTIMMTER
BILDAUSSCHNITT IST
SCHARF GESTELLT
Doch die Abbildung im Rechner muss
genau genug abstrahiert werden, sodass die Ergebnisse stimmen. Im Simulator wird also ein Ausschnitt der
echten Welt abgebildet. „Man kann
das anhand des Beispiels der Fotografie illustrieren. Der Fotograf stellt
jenen Ausschnitt scharf, der ihm am
wichtigsten ist. Das können die Berge
im Hintergrund oder die Menschen im
Vordergrund sein“, sagt Ilja Radusch
vom Fraunhofer-Institut FOKUS in
Berlin.
Oder am Beispiel der Sturmwarnung:
Um etwa Windgeschwindigkeit zu simulieren, muss nicht jedes Luftmolekül erfasst werden, aber der Luftdruck, der bei 90 km/h entstehen
wird und seine Auswirkungen auf
bestimmte Umgebungen. Dessen ungeachtet ist das Maß der Abstraktion
ein Qualitätskriterium für virtuelle Simulation. Grundsätzlich gilt: Je detaillierter, desto besser. Ein weiteres
Schlüsselkriterium für den Erfolg virtueller Simulation ist, dass vorab die
richtigen Fragen gestellt werden.
In der Robotik findet simulierte Realität ein noch weites Anwendungsgebiet, das heißt, es gibt viel zu beforschen – zumal die Industrieroboter
aktuell eine Krise durchmachen, weil
sie zu unflexibel sind. Anfang 2016
gab das Mercedes-Werk in Sindelfingen (Baden-Württemberg) bekannt,
dass dort künftig wieder verstärkt
Menschen statt Roboter arbeiten
würden, da die Maschinen von den
22
detaillierten Anforderungen einer zunehmend individualisierten Fertigung
schlichtweg überfordert seien. „Diese
Varianz ist für die Maschinen zu viel“,
wird Produktionschef Markus Schäfer
in der „Welt“ zitiert.
VORAUS ZU PLANEN
IST FÜR MASCHINEN
NOCH IMMER
SCHWIERIG
Dieses aktuelle Beispiel zeigt die Defi zite von Robotern, wie sie heute in
der Montagehalle werken. Sie können
ihre Umwelt nur sehr eingeschränkt
wahrnehmen und auch nicht vorausplanen, was sich dort abspielen und
der Mensch darin machen wird. „Denken wir etwa an Menschenmengen in
einer U-Bahnstation, wie sie sich aneinander vorbeibewegen. Dies sind
hochkomplexe Abläufe und darin ist
der Mensch extrem gut. Wären indessen heutige Roboter unterwegs, würden sie vermutlich allesamt stehen
bleiben“, sagt Slusallek. Das DFKI
arbeitet aktuell an einem Forschungsprojekt auf dem Gebiet der kooperativen Robotik. Dabei geht es um enge
Kooperation zwischen Mensch und
Maschine, etwa in der Werkshalle.
Bei schweren Arbeiten, wie etwa der
Unterbodenmontage in der Autoproduktion, verspricht man sich davon
eine Entlastung der menschlichen
Arbeitskraft sowie insgesamt effi zientere Produktionsprozesse.
ROBOTER SOLLEN
IN ZUKUNFT MIT
MENSCHEN
INTERAGIEREN KÖNNEN
In Zukunft sollen Roboter also nicht
wie bisher allein im Käfig an der
Assembly Line werken, sondern mit
dem Menschen gemeinsam, Seite an
Seite und dafür müssen sie deutlich
mehr können als bisher. Für die Entwicklung dieser neuen Robotergeneration wiederum braucht es simulierte
Realität. „Mit traditioneller Robotik
funktioniert das nicht. Denn soll der
Roboter mit dem Menschen interagieren, kann er nicht bloß sein Programm
abspulen, sondern muss in der Lage
sein, sich ein genaues Bild seiner
Umgebung zu machen und voraus zu
planen, was der Mensch als nächstes
tun wird“, betont der Experte. Um etwa
folgenschwere Arbeitsunfälle zu verhindern, müssen die Maschinen
behutsam sein, der Roboterarm darf
dem Menschen beispielsweise etwas
reichen, aber nicht in der Nähe seines
Kopfs hantieren.
IM SUPERMARKT
SCHNELL ZU DEN
GEWÜNSCHTEN
PRODUKTEN FINDEN
Anwendungsgebiete simulierter Realität finden sich mitunter auch für recht
alltägliche Dinge wie etwa ein 3D-Simulationsmodell zur optimalen Auslegung und Beschilderung eines Supermarkts. Dabei werden Daten von
Einkäufern, ihren Wegen und Erfahrungen à la „wo Nudeln sind, da ist
auch Reis“ gesammelt, gespeichert
und daraus in Kombination mit Umsatzzielen des Retailers eine optimierte
Raumplanung der Verkaufsfläche entwickelt.
VIRTUELLE SPIEGELUNG
IM MASCHINENBAU
REDUZIERT
REISETÄTIGKEIT
DER MITARBEITER
Vom Supermarkt in den Anlagenbau:
In Zukunft werden Maschinenbautechniker nur noch bei sehr schwerwiegenden Störungen einer Anlage
zum Kunden reisen müssen. Troubleshooting, Wartungsarbeiten und sogar Schulungen können künftig über
eine virtuelle Spiegelung der Anlage –
also einer Simulation – durchgeführt
werden. Der Techniker beim Anlagenbauer in Österreich kann dem Kunden
in Übersee an der virtuellen Anlage
zeigen was zu tun ist, an welchen
Schrauben gedreht werden muss,
um das Problem zu beheben. In der
Automobilindustrie wird schon heute
eine große Anzahl von Tests realitätsnah simuliert. Das Problem dabei ist:
Simulationen sind zeitintensiv und werden folglich erst in einem relativ späten
Stadium des Entwicklungsprozesses
Foto: © Fraunhofer IGD
Simulierte Realität unterstützt nicht nur Innovationskraft großer Unternehmen, sondern wird zunehmend auch von kleinen und
mittleren Unternehmen (KMU) genutzt. Etwa haben KMU aus dem Fertigungsbereich über das EU-Projekt CloudFlow die Möglichkeit,
Spezialsoftware für virtuelle Simulationen über eine Cloud-Lösung zu nutzen um so die Entwicklung zu beschleunigen.
eingesetzt. Zeigt sich dann, dass
das neue Modell in ein paar Punkten
schlechter abschneidet als geplant,
heißt es zurück in die Entwicklung.
Solche Korrekturen sorgen für
Verzögerungen und das kommt teuer.
André Stork vom Fraunhofer-Institut
für Graphische Datenverarbeitung
IGD in Darmstadt beschäftigt sich mit
der interaktiven Simulation direkt im
Entwicklungsprozess. „Wir haben die
Vision, die interaktive Simulation zu
beschleunigen“, sagt Stork.
SIMULATIONEN
IM GESAMTEN
ENTWICKLUNGSZYKLUS
Getüftelt wird intensiv, denn ab 2020
soll das Ergebnis der interaktiven 3DSimulation einer Strömungssimulation
nicht nach etlichen Stunden, sondern
binnen Zehntelsekunden vorliegen.
Daraus ergibt sich eine grundlegende Veränderung in der Produktentwicklung. Es kann mehr ausprobiert
werden, zumal mittels virtueller Simulation Feedback unmittelbar vorliegt
und etwaige Fehler frühzeitig erkannt
werden. Die virtuelle Simulation wird
künftig also nicht primär der Endkontrolle dienen, sondern entwicklungsbegleitend eingesetzt werden. Entwickler und Designer können ihren
Ideen freien Lauf lassen und zugleich
durch virtuelle Simulationen jeden
Zwischenschritt rechnergestützt absegnen lassen.
Die Erwartungen sind hoch: Es sollen
dadurch bessere, innovativere und
auch ganz neue Produkte entstehen.
Ab 2020 sollen zudem vernetzte
Autos so richtig in Fahrt kommen.
Ilja Radusch erforscht am FraunhoferInstitut für Offene Kommunikationssysteme FOKUS in Berlin in Simulationsprozessen das vernetzte Fahren,
wo Fahrzeuge miteinander oder auch
mit Infrastruktur wie Ampelanlagen
kommunizieren. Das hat den Vorteil,
dass das Auto nicht nur ringsum
wahrnimmt was passiert, sondern
quasi auch um die Ecke sehen kann.
DAS WETTER WIRD
KEINEN EINFLUSS
MEHR IN DER
PRODUKTENTWICKLUNG
HABEN
Diese Entwicklung wäre ohne Simulation nicht möglich. „Man müsste eine
Teststrecke von 40 Millionen Kilometern
zurücklegen“, sagt Radusch. Mittels simulierter Realität wird das vernetzte
Auto in Verkehrssituationen jenseits der
Schönwetterfahrt getestet, also etwa
beim Einfädeln auf der Autobahn. Ziele
des vernetzten Autoverkehrs sind weniger Unfälle und mehr Effi zienz.
TEMPO
SICHERHEIT IST DAS
MASS ALLER DINGE
UND BLEIBT EIN
STARKES ARGUMENT
In Zukunft werden im Sicherheitsbereich und in der Produktentwicklung
die neuen Möglichkeiten, die simulierte
Realität bietet, eine größere Rolle
spielen, um im Wettbewerb bestehen
und mit zunehmend komplexeren
Fragestellungen umgehen zu können.
So etwa nicht nur im Eingangs erwähnten Flugzeugbau, wo es darum
geht, Parameter wie Sicherheit und
Funktionsweise des Flugzeugs in sehr
frühen Phasen der Entwicklung zu
testen, in denen manchmal noch nicht
einmal reale Flugzeugmodelle zur Verfügung stehen. Am Horizont zeigt sich
bereits eine Integration mehrerer miteinander interagierender Modelle, die
für komplexe Simulationsvorhaben
höchste Genauigkeit und übereinstimmende Gültigkeitsbereiche bieten.
Auch im Schiffsbau wird die Rolle von
Verfahren der simulierten Realität zunehmen. Denn in einer Notfallsituation
auf hoher See sind vorab getestete
und sehr präzise simulierte Evakuierungsszenarien lebensrettend.
Die Fahrt in eine neue Welt hat
also begonnen. 23
WARTEN IST EINE INAKZEPTABLE TÄTIGKEIT IN UNSERER ÄRA DER
PRODUKTIVITÄT. BLÖD, WER AN DER HALTESTELLE MIT FAST LEEREM
SMARTPHONE-AKKU ANKOMMT UND DAS TASCHENBUCH VERGESSEN HAT.
GEDANKEN UND IDEEN, SICH DIE ZEIT ZU VERTREIBEN. Von Astrid Kuffner
Ich stehe an der Haltestelle ohne
Handy-Akku. Was tun? Hätte ich
meine beiden Kinder dabei, müsste
ich darüber nicht nachdenken. Ich
hätte Kekse, Wasser und Pixibücher
in meinem Känguruh-Beutel. Falls
nicht, bräuchte es zumindest ein Pointenfeuerwerk in Form von Kinderliedern, Reimen und Fingerspielen
im Kopf. Ins Narrenkastl schauen
kommt nicht mehr in Frage seit mir jemand gesagt hat, dass man schneller
dement wird, wenn man oft ins Leere schaut. Wenn auch andere Leute
warten, könnte man sich unterhalten.
Aber die Jungen haben sicher ein geladenes Mobiltelefon mit. Und für die
anderen ist meine eigene Stimmung
zu schlecht. Wer will schon die Startrampe für das übliche Lamento über
24
unpünktliche Verkehrsmittel, schlechtes Wetter oder Politik legen? Der aufgehängte Fahrplan ist oft genug ausgebleicht, in Kondenswasser gelöst,
winzig gedruckt, mit undurchschaubaren Ausnahmen versehen, zugepickt,
zerkratzt oder fehlt überhaupt.
NEIN, DIE ZEITANZEIGE
AN DER HALTESTELLE
FOLGT KEINER LOGIK
Selbst wenn es eine Minutenanzeige
der Verkehrsbetriebe gibt, stimmt sie
offensichtlich auf der ganzen Welt
weder mit der eigenen biologischen
Uhr noch der atomzerfallgenau aufs
Handy übertragenen Weltzeit überein. Und: Wenn es eine Anzeigetafel
gibt, ist kaum etwas gefürchteter als
ihre Aktualisierung. Es könnte sich zusätzlich zur Wartezeit eine Verspätung
manifestieren.
Ich könnte das Fitnessprogramm der
Frauenzeitschrift, die ich zum Zeitvertreib im Wartezimmer zur Hand nehme,
umsetzen. Total unauffällig, total straffend für alle Problemzonen oder effektiv gegen Krampfadern. Im Stehen
auf die Zehenspitzen gehen, zehn
Sekunden halten, absenken. Oder Po
anspannen, zehn Sekunden halten,
entspannen. Je nach Wartezeit sind
da viele Wiederholungen möglich.
Und wenn ich die Selbstoptimierung
schon angeleiert habe, denke ich
auch an Gehirnjogging im Stehen mit
Sudoku, Tetris oder Wissensquiz.
Allein: Es fehlt dafür der Touchscreen
im Wartehäuschen.
Foto: © https://anamericaninmontreal.wordpress.com
Die Ruhe
vor dem Bus
NEUDEUTSCH:
BACKUP-TÄTIGKEIT ZUM
ZEITVERTREIB PARAT
HABEN
In den Augen von Life Coach Anthea
Newburn habe ich alles falsch gemacht, was man falsch machen kann:
Während man auf ein Meeting oder
den Aufzug wartet, rät sie zu BackupTätigkeiten, in die man jederzeit reinkippen und wieder unterbrochen werden kann. Ich will es Ihnen aber nicht
vorenthalten: Lesestoff sollte immer
dabei sein. Oder das (elektronische)
Notizbuch, um die To-Do-Liste zu aktualisieren, die eigene Zielerreichung
zu prüfen oder den Terminkalender
zu optimieren. Ebenfalls dabei: Die
Mama anrufen. Das tun wirklich viele.
Vielleicht, weil die Exit-Option mit eingebaut ist: „Du Mama, ich muss aufhören, die Bahn kommt. Ich meld’
mich, Bussi! Baba!“ Aber ohne Akku
kein gutes Gewissen. Als ich neulich
eine Zeitung dabei hatte, las ich Folgendes: Wir werden heute sowohl in
der Freizeit als auch in der Arbeit unter Druck gesetzt, unsere Zeit sinnvoll
zu verbringen. Dieser Druck kann –
so die Studienautoren – zu Sucht (als
Flucht), Burnout oder Depression
führen.
LANGEWEILE IM KOPF
BIRGT DAS POTENZIAL
NACHHALTIGER „KUNST“
Nicht alle zünden sich eine Zigarette
an oder werden lethargisch. Bei manchen führt Langeweile auch zu Aggression oder macht Lust, sich langfristig zu verewigen (Stichwort
Graffiti-Sprayer). Die dänische Stadt
Alleroed nördlich von Kopenhagen
setzt gegen diese ganz langweilig auf
Videoüberwachung, das Los Angeles
Police Department auf erzieherisches
Blabla. Auch Schutzanstriche werden
verkauft. Wer Wände bepflanzt oder
gleich bunt gestaltet, verdirbt Sprayern den Spaß einer einfärbigen Fläche.
Ablenkung hilft vielleicht. Wer an einer Kärntner Bushaltestelle mit knallgelbem Sticker strandet, hat es gut:
Via NFC oder QR-Code wird „Projekt
Ingeborg“ aktiviert. Weil Klagenfurt
keine eigene Stadtbibliothek hat, wurde die Stadt zur Bibliothek gemacht.
Begonnen wurde im Juli 2012 mit 70
freien E-Books, passend zu 70 Orten.
An jedem Download-Point kann ein
bestimmtes E-Book heruntergeladen
werden, für das die Rechte bereits
ausgelaufen sind.
IN LONDON KANN MAN
AN DER HALTESTELLE
SCHAUKELN
Wenn der Handy-Akku fast leer ist,
muss ich wohl selbst Energie aufbringen. Wäre ich in London, könnte
ich schaukeln, weil der Künstler Bruno Taylor einige Londoner bus stops
mit Schaukeln ausgestattet hat. Klingt
super! Außer es geht jemand hinter
der Haltestelle vorbei, der in sein
Smartphone stiert (weil er genug Saft
hat) und wird von mir umgestoßen.
Das Abbremsen wird ebenfalls spannend. Auf dem Spielplatz sehe ich
wilde Kids einfach abspringen. Ich
stelle mir mich vor, wie ich elegant
vor dem Bus-Einstieg zum Stehen
komme oder alert hockend, wie
Spiderman. Wahrscheinlich würde
ich die Scheibe einschlagen, wie ein
wild gewordener Nothammer.
IN MONTREAL WIRD
SCHWINGEN IM
GLEICHKLANG
BELOHNT
Noch schwieriger wäre es in Montréal, wo ein Team von Designern interaktive Musik-Schaukeln in der Nähe
einer Bushaltestelle aufgebaut hat.
Nur wenn die Nutzer im Gleichklang
schwingen, spielen die Schaukeln
Töne und ermöglichen gemeinsam ein
Orchester. Eine Nutzerin im Werbevideo verrät, dass sie bereits seit eineinhalb Stunden schaukelt. Hoffentlich hat sie den Bus nicht verpasst.
Apropos Promotion: Wo sind eigentlich die Produkt-Pröbchen-Verteiler,
wenn man sie braucht? Ach ja: Hier
ist ja kein Verkehrsknotenpunkt. Mit
einer Variante von Haltestellen-Werbung möchte ich übrigens keines-
TEMPO
falls in Berührung kommen: Augmented Reality. Sie schickt dort, wo bei
uns harmlos hinterleuchtete Plakate
hängen, realitätsnah animierte Inhalte
in das Wartehäuschen. Tigerattacke,
Meteoriteneinschlag, UFO-Landung
oder das vielarmige Saugnapfmonster aus der Kanalisation kann simuliert werden. Unbelievable Moments
brought to you by Pepsi Max. Thanks,
but no thanks.
LESEZIRKEL, NÜSSE
ODER SICH EINEN BART
WACHSEN LASSEN:
WARTEN BIRGT VIELE
MÖGLICHKEITEN
Natürlich wurde auch schon untersucht, warum das Warten auf Bus
oder Bahn einem so lange vorkommt.
Es gibt ja nicht überall elektronische
Minuten-Anzeigen. Es ist nicht vergleichbar dem Warten in der Kassenschlange, wo ein Ende in Sicht ist.
Beim Arzt gibt es den Lesezirkel oder
beruhigende klassische Musik. Das
Warten auf einen freien Tisch im Lokal vertreibt man sich an der Bar mit
ein paar Nüsschen und es gibt genug
zu sehen. Der Bus bleibt unsichtbar,
bis er einfach dasteht. Er könnte in einer Minute kommen, oder in zwanzig.
Er könnte gerade gefahren sein. Und
Ablenkung ist… Mangelware. Hätte
das Smartphone mehr Saft, könnte
ich „Nine things to do while you wait
for the bus“ auf Youtube anschauen:
Einen Bart wachsen lassen, ein Kind
großziehen, Ihre Lieblingsszene
aus Ihrem Lieblingsfilm nachspielen,
Luftgitarre oder für den jährlichen Silly
Walk Contest üben, pantomimisch
nach einer weggelaufenen Ente fragen. Ebenfalls großartig: Das Poster
der Academy of Art University, wie
man 15 Minuten Zeit totschlägt (sic!).
Das meiste ist analog: Reimwörter
finden, über den ersten Kuss nachdenken, die Luft anhalten, den Schuh
mit einer Hand zubinden. Ich hab
schon etwas gefunden. Schade, dass
der Bus gerade kommt. Projekt Ingeborg:
http://pingeb.org/wie-pingeb-orgentstand-und-wie-es-funktioniert
25
INNOVATIVES ONLINE & OFFLINE
START-UPS
SPANNENDE IDEEN ZUM THEMA GESCHWINDIGKEIT
Von Ancuta Barbu
////// INTERNET AUS DER GLÜHBIRNE //////////////////
Wi-Fi macht die Internetnutzung ortsunabhängig. Für sehr schnelles Internet
braucht es aber manchmal noch immer eine Kabelverbindung. Ändern könnte
sich das, wenn es nach einer Vision von Harald Haas, Professor an der University of Edinburgh (Schottland), geht. Er prägte den Begriff Li-Fi (Light-Fidelity)
schon 2001. Dabei handelt es sich um eine kabellose, optische Datenübertragungstechnologie, die nicht wie Wi-Fi Radiofrequenzwellen – also Funk – zur
Übertragung von Daten nutzt, sondern Licht (LED-Technologie): LEDs senden
durch schnelles, für das menschliche Auge nicht wahrnehmbares An- und Ausschalten Lichtsignale an Fotodioden, welche die Lichtsignale in elektrische Impulse umwandelt. Der Vorteil: Li-Fi ist 100 mal schneller als WLAN. Der Nachteil: Licht kann Wände nicht überwinden, was zu einer kürzeren Reichweite als
WLAN führt. Durchaus vorstellbar sei allerdings, dass Li-Fi-Technik zur effizienteren Nutzung von WLAN unterstützend eingesetzt wird. Marktreif soll die
Technologie in einigen wenigen Jahren sein – zumindest wenn es nach dem estnischen Start-up Velmenni geht. Dazu hat das Unternehmen LED-Lampen entworfen, die sich derzeit in Optimierungstest befinden.
http://velmenni.com
////// MEHR UND SCHNELLER LESEN ////////////////////
Viele Menschen nutzen die Zeit, die sie in Öffis verbringen, zum Lesen. Meistens
zieht man der Fachliteratur aber einen leicht verträglichen Roman vor. Um sich
den Kerninhalt von Büchern mit hunderten von Seiten dennoch in kurzer Zeit zu
Gemüte führen zu können, haben die Erfinder von Blinklist eine App entwickelt,
welche die Hauptaussagen von ausgewählten Sachbüchern in 15 Minuten Lesezeit wiedergibt. Das Service ist in unterschiedlichen Ausprägungsgraden erhältlich; von der Gratisversion, bei der die Zusammenfassung eines Buches pro
Tag gelesen werden kann, bis hin zur Premium Funktion für 80 Euro, bei der geschmökert werden kann und bei der auch Audioversionen zur Verfügung stehen.
www.blinkist.com/de
////// AKKULADEZEIT: EINE MINUTE ////////////////////
Handyakku oder Elektroautobatterie: in wenigen Minuten vollständig aufladen?
Das israelische Start-up Store Dot macht das möglich. Es entwickelte eine
Smartphonebatterie, die sich innerhalb einer Minute laden lässt – dabei allerdings auch nur die halbe Leistung eines herkömmlichen Gerätes liefert. Die gewohnte Leistung erhält man bei einer Ladezeit von fünf Minuten. Store Dot nutzt
dieselbe Technologie auch für Akkus von Elektroautos. Nach fünf Minuten Ladezeit ist laut Doron Myersdorf, dem Gründer und CEO des Start-ups, eine 480 km
lange Fahrt möglich. Die Erfolgsaussichten des Unternehmens scheinen gut:
Die Massenproduktion der Batterien ist ab 2017 geplant. Unterstützung kommt
von namhaften Investoren, wie etwa Samsung Ventures, ein internationales Investment-Unternehmen, wie auch Roman Abramovich, einer der vermögendsten
Menschen der Welt oder auch Singulariteam, ein weltweit agierendes Venture
Capital-Unternehmen.
www.store-dot.com
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////// LEICHTES RAD MIT MOTORANTRIEB /////////////
E-Bikes sind meist teuer und vor allem schwer. Der gebürtige Slowene Niko
Klansek entwickelte deshalb eine Lösung der anderen Art: das Smart-Wheel.
Das „schlaue Rad“ ist ein mit einem Elektromotor ausgestattetes Hinterrad, das
auf praktisch jedem Fahrradgestell – egal welchen Alters oder Modells – montiert werden kann und nur 2,5 kg wiegt. Der Akku des E-Motors kann an jeder
Steckdose aufgeladen werden. Das Smart Wheel von FlyKly kostet 999 Euro
und wird mit einer App geliefert, die über Geschwindigkeit und Batteriestand
Auskunft gibt, aber auch das Fahrtempo regulieren kann. Ebenso trägt die App
dem Umweltgedanken Rechnung, indem sie anzeigt, wieviel Kohlenstoffausstoß
durch die Fahrradfahrt im Vergleich zu einer Autofahrt eingespart wurde. Mithilfe
der App kann das Fahrrad abgesperrt werden und ist bei Diebstahl lokalisierbar:
Durch die zum Losfahren zwingende Verbindung mit dem Smartphone wird eine
Nachricht an FlyKly gesendet, die das Fahrrad schnell wieder auffindbar macht.
http://flykly.com
////// ESSEN IM SAUSESCHRITT //////////////////////////
Die meisten Menschen warten nicht gerne auf ihr Essen. Dashed, ein US-amerikanisches Start-up, macht sich zur Aufgabe, das schnellste Lieferservice im
Nordosten des Landes zu bieten. Um dieses Ziel zu erreichen, werden ausschließlich Sportler eingestellt, welche die Lebensmittel von mehr als 700 Restaurants
zu den Kunden bringen. Zur Motivation werden die schnellsten Mitarbeiter jedes
Monat mit Dashed Olympia Gold-, Silber- oder Bronze-Medaillen und einem
Geldbonus prämiert. Die Lieferung erfolgt aber freilich nicht per pedes. Das
Unternehmen legt Wert auf die Nutzung umweltfreundlicher Fahrzeuge, weshalb Elektroautos und vor allem Fahrräder und Scooter verwendet werden, mit
denen Verkehrsstaus leicht umgangen und die überall Parkplätze gefunden werden können.
www.dashed.com
Eine andere Geschäftsidee im Restaurantbereich hat das US-Unternehmen Allset. Dabei handelt es sich um eine App, über die Speisen von einer einheitlichen
Speisekarte in ein Partnerrestaurant der Wahl vorbestellt und zum ausgewählten
Zeitpunkt gegessen werden können. Auch die Bezahlung erfolgt über die App.
Die Idee dahinter ist, nicht mehr die halbe Mittagspause mit dem Warten auf das
Essen verbringen zu müssen. Das bringt nicht nur den Konsumenten einen Vorteil, sondern auch den Restaurants: Durch die schnellere Bedienung der Kunden
ist eine größere Anzahl an Bewirtungen in einer bestimmten Zeit möglich. Derzeit gibt es das Service in San Francisco und Manhattan.
https://allsetnow.com
////// LICHTGESCHWINDIGKEIT FOTOGRAFIEREN /////
Selbst bei bekannten Technologien wie der Fotografi e gibt es interessante Innovationssprünge: Professor Ramesh Raskar vom MIT Media Lab in Massachusetts,
USA, entwickelte zusammen mit seinem Team eine Kamera, die „fotografiert“,
wie sich Licht ausbreitet. Das ist möglich, indem eine Billion Einzelbilder pro Sekunde aufgenommen werden. Dazu braucht es allerdings seine Zeit: Rund eine
Stunde dauert eine Aufnahme, die zeigt, wie Licht innerhalb einer Nanosekunde
durch eine Flasche wandert. Für die Fotografiemethode, die als Femto-Photography bezeichnet wird (Femto steht für Billiardstel), sieht Raskar Anwendungsmöglichkeiten nicht nur im High-Tech-Bereich und in der Forschung, sondern
auch für Hobbyfotografen. Die Technik könnte künftig etwa die Grundlagen für
Aufsteckblitze für Fotoapparate liefern, die es mit einem Studioblitz mit all seinem Zubehör aufnehmen können.
http://web.media.mit.edu/~raskar/trillionfps
TEMPO
27
Am Puls
der Stadt
Foto: © shutterstock
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WIE SCHNELL ODER LANGSAM, HEKTISCH ODER GEMÜTLICH WIR EINE STADT
ERLEBEN, HÄNGT VON SEHR VIELEM AB: VERKEHR UND LÄRM, BÜRO- UND
ÖFFNUNGSZEITEN, BAULICHEN GEGEBENHEITEN UND STÄDTISCHER
INFRASTRUKTUR. UND VON UNSEREM PERSÖNLICHEN LEBENSSTIL.
MANCHEM STADTBEWOHNER WIRD ES ZU SCHNELL: ER ZIEHT AUFS LAND.
Von Teresia Tasser
Stoßzeit in einer europäischen
Metropole: Büromenschen hasten
zu den Abgängen der U-Bahnen.
Autos arbeiten sich im Stop-andgo-Modus voran. Gedränge in den
Einkaufsstraßen kurz vor Ladenschluss. Blinken, Hupen, Signale,
der Lärmpegel steigt. Die Grundstimmung ist hektisch und durch
den Verkehrsstau zugleich gebremst.
DICHTE
VERMITTELT EIN
GEFÜHL DER
SCHNELLIGKEIT
An Orten, an denen viele Menschen
unterwegs sind, wird das Grundtempo einer Stadt besonders fühlbar. „Die Schnelligkeit in einer Stadt
ist auch an die soziale Dichte gekoppelt“, meint die Wiener Stadtpsychologin Cornelia Ehmayer.
Unter der sozialen Dichte versteht
man die Nutzerdichte bestimmter
Bereiche. Fazit: Sind Bus oder
U-Bahn gesteckt voll, wird eine
Stadt schneller erlebt, als wenn
die Wägen quasi leer sind.
Immer wieder gibt es den Versuch,
das Tempo einer Stadt an konkreten
Parametern zu messen, zum Beispiel
am Gehtempo von Stadtbewohnern:
Im Schnitt gehen Menschen fünf
Kilometer pro Stunde oder 1,4 Meter
pro Sekunde. In manchen Städten
schneller, in manchen langsamer: In
Hannover ist man schneller unterwegs als etwa in Bremen, in Wien
schneller als in Mexico City, in der
Schweiz schneller als in den USA.
31 Länder weltweit untersuchte der
amerikanische Sozialpsychologe
Robert Levine Ende der 1990er
Jahre für sein bekanntes Werk
„Eine Landkarte der Zeit. Wie
Kulturen mit Zeit umgehen“.
Levine untersuchte neben der Gehgeschwindigkeit auch die Genauigkeit der Uhren, die Termintreue
oder die Schnelligkeit an einem
Postschalter und kam zum Schluss,
dass Tempo und Ökonomie zusammenhängen: „Menschen in Regionen
mit einer blühenden Wirtschaft,
einem hohen Industrialisierungsgrad, einem kühleren Klima und
einer auf den Individualismus ausgerichteten kulturellen Orientierung
bewegen sich tendenziell schneller.“
DAS TEMPO DER
STADT WIRKT
SICH AUF DIE
GESUNDHEIT AUS
Psychologen zufolge führen Städte
mit hohem Lebenstempo, wo –
wie Studien belegen – die gefühlte
Hektik größer ist, auch zu mehr
koronaren Herzerkrankungen ihrer
Bewohner. Die sogenannte Eilkrankheit, das Gefühl des Zuspätkommens, des Gehetzt-Seins,
prägt das kollektive Befinden
solcher Städte. Die Menschen
stehen permanent unter Zeitdruck,
sind von Terminen getaktet und
verhalten sich ungeduldig bis ungehalten, wenn sie warten müssen.
Zu diesem Städtetypus zählen auch
chinesische Megastädte, die, auch
ohne eine solche Kategorisierung
zu kennen, bei vielen Menschen sofort ein Bild der Menschenmassen,
von Autos verstopften Straßen,
Hochhauswüsten und viel Lärm
TEMPO
hervorrufen – das Klischee der
schnellen Stadt.
IN CHINA ZIEHEN
MENSCHEN AUS DEN
MEGA-METROPOLEN
IN KLEINSTÄDTE
Interessant ist, dass sich gerade
dort, wo der soziale Aufstieg mit
dem Zuzug in die Stadt untrennbar verbunden ist, bei jenen, die
genug angehäuft haben, ein kleiner
Gegentrend zu entwickeln scheint:
Wohlhabenden Menschen wird es
zu viel, sie kündigen gute Jobs und
ziehen in kleinere Städte, die für
Chinesen als „ländlich“ gelten.
Etwa nach Lijiang im Südwesten
der Provinz Yunnan. Dort manifestiert sich eine wahre Stadtflucht.
Bei Yi ist einer der neu Hinzugezogenen. Seine Entscheidung dort
hin zu ziehen, begründet er mit
dem Arbeitsstress, den er in Beijing
hatte. Geld verdienen die meisten
Neo-Lijianger im Tourismus, denn
die Provinz Yunnan ist wegen ihrer
schönen Landschaftszüge ein
beliebtes Reiseziel. „Man kann
gesellschaftliche Tendenzen in einer Stadt meist schneller erkennen.
Und große Städte haben es an sich,
dass sie Trends vorgeben“, sagt die
Stadtpsychologin Ehmayer ganz
allgemein. Vielleicht ist der Wegzug aus den Megastädten Chinas
also nur der Beginn einer in Zukunft
wachsenden Bewegung, die auch
auf andere Länder und Kontinente
überschwappen wird. Die Flucht vor
dem Stress, sozusagen.
Die Geschwindigkeit des Stadtlebens wird aus verschiedensten
29
VERKEHRSLÄRM IST
AUCH EIN INDIKATOR
Man könnte also meinen, dass
„die schnelle Stadt“ ein Phänomen
ist, das vor allem von Fußgängern
erkannt wird. Denn abgesehen davon, dass Verkehrslärm als Parameter der schnellen Stadt bei geschlossenen Fenstern meist nicht
zu den Insassen durchdringt, wird
der motorisierte Straßenverkehr
in Metropolen eher mit Stau in Verbindung gebracht. Das subjektive
Gefühl, schnell voran zu kommen, ist
daher eher abseits der Straße, etwa
zu Fuß möglich. Eine Übersichtskarte
30
Foto: © wikipedia
Richtungen getaktet, mitunter vom
Verkehr: Ampelphasen geben einen
Rhythmus vor – je kürzer die Taktung, desto schneller das individuelle Gefühl, voran zu kommen.
Oder Fahrpläne öffentlicher Verkehrsmittel: Displays mit Echtzeitangaben auf den U-BahnPlattformen und bei Haltestellen
strukturieren die Zeit für den
Wartenden.
Im Autoverkehr größerer Städte
wird, um den Verkehrsfluss zu
erhöhen und damit ein schnelleres
Vorankommen zu ermöglichen, ein
vermeintliches Paradoxon angewendet: Erlaubte Höchstgeschwindigkeiten werden gesenkt – und
das weltweit. In über 150 Städten,
darunter selbst in Metropolen wie
London, setzt sich zunehmend
Tempo 30 beziehungsweise
20 Meilen/h durch. Niedrigere
Geschwindigkeiten reduzieren zudem den Lärm. Gerade die Akustik
einer Stadt wird von vielen als Tempobeschleuniger empfunden. Verkehrslärm suggeriert Hektik und
Stress. Fahrzeuge mit Tempo 30
sind um drei bis vier Dezibel leiser
als solche mit Tempo 50. Das entspricht einer Halbierung der wahrgenommenen Lautstärke.
In der südkoreanischen Hauptstadt Seoul wurde eine Autobahn abgerissen und
eine Oase der Entschleunigung für die Stadtbewohner geschaffen. Denn schnelle Städte
verlangen ihren Bewohnern oftmals viel ab – deshalb sind Orte der Erholung als Ausgleich
besonders wichtig.
zum Durchschnittstempo in USamerikanischen Städten zeigt einen
Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit, die Autos im Durchschnitt fahren können, und der
Wege, die zu Fuß zurückgelegt
werden. Etwa in Mega-Metropolen
wie New York – die Stadt, die
niemals schläft: Hier legen die
Menschen auf einen Kilometer
mehr Schritte zurück, sind also
häufiger zu Fuß unterwegs, als
zum Beispiel in Tulsa, im Bundesstaat Oklahoma. Autofahrer hingegen fahren in Tulsa mit 70 km/h im
Durchschnitt viel schneller als in
New York (28 km/h).
DAS EIGENE BEFINDEN
ALS TEMPOMAT
Die Wahrnehmung der Geschwindigkeit einer Stadt hängt aber immer auch vom eigenen Befinden ab.
Wer beruflich im Stress ist, auf den
wird eine entschleunigte Stadt einen wenig entlastenden Einfluss
haben. Vieles ist auch eine Frage
der Relation: Ein Fußgänger erscheint aus der Perspektive der
vorbeifahrenden Straßenbahn langsam. Oder das Landleben aus der
Sicht des Städters gemächlich und
entstresst.
URBAN GARDENING
UND ERHOLUNGSZONEN
ALS ORTE DER
ENTSCHLEUNIGUNG
Einen Beitrag zur lokalen Be- oder
Entschleunigung einer Stadt liefern
auch bauliche Maßnahmen. Man
denke beispielsweise an den Vormarsch des Urban Gardening, bei
dem sich Menschen in der Stadt
kleine Gemeinschaftsgärten anlegen, die sie neben der Selbstversorgung mit Obst, Gemüse, Kräutern oder Blumen zur Regeneration
nutzen. Auch Rückbau- und Renaturierungsprojekte mitten in der
Stadt sind Beispiele, Tempo aus
der Stadt zu nehmen und Orte der
Erholung im unmittelbaren Umfeld
schaffen. In Seoul wurde vor einigen Jahren eine sechs Kilometer
lange und sanierungsbedürftige
Stadtautobahn abgerissen, um die
darunterliegende Flusslandschaft
wieder zu beleben und daraus eine
Stadtoase zu schaffen. In New
York City ist die zu einem großen
Park umfunktionierte, aufgelassene
Highline zu einem innerstädtischen
Anziehungspunkt geworden. Von
dort aus kann man die Rush-Hour
an sich vorbeiziehen lassen. DATEN & FAKTEN
SCHNELLER ALS JE ZUVOR
Der schnellste Mann der Welt ist weniger als halb so schnell wie ein Gepard. Die Evolution hat daran nichts
geändert. Allerdings hat unser Kommunikationsverhalten im Lauf der Zeit an Geschwindigkeit zugenommen:
Wir sprechen schneller und versenden mehr Post. Von Silvia Wasserbacher-Schwarzer
Gepard schlägt Mensch
Die schnellsten am Land lebenden Säugetiere sind Geparden. Beim
Jagen erreichen sie eine Geschwindigkeit von bis zu 110km/h. Der
schnellste Mensch der Welt, der Jamaikaner Usain Bolt, erreicht
Höchstgeschwindigkeiten von 44,7 km/h bei einem 100-Meter-Lauf.
Den bis heute gültigen Weltrekord über diese Distanz stellte er 2009
auf. Er legte die Strecke in 9,58 Sekunden zurück. Ein Gepardenweibchen in einem Zoo (USA) brauchte dafür 5,95 Sekunden.
Die Post bringt mehr
Es handelt sich zwar nicht nur um Post in
Papierform, aber wir versenden immer mehr
Information. 2014 wurden weltweit alleine
166 Milliarden E-Mails pro Tag
verschickt, davon 115 Milliarden im
Geschäftsverkehr.1 Dazu kommen noch
Briefe und Pakete. Das ist Rekord. Niemals
wurden Briefe in diesem Ausmaß verschickt.
2011
2014
18 E-Mails pro Tag
2
2
Schnellsprecher
Eine Notiz zur Evolution des Sprechens: Im norwegischen Parlament
hat sich die Sprechgeschwindigkeit in 50 Jahren um nicht weniger als
50 Prozent erhöht. 3
Wir können multitasken
98 % der Jugendlichen in Deutschland besitzen ein Handy oder Smartphone4,
mit dem die News – welcher Art auch immer – schnell gescreent werden können.
Ein Abo einer Tageszeitung haben hingegen nur 39 % (2000 noch 66 %) –
einen Zeitungsartikel zu lesen erfordert auch mehr ungeteilte Aufmerksamkeit.
Was tun wir noch, wenn wir vor einem Bildschirm sitzen?
57 % der Zeit, die wir uns primär mit dem Smartphone beschäftigen, sehen
wir nebenbei fern (in 29 % der Fälle) oder nutzen einen PC oder Laptop (28 %
der Fälle). 5
In 77 % der Zeit, die wir vor dem TV
sitzen, nutzen wir entweder das Smartphone (49 % der Fälle) oder einen
PC oder Laptop (34 % der Fälle).
In 75 % der Zeit, die wir ein Tablet
verwenden, sehen wir fern (44 %) oder
nutzen ein Smartphone (35%). 6
34
Mehr „Kinder“ im Hotel Mama
44,2 %
TEMPO
2011
2001
1991
29,4 %
1981
Nicht alles schreitet voran, manches geht
auch den umgekehrten Weg. Zum Beispiel
die Nestflucht. Zwischen 1971 und 2011
stieg die Anzahl an Töchtern und Söhnen,
die noch bei den Eltern wohnen, merklich an.
Zum Beispiel lebten 2011 noch 44,2% der
25-jährigen jungen Männer zuhause, 1971
waren es nur 29,4% gewesen. 7
1971
Quellen:
1 Deutsche Handwerks-Zeitung; 2 IT-Branchenverband Bitkom; 3 Bayrischer Rundfunk; 4 KIM Studie 2014, MPFS; 5 ronnie05.wordpress.com;
6 https://ronnie05.wordpress.com/2013/03/12/the-paradigm-of-multi-screen-experiences; 7 Österreich Census 2011
11 E-Mails pro Tag
31
Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC
Der Dirigent
als Tempogeber
Mohammadreza Azin, 1980 in Teheran
geboren und begann schon mit 14 Jahren am
Teheraner Musikkonservatorium Sooreh
Komposition und Musik zu studieren.
Seit Oktober 2015 besucht er den
Studiengang Komposition an der
Universität für Musik und
Darstellende Kunst in Wien.
https://about.me/
Mohammadrezaazin.com
Schlagfiguren
Der Dirigent bietet Orientierungs-,
Koordinierungs- und Gestaltungshilfe
für die ausführenden Musiker eines
Orchesters oder eines anderen
musizierenden Ensembles. Mittels
rhythmisch gleicher Dirigiergesten –
sogenannten Schlagfiguren – wird
unter anderem mit der rechten Hand
auch das Tempo angegeben. Die linke
Hand steht hingegen für freie,
spontane Gesten während des
Dirigierens zur Verfügung.
3
2
1
1
32
1
2
Ein- bis
fünfteiliger Takt
Die gebräuchlichsten
Schlagfiguren aus der Perspektive
des Dirigenten für die rechte Hand
sind zwar nicht verbindlich, gelten
aber als normierte Ausgangsbasis.
Wird mit zwei Händen taktiert,
bewegt der Dirigent die Hände
spiegelsymmetrisch.
4
2 1 3
5
2 1 3 4