AUFSÄTZE Zivilrecht Öffentliches Recht Strafrecht DIDAKTISCHE

Inhalt
AUFSÄTZE
Zivilrecht
Rückgewähransprüche zwischen Schwiegereltern
und -kindern nach Scheitern der Ehe des Schwiegerkindes mit dem eigenen Kind
Von stud. iur. Marie Schellhorn, Leipzig,
stud. iur. Eray Gündüz, Tübingen
275
Öffentliches Recht
Religiöse Symbole vor Gericht – Teil 1
Von Wiss. Mitarbeiter Daniel Weidemann, Münster
286
Strafrecht
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB
– Teil 2
Beiträge zum Medienstrafrecht – Teil 3
Von Prof. Dr. Manfred Heinrich, Kiel
297
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Öffentliches Recht
20 Wiederholungsfragen zum internationalen
Diplomatenrecht
Von Wiss. Mitarbeiter Jan-Philipp Redder, Hamburg
316
ÜBUNGSFÄLLE
Zivilrecht
Schwerpunktbereichsklausur: Von Puffautos und
Kaffeebohnen
Von Akad. Rat a.Z. Dr. Tim Husemann,
Wiss. Mitarbeiterin Antje Weirauch, Bochum
323
Fortgeschrittenenklausur: Das Golfparadies
Von Rechtsanwältin Antje G. I. Tölle, Berlin
329
Inhalt (Forts.)
3/2016
ÜBUNGSFÄLLE (Forts.)
Zivilrecht (Forts.)
Schwerpunktbereichsklausur: Ekelskandal bei
Burger No. 1
Von Wiss. Mitarbeiter Tobias von Bressensdorf,
Leipzig
336
Öffentliches Recht
Fortgeschrittenenhausarbeit: Profit, Moral und
die rechtlichen Grenzen der Kriegswaffenexportkontrolle – Teil 2
Von Prof. Dr. Christoph Herrmann, LL.M.,
Wiss. Mitarbeiter Herbert Rosenfeldt, Passau
344
Schwerpunktbereichsklausur: Das Krim-Märchen
und der Krieg
Von Wiss. Mitarbeiter David Koppe,
Wiss. Mitarbeiter Alexander Schwarz, Leipzig
353
Strafrecht
Schwerpunktbereichsklausur: Internationales und
Europäisches Strafverfahrensrecht
Von Prof. Dr. Martin Böse, Bonn
365
Übungsfall: Die Sandviper
Von Prof. Dr. Georg Steinberg,
stud. iur. Melanie Epe, Potsdam
370
ENTSCHEIDUNGSBESPRECHUNGEN
Zivilrecht
BGH, Beschl. v. 18.6.2014 – III ZR 537/13
(Ansprüche der tatsächlichen Erben gegen einen
vom Scheinerben beauftragten Erbenermittler)
(Akad. Rat a.Z. Dr. iur. Benedikt Strobel, München)
375
BGH, Urt. v. 18.12.2015 – V ZR 160/14
(Anspruch auf Unterlassen gegen den Fahrzeughalter
als Zustandsstörer aus verbotener Eigenmacht)
(Cand. iur. Lennart Giesen, Bielefeld)
379
ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN
Zivilrecht
OLG München, Urt. v. 15.1.2015 – U 1110/14 Kart.
(Der Fall Pechstein und die Zukunft der Sportgerichtsbarkeit)
(Ref. iur. Fabio Adinolfi, Köln,
Mag. iur. Tillmann Rübben, Berlin)
382
Strafrecht
BGH, Beschl. v. 4.8.2015 – 3 StR 112/15
(Zur sog. Nacheile beim räuberischen Diebstahl)
(Privatdozentin Dr. Janique Brüning, Hamburg)
386
Inhalt (Forts.)
3/2016
ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN (Forts.)
Strafrecht (Forts.)
LG Neubrandenburg, Urt. v. 5.2.2016 – 90 Ns 75/15
(Grenzen der Meinungsfreiheit beim Schutz der
persönlichen Ehre)
(Prof. Dr. Holm Putzke, LL.M. [Krakau], Passau)
391
BUCHREZENSIONEN
Strafrecht
Gabriele Kett-Straub/Franz Streng, Strafvollzugsrecht,
2016
(Wiss. Mitarbeiterin Katrin Wick, Frankfurt am Main)
398
Rückgewähransprüche zwischen Schwiegereltern und -kindern nach Scheitern der
Ehe des Schwiegerkindes mit dem eigenen Kind
Von stud. iur. Marie Schellhorn, Leipzig, stud. iur. Eray Gündüz, Tübingen*
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes werden derzeit
etwa 35 % aller in einem Jahr geschlossenen Ehen im Laufe
der darauffolgenden 25 Jahre wieder geschieden. Die durchschnittliche Dauer der im Jahr 2014 geschiedenen Ehen
betrug 14 Jahre und 8 Monate. Wenn Schwiegereltern ihrem
Schwiegerkind – im Vertrauen auf den Fortbestand der Ehe
mit dem eigenen Kind – eine Zuwendung von erheblichem
Ausmaß zukommen lassen, kommen spätestens bei der Scheidung die ersten Probleme auf. Die Schwiegereltern wollen
wohl regelmäßig nicht, dass die Zuwendung weiterhin im
Vermögen des Schwiegerkindes bleibt. Doch wie und unter
welchen Voraussetzungen können sie die Zuwendung wieder
herausverlangen?
I. Einleitung
Der Fokus liegt dabei auf der Änderung der Rechtsprechung
vom 3.2.2010, als der XII. Zivilsenat des BGH seine vorhergehende Rechtsprechung über die schwiegerelterliche Zuwendung in wesentlichen Zügen revidierte, und auf den
Auswirkungen dieser Rechtsprechung auf die Rückgewähransprüche der Schwiegereltern dem Schwiegerkind gegenüber. Es werden nur Rückgewähransprüche der Schwiegereltern und nicht die des Schwiegerkindes berücksichtigt, da der
erstgenannte Fall eine erheblich höhere praktische Relevanz
aufweist. Besonderes Augenmerk soll hierbei auf der Frage
liegen, wie sich der schwiegerelterliche Rückgewähranspruch
auf die Zugewinnausgleichsansprüche der Ehegatten untereinander auswirkt.
Zunächst soll die rechtliche Einordnung der schwiegerelterlichen ehebezogenen Zuwendung geklärt werden. Danach soll sich die Arbeit mit den einzelnen Rückgewähransprüchen auseinandersetzen. Desweitern wird kurz auf Zuwendungen in Form von Arbeitsleistungen eingegangen und
das Konkurrenzverhältnis der verschiedenen Ansprüche besprochen. Abschließend folgt ein Resümee, in dem bis heute
noch ungelöste Problempunkte angesprochen werden.
II. Rechtliche Einordnung der schwiegerelterlichen Zuwendung
1. Alte Rechtsprechung vom 12.4.1995
Wenn Schwiegereltern ihrem Kind und dessen Ehepartner
gemeinsam oder sogar nur ihrem Schwiegerkind eine Zuwendung von größerem Ausmaß machen, und dabei nicht
konkret regeln, unter welchen Voraussetzungen die Zuwendung getätigt wurde, kann es bei einer Scheidung zur Frage
der rechtlichen Einordnung dieser Zuwendung kommen. In
dieser Frage vertrat die Rechtsprechung ab dem Senatsurteil
* Marie Schellhorn studiert Rechtswissenschaften an der
Universität Leipzig. Eray Gündüz studiert Rechtswissenschaften und Philosophie an der Universität Tübingen und ist
dort an der Forschungsstelle Politische Philosophie am Philosophischen Seminar tätig.
des BGH vom 12.4.1995 die Auffassung, eine Zuwendung
durch Schwiegereltern an ihr Schwiegerkind sei wie eine
ehebedingte (unbenannte) Zuwendung unter Ehegatten zu
behandeln. In dem dem Urteil zugrundeliegenden Fall lebte
die Beklagte mit dem Kläger in einer ehelichen Lebensgemeinschaft, bis die Ehe am 23.1.1990 rechtskräftig geschieden wurde. Die Mutter des Klägers hatte im Jahr 1985
300.000 DM auf das gemeinschaftliche Konto der Ehegatten
überwiesen.1
Der BGH sah früher Zuwendungen durch Schwiegereltern als Rechtsverhältnis eigener Art an.2 Er verglich eine
nicht unerhebliche Zuwendung durch die Schwiegereltern,
die über das Maß einer üblichen Gefälligkeit weit hinausging
und mit Rücksicht auf die eheliche Lebensgemeinschaft des
Schwiegerkindes mit dem eigenen Kind getätigt wurde, mit
den ehebezogenen (unbenannten) Zuwendungen unter den
Ehegatten selbst.3 Eine solche ehebedingte Zuwendung hat
ihren Rechtsgrund in einem stillschweigend oder konkludent
geschlossenen familienrechtlichen Vertrag „sui generis“, der
auf dem Fortbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft beruht.4 Eine Einordnung als Schenkung kam für den BGH
nicht in Betracht. Er erläuterte, dass es an der für eine Schenkung im Sinne des § 516 BGB vorausgesetzten Einigung
über die Unentgeltlichkeit mangele, und diese daher nicht in
Betracht gezogen werden könne.5 Der BGH hielt hierzu an
der Definition der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung und Lehre fest, wonach Unentgeltlichkeit dann
vorliegt, wenn der zugewendete Gegenstand „nicht rechtlich
abhängig ist von einer den Erwerb ausgleichenden Gegenleistung des Erwerbers“.6 Eine objektive Unentgeltlichkeit reicht
aber nichts aus, stattdessen muss ein entsprechender Parteiwille diesbezüglich bestehen.7 Bei einer solchen Zuwendung
durch die Schwiegereltern liege zwar eine solche objektive
Unentgeltlichkeit vor, die Zuwendung sei dem Willen des
Zuwendenden nach aber vom Fortbestand der Ehe abhängig.8
Dazu führte der BGH als Begründung an, dass die Zuwendung keinesfalls altruistisch und nur aus nicht ehe-/ und familienbezogener Großzügigkeit erfolgte, sondern gerade den
ehelichen Lebensverhältnissen dienen sollte.9 Demnach fehle
es aber am erforderlichen subjektiven Tatbestand.10 Es könnte unter Umständen sogar anzunehmen sein, dass die Schwie1
BGH FamRZ 1995, 1060.
BGH FamRZ 1998, 669 f.
3
BGH FamRZ 1995, 1060 (1061).
4
Schwab, Familienrecht, 23. Aufl. 2015, § 34 Rn. 308.
5
BGH NJW, 1992, 564.
6
BGH FamRZ 1992, 300 (301); RGZ 163, 348 (356).
7
Saenger, in: Nomos Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2014,
§ 516 Rn. 4.
8
BGH FamRZ 1995, 1060 f.; Schwab (Fn. 4), § 33 Rn. 267.
9
BGH FamRZ 1995, 1060 f.
10
BGH FamRZ 1998, 669 (670); BGH FamRZ 1995, 1060;
Schwab, Familienrecht, 17. Aufl. 2009, § 29 Rn. 208.
2
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275
AUFSÄTZE
Marie Schellhorn/Eray Gündüz
gereltern die Zuwendung nur unter dem Aspekt getätigt haben, dass sie sich im Alter der pflegerischen Hilfe ihres Kindes und des Schwiegerkindes, als so gesehene Gegenleistung,
sicher sein konnten, oder ihnen ein Wohnrecht eingeräumt
wurde.11 Auch im Schrifttum und der Rechtsprechung wurde
mehrmals befürwortet auf eine solche Zuwendung durch
Schwiegereltern die Grundsätze der ehebezogenen (unbenannten) Zuwendungen analog anzuwenden.12 Ebenso wie
Zustimmung gab es aber auch Kritik seitens des Schrifttums.
So wurde die Rechtsprechung von denjenigen abgelehnt, „die
dem Rechtsinstitut der ehebezogenen Zuwendungen schon im
Verhältnis der Ehegatten untereinander die Existenzberechtigung absprachen“.13 Doch selbst die Befürworter der analogen Anwendung der ehebezogenen Zuwendungen erkannten
die Problematik, dass das Austauschverhältnis zwischen den
Schwiegereltern und dem Schwiegerkind in keinem Fall mit
dem der Ehegatten selbst zu vergleichen ist.14
2. Neue Rechtsprechung vom 3.2.2010
Mit dem Urteil vom 3.2.2010 hat der XII. Senat des BGH
seine alte Rechtsprechung in wesentlichen Zügen geändert,
und damit das Modell der „ehebezogenen Schenkung“ in die
Welt gerufen.15
Die Kläger (Schwiegereltern des Beklagten) forderten
vom Beklagten (Schwiegerkind) die Rückzahlung von Geldbeträgen, die sie in Aussicht auf die Eheschließung des Beklagten mit der Tochter der Kläger und zur Finanzierung des
Familienheims getätigt hatten. Im Februar 1997 hatte der
Beklagte eine Eigentumswohnung zum Preis von 297.764
DM ersteigert. Diese Wohnung sollte als Eigenheim für die
Eheleute und ihr 1994 geborenes gemeinsames Kind dienen.
Der Beklagte hatte zur Finanzierung ein Darlehen in der
Höhe von 180.000 DM aufgenommen. Im April 1996 hatten
die Kläger – in Aussicht auf die Eheschließung mit der Tochter der Kläger – auf das Konto des Beklagten 58.000 DM
überwiesen und ihm 2.000 DM in bar übergeben. 1997 wurde
die Ehe zwischen dem Beklagten und der Tochter der Kläger
geschlossen. Im Mai 2003 reichte die Tochter der Kläger
dann den Scheidungsantrag ein.16
Wie bereits erläutert, wurde eine Zuwendung durch Ehegatten bis dato als Rechtsgeschäft eigener Art betrachtet und
mit den ehebedingten (unbenannten) Zuwendungen verglichen. Eine Schenkung im Sinne des § 516 BGB wurde ausgeschlossen. An dieser bisherigen Rechtsprechung hielt der
Senat in seinem Urteil vom 3.2.2010 nicht mehr fest. Eine
Zuwendung durch die Schwiegereltern an ihr Schwiegerkind
sei nun indes sehr wohl als Schenkung im Sinne des § 516
11
BGH FamRZ 2006, 394 (396).
Heinrichs, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 54. Aufl.
1995, § 242 Rn. 160; Heinle, FamRZ 1992, 1256 (1257);
OLG Oldenburg, FamRZ 1992, 308.
13
Koch, Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2008,
§ 516 Rn. 78; Seif, FamRZ 2000, 1193 (1201).
14
Koch (Fn. 13), § 516 Rn. 78; Tiedtke, JZ 1996, 201 (202).
15
BGH FamRZ 2010, 958 (961); Wever, FamRZ 2010, 1047.
16
BGH FamRZ 2010, 958 f.
12
BGB einzuordnen.17 Der BGH bejahte gerade auch für diese
Fälle, in denen die Zuwendung nur im Vertrauen auf den
Fortbestand der Ehe des Schwiegerkindes mit dem eigenen
Kind getätigt wurde, die Erfüllung aller Tatbestandsmerkmale des § 516 BGB.18
Der zuständige Senat hatte bis dahin zwar anerkannt, dass
regelmäßig die objektive Unentgeltlichkeit einer schwiegerelterlichen Zuwendung vorlag, er hatte aber mit dem Fehlen
der Einigung über die Unentgeltlichkeit gegen eine Schenkung im Sinne des § 516 BGB argumentiert. Wie bereits
aufgeführt, ist eine Zuwendung unentgeltlich, wenn sie ohne
Gegenleistung erfolgt.19 Bei synallagmatischen Verknüpfungen wäre eine solche Unentgeltlichkeit nicht anzunehmen.20
Die schwiegerelterlichen Zuwendungen weisen aber regelmäßig keine Gegenleistung auf, sondern bereichern lediglich
den Zuwendungsempfänger. Dies stellt aber nur den objektiven Aspekt der Unentgeltlichkeit dar. Desweitern muss auch
das subjektive Element der Unentgeltlichkeit – also die Einigung darüber – erfüllt sein. In diesem Punkt unterscheidet
sich die Schenkung im Sinne des § 516 BGB von der ehebedingten (unbenannten) Zuwendung.21 Dies betreffend revidierte der BGH 2010 die bisherige Rechtsprechung und bejahte stattdessen das Vorliegen der Einigung über die Unentgeltlichkeit.22 Als Argument brachte der XII. Senat dafür an,
dass eine Einigung im Sinne des § 516 Abs. 1 BGB weder
eine freie Verfügbarkeit des Zuwendungsempfängers über
den zugewendeten Gegenstand voraussetze, noch dass dieser
nur einseitig begünstigt werden müsse.23 Als rechtliches
Fundament für seine Entscheidung brachte der BGH an, dass
dies eine Rückfolgerung aus § 525 BGB sei, welcher eine
Schenkung unter Auflage gestattet.24 Eine solche Auflage
verpflichtet den Zuwendungsempfänger zu einer Leistung,
welche ein Tun oder ein Unterlassen darstellen kann, und sie
erfolgt in der Regel auf Grundlage der Zuwendung.25 Auch
die Zweckschenkung ist eine Schenkung, bei der der Zuwendungsempfänger die Zuwendung für einen bestimmten
Zweck einzusetzen hat. Zwar steht dem Zuwendenden kein
klagbarer Anspruch auf Erfüllung des Zwecks zu, dennoch
hat er einen Herausgabeanspruch über die Zweckverfehlungskondiktion gem. § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB bei Nichterfüllung des Zwecks.26 Die freie Disponibilität des Zuwendungsempfängers wird also sowohl bei einer Schenkung unter
Auflage im Sinne des § 525 BGB, als auch bei einer Zweck17
BGH FamRZ 2010, 958 (959); Schlecht, FamRZ 2010,
1021.
18
BGH FamRZ 2010, 958 (959); Herrmann, in: Erman,
Kommentar zum BGB, 14. Aufl. 2014, § 516 Rn. 13b.
19
Weidenkaff, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 73. Aufl.
2014, § 516 Rn. 8.
20
Herrmann (Fn. 18), § 516 Rn. 8.
21
Schwab (Fn. 4), § 34 Rn. 308.
22
BGH FamRZ 2010, 958 (959).
23
BGH FamRZ 2010, 958 (959).
24
BGH FamRZ 2010, 958 (959).
25
Weidenkaff (Fn. 19), § 525 Rn. 1.
26
Herrmann (Fn. 18), § 516 Rn. 17a, Tiedtke, JZ 1996,
201 f.; Kollhosser, NJW 1994, 2313 (2318).
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ZJS 3/2016
276
Rückgewähransprüche zwischen Schwiegereltern und -kindern nach Scheitern der Ehe
schenkung eingeschränkt. Trotz dieser Beschränkung werden
beide dieser Rechtsinstitute als Schenkung qualifiziert. Es
scheint also nicht gerechtfertigt, die Einigung über die Unentgeltlichkeit bei einer schwiegerelterlichen Zuwendung
aufgrund der regelmäßig fehlenden freien Disponibilität über
die Zuwendung als nicht erfüllt anzusehen.
Die Vermögensminderung oder auch Entreicherung des
Zuwendenden, als weiteres Tatbestandsmerkmal des §516
Abs. 1 BGB, zeigt einen weiteren Unterschied zwischen der
ehebedingten Zuwendung unter Ehegatten und einer Schenkung im Sinne des § 516 BGB auf. Dabei muss das Vermögen des Zuwendenden dauerhaft durch die Schenkung gemindert werden.27 Bei ehebedingten Zuwendungen kann
regelmäßig davon ausgegangen werden, dass der zuwendende
Ehegatte mit dem Gedanken die Zuwendung tätigt, in Zukunft weiter daran partizipieren zu können und nicht das
Bewusstsein hat, sie endgültig und dauerhaft zu verlieren.28
Bei einer schwiegerelterlichen Zuwendung hingegen muss
wohl davon ausgegangen werden, dass dieses Bewusstsein in
den meisten Fällen vorhanden ist, und die Schwiegereltern
durch die Zuwendung endgültig und dauerhaft in ihrem Vermögenswerten entreichert werden.29
Die Zuwendung von Schwiegereltern an ihr Schwiegerkind, die hinsichtlich der bestehenden Ehe mit dem eigenen
Kind getätigt wurde, erfüllt somit alle Tatbestandsmerkmale
des § 516 BGB und kann somit regelmäßig als echte Schenkung qualifiziert werden.
III. Rückgewähransprüche der Schwiegereltern
Vor dem Senatsurteil des BGH vom 3.2.2010 wurden Zuwendungen an das eigene Kind rechtlich anders eingeordnet
als die Zuwendungen an das Schwiegerkind. Das führte regelmäßig dazu, dass die Hälfte der Zuwendung des
Schwiegerkindes bei Scheitern der Ehe wieder an das eigene
Kind zurückfloss, weil die echte Schenkung durch § 1374
Abs. 2 BGB als privilegierter Erwerb anzusehen ist und somit
in das Anfangsvermögen gezählt wird. Dahingegen fiel die
Zuwendung an das Schwiegerkind nicht unter den § 1374
Abs. 2 BGB, da sie damals nicht als Schenkung behandelt
wurde und wurde somit nicht ins Anfangsvermögen eingerechnet.30 Durch die Qualifizierung als Schenkung im Sinne
des § 516 BGB kommen zum einen schenkungsrechtliche
Ansprüche gem. §§ 527, 528, 530 BGB in Betracht. Desweitern müssen Ansprüche wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage aus § 313 BGB und bereicherungsrechtliche Ansprüche
der Zweckverfehlungskondiktion aus § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 2
BGB in Erwägung gezogen werden.
ZIVILRECHT
1. Schenkungsrechtliche Rückgewähransprüche
a) § 527 BGB: Rückforderung wegen Nichtvollziehung der
Auflage
Aufgrund der schenkungsrechtlichen Qualifizierung kann der
Zuwendende aus § 527 Abs. 1 BGB bei Nichterfüllung der
Auflage unter den Voraussetzungen des Rücktrittsrechts von
gegenseitigen Verträgen (§ 323 BGB i.V.m. § 326 Abs. 5
BGB) und nach den Vorschriften über die ungerechtfertigte
Bereicherungsherausgabe der Zuwendung verlangen.31 Durch
den Verweis in § 527 Abs. 1 BGB auf die Rücktrittsvoraussetzungen bei gegenseitigen Verträgen steht dem Zuwendenden ein Rücktrittsrecht zu, wenn die Erfüllung der Auflage
entweder unmöglich ist (§ 326 Abs. 5 BGB i.V.m. § 275
Abs. 1-3 BGB) oder nach einer angemessenen Fristsetzung
nicht ordnungsgemäß erfüllt worden ist.32 Dieses Rücktrittsrecht der Auflagenschenkung ist gem. §§ 323, 326 Abs. 5
BGB verschuldensunabhängig. Der Zuwendungsempfänger
wird aber durch § 323 Abs. 6 BGB, der das Rücktrittsrecht
des Zuwendenden ausschließt, falls der Zuwendende die
unterbliebene Auflagenerfüllung zu vertreten hat, geschützt.
Auch die Rechtsfolgenverweisung auf die §§ 818 ff. BGB
schützt den Zuwendungsempfänger. So muss nur der Teil der
Zuwendung herausgegeben werden, der zur Erfüllung der
Auflage verwendet hätte werden müssen.33 Im Einzelfall
muss also nicht immer die gesamte Zuwendung herausgegeben werden, sondern nur ein „real abtrennbarer Teil“.34 Bei
einem unteilbaren Zuwendungsgegenstand kann der Zuwendende Wertersatz aus § 812 Abs. 2 BGB verlangen.35 Für die
Fälle der schwiegerelterlichen Zuwendung ist der Regelungsvorbehalt des § 527 BGB von Bedeutung. Fällt ein Sachverhalt unter seinen Regelungsgehalt, können keine sonstigen
gesetzlichen Rückforderungsansprüche bestehen.36 Fällt er
hingegen nicht unter den Regelungsbereich des § 527 BGB,
sind nach überwiegend h.M. die gesetzlichen Rückgewähransprüche aus § 313 BGB (Wegfall der Geschäftsgrundlage)
und § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB (Zweckverfehlungskondiktion) anzuwenden.37
b) § 528 BGB: Rückforderung wegen Verarmung des Schenkers
Ein weiterer Rückgewähranspruch, der nunmehr in Betracht
gezogen werden muss, ist der Rückforderungsanspruch gem.
§ 528 BGB, die Rückforderung wegen Verarmung des
Schenkers. § 528 BGB bezieht sich auf die Fälle, in denen
sich die Verarmung des Schenkers erst nach Schenkungsvollzug herausstellt.38 Das Gesetz verweist für die Herausgabe
des Geschenkes auf die Vorschriften der Herausgabe einer
ungerechtfertigten Bereicherung. Für einen Rückforderungs31
27
BGH NJW 1987, 2816 f.; Koch (Fn. 13), § 516 Rn. 6.
28
BGH FamRZ 2010, 958 (960); Koch (Fn. 13), § 516
Rn. 79.
29
BGH FamRZ 2010, 958 (960); Schwab, in: Festschrift zum
70. Geburtstag des Jenaer Gründungsdekans und Stiftungsrechtlers Olaf Werner, 2009, S. 459 (462).
30
Schulz, FPR 2012, 79 (80).
Koch (Fn. 13), § 527 Rn. 1.
Herrmann (Fn. 18), § 527 Rn. 2.
33
Koch (Fn. 13), § 527 Rn. 3.
34
Herrmann (Fn. 18), § 527 Rn. 3.
35
Koch (Fn. 13), § 527 Rn. 3.
36
Koch (Fn. 13), § 527 Rn. 4.
37
BGH NJW-RR, 1990, 387 f.; Koch (Fn. 13), § 527 Rn. 4.
38
Koch (Fn. 13), § 528 Rn. 1.
32
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277
AUFSÄTZE
Marie Schellhorn/Eray Gündüz
anspruch gem. § 528 BGB muss zunächst das Vorliegen
eines Notbedarfs als erstes Tatbestandsmerkmal gegeben
sein. Wie oben bereits angeführt darf der Schenker nach dem
Schenkungsvollzug nicht mehr in der Lage sein, für seinen
eigenen Unterhalt oder seine gesetzlichen Unterhaltspflichten
aufzukommen. Entgegen des Wortlautes des Gesetztes
(„und“) reicht es jedoch aus, wenn eine der beiden Varianten
gegeben ist.39 Da ein Rückforderungsanspruch nach dem
Schenkungsvollzug in die Rechtsbeständigkeit der Schenkung eingreift, wird der Schenker aber nicht so gestellt, als
hätte er die Schenkung nie getätigt, sondern nur so wie es
seinen Lebensumständen nach der Schenkung angemessen
ist.40 Das sogenannte gegenwärtige Aktivvermögen des
Schenkers dient dazu festzustellen, ob ein Notbedarf auf
dessen Seite tatsächlich gegeben ist.41 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Schenker seine eventuell vorhandene
Vermögenssubstanz investieren muss, solange dies nicht
gänzlich wirtschaftlich unangemessen ist.42 Desweitern müssen auch nahestehende und zumutbare Erwerbsmöglichkeiten, die zur Abwendung des Notbedarfs führen könnten,
berücksichtigt werden.43 Eine Verarmung auf Grund der
Schenkung ist keine Voraussetzung des § 528 Abs. 1 BGB.44
Der § 528 Abs. 1 S. 1 BGB verweist auf die Vorschriften der
ungerechtfertigten Bereicherung, was in der Regel zur Folge
hat, dass der Beschenkte den Schenkungsgegenstand gem.
§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB zurückgeben muss. Dieser Anspruch
dürfte dann aber nicht ausschließbar sein. Ausgeschlossen
wäre der Anspruch nach § 818 Abs. 3 BGB, wenn der Beschenkte bereits nicht mehr bereichert ist.45 Der Anspruch
könnte darüber hinaus auch nach den Grundsätzen von Treu
und Glauben gem. § 242 BGB ausgeschlossen werden. Dies
wäre der Fall, wenn der Schenkungsgegenstand keinen wirtschaftlichen Wert besitzt.46 Beschränkt wird der Anspruch
desweitern durch § 528 Abs. 1 S. 1 BGB selbst, der besagt,
dass der Rückgabeanspruch maximal in der Höhe des Notbedarfs bestehen darf.47 Unterschreitet die Höhe des Notbedarfs
des Schenkers den Wert des Schenkungsgegenstandes, so
muss nur der erforderliche Teil herausgegeben werden. Ist
der Gegenstand aber von Natur aus nicht teilbar, muss deshalb Teilwertersatz gem. § 818 Abs. 2 BGB geleistet werden.48Auf ehebedingte Zuwendungen sind die Vorschriften
des § 528 BGB nach allgemeiner Auffassung nicht anzuwenden, weshalb die schwiegerelterliche Zuwendung, die nach
früherer Rechtsprechung mit der ehebedingten Zuwendung
unter Ehegatten verglichen wurde, vor dem Urteil vom
3.2.2010 nicht in den Anwendungsbereich des § 528 BGB
fiel.49 Fällt nun aber im Einzelfall der Sachverhalt, bei dem
die Schwiegereltern ihre getätigte Zuwendung vom Schwiegerkind zurückfordern wollen, unter den Regelungsgehalt des
§ 528 BGB, kann ein solcher Anspruch geltend gemacht
werden.
c) § 530 BGB: Widerruf der Schenkung wegen groben Undanks
Eine weitere Möglichkeit des Schenkers, seine Zuwendung
wieder zurückzufordern, ist der Widerruf der Schenkung
gem. § 530 BGB. Die Schenkung kann vom Zuwendenden
widerrufen werden, wenn das Verhalten des Beschenkten auf
groben Undank schließen lässt. Hier ist es aber wichtig zu
betonen, dass der Schenker kein bestimmtes Maß an Dankbarkeit erwarten kann, und dadurch einen Schadensersatzanspruch geltend machen kann.50 Erst wenn der grobe Undank
in Gestalt einer schweren Verfehlung vom Schenker bewiesen werden kann, kann dieser die Schenkung widerrufen.51
Bei der Bewertung des Einzelfalls müssen alle Umstände
gegeneinander abgewogen werden. Eine schwere Verfehlung
im Sinne des § 530 BGB „wird grundsätzlich bei einem
Fehlverhalten des Beschenkten angenommen, das objektiv
eine gewisse Schwere aufweist und subjektiv eine tadelnswerte Gesinnung offenbart, die einen Mangel an Dankbarkeit
erkennen lässt.“52 Desweitern hat der § 530 BGB einen
höchstpersönlichen Charakter, weshalb sich die Verfehlung
immer gegen den Schenker richten muss. Dies gilt auch dann,
wenn sich die Verfehlung gegen einen nahen Angehörigen
richtet, da hier die Verfehlung nur dann an Bedeutung gewinnt, wenn sie zusätzlich auch vom Schenker persönlich als
Kränkung aufgefasst werden kann.53 So können in bestimmten Fällen bei Schenkungen der Schwiegereltern an ihr
Schwiegerkind auch eheliche oder ehebedingte Verfehlungen
ein Ausdruck groben Undanks gegenüber den Schwiegereltern darstellen.54 Dabei ist jedoch auch zu berücksichtigen,
dass in einer Ehe die Beziehung der Ehegatten viel mehr auf
dem täglichen und tatsächlichen Miteinander beruht, als auf
irgendeiner möglicherweise erwarteten Dankbarkeit des Beschenkten.55 Dies ist auch der Grund dafür, dass in der Praxis
nur sehr selten eheliche Verfehlungen als grober Undank
gegenüber den Schwiegereltern geltend gemacht werden
können. Nach neuer Einordnung der schwiegerelterlichen
Zuwendung als echte Schenkung ist demnach ein Widerruf
wegen groben Undanks im Sinne des § 530 BGB möglich,
wohingegen ein Widerruf in diesem Sinne für ehebedingte
39
Krauß, ZEV 2001, 417 (418); Koch (Fn. 13), § 528 Rn. 3.
BGH NJW 2003, 1384 (1387).
41
Koch (Fn. 13), § 528 Rn. 4.
42
OLG München FuR 2000, 350 (351); Germer, BWNotZ
1987, 61 (62).
43
Dendorfer, in: Nomos Kommentar zum BGB, 2. Aufl.
2012, § 528 Rn. 6.
44
Dendorfer (Fn. 43), § 528 Rn. 6.
45
BGH NJW 2003, 1384 (1385).
46
Koch (Fn. 13), § 528 Rn. 5.
47
Dendorfer (Fn. 43), § 528 Rn. 11.
48
Koch (Fn. 13), § 528 Rn. 5.
40
49
KG Berlin NJW-RR 2009, 1301 f.; Dendorfer (Fn. 43),
§ 528 Rn. 3.
50
Koch (Fn. 13), § 530 Rn. 1.
51
Gehrlein, in: Bamberger/Roth, Kommentar zum BGB,
3. Aufl. 2012, § 530 Rn. 3.
52
BGH NJW 2000, 3201 f.; Koch (Fn. 13), § 530 Rn. 2.
53
Koch (Fn. 13), § 530 Rn. 5.
54
BGH NJW 1999, 1623 f.
55
Koch (Fn. 13), § 530 Rn. 6.
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ZJS 3/2016
278
Rückgewähransprüche zwischen Schwiegereltern und -kindern nach Scheitern der Ehe
Zuwendungen nicht in Betracht kommt.56 Liegen die Voraussetzungen des Widerrufs gem. § 530 BGB vor, muss der
Widerruf noch gem. § 531 BGB korrekt vollzogen werden
und darf nicht durch § 532 BGB ausgeschlossen werden.
Zusammenfassend ist also zu sagen, dass Schwiegereltern
die Zuwendungen an ihr Schwiegerkind durch die schenkungsrechtlichen Rückforderungsansprüche zurückverlangen
können, wenn der Sachverhalt im Einzelfall unter einen Regelungsgehalt der §§ 527, 528, 530 BGB fällt.
2. Rückgewähransprüche wegen Wegfall der Geschäftsgrundlage
Kann ein Rückforderungsanspruch nicht durch die schenkungsrechtlichen Ansprüche durchgesetzt werden, stehen den
Schwiegereltern weitere Optionen zur Rückgewähr offen. So
können sie versuchen, die Zuwendung im Zuge des Wegfalls
der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB heraus zu verlangen, wenn die Voraussetzungen gegeben sind.
a) Rechtsfolgen des § 313 BGB
Die regelmäßig eintretende Rechtsfolge ist die Anpassung
des Vertrages gem. § 313 Abs. 1 BGB. Nach dem Wortlaut
„verlangt werden“ liegt es in der Hand der benachteiligten
Vertragspartei, den Wegfall der Geschäftsgrundlage geltend
zu machen. Hierbei kann unmittelbar auf die angepasste
Leistung geklagt werden.57 Für den anderen Vertragspartner
besteht eine Mitwirkungspflicht, die laut BGH als Pflichtverletzung im Sinne des § 280 Abs. 1 BGB, i.V.m. § 286 BGB
einen Schadensersatzanspruch begründet.58 Das Ziel der
Vertragsanpassung ist der hypothetische Parteiwille, also was
die Parteien in Kenntnis der Wirklichkeit vereinbart hätten.59
Desweitern kann auch nachrangig vom Vertrag zurückgetreten werden gem. § 313 Abs. 3 S. 1 BGB (Kündigung bei
Dauerschuldverhältnissen § 313 Abs. 3 S. 2 BGB). Dies kann
aber nur dann in Betracht gezogen werden, wenn eine Anpassung des Vertrags nach Abs. 1 unmöglich oder unzumutbar
wäre.60 Eine umfassende Interessenabwägung bezweckt es
dabei, die schutzwürdigen Interessen in einem angemessenen
Gleichgewicht zu halten.61
b) Auswirkungen des Rückgewähranspruchs der Schwiegereltern auf den Zugewinnausgleich der Ehegatten
Im Falle der schwiegerelterlichen Zuwendung hat der BGH
klargestellt, dass trotz der veränderten Qualifikation als echte
Schenkung die Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gem. § 313 BGB weiterhin Anwendung finden.62 Vor
56
BGH NJW 2008, 3277 (3278); Gehrlein (Fn. 51), § 530
Rn. 2.
57
Stürner, in: Prütting/Wegen/Weinreich, Kommentar zum
BGB, 10. Aufl. 2015, § 313 Rn. 20.
58
BGHZ 191, 139 f.
59
Stürner (Fn. 57), § 313 Rn. 25.
60
Finkenauer, Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl.
2012, § 313 Rn. 81.
61
Finkenauer (Fn. 60), § 313 Rn. 81.
62
BGH FamRZ 2010, 958 (960).
ZIVILRECHT
dem Senatsurteil des BGH vom 3.2.2010 konnten die
Schwiegereltern einen Rückforderungsanspruch nach § 313
BGB nur geltend machen, wenn das Ergebnis des güterrechtlichen Ausgleichs für den Zuwendenden unzumutbar war.63
Dabei wurden die Interessen der Schwiegereltern mit den
Interessen ihres eigenen Kindes gleichgesetzt.64 Fand also ein
angemessener Ausgleich für das eigene Kind im Rahmen des
Zugewinnausgleichs statt, mussten das die Schwiegereltern
gegen sich anrechnen lassen. Desweitern wurde damit argumentiert, dass die Schwiegereltern, hätten sie das Scheitern
der Ehe vorhergesehen, die Zuwendung in vollem Umfang an
ihr eigenes Kind getätigt hätten. Dies hätte aber wiederum
zur Folge gehabt, dass das eigene Kind die Zuwendung an
seinen Ehegatten weitergegeben hätte oder ihn zumindest
hätte daran teilhaben lassen (sog. „Kettenschenkung“).65
Hätten die Schwiegereltern das Scheitern der Ehe des eigenen
Kindes mit dem Schwiegerkind also vorausgesehen, und die
Zuwendung unmittelbar an das eigene Kind getätigt, hätte ein
Ausgleich auch lediglich im Rahmen des Zugewinnausgleichs stattgefunden. Weshalb – laut früherer Senatsrechtsprechung – regelmäßig nicht davon ausgegangen werden
durfte, dass es sich hier um einen unzumutbaren Wegfall der
Geschäftsgrundlage im Sinne des § 313 BGB handele.66 An
dieser Rechtsprechung hält der BGH seit dem 3.2.2010 jedoch nicht mehr fest. Dass der güterrechtliche Ausgleich
zwischen den Ehegatten, bei dem die Zuwendung an das
Schwiegerkind dem eigenen Kind teilweise zugutekommt,
regelmäßig zu einem für die Schwiegereltern zumutbaren
Ergebnis kommen soll, verneint der BGH.67 Das bislang von
der Senatsrechtsprechung angebrachte Argument der hypothetisch gedachten Kettenschenkung sei lediglich eine Fiktion, die nichts an dem tatsächlichen Zustand ändere, dass die
Zuwendung an das Schwiegerkind und nicht an das eigene
Kind getätigt wurde und demnach nicht dazu im Stande sei
eine andere Sichtweise zu belegen.68 Dass ein güterrechtlicher Ausgleich bei (unbenannten) ehebedingten Zuwendungen unter Ehegatten eine Anwendung des § 313 BGB ausschließt und regelmäßig als zumutbar für den zuwendenden
Ehegatten gilt, dies aber nicht auf die schwiegerelterliche
Zuwendung übertragbar ist, zeigt schon die unterschiedliche
Auswirkung des Zugewinnausgleichs auf die Zuwendung
unter Eheleuten einerseits und der schwiegerelterlichen Zuwendung andererseits.
Da eine Zuwendung grundsätzlich zu einer Vermögensminderung auf Seiten des Zuwendenden und zu einer Vermögensmehrung auf Seiten des Zuwendungsempfängers
führt, kann dies zur Folge haben, dass sich der Zugewinn im
Sinne des § 1373 BGB des zuwendenden Ehegatten um den
Betrag des Wertes der Zuwendung schmälert, sich dagegen
aber der Zugewinn des Zuwendungsempfängers um diesen
Wert steigert. Tritt demnach der für den zuwendenden Ehe63
Schlecht, FamRZ 2010, 1021.
BGH FamRZ 1995, 1060 f.
65
BGH FamRZ 2010, 958 (960); BGHZ 129, 259 (266).
66
BGH FamRZ 2010, 958 (960); BGH FamRZ 1995, 1060 f.
67
BGH FamRZ 2010, 958 (960).
68
BGH FamRZ 2010, 958 (961).
64
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279
AUFSÄTZE
Marie Schellhorn/Eray Gündüz
gatten günstigste Fall ein, so erhält dieser vom Zuwendungsempfänger den Wert der gesamten Zuwendung im Rahmen
des Zugewinnausgleiches wieder zurück.69 Eine Zuwendung
der Schwiegereltern auf das Schwiegerkind wirkt sich indes
aber anders auf den Zugewinnausgleich zwischen den Ehegatten aus. Der Zugewinn des Schwiegerkindes erhöht sich
um den Wert der Zuwendung, wohingegen der Zugewinn des
eigenen Kindes unberührt bleibt.70 In Fällen der schwiegerelterlichen Zuwendung kann das eigene Kind im Rahmen
eines Zugewinnausgleichs also allenfalls hälftig von der
Zuwendung profitieren. Hier unterstreicht der BGH, dass es
aber nicht verständlich sei, warum sich die Schwiegereltern
mit dem hälftigen Verbleib der Zuwendung beim ehemaligen
Schwiegerkind zufrieden geben sollten.71 Der güterrechtliche
Grundsatz der Halbteilung ist allein deshalb schon nicht auf
die schwiegerelterliche Zuwendung anwendbar, da die güterrechtlichen Vorschriften generell keine Anwendung auf die
Zuwendung von Schwiegereltern finden.72 Deshalb können
auch die Vorschriften des Zugewinnausgleichs nicht die
Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage als speziellere Vorschrift verdrängen.73 Ein weiteres Argument für den
Vorrang des Güterrechts bei der Zuwendung unter Ehegatten
ist das persönliche Näheverhältnis der Ehegatten und die
wirtschaftliche Risikogemeinschaft in der sich die Ehegatten
befinden. Die Schwiegereltern sind aber keinesfalls in diese
enge emotionale und wirtschaftliche Beziehung inbegriffen.
Da eine persönliche Bindung zwischen den Schwiegereltern
und dem Schwiegerkind laut BGH allenfalls ein Begleitmotiv
darstellt, könne in Fällen der schwiegerelterlichen Zuwendungen nicht auf das Näheverhältnis zwischen den beiden
Parteien abgestellt werden, damit ein hälftiger Verbleib der
Zuwendung beim Schwiegerkind zumutbar scheint.74
Auch unter dem Aspekt „der Gefahr der doppelten Inanspruchnahme“ ist ein solcher Rückgewähranspruch der
Schwiegereltern nicht von der Hand zu weisen. Die Gefahr
der doppelten Inanspruchnahme meint eine zulasten des Zuwendungsempfängers gehende doppelte Belastung einerseits
durch einen Zugewinnausgleichsanspruch im Sinne des
§ 1378 Abs. 1 BGB seitens des anderen Ehegatten, andererseits durch einen Rückgewähranspruch der Schwiegereltern
nach den Regeln des Wegfalls der Geschäftsgrundlage im
Sinne des § 313 BGB.75 Eine Befürchtung dieser doppelten
Inanspruchnahme sei laut BGH jedoch unbegründet. Hierbei
spielt die neue rechtliche Einordnung der schwiegerelterlichen Zuwendung als echte Schenkung eine Rolle, bei der
die Schenkung der Schwiegereltern also nicht nur im Endvermögen berücksichtigt wird, sondern auch im Anfangsvermögen. Laut § 1375 Abs. 1 S. 1 BGB ist das Endvermögen
das Vermögen, das einem Ehegatten nach Abzug der Verbindlichkeiten bei der Beendigung des Güterstandes gehört.
69
BGH FamRZ 2010, 958 (961).
BGH FamRZ 2010, 958 (961).
71
BGH FamRZ 2010, 958 (961).
72
BGH FamRZ 2010, 958 (961).
73
BGH FamRZ 2010, 958 (961).
74
BGH FamRZ 2010, 958 (961).
75
BGH FamRZ 2010, 958 (961); BGH FamRZ 1995, 1060 f.
70
Das Anfangsvermögen ist gem. § 1374 Abs. 1 BGB das
Vermögen, das einem Ehegatten nach Abzug der Verbindlichkeiten beim Eintritt des Güterstandes gehört. Nach der
alten Rechtsprechung waren die Zuwendungen der Schwiegereltern, da sie nicht als Schenkung im Sinne des § 516
BGB galten, kein privilegierter Vermögenserwerb im Sinne
des § 1374 Abs. 2 BGB.76 Bis dahin wurde vertreten, dass bei
einem solchen privilegierten Vermögenserwerb der andere
Ehegatte nicht im Zuge des Zugewinnausgleichs an der Zuwendung profitieren solle, wenn der Zuwendende die Zuwendung auf Grund der persönlichen Beziehung zum Zuwendungsempfänger tätigte, und damit nicht den Willen
verfolgte, der andere Ehegatte solle auch daran partizipieren.77 Sei aber das Hauptmotiv der Zuwendung viel mehr die
persönliche Beziehung zum Ehegatten des Zuwendungsempfängers und der Fortbestand der Ehe, bestehe kein Grund die
Zuwendung nicht in den Zugewinnausgleich miteinzubeziehen.78 Nach der neuen Rechtsprechung gelten schwiegerelterliche Zuwendungen indes sehr wohl als privilegierter
Vermögenserwerb im Sinne des § 1374 Abs. 2 BGB, laut
BGH auch dann, wenn die Zuwendung ausschließlich zum
Zweck der Ehe mit dem eigenen Kind erfolgt sei.79 Dies sei
auch nicht unter dem Aspekt zu verneinen, dass dies möglicherweise unangemessene Konsequenzen für den Zugewinnausgleich nach sich ziehen könnte.80 Grundsätzlich entstehen
mögliche Rückgewähransprüche der Schwiegereltern durch
den Wegfall der Geschäftsgrundlage bei der endgültigen
Trennung der Ehegatten81, also vor dem maßgeblichen Stichtags im Sinne des § 1384 BGB für den Zugewinnausgleich
(Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags).82 Folglich ist ein
Rückgewähranspruch im Endvermögen des Schwiegerkindes
zu berücksichtigen. Dies hätte aber unter Umständen nicht
nur zur Folge, dass dem eigenen Kind die Zuwendung nicht
nur über das Anfangsvermögen nicht zu Gute kommt, sondern dass es im ungünstigsten Fall den Rückgewähranspruch
der Schwiegereltern hälftig über den Zugewinnausgleich mit
zu tragen hätte.83 Dies scheint in jeder Hinsicht ein unbilliges
Ergebnis des Zugewinnausgleichs zu sein.
Um ein solches unbilliges Ergebnis zu umgehen, entwickelte der XII. Zivilsenat des BGH folgende Lösung: Die
schwiegerelterliche Zuwendung als privilegierter Vermögenserwerb ist nur in dem Umfang in das Anfangsvermögen
des Schwiegerkindes einzuberechnen, wie er nach Abzug des
Rückgewähranspruchs der Schwiegereltern noch besteht.84
Als Begründung wird angebracht, dass das Schwiegerkind
die Schenkung nur mit der Belastung bekommen hat, dass es
bei einer Beendigung des Güterstandes zumindest einen Teil
76
BGH FamRZ 1995, 1060 f.
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1023).
78
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1023).
79
BGH FamRZ 2010, 958 (961).
80
BGH FamRZ 2010, 958 (962).
81
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1022 f.).
82
BGH FamRZ 2007, 877 (878).
83
BGH FamRZ 2010, 958 (962).
84
Wever, FamRZ 2010, 1047; Brudermüller, in: Palandt,
Kommentar zum BGB, 75. Aufl. 2016, § 1376 Rn. 15.
77
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ZJS 3/2016
280
Rückgewähransprüche zwischen Schwiegereltern und -kindern nach Scheitern der Ehe
ZIVILRECHT
davon schuldrechtlich zurückerstatten muss.85 Problematisch
ist aber, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Berechnung des Anfangsvermögens (§ 1376 Abs. 1 BGB), die Höhe
des Rückgewähranspruchs noch gar nicht feststeht.86 Dem
steht laut BGH aber nicht entgegen, dass grundsätzlich künftige Verbindlichkeiten von der Zugewinnausgleichsbilanz
ausgeschlossen sind.87 Hierfür bringt der BGH an, dass die
künftigen Rückgewähransprüche auch das Endvermögen
mindern und eng mit einem Gegenstand des Anfangsvermögens und der Ehe verknüpft seien, was eine abweichende
Beurteilung rechtfertige.88 Außerdem gebe es nur bei Scheitern der Ehe einen Anlass das Anfangsvermögen zu berechnen und zu diesem Zeitpunkt wäre dann bereits entschieden,
ob und in welcher Höhe ein Rückgewähranspruch der
Schwiegereltern bestehe.89 Die Berücksichtigung des Rückgewähranspruchs sowohl im Anfangs- als auch im Endvermögen führt dann regelmäßig dazu, dass die schwiegerelterliche Schenkung im Zugewinnausgleich zwischen den Ehegatten gänzlich unberücksichtigt bleibt.
Im Resümee kann also ein Rückgewähranspruch nicht mit
der Begründung verneint werden, dass das eigene Kind schon
im Zuge des Zugewinnausgleichs teilweise von der Schenkung der Schwiegereltern profitiert hat, da das güterrechtliche Ergebnis lediglich im Rahmen der Ermittlung des Umfangs des schwiegerelterlichen Rückforderungsanspruchs zu
berücksichtigen ist. Ein Ausgleich bezüglich der schwiegerelterlichen Schenkung findet jedenfalls im Normalfall also
lediglich zwischen den Schwiegereltern und dem Schwiegerkind statt.
Anderes gilt lediglich in Sonderfällen, etwa dann, wenn
das Anfangsvermögen des Schwiegerkindes negativ war und
das Zugewinnausgleichsverfahren vor dem 1.9. 2009 anhängig gemacht wurde.90 In diesem Fall ist dann gem. Art. 229
§ 20 Abs. 2 EGBGB noch § 1374 Abs. 1 a.F. BGB anwendbar und das Anfangsvermögen des Schwiegerkindes kann
nicht negativ sein.91 Ist das Anfangsvermögen – die Zuwendung eingeschlossen – geringer als die Höhe des Rückgewähranspruchs, wird das Schwiegerkind begünstigt. Die
Reduzierung des Endvermögens um den Betrag des Rückforderungsanspruchs wird nicht durch eine entsprechende Reduzierung im Anfangsvermögen ausgeglichen. Im Ergebnis
partizipiert das eigene Kind hälftig an dem Betrag, der dem
Schwiegerkind nach Abzug des Rückgewähranspruchs der
Schwiegereltern von der eigentlichen Schenkung übrig bleibt.
Besonders in diesen Fällen ist es bedeutend, dass die Entscheidung über den Anspruch des Wegfalls der Geschäftsgrundlage vorgreiflich für das güterrechtliche Verfahren ist.92
Wurde über den schwiegerelterlichen Anspruch noch nicht
entschieden, hat das über den Zugewinnausgleich urteilende
Gericht auch über den Anspruch aus § 313 BGB im güterrechtlichen Verfahren zu entscheiden.93
Ein Übergangsproblem, das auch vom BGH in seinem
Urteil vom 3.2.2010 erwähnt wird, tritt auf, wenn der Zugewinnausgleich nach der bisherigen Rechtsprechung geregelt
wurde, und die Zuwendung nicht im Anfangsvermögen berücksichtigt wurde.94 Das eigene Kind ist also in solchen
Fällen besser gestellt, als es die neue Rechtsprechung eigentlich beabsichtigt. Dieser Problematik will der BGH ausnahmsweise durch eine Reduzierung des schwiegerelterlichen
Rückgewähranspruchs aus § 313 BGB begegnen.95 Der BGH
widmet sich in seiner Rechtsprechung lediglich diesen beiden
Übergangsproblemen, geht aber nicht auf ein Problem ein,
das sowohl nach alter als auch neuer Rechtsprechung zu
Inkongruenzen führt.96 Die Problematik besteht darin, dass
das eigene Kind unter Umständen einen geringeren güterrechtlichen Ausgleich erlangt, wenn die Höhe des Rückforderungsanspruchs das Vermögen des Schwiegerkindes in dem
Maße schmälert, dass es unter dem Betrag liegt, den er eigentlich als güterrechtlichen Ausgleich an das eigene Kind
zahlen hätte müssen. Eine weitere Schwierigkeit tritt auf,
wenn der Rückgewähranspruch erst nach der Entscheidung
über den Zugewinnausgleich geltend gemacht wird und dem
Schwiegerkind die Kappungsgrenze des § 1378 Abs. 2 BGB
nicht zugutekommen konnte. Auch hier rät der BGH ausnahmsweise zu einer Reduzierung des Rückgewähranspruchs
aus § 313 BGB der Schwiegereltern.97
Ob ein Rückforderungsanspruch in die güterrechtliche
Ausgleichsberechnung mit aufgenommen werden muss,
hängt davon ab, ob die Ehe zum Zeitpunkt des Aufhebungsantrags der Zugewinngemeinschaft (§§ 1385 oder 1386 BGB)
bereits gescheitert ist, da das bloße Einreichen eines solchen
Antrags, anders als beim Scheidungsantrag, noch nicht anzeigt ob die Ehe gescheitert ist.98 Ist die Ehe also gescheitert,
muss der Rückgewähranspruch unter den bereits aufgeführten
Voraussetzungen in die Zugewinnausgleichsberechnung mit
einbezogen werden. Liegt ein Scheitern an dem für die Berechnung des Endvermögens maßgeblichen Zeitpunkt
(§ 1387 BGB) noch nicht vor, kann ein möglicher Rückgewähranspruch noch nicht in das Endvermögen eingerechnet
werden, weshalb er folglich auch nicht im Anfangsvermögen
zu berücksichtigen ist.99 Ist die Ehe also zum maßgeblichen
Zeitpunkt noch nicht gescheitert, fällt ein möglicher Rückgewähranspruch gänzlich aus dem Zugewinnausgleich heraus. Eine Revision des Zugewinnausgleichs ist ausgeschlossen, falls ein Rückgewähranspruch der Schwiegereltern auf
Grund des Scheiterns der Ehe des Schwiegerkindes mit dem
eigenen Kind entsteht.100
85
93
86
94
BGH FamRZ 2010, 958 (962).
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1023).
87
Brudermüller (Fn. 84), § 1376 Rn. 65.
88
BGH FamRZ 2010, 958 (962).
89
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1023).
90
BGH FamRZ 2010, 958 (962).
91
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1024).
92
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1024).
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1024).
BGH FamRZ 2010, 958 (962).
95
Hoppenz, FamRZ 2010, 1027 (1028).
96
Hoppenz, FamRZ 2010, 1027 (1028).
97
BGH FamRZ 2010, 958 (962).
98
Hoppenz, FamRZ 2010, 1027 (1029).
99
Hoppenz, FamRZ 2010, 1027 (1029).
100
Hoppenz, FamRZ 2010, 1027 (1029).
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281
AUFSÄTZE
Marie Schellhorn/Eray Gündüz
c) Abwägungskriterien der schwiegerelterlichen Zuwendung
Wie bereits angesprochen, muss das Gericht als Rechtsfolge
des § 313 BGB unter Abwägung sämtlicher Umstände des
Einzelfalls eine Vertragsanpassung der schwiegerelterlichen
Schenkung nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage vornehmen.101 Von güterrechtlichen Erwägungen abgesehen, denen nach der neuen Rechtsprechung
keine Bedeutung mehr zukommt, kann hierbei auf die bisherigen Abwägungskriterien der Senatsrechtsprechung zur
schwiegerelterlichen Zuwendung als unbenannte ehebezogene Zuwendung zurückgegriffen werden.102 Im Rahmen der
Gesamtabwägung ist demnach auf folgende Kriterien abzustellen: Dauer der Ehe des Schwiegerkindes mit dem eigenen
Kind bis zum Zeitpunkt des Scheiterns der Ehe, Höhe der
durch die Zuwendung bewirkten und zum Zeitpunkt der
Trennung beim Schwiegerkind noch vorhandenen Vermögensmehrung, und Vermögens- und Einkommensverhältnisse
sowohl auf der Seite der Schwiegereltern, als auch auf der
des Schwiegerkindes.103 Maßgeblich ist dabei, ob und in wie
weit die Erwartung mit der Schenkung getätigt wurde, für
den Zeitraum in dem die Ehe bestand, zumindest teilweise
erreicht wurde. Für diese Beurteilung wird auf das tatrichterliche Ermessen abgestellt und keine schematische Betrachtungsweise herangezogen.104 Es kann aber dennoch regelmäßig davon ausgegangen werden, dass eine vollständige Rückgewähr der Schenkung nicht in Betracht gezogen werden
kann, wenn die Ehe des Schwiegerkindes mit dem eigenen
Kind zumindest eine geraume Zeit bestanden hatte.105 Wurde
die Schenkung beispielsweise zum Kauf eines gemeinsamen
Familienheims getätigt, und das eigene Kind hat eine gewisse
Zeit darin mitgewohnt, wurde die Erwartung zumindest teilweise erfüllt, und es fände lediglich eine Ausgleichszahlung
statt. Die Zuwendung selbst sowie Wertersteigerungen bleiben grundsätzlich im Eigentum des Zuwendungsempfängers.106 Eventuelle Eheverfehlungen des Schwiegerkindes
sind nicht im Rahmen dieses Anspruches zu berücksichtigen.107 Ob nur durch eine Rückgewähr ein untragbarer, mit
Treu und Glauben nicht vereinbarer Zustand verhindert werden kann, muss auch hier unter tatrichterlicher Beurteilung
entschieden werden.108 Desweitern wird die Höhe des Anspruchs durch den Wert begrenzt, mit dem die Zuwendung
beim Schwiegerkind zum Zeitpunkt der Trennung noch im
Vermögen vorhanden war.109
3. Rückgewähransprüche aus der Zweckverfehlungskondiktion
Es ist neuerdings auch nicht mehr ausgeschlossen, dass Ansprüche wegen Zweckverfehlung gem. § 812 Abs. 1 S. 2
Alt. 2 BGB in Betracht kommen können, da sie laut BGH
nicht mehr unter dem Vorwand abgelehnt werden können, die
Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage hätten Vorrang und schließen eine Anwendung bereicherungsrechtlicher
Grundsätze aus, obwohl deren Tatbestandsvoraussetzungen
gegeben seien.110 Der nach dem Inhalt des Rechtsgeschäfts
bezweckte Erfolg ist die Gegenleistung, die auf Grund einer
Abrede mit Rücksicht auf die gegebene Leistung erwartet
wird.111 Dem Leistenden soll ein Rückgewähranspruch durch
den § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB gegeben werden, wenn er
die erwartete Gegenleistung nicht erzwingen kann. Die Gegenleistung als bloßes Motiv genügt dabei nicht, der Empfänger soll die Erwartung der Gegenleistung zumindest tatsächlich kennen und durch die Annahme billigen.112 Dabei
darf die Abrede aber nicht in den Bereich wechselseitiger
vertraglicher Leistungspflichten geraten, anderenfalls handelt
es sich um eine Erfüllungsleistung, da der Leistungsempfänger einen Anspruch auf die Gegenleistung erlangt.113 Der
condictio ob rem bleibt folglich nur sehr wenig Platz.
a) Berücksichtigung der Zweckverfehlungskondiktion durch
die neue Rechtsprechung
Nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH vom
12.4.1995 wurde abgelehnt, dass eine schwiegerelterliche
Zuwendung, deren Motiv einzig die Ehe des eigenen Kindes
war, nach den Grundsätzen der Zweckverfehlungskondiktion
rückabzuwickeln sei.114 Eine solche Rückabwicklung kam
laut BGH nur in Betracht, wenn eine Willensübereinstimmung über einen Zweck erzielt wurde, der über das bloße
Bestehen der Ehe des Schwiegerkindes mit dem eigenen
Kind hinaus ging (beispielsweise künftiges Miteigentum des
eigenen Kindes an der Zuwendung).115 Von dieser Auffassung nimmt der XII. Zivilsenat des BGH in seiner Entscheidung vom 3.2.2010 Abstand. Die Zweckvereinbarung stellt
gegenüber der Geschäftsgrundlage ein Mehr da, weshalb der
Anwendungsbereich der Zweckverfehlungskondiktion gegenüber dem des Wegfalls der Geschäftsgrundlage eingegrenzter ist.116 Allein dieser Aspekt, dass dem § 313 BGB
mehr Raum bleibt, reicht aber laut BGH nicht aus, um grundsätzlich eine Rückabwicklung unter den Voraussetzungen des
§ 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB abzulehnen, wenn dessen Tat-
101
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1022).
BGH FamRZ 2010, 958 (963); vgl. BGH FamRZ 1999,
365 (366).
103
Schulz, FPR 2012, 79 (81); BGH FamRZ 2010, 958 (963);
Stein, FPR 2012, 88 (89).
104
BGH FamRZ 2010, 958 (964).
105
BGH FamRZ 2010, 958 (963); BGH FamRZ 2006, 394
(395).
106
BGH FamRZ 2006, 394 (396).
107
Schulz, FPR 2012, 79 (81).
108
BGH FamRZ 2006, 394 (395); BGH FamRZ 1977, 458 f.
109
BGH FamRZ 1998, 669 (670); BGH FamRZ 958 (964);
Schulz, FPR 2012, 79 (81).
102
110
BGH FamRZ 2010, 958 (962).
Schwab, Münchener Kommentar BGB, 6. Aufl. 2013,
§ 812 Rn. 374.
112
BGH NJW 2013, 2025 (2027); Prütting, in: Prütting/
Wegen/Weinreich, Kommentar zum BGB, 10. Aufl. 2015,
§ 812 Rn. 42.
113
Schwab (Fn. 111), § 812 Rn. 374.
114
BGH FamRZ 1995, 1060 f.
115
BGH FamRZ 2010, 958 (962).
116
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1025).
111
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ZJS 3/2016
282
Rückgewähransprüche zwischen Schwiegereltern und -kindern nach Scheitern der Ehe
bestandsvoraussetzungen sehr wohl gegeben sind.117 Der
Zweck dieser Norm kann nämlich darin bestehen, dass das
eigene Kind am zugewendeten Gegenstand dauerhaft partizipieren kann.
Wie bereits erläutert kann die Geschäftsgrundlage im
Sinne des § 313 BGB bereits teilweise erfüllt sein, wenn das
eigene Kind bereits für einen Zeitraum von der Schenkung
profitiert hat. So kann aus denselben Gründen auch im Falle
des § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB der vereinbarte Zweck nur
teilweise verfehlt sein.118 Jedoch muss hier sauber abgegrenzt
werden, da ein Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB
grundsätzlich nicht in Frage kommt, wenn der bezweckte
Erfolg eingetreten ist und erst später wieder wegfällt. Anderes ergibt sich aber dann, wenn der bezweckte Erfolg gerade
darauf abzielt, dass die Zuwendung dem eigenen Kind dauerhaft zu Gute kommt.119 Folglich kann der Umstand, dass der
Zweck aber nicht gänzlich ausgeblieben ist, nicht vollkommen unberücksichtigt bleiben. Auch in anderen Bereicherungstatbeständen wie dem § 818 BGB kann eine Leistung
nur teilweise rechtsgrundlos erfolgen.120
Die Höhe des Anspruches aus § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 2
BGB wird ähnlich wie die Ansprüche aus § 313 BGB gem.
§ 818 Abs. 3 BGB durch den Wert der noch im Vermögen
vorhandenen Zuwendung begrenzt.121 Ein Unterschied stellt
aber der Zeitpunkt dar, der maßgeblich für die Berechnung
der noch vorhandenen Vermögensmehrung ist. In § 313 BGB
ist dies wie bereits aufgeführt der Zeitpunkt der Trennung, im
Bereicherungsrecht jedoch kann sich der Zuwendungsempfänger nach h.M. ab dem Zeitpunkt einer verschärften Haftung nicht mehr auf eine Entreicherung berufen.122 Zu einer
verschärften Haftung kommt es einerseits ab Rechtshängigkeit des schwiegerelterlichen Rückgewähranspruchs gem.
§ 818 Abs. 4 BGB. Desweitern kann eine verschärfte Haftung
dann eintreten, wenn gem. § 819 Abs. 1 BGB der Zuwendungsempfänger Kenntnis davon hat.123 Hierbei kann davon
ausgegangen werden, dass das Schwiegerkind spätestens
beim Scheitern der Ehe davon Kenntnis erlangt, dass der
bezweckte Erfolg nicht eintreten wird.124 Über den Wortlaut
hinaus muss der Zuwendungsempfänger auch die Rückgewährpflichten an die Zuwendenden positiv kennen.125 Darüber hinaus kann eine verschärfte Haftung gem. § 820 Abs. 1
S. 1 BGB auftreten. Dies setzt einerseits voraus, dass der
Eintritt des Erfolgs nach dem Inhalt des Rechtsgeschäfts
objektiv unsicher war, und andererseits eine subjektive Unsicherheit der Beteiligten bei Abschluss des Rechtsgeschäfts
den Eintritt des Erfolgs betreffend.126 Hierbei genügt ein
117
BGH FamRZ 2010, 958 (963).
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1025).
119
Sprau, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 75. Aufl. 2016,
§ 812 Rn. 31.
120
Sprau (Fn. 119), § 818 Rn. 8.
121
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1026).
122
Sprau (Fn. 119), § 818 Rn. 53.
123
Schlecht, FamRZ 2010, 2021 (1026).
124
BGHZ 35, 356 (361).
125
BGH FamRZ 1992, 1152 f.
126
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1026).
118
ZIVILRECHT
unterbewusster Gedanke, der bezweckte Erfolg könne nicht
eintreten, welcher hinsichtlich der Ehe bei der Eheschließung
verständlicherweise unausgesprochen bleibt, nicht um eine
subjektive Unsicherheit zu belegen.127 Im Falle der
schwiegerelterlichen Zuwendung wissen zwar beide Parteien,
dass es möglich ist, dass die Ehe des Schwiegerkindes mit
dem eigenen Kind auch scheitern könnte, dies scheint aber
zum Zeitpunkt in der die Schenkung getätigt wird nur eine
entfernte Eventualität. Diese bloße Erwägung genügt nicht,
um eine Ungewissheit im Sinne des § 820 Abs. 1 S. 1 BGB
zu bejahen, weshalb eine verschärfte Haftung gem. § 820
Abs. 1 S. 1 BGB regelmäßig nicht für eine schwiegerelterliche Schenkung in Betracht kommt.128 Der Rückgewähranspruch wird also auch durch die Höhe des Wertes der noch
vorhandenen Bereicherung begrenzt, jedoch nach h.M. nur
bis zu dem Zeitpunkt, in dem der Zuwendungsempfänger
verschärft haftet.
b) Die Zweckverfehlungskondiktion im Verhältnis zum Zugewinnausgleich
Es stellt sich auch bei den bereicherungsrechtlichen Ansprüchen die Frage, welchen Einfluss güterrechtliche Erwägungen
auf sie haben. Hierbei ist zunächst auf die für § 313 BGB
entwickelten Grundsätze zu verweisen. Es spielt nämlich im
Ausgangspunkt keine Rolle, in welchem Güterstand die Ehegatten gelebt haben, da sich auch die bereicherungsrechtlichen Ansprüche ebenfalls zugewinnausgleichsneutral verhalten. Sie werden also bei einem Zugewinnausgleich sowohl im
Anfangs- als auch im Endvermögen berücksichtigt.129 Eine
genauere Betrachtung verlangen hierbei jedoch die Fälle, in
denen bereits ein güterrechtlicher Ausgleich stattgefunden
hat, jedoch ohne die Berücksichtigung eines schwiegerelterlichen Rückgewähranspruchs, beispielsweise wenn das güterrechtliche Verfahren noch auf der Basis der alten Rechtsprechung stattfand. Wurde ein höherer Betrag auf Grund der
Zuwendung im Rahmen des Zugewinnausgleichs geleistet,
kann sich das Schwiegerkind nach der überwiegenden Auffassung der Rechtsprechung auf Entreicherung berufen.130 Es
besteht weder ein Anlass, dem Schwiegerkind das Entreicherungsrisiko zuzuweisen noch fehlt es an dem erforderlichen
adäquaten Kausalzusammenhang, da der Wert der Schenkung, ohne dass sie getätigt wurde, nicht im Endvermögen
berücksichtigt worden wäre.131 Etwas anderes kann sich aber
ergeben, wenn sich das Schwiegerkind nach h.M. nicht mehr
auf den Wegfall der Bereicherung nach § 818 Abs. 3 BGB
berufen kann, da ein Fall der verschärften Haftung vorliegt.
Folgt man dieser h.M., kann bei einer nach dem Eintritt der
verschärften Haftung ergangenen, für das Schwiegerkind
nachteiligen güterrechtlichen Entscheidung, der Wegfall der
Bereicherung dem schwiegerelterlichen Anspruch nicht mehr
127
Schwab (Fn. 111), § 820 Rn. 6; Lorenz, in: Staudinger,
Kommentar zum BGB, 2007, § 820 Rn. 4.
128
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1026).
129
BGH FamRZ 2010, 958 (961).
130
Schwab (Fn. 111), § 820 Rn. 122 ff.
131
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1026).
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283
AUFSÄTZE
Marie Schellhorn/Eray Gündüz
entgegengehalten werden.132 Besonders unbillig scheint dieses Ergebnis dann zu sein, wenn über den Zugewinnausgleich
auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung entschieden wurde, da nach der früheren Rechtsprechung bereicherungsrechtliche Ansprüche der Schwiegereltern regelmäßig
von vornerein nicht in Betracht zu ziehen waren. Das
Schwiegerkind konnte demnach zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Zugewinn überhaupt nicht mit einem bereicherungsrechtlichen Anspruch seitens der Schwiegereltern rechnen, geschweige denn im Zugewinnausgleichsverfahren geltend machen. Wie unbillig das Ergebnis ist, zeigt sich auch
an den Grundsätzen der verschärften Haftung, die wie bereits
aufgeführt ja gerade darauf beruhen, dass der Zuwendungsempfänger die möglichen Rückgewährpflichten kennen
muss.133 Zwar wird ein solcher Fall wohl selten auftreten, da
die Schwiegereltern nach der bisherigen Rechtsprechung
keinen Grund hatten, einen bereicherungsrechtlichen Anspruch gem. § 818 Abs. 4 BGB rechtshängig zu machen und
somit eine verschärfte Haftung des Schwiegerkindes zu verursachen, dennoch zeigt gerade der Fall, über den der BGH in
seinem Urteil vom 3.2.2010 entschied, dass es eben doch
gelegentlich Platz für eine solche Konstellation gibt.
Nach der neuen Rechtsprechung sind Rückgewähransprüche im Rahmen der Zweckverfehlungskondiktion gem. § 812
Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB also grundsätzlich möglich, für einen
solchen Anspruch bleibt aber wie bereits erläutert sehr wenig
Raum und eine entsprechende Zweckvereinbarung kann
vielfach nicht festgestellt werden.
IV. Zuwendungen als Arbeitsleistungen
Nicht selten werden die Schwiegerkinder und eigenen Kinder
nicht nur mit finanzieller Hilfe unterstützt, sondern auch
durch Arbeitsleistungen, zum Beispiel in Form von tatkräftiger Hilfe beim Erbau eines Eigenheims. In der Entscheidung
des 3.2.2010 hält der BGH an der bisherigen rechtlichen
Einordnung fest.134 Demnach kann bei Arbeitsleitungen von
besonderem Maße, die über eine gewöhnliche Gefälligkeit
hinausgehen, weiterhin ein konkludenter Abschluss eines
besonderen familienrechtlichen Vertrags („Kooperationsvertrag“) angenommen werden.135 Durch das Scheitern der Ehe
kann die Geschäftsgrundlage des Kooperationsvertrags entfallen.136 Für Rückgewähransprüche aus § 313 BGB gelten
die gleichen geänderten Grundsätze wie bei den finanziellen
Zuwendungen.137 Zu beachten ist hier lediglich, dass eventuelle Ansprüche nicht nur durch den Betrag der noch vorhandenen Vermögensmehrung beim Schwiegerkind zum Zeitpunkt des Scheiterns der Ehe begrenzt werden, sondern darüber hinaus auch durch die Höhe der ersparten Kosten einer
fremden Arbeitskraft.138 Desweitern sind auch bereicherungsrechtliche Ansprüche wegen Zweckverfehlung gem. § 812
Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB nicht ausgeschlossen. Lediglich
schenkungsrechtliche Ansprüche können wegen der verschiedenen rechtlichen Einordnung, im Gegensatz zur finanziellen schwiegerelterlichen Zuwendung oder Sachzuwendung, nicht geltend gemacht werden.
Die Unterscheidung zwischen den Sachzuwendungen
(Schenkung) und der Arbeitsleistung (Kooperationsvertrag)
wird in der Literatur kritisiert.139 Gefordert wird eine Gleichstellung des Tatbestands und der Rechtsfolge. Dies solle über
ein identisches verpflichtendes Kausalgeschäft, das über
§ 313 BGB rückabgewickelt werden soll, geregelt werden.140
Vorgeschlagen wird, eine Unterscheidung der Sachschenkung und Arbeitsleistung zu unterlassen und sie unter dem
Begriff der „ehebezogenen Wertschöpfung“ zusammenzufassen, um so eine weitere Rechtszersplitterung des Nebengüterrechts zu verhindern. Auf tatbestandlicher Ebene könnten
dann die vier Anspruchsgrundlagen der Zuwendungen und
Arbeitsleistungen unter Ehegatten und die Schenkungen und
Arbeitsleistungen von Schwiegereltern zusammengefasst
werden und es müsste nur noch auf der Ebene der Rechtsfolge unterschieden werden.141 Die Rechtsprechung unterscheidet jedoch nach wie vor zwischen der Schenkung und der
Arbeitsleistung von Schwiegereltern.
V. Konkurrenz der Ansprüche untereinander
Nach dem Scheitern der Ehe des Schwiegerkindes mit dem
eigenen Kind können die Schwiegereltern die ehebedingte
Zuwendung unter verschiedenen Voraussetzungen wieder
zurückfordern. Fraglich ist hierbei wie die verschiedenen
Ansprüche miteinander konkurrieren. Die speziellen Rückgewähransprüche zur Rückforderung von Geschenken (§ 527
BGB wegen Nichterfüllung einer Auflage, § 528 BGB Rückforderung wegen Verarmung des Schenkers, § 530 BGB
wegen groben Undanks) sind Sonderfälle des Wegfalls der
Geschäftsgrundlage.142 In der Rechtsprechung ist anerkannt,
dass die allgemeinen Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gem. § 313 BGB dann anwendbar sind, wenn ein
Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich der speziellen
schenkungsrechtlichen Ansprüche fällt.143 Wie die Ansprüche
wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage zu den Ansprüchen
der Zweckverfehlungskondiktion stehen, ist umstritten. Die
h.M. prüft die Geschäftsgrundlage vorrangig, da aus ihr vertragliche Ansprüche entstehen, aus der Zweckverfehlungskondiktion dagegen lediglich gesetzliche Rückgewähransprüche.144 Die Rechtsprechung dagegen sieht auch bei wirksamen gegenseitigen Verträgen noch Raum für eine condictio
138
132
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1027).
Schwab (Fn. 111), § 818 Rn. 302.
134
BGH FamRZ 2010, 958 (964).
135
Schlecht, FamRZ 2010, 1021 (1022).
136
Schulz, FPR 2012, 79 (81).
137
BGH FamRZ 2010, 958 (964); Schlecht, FamRZ 2010,
1021 (1022).
133
BGH FamRZ 2008, 1822 f.; BGH FamRZ 2010, 958
(964).
139
Herr, FamFR 2012, 557.
140
Herr, FamFR 2012, 557 (558).
141
Herr, FamFR 2012, 557 (558).
142
Finkenauer (Fn. 60), § 313 Rn. 172.
143
BGH FamRZ 2010, 958 (960); Finkenauer (Fn. 60), § 313
Rn. 172.
144
Finkenauer (Fn. 60), § 313 Rn. 178.
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ZJS 3/2016
284
Rückgewähransprüche zwischen Schwiegereltern und -kindern nach Scheitern der Ehe
ZIVILRECHT
ob rem. Die Regelungen der vertraglichen Rückabwicklung
seien nicht vorrangig, da über den weitergehenden Zweck
gerade keine vertragliche Abrede geschlossen wurde.145
VI. Fazit
Durch das Urteil vom 3.2.2010 änderte sich die rechtliche
Einordnung der schwiegerelterlichen ehebezogenen Zuwendung. Sie wird nicht mehr mit der ehebedingten (unbenannten) Zuwendung unter Ehegatten selbst verglichen, sondern
wird fortan als echte Schenkung im Sinne des § 516 BGB
betrachtet. Diese Änderung führte zu einer verbesserten Stellung der Schwiegereltern, da sie nun unter einfacheren Voraussetzungen zumindest einen Teil der Zuwendung wieder
zurückerlangen können. Für die Schwiegereltern müssen jetzt
neben einem Anspruch aus § 313 BGB auch schenkungsrechtliche Ansprüche (§§ 527, 528, 530 BGB) und bereicherungsrechtliche Ansprüche (§ 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB) in
Betracht gezogen werden.
Hinsichtlich der schwiegerelterlichen Rückgewähransprüche und dem Zugewinnausgleich unter den Ehegatten schlägt
der BGH zu Vermeidung von unbilligen Ergebnissen vor, die
Schenkung abzüglich der Höhe des Rückforderungsanspruchs
sowohl im End-, als auch im Anfangsvermögen einzuberechnen. Damit versucht der BGH den Rückgewähranspruch der
Zuwendung zugewinnausgleichsneutral zu halten, dies gelingt jedoch nur bedingt.
Viele Einzelheiten der schwiegerelterlichen Schenkung
sind bis heute nicht geklärt. Ein Beispiel dafür ist die Vererbbarkeit. Ist der Rückforderungsanspruch vererblich? Zweifel kommen vor allem hinsichtlich der Regelung des § 530
Abs. 2 BGB auf.146 Laut Gesetz steht dem Erben das Recht
des Widerrufs nur zu, wenn der Beschenkte vorsätzlich und
widerrechtlich den Schenker getötet oder am Widerruf gehindert hat. Ansonsten bleibt das Recht zum Widerruf ein
höchstpersönliches Recht. In der Regel sterben aber die
Schwiegereltern und werden vom eigenen Kind beerbt. Geht
der Anspruch dann auf das eigene Kind und gleichzeitig den
Ehegatten des Schwiegerkindes über? Der BGH bleibt in
dieser Frage eine Antwort schuldig.
Eine ähnliche Problematik ergibt sich bei der Frage, ob
der Rückforderungsanspruch der Schwiegereltern an das
eigene Kind abtretbar ist. Dies ist wohl allenfalls dann zu
bejahen, wenn die Schwiegereltern den Rückgewähranspruch
vorher geltend gemacht haben.147
An das Urteil vom 3.2.2010 knüpfen sich also weiterhin
eine Vielzahl von Fragen, was eine mangelnde Vorhersehbarkeit für beide Parteien hinsichtlich der Chancen und Risiken eines solchen Verfahrens nach sich zieht. Es bleibt nun
abzuwarten, wie der BGH diese Rechtsunsicherheiten durch
zukünftige Entscheidungen weitestgehend beseitigen wird.
145
Röthel, Jura 2013, 1246 (1249).
Kogel, FuR 2014, 19 (21).
147
Kogel, FuR 2014, 19 (21).
146
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285
Religiöse Symbole vor Gericht – Teil 1
Von Wiss. Mitarbeiter Daniel Weidemann, Münster*
I. Ausgangslage: Religiöse Symbole als Rechtsproblem
Religionssymbole in öffentlich geregelten Räumen, wie
Schulen oder Gerichten, führen zu einer Spannungslage: Sie
können Ausdruck der Ausübung individueller Religionsfreiheit des einen sein, aber gerade auch mit der negativen Religionsfreiheit des anderen kollidieren. Ein entsprechender
Ausgleich im Wege der praktischen Konkordanz ist diesbezüglich jedoch stets und nicht bloß in den sich privater Organisation entziehenden Räumen zu schaffen. Dort kommt
indes zweierlei erschwerend hinzu: Zunächst das staatliche
Neutralitätsgebot hinsichtlich weltanschaulich-religiöser Dinge und eine damit einhergehende Mäßigungspflicht inklusive
eventuell stärker einschränkbarer Grundrechte von Staatsbediensteten. Demgegenüber steht der Bürger1, der sich in einer
vom Staat geschaffenen Lage befindet und sich dortigen Einflüssen unter Umständen nicht entziehen kann oder dem es
verwehrt wird, von seiner eigenen, positiven Religionsfreiheit
Gebrauch zu machen.
Wie hat der Staat sich zu verhalten? Dürfen religiöse
Symbole hoheitlich veranlasst und personenlosgelöst in öffentlichen Einrichtungen zur Schau gestellt werden? Dieselbe
Frage stellt sich für religiöse Symbole, die individuell von
Staatsbediensteten getragen werden. Zu guter Letzt: Kann der
Staat Bürgern, die sich (gezwungenermaßen) in einem öffentlich geregelten Raum bewegen, das Tragen bzw. Zurschaustellen von religiösen Symbolen untersagen?
Für den Bereich der Schule gibt es auf obige Problemstellungen bereits entsprechende Judikate der Verfassungsrechtsprechung.2 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich die z.T. noch junge, schulbezogene
Rechtsprechung auf das Gericht und seine Beteiligten auswirkt.3 Deshalb soll im Folgenden zunächst auf die grundsätzliche Neutralitätspflicht des Staates (I. 1.) und die besondere Spannungslage bei der Religionsfreiheitsausübung von
Staatsbediensteten (I. 2.) eingegangen werden, bevor die
Rechtsprechungsentwicklung von staatlich veranlassten Religionssymbolen (I. 3.) hin zum sog. Kopftuch I-Urteil des
Zweiten Senats des BVerfG sowie dem sog. Kopftuch II-
* Der Verf. ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insb. Verwaltungswissenschaften, Kultur- und
Religionsverfassungsrecht an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. Dem Lehrstuhlinhaber, Herrn Prof. Dr.
Hinnerk Wißmann, sei für Anregungen und Kritik gedankt.
1
Die Verwendung des generischen Maskulinums für Personengruppen umfasst nachfolgend stets auch die weibliche
Form.
2
Vgl. BVerfGE 93, 1 (Kruzifix-Beschluss); 108, 282 (Kopftuch I); 138, 296 (Kopftuch II).
3
Vorweggenommen werden soll an dieser Stelle bereits, dass
sich das BVerfG zum einen zu mit Kreuzen ausgestatteten
Gerichtssälen (BVerfGE 35, 366) sowie zu individuell getragenen religiösen Symbolen im Zuschauerbereich eines Gerichtssaals (BVerfG-K NJW 2007, 56) geäußert hat; siehe
dazu unten I. 3. und II. 2. e).
Beschluss4 des Ersten Senats (I. 4.) nachzuzeichnen ist. Im
Anschluss gilt es dann zu untersuchen, inwieweit die aus der
Rechtsprechung gewonnenen Erkenntnisse Relevanz für die
Justiz entfalten und auf sie übertragen werden können (II.).
1. Religion und Staatlichkeit – zwischen Neutralität und Toleranz
Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ergibt sich aus
dem einheitlichen Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 f. GG.5 Sie
garantiert die Wahl religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen und deren Ausübung nach innen wie außen.6 Das
gesamte Leben darf der inneren Überzeugung bzw. den
Glaubensregeln folgend ausgerichtet werden.7 Dieses schrankenlose – genauer gesagt: nur durch kollidierendes Verfassungsrecht einschränkbare – Grundrecht gilt für sämtliche
Religionen und Glaubensrichtungen; es werden keine Glaubensrichtungen mit besonderem Schutz versehen oder vom
Schutzbereich ausgeschlossen. In der Konsequenz muss der
Staat neutral und zurückhaltend auftreten.
Entsprechendes ergibt sich ferner auch aus Art. 3 Abs. 3
S. 1, 33 Abs. 3 GG sowie Art. 136 Abs. 1 und 4, 137 Abs. 1
WRV i.V.m. Art. 140 GG, die Gleichheitsaspekte bzw. Diskriminierungsverbote, die besondere Betonung der negativen
Religionsfreiheit sowie die (nicht laizistisch zu verstehende)
Trennung von Staat und Kirche in den Vordergrund rücken.
Aus einer Gesamtschau der genannten Normen formt sich
schließlich die weltanschaulich-religiöse Neutralitätspflicht.8
Sie äußert sich dergestalt, dass dem Staat zum einen verwehrt ist, einzelne Bekenntnisse zu privilegieren oder Andersgläubige zu diskriminieren.9 Vielmehr ist, von sachlich
begründeten Differenzierungen abgesehen, eine Gleichbehandlung sämtlicher Bekenntnisse und Weltanschauungen zu
gewährleisten, ohne sich dabei mit einer Religionsgemeinschaft zu identifizieren.10
4
Zum Unterschied zwischen Urteil und Beschluss siehe § 25
Abs. 2 BVerfGG.
5
Zur Einheitlichkeit des Schutzbereichs siehe BVerfGE 24,
236 (245 f.); 83, 341 (354); 108, 282 (297); 138, 296 (328 f.
Rn. 85); aus der Literatur Germann, in: Epping/Hillgruber,
BeckOK-GG, Stand: 1.12.2015, Art. 4 Rn. 7, 19 ff.; Morlok,
in: Dreier, GG I, 3. Aufl. 2013, Art. 4 Rn. 58, 72 ff. Kritisch
dazu hingegen Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 60
Rn. 11.
6
Umfassend zum Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 f. GG
Morlok (Fn. 5), Art. 4 Rn. 59 ff.
7
BVerfGE 41, 29 (49); 108, 282 (297); 138, 296 (329
Rn. 85).
8
Vgl. BVerfGE 108, 282 (299); 138, 296 (338 Rn. 109).
Siehe ferner zum Neutralitätsgebot Czermak, Religions- und
Welt-anschauungsrecht, 2008, Rn. 141, 159 ff.
9
Vgl. BVerfGE 19, 206 (216); 93, 1 (17); 108, 282 (299);
138, 296 (338 f. Rn. 109).
10
Vgl. BVerfGE 93, 1 (17); 108, 282 (299 f.); 138, 296
(338 f. Rn. 109).
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ZJS 3/2016
286
Religiöse Symbole vor Gericht – Teil 1
Zur Erfüllung dieser Pflicht bedient sich der Staat gerade
keiner laizistischen Elemente und einer strengen Distanzierung von sämtlichen Glaubensrichtungen, sondern fördert die
in Art. 4 Abs. 1 f. GG zu Tage tretende Religionsfreiheit
durch eine offen-neutrale, unterstützende Haltung. Dies bedeutet, dass der Staat die Grundlagen dafür schaffen muss,
dass eine aktive Entfaltung der Religionsfreiheit durch den
Einzelnen möglich ist – nur ist es ihm verwehrt, ausschließlich einer oder bestimmten Glaubensgemeinschaften diese
Grundlagen zu schaffen, anderen hingegen nicht.11 Schließlich ist der Staat unter dem Grundgesetz insbesondere in
dieser Hinsicht die „Heimstatt aller Bundesbürger“;12 insoweit verhält sich die Verfassung zur Religion als solcher
positiv, gegenüber den einzelnen Religionen jedoch neutral13.
Unter Zugrundelegung dieses (strengen) Neutralitätsgebots überzeugt es auch nicht, aufgrund vermeintlich breiter
gesellschaftlicher Akzeptanz und gewisser Tradition einer bestimmten Glaubensrichtung, letztere besonders zu privilegieren und ihrer Symbolik einen über den bloßen Religionscharakter hinausgehenden kulturellen Wert zuzusprechen.14 Oder
umgekehrt ausgedrückt: Ein eindeutig religiöses Symbol wie
das christliche Kreuz verliert seine religiöse Wirkung auf
Glaubensfremde bzw. Atheisten nicht; auch nicht durch eine
etwaige Überlagerung durch kulturell-traditionelle Aussagekraft.15 Dies würde die Privilegierung einer Religionsgemeinschaft durch die Hintertür bedeuten: Ein eindeutig einer Religion zuzuordnendes Symbol mit ausdrücklich religiösem
Aussagegehalt kann nicht durch „Herabstufung“ zu einem
bloß areligiösen Kultursymbol im öffentlichen Raum beibehalten werden, während vergleichbare Symbole anderer
Glaubensgemeinschaften als unzulässig angesehen werden.
Dies gilt sowohl für staatlich verordnete, als auch für individuell von einzelnen Staatsbediensteten getragene Symbole.16
2. Die Spannungslage bei Staatsbediensteten
Eine besondere Spannungslage ergibt sich, wenn es konträr
zur allgemeinen, abstrakten staatlichen Neutralitätspflicht um
die Religionsfreiheit individueller Staatsbediensteter geht.
Diese befinden sich in einem besonderen Näheverhältnis zum
Staat, der grundsätzlich grundrechtsverpflichtet, nicht aber
11
BVerfGE 108, 282 (300); 138, 296 (339 Rn. 110).
BVerfGE 108, 282 (299); 138, 296 (338 Rn. 109).
13
So bereits Wißmann, ZJS 2015, 299 (302).
14
In diese Richtung gehend aber das abweichende Sondervotum BVerfGE 108, 282 (330); ähnlich auch BayVGH NVwZ
1991, 1099 (1101); Hofmann, NVwZ 2009, 74 (79 f.). Vgl.
ferner Röper, VBlBW 2005, 81 (85), der im Nonnenhabit
eine historische Arbeitskleidung, nicht jedoch ein religiöses
Symbol sieht.
15
Siehe in Bezug auf Kreuze in Schulen Wißmann, in:
Kahl/Waldhoff/Walter, BK, 172. Lfg., Stand: 2015, Art. 7-III
Rn. 125. Ausführlich zum Aussagegehalt des Kreuzes als
religiöses Symbol und dessen Wirkung auf Dritte BVerfGE
93, 1 (19 f.); zurückhaltender und im Kreuz nur ein passives
Symbol sehend EGMR NVwZ 2011, 737 (741 Rn. 72).
16
In Bezug auf Staatsbedienstete in Form von Lehrern
Wißmann (Fn. 15), Art. 7-III Rn. 128.
12
ÖFFENTLICHES RECHT
-berechtigt ist. Es stellt sich somit die Frage, inwieweit
Staatsbedienstete von ihren Grundrechten – hier der Religionsfreiheit – Gebrauch machen können.
Dieses vormals als „besonderes Gewaltverhältnis“17 titulierte Phänomen wird inzwischen Sonderstatusverhältnis
genannt und zeichnet sich dadurch aus, dass Staatsbedienstete
bzw. sämtliche Personen im staatsnahen und -geprägten
Raum durchweg grundrechtsberechtigt sind. Die sich aus
Art. 1 Abs. 3 GG ergebende staatliche Grundrechtsbindung
kennt also keine Bereichsausnahme für Sonderstatusverhältnisse. Die Eingliederung in den öffentlichen Dienst schafft
zwar besondere Pflichten, negiert jedoch nicht die Grundrechtsberechtigung.18 Aufgrund der (freiwillig gesuchten)
Nähe zum Staat sind indes im Unterschied zum staatsfernen
Bürger andere oder weiterreichende Grundrechtseingriffe
möglich.19 Auswirkungen zeitigt das Sonderstatusverhältnis
im Rahmen von Grundrechtseingriffen mithin erst auf der
Ebene der Rechtfertigung.
Somit erfährt die staatliche Zurückhaltung in religiösen
Fragen eine doppelte Absicherung: Zum einen abstrakt in
Form des allgemeinen, staatlichen Neutralitätsgebotes. Zum
anderen individuell mit der Möglichkeit, im Rahmen von
Sonderstatusverhältnissen intensivere Grundrechtsbeschränkungen vorzunehmen.
Dennoch gilt es zu vergegenwärtigen, dass Staatsdienst
nicht Dienst an einem abstrakten Staat bedeutet, „sondern
Dienst von Bürgern für Bürger“.20 Deshalb kann es gerade im
Bereich des Staatsdienstes zur Kollision von staatlich angestrebter Neutralität einerseits und dem individuellen Freiheitsgebrauch seiner Bediensteten andererseits kommen.
3. Staatlich veranlasste Religionssymbole – Von der Widerspruchslösung zur objektiven Verfassungswidrigkeit
Gerade in der vorgenannten Konstellation liegt auch der
Unterschied zur grundsätzlich unzulässigen staatlich veranlassten Zurschaustellung von religiösen Symbolen, wie Kreuzen in Schulgebäuden oder Gerichtssälen. Teilweise wird
vorgetragen, ein individuell getragenes religiöses Symbol
entfalte eine wesentlich stärkere Wirkung auf Glaubensfremde und deren negative Religionsfreiheit als vermeintlich
unauffällige Symbole, die an der Wand oder am Eingang
öffentlicher Gebäude hängen.21 Auf diese bloß faktische
Unterscheidung kann es allein aber nicht ankommen: Werden
personenlosgelöst religiöse Symbole im öffentlichen Raum
17
Zum „besonderen Gewaltverhältnis“ und dessen unterschiedlicher rechtlicher Handhabung im Verhältnis zum Sonderstatusverhältnis Kloepfer (Fn. 5), § 49 Rn. 35 ff.
18
Wißmann, ZEvKR 52 (2007), 51 (55). Grundlegend für die
umfassende Grundrechtsgeltung BVerfGE 33, 1 (10 f.); zur
grundsätzlichen Geltung im öffentlichen Dienst denkbar eindeutig BVerfGE 39, 334 (366 f.).
19
Kloepfer (Fn. 5), § 49 Rn. 39.
20
Wißmann, ZEvKR 52 (2007), 51 (55).
21
Vgl. beispielsweise Pofalla, NJW 2004, 1218, der Inkonsistenzen und Widersprüche zwischen dem KruzifixBeschluss und dem Kopftuch I-Urteil sieht; ähnlich auch
Röper, VBlBW 2005, 81 (85).
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287
AUFSÄTZE
Daniel Weidemann
zur Schau gestellt, handelt der Staat als Staat – auch wenn
das religiöse Symbol von einer natürlichen Person angebracht
worden ist. Dem steht die Pflicht zur Neutralität gegenüber;
eine Veranlassung ein religiöses Symbol nur einer bestimmten Religionsgemeinschaft sichtbar zu machen, ist nicht gegeben.22
Werden jedoch religiöse Symbole von Staatsbediensteten
als Einzelpersonen getragen, ist diese Handlung dem Staat
zwar auch zurechenbar.23 Berücksichtigt werden muss hier
jedoch, dass auf Seiten der Beamten eine Grundrechtsberechtigung besteht, die der abstrakte Staat für sich selbst nicht in
Anspruch nehmen kann. Diese Grundrechtsberechtigung bildet einen rechtlichen Gegenspieler zum staatlichen Neutralitätsgebot.24 Hierdurch wird die unterschiedliche Konstellation offenbar, die es erlaubt, in beiden Fällen zu unterschiedlichen Ergebnissen zu gelangen.
Das BVerfG entschied 1973, dass Kreuze in Gerichtssälen im Einzelfall eine Verletzung der negativen Religionsfreiheit von Prozessbeteiligten darstellen können.25 Erst auf
Widerspruch des Betroffenen müsse das Kreuz abgenommen
werden oder der Prozess in einen anderen Saal, ohne religiöse
Symbole, verlegt werden. Durch die Wahl der Einzelfalllösung umging das Gericht die Auseinandersetzung mit der
Frage, ob das Anbringen eines Kreuzes (oder anderer religiöser Symbole) bereits objektiv verfassungswidrig ist26 und
verlagerte so die Handlungslast hin zum Bürger, der gezwungenermaßen die Initiative ergreifen musste, um einen rechtmäßigen Zustand für sich erreichen zu können.
Dies holte es im Rahmen des sog. Kruzifix-Beschlusses
(1995) nach, bei dem es um die Präsenz christlicher Kreuze
in staatlichen Pflichtschulen ging.27 Es hob hervor, dass der
Staat in religiösen Fragen Neutralität zu bewahren habe und
selbst dort, wo es zu einer Zusammenarbeit mit oder Förderung von einzelnen Weltanschauungs- oder Religionsgemeinschaften kommt, eine Identifikation verhindert werden müsse.28 Diese Vorgaben seien mit der Anbringung von Kreuzen
in einer vom Staat geschaffenen Lage nicht gewahrt – unabhängig davon, ob es im Einzelfall zu Widersprüchen seitens
der Schüler oder Eltern gekommen ist.29 Deshalb erscheint es
mindestens bedenklich, wenn gesetzliche Regelungen der
Bundesländer weiterhin Kreuze in Klassenräumen vorsehen
und bloß eine Widerspruchslösung im Einzelfall anbieten
(vgl. Art. 7 Abs. 4 BayEUG).
Wenngleich das BVerfG betont hat, dass Dauer und Intensität der Wirkung von Kreuzen in Unterrichtsräumen noch
größer seien als in Gerichtssälen,30 kann auch für letztere nur
gleiches gelten. Die Formulierung legt gerade nahe, dass die
Wirkung von Kreuzen vor Gericht nicht als gering einzuschätzen ist, sondern in Schulen bloß noch erheblicher als sie
bereits vor Gericht ist. Dort handelt es sich ebenfalls um
einen staatlich reglementierten Raum, dem sich ein Teil der
Prozessbeteiligten – in Parallele zur Schulpflicht – nicht entziehen kann.
Zum einen könnte der Betroffene in der Praxis gehemmt
sein, von dem Widerspruch Gebrauch zu machen, in der
Annahme, er verärgere damit den dem Christentum angehörigen Richter.31 Zum anderen besteht auch unabhängig davon
die Gefahr, dass staatlicherseits eine unzulässige Identifikation mit einer bestimmten Religion vorgenommen wird.
Sämtliche religiöse Symbole, die staatlich veranlasst und
personenlosgelöst in Gerichtssälen zur Schau gestellt werden,
stellen demnach einen objektiv verfassungswidrigen Zustand
dar.
4. Von Kopftuch I zu Kopftuch II – Individuelle Zurschaustellung religiöser Symbole
Wie das Spannungsfeld aufzulösen ist, wenn es um eine individuelle Zurschaustellung religiöser Symbole von Staatsbediensteten geht, hat das BVerfG für die Ausübung der Religionsfreiheit im Bereich der Schule entschieden.
a) Kopftuch I
Der Entscheidung lag ein durch das Oberschulamt abgelehnter Antrag einer Muslimin auf Übernahme in den Schuldienst
zu Grunde. Die fehlende Eignung wurde damit begründet,
dass die Lehrerin nicht bereit sei, ihr Kopftuch während des
Unterrichts abzulegen.32 Dabei handele es sich um ein religi-
22
Wißmann, ZJS 2015, 299 (301). Vgl. im Ergebnis auch
BVerfGE 93, 1 (23 f.).
23
Wißmann, ZEvKR 52 (2007), 51 (58 f.). A.A. in Bezug auf
religiöse Handlungen von Beamten BVerfGE 108, 282
(305 f.).
24
Vgl. insoweit Wißmann, ZEvKR 52 (2007), 51 (59). A.A.
Feldmann, Betrifft Justiz 2008, 216 (217).
25
BVerfGE 35, 366.
26
Vgl. BVerfGE 35, 366 (374 f.). – Die Rechtfertigung für
die Existenz von Kreuzen in Gerichtssälen wurde früher vor
allem darin gesehen, dass für einen Eid mit religiöser Beteuerung ein Schwurgegenstand zugegen sein sollte (BVerfGE
35, 366 [373]; OLG Nürnberg NJW 1966, 1926 [1928]).
27
Vgl. BVerfGE 93, 1.
28
BVerfGE 93, 1 (16 f.).
29
Denkbar eindeutig Leitsatz 1 des Beschlusses: „Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnis-
schule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG.“ (BVerfGE 93,
1). Der seinerzeitige Vorsitzende des Ersten Senats präzisierte diesen Leitsatz im Nachgang dahingehend, dass ausschließlich staatlich angeordnete Kreuze oder Kruzifixe gemeint seien. – Genannt werden soll an dieser Stelle auch die
Entscheidung des EGMR, nach der den Konventionsstaaten
bei der Entscheidung, ob sie ein Kruzifix in Schulklassen
anbringen wollen, ein weiter Ermessenspielraum zukommt,
den es so lange zu respektieren gilt, wie keine Indoktrinierung damit einhergeht (EGMR NVwZ 2011, 737 [739
Rn. 61 f.]). Diese Vorgaben sind mit der Rechtsprechung des
BVerfG eingehalten worden.
30
BVerfGE 93, 1 (18).
31
Hierauf weist Feldmann (Betrifft Justiz 2008, 216 [217])
hin.
32
Siehe zum zugrundeliegenden Sachverhalt und der Begründung des Schulamtes BVerfGE 108, 282 (283 ff.).
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ZJS 3/2016
288
Religiöse Symbole vor Gericht – Teil 1
öses Symbol33, mit dem eine kulturelle Desintegration zum
Ausdruck gebracht werde, die sich mit dem staatlichen Neutralitätsgebot nicht vereinbaren lasse. Zwar falle das Tragen
eines Kopftuchs in den Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 f.
GG, doch werde dieser insoweit in der konkreten Schulsituation von der negativen Religionsfreiheit der Schüler, den
Grundrechten der Eltern sowie dem staatlichen Neutralitätsgebot überlagert.
Der Zweite Senat des BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde der Lehrerin stattgegeben und bejahte eine Verletzung von Art. 33 Abs. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 f. und mit
Art. 33 Abs. 3 GG. Dabei nahm er folgende Überlegungen
vor:34 Der Antrag auf Übernahme in den Schuldienst richtet
sich nach rechtlichen Kriterien im Sinne des Art. 33 Abs. 2
GG.35 Ausweislich Art. 33 Abs. 3 GG darf die Bekenntniszugehörigkeit bei der Eignungsprüfung nicht berücksichtigt
werden; Gleiches gilt für sämtliche Gründe, die mit Art. 4
GG nicht in Einklang zu bringen sind.36
Da sich aber auch Staatsbedienstete (trotz Art. 33 Abs. 5
GG) auf Grundrechte berufen können und das Tragen eines
Kopftuchs, das zumindest auch religiösen Charakter haben
kann37, in den Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 f. GG fällt,
kann dieser Akt der Ausübung der Religionsfreiheit nur
durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden.
In Betracht kommen hier der staatliche Erziehungsauftrag
(Art. 7 Abs. 1 GG) samt staatlichem Neutralitätsgebot, die
negative Religionsfreiheit der Schüler (Art. 4 Abs. 1 f. GG)
sowie das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG).38
Diese Spannungslage widerstreitender Rechte ist im
Schulwesen durch den Landesgesetzgeber in Form eines
Kompromisses aufzulösen.39 Da das Tragen eines Kopftuchs
bloß eine abstrakte Gefahr für die o.g. Rechte darstellt, Art. 4
Abs. 1 f. GG aber vorbehaltlos gewährleistet wird, ist eine
entsprechend hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage
erforderlich, die das Verhältnis auslotet.40
Denkbar ist, dass sich Regelungen in den einzelnen Bundesländern voneinander unterscheiden – jedoch gilt zwingend
die Prämisse, dass eine solche Norm alle Religionen gleichbehandelt.41
An einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage fehlte es
aber gerade im zugrundeliegenden Fall.
33
Streng genommen ist das Kopftuch nicht aus sich heraus
ein religiöses Symbol. In Verbindung mit der Person, die es
trägt, sowie mit deren Verhalten kann es jedoch eine ganz
ähnliche, vergleichbare Wirkung haben (BVerfGE 128, 282
[304]).
34
Zur Schilderung der sog. Kopftuch I-Entscheidung siehe
ebenso Wißmann, ZEvKR 52 (2007), 51 (53 ff.); Franzius,
Der Staat 54 (2015), 435.
35
BVerfGE 108, 282 (295).
36
BVerfGE 108, 282 (298).
37
BVerfGE 108, 282 (298 f., 303 ff.).
38
Vgl. BVerfGE 108, 282 (297, 299).
39
Vgl. BVerfGE 108, 282 (302).
40
Vgl. BVerfGE 108, 282 (303).
41
Vgl. BVerfGE 108, 282 (298, 303, 313).
ÖFFENTLICHES RECHT
Zwei Kernelemente dieser Entscheidung sollen zusammenfassend festgehalten werden:42 Die religionsfreundliche
Haltung des Grundgesetzes gilt grundsätzlich auch dann,
wenn die Religionsausübung von Dritten negativ aufgefasst
wird. Dies beansprucht auch dort Geltung, wo zumindest eine
formale Trennung zwischen staatlichen Pflichten und bürgerlicher Freiheit denkbar wäre.43
Zum anderen hebt die Entscheidung des BVerfG ein Gebot grundrechtlicher Gleichbehandlung aller Religionen hervor, insbesondere was eine etwaige zukünftige Restriktion
der Zurschaustellung religiöser Symbole angeht.
b) Kopftuch II
In der Folge der Kopftuch I-Entscheidung wurde der vermeintliche Hinweis des BVerfG, eine gesetzlich hinreichend
bestimmte Verbotsregelung sei theoretisch denkbar, von
einigen Bundesländern aufgegriffen und auf Landesebene
umgesetzt. Eine solche Regelung lag der vom Ersten Senat
getroffenen Kopftuch II-Entscheidung zu Grunde. Beschwerdeführerinnen waren zwei Frauen muslimischen Glaubens,
die jeweils auf Angestelltenbasis als Lehrerin bzw. Sozialpädagogin an einer Schule in Nordrhein-Westfalen arbeiteten
und während der Unterrichtszeit ein Kopftuch trugen.44 Auf
Grundlage des nach der Kopftuch I-Entscheidung eingeführten § 57 Abs. 4 SchulG NRW a.F.45 wurde ihnen durch die
Schulbehörde das Tragen eines Kopftuchs untersagt. Die
42
Zum Folgenden bereits Wißmann, ZEvKR 52 (2007), 51
(54 f.).
43
Vgl. dazu insb. das Minderheitsvotum BVerfGE 108, 282
(315 ff.).
44
Siehe zum zugrundeliegenden Sachverhalt BVerfGE 138,
296 (301 Rn. 7 ff.).
45
§ 57 Abs. 4 SchulG NRW a.F.: „Lehrerinnen und Lehrer
dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußere Bekundungen abgeben, die
geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber den
Schülerinnen und Schülern sowie Eltern oder den politischen,
religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden
oder zu stören. Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülerinnen und Schülern oder den Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrerin oder
ein Lehrer gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung
auftritt. Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 7 und 12 Abs. 6 der Verfassung des Landes NordrheinWestfalen und die entsprechende Darstellung christlicher und
abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen
widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1. Das
Neutralitätsgebot des Satzes 1 gilt nicht im Religionsunterricht und in den Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen.“
– Eine entsprechende Geltung des § 57 Abs. 4 SchulG NRW
a.F. für Sozialarbeiterinnen ergab sich aus § 58 S. 2 SchulG
NRW a.F. – Eine Darstellung der sonstigen landesrechtlichen
Regelungen, die nach der Kopftuch I-Entscheidung erlassen
wurden, findet sich bei Wißmann, ZEvKR 52 (2007), 51
(61 ff.).
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289
AUFSÄTZE
Daniel Weidemann
Lehrerin widersetzte sich dieser Anordnung und erhielt zunächst eine Abmahnung, später wurde ihr gekündigt. Die
Sozialarbeiterin tauschte Kopftuch gegen Baskenmütze und
Rollkragenpullover, mit deren Hilfe dieselben Körperstellen
verdeckt wurden, wie durch das Tragen eines Kopftuchs.
Auch sie wurde abgemahnt. Im Rahmen der arbeitsgerichtlichen Verfahren äußerte sich das BAG dahingehend, dass das
Tragen des Kopftuchs (respektive der Baskenmütze) eine
nach außen gerichtete religiöse Bekundung sei; diese könne
nicht mit den Vorgaben des § 57 Abs. 4 SchulG NRW hinsichtlich der Neutralitätspflicht in Einklang gebracht werden.46
Das BVerfG hat die zulässigen Verfassungsbeschwerden
im Wesentlichen als begründet angesehen, die arbeitsgerichtlichen Entscheidungen aufgehoben und darauf hingewiesen,
dass § 57 Abs. 4 S. 1 f. SchulG NRW in Anbetracht des Gewichts von Art. 4 Abs. 1 f. GG restriktiv ausgelegt werden
müsse.47
Neben der erneuten Herausstellung, dass Grundrechte
auch für Lehrkräfte (bzw. für Angestellte im öffentlichen
Dienst) gelten,48 hat das BVerfG darauf abgestellt, dass die
Annahme einer bloß abstrakten Gefahr für das staatliche
Neutralitätsgebot und den Schulfrieden nicht ausreicht, um
eine religiöse Bekundung durch ein Kleidungsstück zu verbieten, solange glaubhaft gemacht worden ist, dass das Tragen auf als zwingend empfundenen Glaubensvorgaben beruht.49 Die Glaubensfreiheit kann nur durch kollidierendes
Verfassungsrecht eingeschränkt werden; die entgegenstehenden Rechtsgüter sind jedoch allein durch das Tragen des
Kopftuchs – beispielsweise ohne weitere verbale Beeinflussung seitens der Lehrkraft – nicht von vornherein per se einer
Beeinträchtigung ausgesetzt.50 Vielmehr ist eine auf den
Einzelfall bezogene konkrete Gefahr erforderlich, der dann
jedoch auch mit einer (dosierten) allgemeineren, über den
spezifischen Fall hinausgehenden Lösung begegnet werden
kann; z.B. mit einem vorübergehenden Verbot für einen bestimmten Schulbezirk.51
Ferner hat das Gericht die in § 57 Abs. 4 S. 3 SchulG
NRW vorgesehene Privilegierung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 3 S. 1 sowie Art. 33 Abs. 3 GG
erklärt.52 § 57 Abs. 4 SchulG NRW sei eine einheitliche Vorschrift, bei der nicht formal zwischen Kundgabe einerseits
und Darstellung andererseits unterschieden werden könne.53
Zudem sei es das eindeutige Ziel des Gesetzgebers gewesen,
46
Vgl. BAG NZA 2010, 227 (228 Rn. 11 ff.); BAG NZA-RR
2010, 383 (384 Rn. 16).
47
BVerfGE 138, 296 (326 Rn. 77 f.).
48
BVerfGE 138, 296 (328 Rn. 84).
49
BVerfGE 138, 296 (327 Rn. 80).
50
BVerfGE 138, 296 (335 ff. Rn. 101 ff.).
51
BVerfGE 138, 296 (341 f. Rn. 113 f.).
52
BVerfGE 138, 296 (326 Rn. 78).
53
BVerfGE 138, 296 (346 ff. Rn. 123 ff.); anders aber das
BAG in den vorliegenden Fällen BAG NZA 2010, 227
(229 f. Rn. 23); BAG NZA-RR 2010, 383 (385 Rn. 24); vgl.
ferner auch BVerwGE 121, 140 (147).
christliche und jüdische Kleidungsvorschriften zu schützen
und diese zu privilegieren.54
c) Stellungnahme zur Entwicklung der Rechtsprechung
In beiden Entscheidungen ging es in einem staatlich geregelten Raum um die Auslotung individueller Religionsfreiheit
auf der einen Seite und widerstreitenden Rechten in Form
von negativer Religionsfreiheit, elterlichem und staatlichem
Erziehungsrecht sowie staatlichem Neutralitätsgebot auf der
anderen Seite. Beide Male schlug das Karlsruher Pendel in
Richtung der Religionsfreiheit des Lehrpersonals und des
Schutzes vor staatlicher Überwältigung aus. Hierin ist die
grundsätzliche Religionsfreundlichkeit des Grundgesetzes
auszumachen.
Abseits dieses gemeinsamen Nenners ist jedoch zuzugeben, dass die beiden Senate unterschiedliche Schwerpunkte
gesetzt haben, und zumindest auf den ersten Zugriff eine
stringente, einheitliche Rechtsprechung des Gerichts in Frage
zu stellen ist. Kritik musste die Kopftuch II-Entscheidung
verschiedentlich insbesondere deshalb einstecken, weil der
Zweite Senat in der Kopftuch I- Entscheidung angedeutet
habe, dass grundsätzlich ein abstraktes Verbot religiöser
Kundgabe durch bestimmte Kleidungsstücke durchaus möglich sei, es „bloß“ einer hinreichend bestimmten gesetzlichen
Grundlage bedürfe.55 Hierauf vertrauend haben mehrere Bundesländer eine entsprechende Regelung erlassen und wähnten
sich auf der sicheren Seite. Mit der Kopftuch II-Entscheidung
hat der Erste Senat dem jedoch einen Riegel vorgeschoben:
Ein Verbot, das lediglich auf einer abstrakten Gefahr fußt, ist
unverhältnismäßig und missachtet die Bedeutung der Religionsfreiheit der Lehrkräfte; erforderlich ist vielmehr eine konkrete Gefahr oder Störung.56 Ist insofern eine widersprüchliche Rechtsprechung beider Senate anzunehmen? Hätte der
Erste Senat gar das Plenum des BVerfG anrufen müssen
(§ 16 BVerfGG), weil er von einer vorangegangen Entscheidung abweichen wollte?57
54
BVerfGE 138, 296 (350 f. Rn. 132 ff.). Vgl. insoweit auch
LT-Drs. NRW 14/569, S. 9, wonach die Tracht von Ordensschwestern sowie die jüdische Kippa als zulässig zu erachten
seien.
55
Vgl. zum Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage
BVerfGE 108, 282 (303, 310). – Zur Kritik an der Kopftuch
II-Entscheidung unter Hinweis auf eine inkonsistente Rechtsprechung Langenfeld, ZEvKR 60 (2015), 420 (421 f.);
Heinig, RdJB 2015, 217 (insb. 225 ff.). Sonstige dogmatische
Kritik, insbesondere in Bezug auf die Kategorisierung und
Handhabung von abstrakter und konkreter Gefahr, äußert
Sacksofsky (DVBl. 2015, 801 [803 ff.]), sieht in dem Beschluss aber einen Schritt in die richtige Richtung; ähnlich
auch Rusteberg, JZ 2015, 637 (640 ff.).
56
Vgl. BVerfGE 138, 296 (340 f. Rn. 112 f.).
57
Hierzu ausführlich Hong (Der Staat 54 [2015], 409), der
die Voraussetzungen für eine Divergenzvorlage im Ergebnis
verneint; im Ergebnis ebenso Wißmann, ZJS 2015, 299
(302 f.). A.A. Langenfeld, ZEvKR 60 (2015), 420 (421 f.);
Heinig, RdJB 2015, 217 (225 ff.).
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ZJS 3/2016
290
Religiöse Symbole vor Gericht – Teil 1
Eine vermeintliche Abkehr des Ersten Senats von der
Annahme des Zweiten, ein generelles Verbot religiös konnotierter Kleidung könne durch ein hinreichend bestimmtes
Gesetz statuiert werden, ist bei genauerer Betrachtung jedoch
abzulehnen. Dafür bedarf es eines Blickes auf die entsprechenden Passagen, in denen sich der Zweite Senat zum Fehlen der gesetzlichen Grundlage geäußert hat sowie auf die
zugrundeliegenden Situationen, über die die Senate zu entscheiden hatten. Dabei ist zu konstatieren, dass der Zweite
Senat tatsächlich keine verbindlichen Aussagen über die Verfassungsmäßigkeit einer zumindest denkbaren gesetzlichen
Grundlage getroffen hat.58 Vielmehr wurden zwei verschiedene Varianten skizziert bzw. angerissen, die den Landesgesetzgebern theoretisch offen stehen. Ganz allgemein wurde
angemerkt, dass eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden könne, mit der „das zulässige Maß religiöser Bezüge in
der Schule neu bestimmt“ werden könne; dabei seien die
widerstreitenden Rechte angemessen zu berücksichtigen.59
Diesem Grundgedanken lässt sich keine konkrete Marschroute in die eine oder andere Richtung entnehmen. Nur vermeintlich konkreter äußert sich der Zweite Senat an anderer
Stelle: Eine entsprechende gesetzliche Regelung könne auch
beamtenrechtliche Pflichten in Bezug auf das äußere Auftreten des Lehrpersonals konkretisieren, soweit das Erscheinungsbild eine Verbundenheit mit bestimmten Glaubensüberzeugungen oder Weltanschauungen erkennbar werden lässt.60
„Insoweit sind unter Beachtung der verfassungsrechtlichen
Vorgaben auch gesetzliche Einschränkungen der Glaubensfreiheit denkbar“.61 Hier wird zwar eher die restriktivere
Handhabung der Religionsfreiheit der Lehrer angesprochen,
ohne dabei jedoch genaue Hinweise zu geben, inwieweit ein
entsprechendes (abstraktes) Verbot verfassungsgemäß wäre
oder wie eine verfassungsgemäße Formulierung aussehen
könnte.
Einzig konkrete Vorgabe des Zweiten Senats war – unabhängig davon, ob eine größere Toleranz oder restriktivere
Handhabung angestrebt wird – die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben.62 Der Zweite Senat war außerstande darüberhinausgehend genauere Vorgaben zu machen:
Er bemängelte gerade das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage; dementsprechend konnte sie auch nicht Prüfungsgegenstand sein, zu dem genauere Aussagen getroffen werden
konnten. Anders hingegen bei der Kopftuch II-Entscheidung,
bei der eine konkrete Norm untersucht worden ist. Insofern
konnte der Zweite Senat noch keine abschließende und um-
58
So bereits Wißmann, ZJS 2015, 299 (302 f.); etwas zurückhaltender aber ähnlich Rusteberg, JZ 2015, 637 (639).
59
BVerfGE 108, 282 (309).
60
BVerfGE 108, 282 (309).
61
BVerfGE 108, 282 (309).
62
Vgl. BVerfGE 108, 282 (309 f.). – Wünschenswert wäre
gewesen, wenn der Erste Senat hierauf näher eingegangen
wäre, um etwaigen Annahmen, es handele sich um eine
Nichtberücksichtigung konkreter Vorgaben des anderen Senats, vorzubeugen.
ÖFFENTLICHES RECHT
fassende Prüfung vornehmen oder den Landesgesetzgebern
entsprechende Direktiven mit auf den Weg geben.63
Dementsprechend lässt sich für die Schulsituation festhalten, dass eine gesetzliche Regelung, die ein vom Einzelfall
unabhängiges Verbot religiöser Symbole für Lehrkräfte statuiert, verfassungswidrig ist. Ein (ggf. über den Einzelfall hinausgehendes) Verbot ist nur im Falle einer konkreten Gefahr
denkbar – und ausschließlich dann, wenn alle Religionen
gleichermaßen von dem Verbot erfasst sind.64
II. Auswirkungen der Grundsätze der Kopftuch-Rechtsprechung auf die Situation vor Gericht
Nun stellt sich die Frage, ob und inwiefern sich die Erkenntnisse des BVerfG auf die Situation vor Gericht übertragen
lassen. Hierfür sollen zunächst grundlegende Gemeinsamkeiten und Unterschiede von der Schul- und Gerichtssituation
dargestellt werden, bevor sich im Anschluss den einzelnen
Beteiligten eines Gerichtsverfahrens gewidmet wird.
1. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Situation an Schulen und Gerichten
a) Gemeinsamkeiten
Zwar findet sich im Rahmen der Kopftuch-Rechtsprechung
des BVerfG keine vergleichbare Formulierung, wie sie der
EGMR bei der Entscheidung über die Zulässigkeit von Kruzifixen in italienischen Klassenzimmern getroffen hat. Er
stellte ausdrücklich fest, dass sich die Entscheidung einzig
und allein auf die Situation von Kruzifixen in Schulklassen,
nicht aber an anderen Orten beziehe.65 Doch auch wenn es an
einer solch ausdrücklichen Herausstellung fehlt, lässt sich
den Entscheidungen der beiden Senate entnehmen, dass die
Eigenart der Schulsituation (und des Lehrpersonals) bei der
Entscheidungsfindung (selbstverständlich) Berücksichtigung
gefunden hat. Demnach stellt sich die Frage, ob die Ausführungen des Gerichts exklusiv für Lehrer getroffen worden
63
Wißmann, ZJS 2015, 299 (303). Auch Sacksofsky (DVBl.
2015, 801 [807]) weist auf die unterschiedliche Ausgangslage
beider Entscheidungen hin, weswegen sich die Aussage des
Zweiten Senats auch nicht zu einer Rechtsauffassung habe
verdichten können.
64
Angesprochen werden soll an dieser Stelle auch noch die
Haltung des EGMR in Bezug auf Verbote von individuell
getragenen religiösen Symbolen. Ähnlich wie bei den staatlich veranlassten Symbolen (siehe oben Fn. 29) kommt den
Konventionsstaaten auch diesbezüglich ein weiter Spielraum
zu, der die Berücksichtigung nationaler Besonderheiten ermöglicht (vgl. insoweit EGMR NVwZ 2006, 1389 [1392
Rn. 109 f.]; EGMR NJW 2014, 2925 [2929 f. Rn. 129 f.]).
65
EGMR NVwZ 2011, 737 (738 f. Rn. 57): „Dem Gerichtshof liegt nur die Frage vor, ob das Vorhandensein eines Kruzifixes in Klassenzimmern italienischer staatlicher Schulen
unter den Umständen des Falls mit den Anforderungen von
Art. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK und Art. 9 EMRK vereinbar ist. Er muss also nicht über das Vorhandensein eines
Kruzifixes an anderen Orten als in staatlichen Schulen entscheiden.“
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291
AUFSÄTZE
Daniel Weidemann
sind oder eine Übertragung der rechtlichen Grundsätze dem
Grunde nach auch auf andere (staatsbedienstete) Personen in
Betracht kommt. Dies dürfte zu bejahen sein, so lange der
äußere, situative Rahmen identisch ist und man die jeweiligen
Spezifika der Funktionen und involvierten Personen entsprechend berücksichtigt und ggf. eine Modifikation der vom
BVerfG geformten Grundsätze vornimmt.
Gericht und Schule ist gemein, dass es sich in beiden Fällen um staatlich reglementierte Räume handelt, denen sich
bestimmte Personengruppen nicht entziehen können. Hierfür
sorgen einerseits die umfassende Schulpflicht und andererseits die Pflicht, vor Gericht zu erscheinen bzw. sein Recht
im Streitfalle ausschließlich durch das Beschreiten des
Rechtsweges verfolgen zu können. Sowohl in der Schule als
auch vor Gericht kann sich also die Spannungslage ergeben,
unausweichlich mit religiösen Symbolen konfrontiert zu
werden.
Insoweit ist von einer ganz ähnlichen Ausgangssituation
bei Schule und Gericht zu sprechen. In beiden Fällen geht es
um einen komplexen Austarierungsprozess, bei dem die positive Religionsfreiheit von (staatsbediensteten) Einzelpersonen
in einem in staatliche Obhut genommenen Bereich abseits gesellschaftlicher Selbstorganisation mit dem staatlichen Neutralitätsgebot sowie den Rechten Dritter in Einklang zu bringen ist.
Dementsprechend ist in Parallele zur Schule auch bezüglich religiöser Symbole vor Gericht bereits vorab festzuhalten, dass nicht einfach für sämtliche sich vor Gericht begegnenden Personen darauf abgestellt werden kann, die Religionsfreiheit schütze im gesellschaftlichen Bereich nicht vor
der Konfrontation mit anderen Glaubensrichtungen. Die Abwägung zwischen positiver Ausübung der Religionsfreiheit
auf der einen Seite und negativer Religionsfreiheit sowie
staatlichem Neutralitätsgebot (samt explizitem Neutralitätsgebot bei Richtern) auf der anderen Seite erhält eine ganz
andere Färbung, wenn es sich um ein staatlich reglementiertes Spielfeld handelt, dem man sich nicht entziehen kann.66
Trotz der äußeren Gemeinsamkeiten darf jedoch nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass für alle beteiligten Personen vor Gericht selbiges gilt wie für das Lehrpersonal. Es ist vielmehr darüber hinausgehend differenziert zu
betrachten, inwiefern Spezifika auf Seiten der Schule und auf
Seiten des Gerichts auszumachen sind (einschlägiges Verfassungsrecht, beteiligte Parteien, Kleidungsvorschriften etc.). Je
nach Eigenart können sich Abweichungen von der für Lehrer
getroffenen Rechtsprechung ergeben.
b) Allgemeine Unterschiede
Grundlegende Unterschiede bestehen vor allem im Hinblick
auf die beteiligten Personen und das einschlägige Verfassungsrecht.
Während man im Schulbereich eine übersichtliche personelle Situation in Form von Schülern, Eltern und Lehrern
vorfindet, gestaltet sich das Bild vor Gericht vielfältiger. Dort
sind zum einen (z.T. staatsbedienstete) Organe der Rechts66
Dies nicht ausreichend würdigend Wiese, Betrifft Justiz
2008, 223 (225).
pflege (Berufs- und Ehrenamtsrichter67, Staats- und Rechtsanwälte), zum anderen außerhalb der Rechtspflege stehende
Verfahrensbeteiligte (Kläger, Beklagte, Angeklagte, Zeugen)
involviert. Hinzu kommen Zuschauer, die kein Teil des Verfahrens sind, sich aber dennoch in der öffentlich geregelten
Sphäre des Gerichts aufhalten.
Es bedarf also eines unterschiedlichen rechtlichen Maßstabs für unterschiedliche Personengruppen, der sich an deren
Rollen sowie Funktionen und etwaigen expliziten rechtlichen
Vorgaben zu orientieren hat.
Das einschlägige Verfassungsrecht ist hingegen grundsätzlich übersichtlicher als bei der Schulsituation, da sowohl
staatlicher als auch elterlicher Erziehungsanspruch keine
Rolle spielen. Von einer Gefahr der Indoktrination wie durch
Lehrer kann bei der Situation vor Gericht eigentlich keine
Rede sein: Weder geht es um die Vermittlung und Lehre
bestimmter Unterrichtsstoffe oder gesellschaftspolitischer
bzw. religiöser Anschauungen noch finden Gerichtsprozesse
in einer dauernden Konstanz statt, wie dies beim Schulunterricht der Fall ist. Somit bleibt es bei der positiven Religionsfreiheit, deren negativem Gegenpol sowie dem staatlichen
Neutralitätsgebot (samt gesondertem richterlichen Neutralitätsgebot).
Unterschiedlich ist auch Inhalt bzw. Sinn und Zweck von
Gericht und Schule. Vor Gericht werden Rechtsstreitigkeiten
(endgültig) befriedet und Strafen ausgesprochen. Die Schule
soll hingegen der Bildung, Erziehung und Entwicklung von
Schülern dienen.68 Dort besteht zumindest noch die Möglichkeit – auch wenn sich der Schüler der Situation als solcher
nicht entziehen kann – eine innere Distanz zu den symbolisierten Religionsinhalten aufzubauen und diese für falsch
oder zumindest für sich nicht verbindlich zu erachten.69 Anders stellt sich die Situation vor Gericht dar: Getroffene Entscheidungen werden vollstreckt. Und zwar unabhängig davon, für wie ungerecht die Betroffenen diese halten. Das Einnehmen einer distanzierenden bzw. ignorierenden Haltung ist
hier gerade nicht möglich. Dies mahnt bereits ganz grundsätzlich eine besondere Gewichtung staatlicher Neutralität
vor Gericht an.
Überzogen ist indes, das Vorhandensein religiöser Symbole bereits unter Hinweis darauf abzulehnen, dass der Staat
vor Gericht ausschließlich als Hoheitsträger auftrete und
67
Ehrenamtliche Richter werden in der Strafgerichtsbarkeit
„Schöffen“, in den Kammern für Handelssachen „Handelsrichter“ genannt. In allen anderen Fällen bleibt es (zumindest
von Gesetzes wegen) bei der Bezeichnung der „ehrenamtlichen Richter“ (vgl. § 45a DRiG).
68
Zum staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag siehe
Wißmann (Fn. 15), Art. 7-III Rn. 59 ff. m.w.N.
69
Dies gilt unter der Prämisse, dass die betreffende Person
altersbedingt dazu in der Lage ist. – Einschränkend muss ferner Folgendes berücksichtigt werden: Sollten über den „bloßen“ Schulunterricht hinaus pädagogische Einzelmaßnahmen
oder Ordnungsmaßnahmen gegen Pflichtverletzungen des
Schülers ergriffen werden, besteht hier unter Umständen auch
nicht mehr die Möglichkeit, eine innere Abwehrhaltung einzunehmen.
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ZJS 3/2016
292
Religiöse Symbole vor Gericht – Teil 1
gesellschaftliche Einflüsse im Verhältnis zur Schule deutlich
reduziert seien.70 Dies kann in einer solchen Entschiedenheit
nur für staatlich veranlasste religiöse Symbole gelten. Im
Falle individuell getragener Symbole würde dieser Ansatz
von vornherein die Grundrechtsgeltung auch für Richter
sowie die sonstigen betreffenden Personen ausblenden. Insoweit bedarf es einer genaueren Betrachtung.
Weiteres Differenzierungsmerkmal ist – zumindest in Bezug auf Berufsrichter (punktuell auch ehrenamtliche Richter),
Staats- und Rechtsanwälte –, dass eine Kleidungsvorschrift in
Form eines Robengebotes herrscht.
c) Zwischenergebnis
Die durch die Kopftuch-Rechtsprechung im Rahmen von
Schulen gewonnenen Erkenntnisse sind grundsätzlich einer
Übertragung auf weitere staatlich reglementierte Räume
zugänglich. Dabei bedarf es jedoch aufgrund der faktisch wie
rechtlich verschiedenen Ausgangslagen unter Umständen
einer Modifikation und Anpassung der gerichtlich angeführten Argumente und deren Gewichtung. Unter Beachtung des
besonderen Neutralitätserfordernisses ist im Folgenden für
die einzelnen vor Gericht involvierten Personen zu beleuchten, ob und inwiefern die Annahmen der Kopftuch-Rechtsprechung auf sie übertragen werden können.
2. Betrachtung der einzelnen Involvierten vor Gericht
a) Richterinnen und Richter
aa) Berufsrichterinnen und -richter
Neben den allgemeinen, bereits geschilderten Unterschieden,
gilt es auch konkret zwischen Richtern und Lehrern zu differenzieren, die zwar jeweils zentraler Bestandteil der beiden
öffentlich reglementierten Räume Schule und Gericht sind.
Es kommt ihrer Persönlichkeit für die Erfüllung der jeweiligen Aufgabe aber eine andere individuelle Gewichtung zu:
Das „Gelingen“ eines Gerichtsprozesses hängt in überwiegender Weise nicht so stark von der Persönlichkeit einer Einzelperson ab, wie dies in der Schule in Form der Lehrkraft
der Fall ist. Vielmehr ist der prozessuale Ablauf durch entsprechende Gesetze deutlich vorgeprägt. Eine solch vordefinierte Situation unterscheidet sich erheblich vom Schulunterricht. Bei letzterem steht die Persönlichkeitsentfaltung der
Schüler im Vordergrund, die durch eine entsprechende individualisierte Gestaltung des Unterrichts erreicht werden
soll.71 Der Schulunterricht ist geprägt von der jeweils indivi70
So aber Lanzerath, Religiöse Kleidung und öffentlicher
Dienst, 2003, S. 188. In eine ähnliche Richtung geht Renck
(JuS 1989, 451 [453 f. sowie dort Fn. 33, 36]), der annimmt,
der Staat dürfe nur ausnahmsweise bei Vorliegen positivrechtlicher Ausnahmen wie Art. 7 Abs. 3 GG religiös-weltanschaulich tätig werden, da anderenfalls seine gebotene Unbeteiligtheit nicht gewahrt sei. Eine Art. 7 Abs. 3 GG entsprechende Regelung für die Situation vor Gericht finde sich
nicht.
71
Zur Persönlichkeitsentfaltung als Ziel des schulischen
Unterrichts BVerfGE 58, 257 (272); 96, 288 (303 f.);
Wißmann (Fn. 15), Art. 7-III Rn. 76 ff. m.w.N.
ÖFFENTLICHES RECHT
duellen Zusammensetzung von Schülern und Lehrern. Gerade
letztere können und sollen durch ihre individuelle Persönlichkeit einen gelungenen Unterricht abhalten.72 Aus diesem
Grund nimmt das Lehrpersonal eine, den speziellen Schulgegebenheiten entsprechende, starke (Rechts-)Stellung ein.73
Eine solche Prägung beim Ablauf eines Gerichtsprozesses
seitens (haupt- oder ehrenamtlicher) Richter anzunehmen,
liegt fern. Zuzugeben ist, dass Richter selbstverständlich
keine „Rechtsprechungs-Automaten“74 sind. Jedoch handelt
es sich bei Gerichtsverfahren um stärker formalisierte Abläufe, die eine strengere Einhaltung erfordern und gerade deutlich weniger Platz für individuelle Gestaltungsmöglichkeiten
haben, als der Schulunterricht.
Dementsprechend bleibt es zwar natürlich bei einer
grund-sätzlichen Grundrechtsberechtigung der Richter, doch
ist ihre persönliche Rolle im Verhältnis zu der des Lehrers
grundsätzlich als schwächer einzustufen.
(1) Objektive oder subjektive Neutralität
Gem. Art. 97 Abs. 1 GG sind Richter unabhängig und nur
dem Gesetz unterworfen. Sie unterliegen keinen Weisungen
und treffen Entscheidungen in Eigenverantwortung in den
rechtlich vorgegebenen Bahnen.75
Damit einher geht das richterliche Neutralitätsgebot. Neben der Weisungsfreiheit (Art. 97 Abs. 1 GG) und der persönlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 2 GG) ist der richterlichen Tätigkeit immanent, dass sie von einem unbeteiligten
Dritten ausgeübt wird, der gegenüber den Prozessbeteiligten
Neutralität und Distanz zu wahren hat.76
Fraglich ist dabei, wie eigentlich die Neutralität und Distanz eines Richters bestimmbar ist. Dies kann grundsätzlich
auf zwei Arten geschehen: Nach einem subjektiven Ansatz ist
nach der tatsächlichen inneren Haltung zu fragen. Zusätzlich
oder stattdessen kann jedoch auch eine objektive Betrachtung
gewählt werden, die nicht die tatsächliche (innere) Überzeugung des Richters als maßgeblich erachtet, sondern darauf
abstellt, ob die objektiven (äußeren) Umstände dafür streiten,
72
Vgl. in Bezug auf die Situation in der Schule bereits
Wißmann, ZJS 2015, 299 (301); ders., ZEvKR 52 (2007), 51
(53).
73
Wißmann, ZJS 2015, 299 (301). Ähnlich auch Böckenförde, NJW 2001, 723 (726 f.). Anders wohl Bader (NJW
2007, 2964 [2965 f.]), der zwar erhebliche Unterschiede
zwischen der Schul- und Gerichtssituation sieht, aber zu dem
Schluss kommt, dass Lehrkräfte strikte Neutralität zu wahren
hätten, während dies für ehrenamtliche Richter nicht gelte.
74
Wiese, Betrifft Justiz 2008, 223 (225), die stärker akzentuiert, dass es auch vor Gericht (zumindest in Maßen) auf die
Persönlichkeit des Richters ankomme.
75
Vgl. BVerfGE 3, 213 (224); 60, 175 (214); 87, 68 (85).
76
BVerfGE 3, 377 (381); 4, 331 (346); 14, 56 (69); 18, 241
(255); 21, 139 (145 f.); unter expliziter Ableitung aus
Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG auch 30, 149 (153). Bernsdorff (in:
Umbach/Clemens, 2002, GG II, Art. 97 Rn. 10) sieht das
Neutralitätsgebot in Art. 97 Abs. 1, 98, 92 Hs. 1 GG verwurzelt.
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293
AUFSÄTZE
Daniel Weidemann
dass der Richter unvoreingenommen, unparteiisch, neutral
und distanziert ist.
Dass Richter, die ostentativ religiöse Symbole tragen, automatisch voreingenommen sein sollen und der Vorgabe, nur
dem Gesetz unterworfen zu sein, nicht gerecht werden, weil
sie entweder außerrechtliche, religiöse Kriterien in die Entscheidungsfindung mit einfließen lassen oder aber bestimmte
Prozessbeteiligte bewusst bevorzugen bzw. benachteiligen,
ist nicht anzunehmen. Diese Gefahr besteht letztlich bei jedem gläubigen Richter, unabhängig davon, ob Symbole seines Glaubens sichtbar sind oder nicht.77
Entscheidend kann es also alleine darauf ankommen, ob
das Neutralitätsgebot so streng verstanden werden und der
objektive Ansatz zugrunde gelegt werden muss, dass Richter
bereits den Anschein der Möglichkeit der (religiösen) Voreingenommenheit vermeiden müssen. Dieser wird durch die
permanente Zurschaustellung religiöser Symbole während
eines Verfahrens mindestens in der oben beschriebenen Form
tangiert.
Es ließe sich einwenden, dass das Tragen religiöser Symbole nur „gelegentlich der Amtsausführung“ stattfinde, ein
innerer Zusammenhang zur Amtsausübung aber gerade zu
verneinen sei.78 Dem wiederum kann entgegen gehalten werden, dass es für eine funktionstüchtige Rechtsprechung entscheidend auch auf deren gesellschaftliche Akzeptanz und
somit auf die Ausstrahlungswirkung des Gerichts ankommt:
Im Bürger darf kein Zweifel heranwachsen, dass die Entscheidung nicht frei und allein auf das Gesetz gestützt getroffen worden ist.79
Diese Überlegung findet eine (einfachgesetzliche) Stütze,
wenn man einen Blick in die Befangenheitsvorschriften über
den Ausschluss von der Ausübung des Richteramtes kraft
Gesetzes oder aufgrund eines Befangenheitsantrages80 wirft,
die Ausfluss des grundgesetzlichen Neutralitätsgebots des
Richters sind81. In all den dort genannten Fällen wird nicht
vorausgesetzt, dass es tatsächlich zu einer Parteilichkeit gekommen ist. Diese soll gerade im Vorhinein verhindert werden, weil der Verdacht fehlender Neutralität besonders naheliegend ist. Denn grundsätzlich ist nicht per se ausgeschlossen, dass beispielsweise auch die Richterin im Falle des § 22
Nr. 2 Var. 1 StPO über den angeklagten Ehegatten, den Anforderungen des Art. 97 Abs. 1 GG entsprechend, urteilen
kann. Nur der Verdacht der Voreingenommenheit soll negiert
werden. Insoweit ist auf die Formulierung des BVerfG hin-
77
Im Übrigen gilt dies auch für areligiöse Richter, die sich
beispielsweise von politischen Motiven leiten lassen.
78
Lanzerath (Fn. 70), S. 32 ff.; Wiese, Betrifft Justiz 2008,
223.
79
Vgl. BVerfG NJW 1989, 93; Laskowski/Dietrich, Jura
2002, 271 (274); Groh, NVwZ 2006, 1023 (1024 Fn. 17);
Edinger, DRiZ 2005, 46; in Bezug auf nach außen gerichtete
richterliche Tätigkeit auch Röger, DRiZ 1995, 471 (478).
80
Z.B. §§ 41 f. ZPO, §§ 22 ff. StPO.
81
Vgl. insoweit BVerfGE 21, 139 (146); 30, 149 (153);
Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland II,
1980, S. 909.
zuweisen, das entscheidend darauf abstellt, ob der Richter die
„Gewähr der Unparteilichkeit“82 bietet.
Zwar wird mit dem Verweis auf die Vorschriften über den
Ausschluss von Richtern auf bloß einfaches Recht zurückgegriffen. Höchstrichterlich ist jedoch anerkannt, dass für den
einfachen Gesetzgeber auf der Grundlage des Art. 101 Abs. 1
S. 1 GG das verfassungsrechtliche Gebot besteht, in bestimmten Fällen, in denen die Neutralität des Richters anzuzweifeln ist, dessen Ausschluss von Gesetzes wegen oder auf
Antrag vorzusehen; nur die genaue Ausgestaltung des Ausschlusskatalogs ist dem einfachen Gesetzgeber überlassen.83
Die innere Neutralität ist gerade nicht von außen einsehbar; ein Bild darüber kann sich also nur aus den Gesamtumständen ergeben (z.B. Betroffenheit des Richters vom Sachverhalt, Bestehen familiärer Bünde zu Prozessbeteiligten oder
eben das religiös geprägte äußere Erscheinungsbild).84 Daher
kann das an den Gesetzgeber adressierte verfassungsrechtliche Gebot nur so verstanden werden, dass die einfachgesetzlichen Befangenheitsvorschriften zwingend (auch) auf den
objektiven Ansatz gestützt sein müssen. Deshalb überzeugt
es, das Neutralitätsgebot streng zu verstehen. Dem Richter ist
aufgegeben, alles zu unterlassen, was seine Neutralität in
Frage stellt – und hierzu gehört eben auch das ostentative
Zurschaustellen religiöser Symbole.85
Eine ähnliche Wertungsparallele lässt sich der Rechtsprechung des EGMR entnehmen: Dieser stellt bezüglich
Art. 6 Abs. 1 EMRK („fair trial“) darauf ab, dass es für die
Unabhängigkeit von Richtern eben nicht nur auf deren subjektive Haltung ankommen könne, sondern zusätzlich auch
objektive Umstände heranzuziehen seien, nach denen eine
Beurteilung stattzufinden habe, ob eine Gewähr der Unparteilichkeit anzunehmen ist oder nicht.86 Insoweit lasse sich der
82
BVerfGE 21, 139 (146).
BVerfGE 21, 139 (146); 30, 149 (153).
84
In diese Richtung (ohne Nennung der obigen Beispiele)
auch Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, 6. Aufl.
2010, Art. 97 Rn. 32, 7.
85
In diesem Zusammenhang ließe sich zumindest andenken,
ob durch das Tragen religiöser Symbolik auch gegen Art. 33
Abs. 5 GG verstoßen wird. Die hergebrachten Grundsätze des
Berufsbeamtentums sind dem Grunde nach ebenfalls auf
Richter anwendbar soweit auch für sie hergebrachte Grundsätze nachweisbar sind (vgl. BVerfGE 12, 81 [87]; 15, 298
[302]; 38, 1 [11 f.]). Zu diesen Grundsätzen gehört u.a. die
politische Neutralität (vgl. zu politischen Äußerungen von
Richtern BVerfG-K NJW 1989, 93 f.; knapp Staats, Deutsches Richtergesetz, 2012, § 39 Rn. 4 ff.; allgemeiner zur
politischen Neutralität von Beamten während des Dienstes
BVerwGE 84, 292 [294]; 90, 104 [110]; Jachmann, in:
v. Mangoldt/Klein/Starck [Fn. 84], Art. 33 Abs. 5 Rn. 47).
Somit ließe sich die Frage aufwerfen, ob neben einer politischen auch eine religiöse Neutralität im Rahmen von Art. 33
Abs. 5 GG zu fordern ist.
86
Vgl. EGMR-E 1, 100 (103, Delcourt); 2, 173 (175,
Piersack); 2, 409 (424, Campbell und Fell); 2, 480 (492,
Sramek); 2, 495 (498, De Cubber); 4, 313 (320, Langborger).
Siehe ferner auch Classen (Fn. 84), Art. 97 Rn. 7 dort Fn. 26.
83
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ZJS 3/2016
294
Religiöse Symbole vor Gericht – Teil 1
Grundsatz aus dem englischen Recht „justice must not only
be done; it must also be seen to be done“ heranziehen.87
(2) Auswirkungen der Amtstracht
Wenn nun also klar ist, dass das grundgesetzliche Neutralitätsgebot für Richter streng zu verstehen ist und es entscheidend auf die objektiven Umstände ankommt, also bereits der
Verdacht fehlender Neutralität ausreicht, stellt sich für das
Tragen religiöser Symbole die Frage, ob sich die Pflicht, eine
Amtstracht zu tragen, auf die Bewertung der richterlichen
Neutralität auswirkt.
Die Kleidungsvorschrift ist nicht in allen Bundesländern
gesetzlich festgelegt, sondern wird zum Teil vom zuständigen
Landesministerium angeordnet; Ähnliches gilt auf Ebene des
Bundes, wo eine Anordnung vom Bundespräsidenten oder
von einer von ihm bestimmten Stelle ausgehen kann.88 Das
BVerfG geht (in Bezug auf Rechtsanwälte) davon aus, dass
dort, wo es an ausdrücklichen Regelungen fehlt, die Robenpflicht gewohnheitsrechtlich anerkannt sei.89
Der Effekt der Robe wird im Zurücktreten der Persönlichkeit hinter das Amt, in der Distanzierung vom Geschehen
sowie der Gewähr der Unparteilichkeit gesehen.90 Dem ist im
Grunde zuzustimmen. In Anbetracht der maximal einfachgesetzlichen Normierung der Amtstracht, kann diese Kleidungsvorschrift indes nicht dafür herhalten, das Tragen religiöser
Symbole durch Richter generell als unzulässig einzustufen.91
Um das auf Seiten der Richter einschlägige Grundrecht der
Religionsfreiheit einzuschränken, bedarf es kollidierenden
Verfassungsrechts. Die Robenpflicht als solche genießt keinen Verfassungsrang. Sie ist vielmehr Indiz dafür, wie streng
das grundgesetzliche Neutralitätsgebot verstanden werden
kann.
Verfassungsrechtlich relevante Auswirkungen zeitigt die
Robe jedoch auf andere Art und Weise. Zwar ist der bloße
Hinweis darauf, es bestehe eine einfachgesetzliche oder auf
87
So explizit in EGMR-E 1, 100 (103, Delcourt); 2, 409
(424, Campbell und Fell).
88
Siehe beispielsweise § 21 Abs. 1 AGGVG BW, der für
Berufsrichter eine Amtstracht vorschreibt. Vgl. für NRW
JMBl. NRW 2006, S. 193. Gesetzliche Grundlage für die
Anordnung auf Bundesebene ist § 74 BBG i.V.m. § 46 DRiG
(vgl. z.B. für die Amtstracht beim BAG und BSG unter
https://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/bpr_skldgba
g_bsgano/gesamt.pdf [22.5.2016]). Weitergehend zur Amtstracht der Bundes- und Landesrichter Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 318, 453 f. m.w.N.
89
BVerfGE 28, 21 (30).
90
Wittreck (Fn. 88), S. 453; in Bezug auf das Zurücktreten
der Persönlichkeit auch Battis/Bultmann, JZ 2004, 581 (587
Fn. 85); OLG Braunschweig NJW 1995, 2113 (2114); in
Bezug auf Staatsanwälte und deren Dienstkleidung LT-Drs.
NRW 13/5722, S. 3.
91
Insoweit richtig Wißmann, DRiZ 6/2016, im Erscheinen;
dies hingegen nicht berücksichtigend Neumann, DRiZ 2005,
46; in diese Richtung auch Battis/Bultmann, JZ 2004, 581
(587); in Bezug auf Staatsanwälte LT-Drs. NRW 13/5722,
S. 3.
ÖFFENTLICHES RECHT
eine ministerielle Anordnung zurückgehende Pflicht, eine
Amtstracht zu tragen, zur Einschränkung der Religionsfreiheit des Richters nicht ausreichend.
Anders sieht dies hingegen aus, wenn man die Wirkungsbzw. Interpretationsmöglichkeiten der Kombination von
religiöser Symbolik und Robe beleuchtet und einen Rückbezug zum bereits oben streng verstandenen (verfassungsrechtlichen) Neutralitätsgebot herstellen kann. Theoretisch denkbar wäre etwa, dass die von einem religiösen Symbol ausgehende Wirkung durch die Robe neutralisiert wird.
Das simultane Tragen einer Robe und eines religiösen
Symbols kann indes auf zweierlei Arten interpretiert werden.
Zum einen kann damit zum Ausdruck gebracht werden, dass
trotz der Amtstracht nicht auf das religiöse Symbol verzichtet
und letzteres vom Träger gar bewusst über die neutrale Robe
gestellt wird. Der Verdacht liegt nahe, die eigene religiöse
Haltung über die geforderte Neutralität zu erheben.
Andererseits kann aber bereits die Robe für sich gesehen
eine umfassende Neutralität zum Ausdruck bringen, die nicht
durch individuell getragene religiöse Symbole in Frage zu
stellen ist. Sobald also die Amtstracht getragen wird, kommt
es bei dieser Interpretation nicht mehr darauf an, ob die Person religiöse Symbole trägt.
Beide Interpretationen sind möglich. Dies hat zur Folge,
dass dem äußeren Anschein nach gerade nicht die Gewähr
dafür geboten werden kann, dass sich die betreffende Person
neutral verhält. Entsprechende Zweifel können sich demnach
bei den Prozessbeteiligten ergeben.
Will man aber im Rahmen des Art. 97 Abs. 1 GG bereits
den Anschein fehlender Neutralität ausreichen lassen, kann
von den Prozessbeteiligten nicht erwartet werden, dass sie
zwischen beiden Interpretationsweisen differenzieren und
erkennen, dass sich das religiöse Symbol nicht auf die innere
Haltung des Richters im Gerichtsverfahren auswirkt.92
Einfachgesetzlichen Niederschlag hat dieser Gedanke in
§ 39 DRiG gefunden. Hiernach hat der Richter sich so zu
verhalten, dass das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht
gefährdet wird. Unabhängigkeit im Sinne der Vorschrift ist
weit zu verstehen und umfasst sowohl die innere als auch
äußere Unabhängigkeit in Form einer unvoreingenommenen,
unparteiischen Neutralität und Distanz.93
Somit kommt der Robenpflicht als solcher weder per se
ein Verbotscharakter in Bezug auf religiöse Symbole noch
ein „Neutralisierungseffekt“ zu.
(3) Fazit
Hauptamtliche Richter unterliegen strengen Neutralitätsanforderungen, hinter denen ihre Religionsfreiheit in Form der
ostentativen Zurschaustellung religiöser Symbole zurückstehen muss.94 Dass dies de facto einem Berufsverbot für Rich-
92
Ähnlich auch in Bezug auf die nach außen gerichtete amtliche Tätigkeit Röger, DRiZ 1995, 471 (478).
93
BVerwG NJW 1988, 1748 (1749).
94
Anders Wißmann (DRiZ 6/2016, im Erscheinen), der religiös begründete Kleidung grundsätzlich auch für Berufsrichter für zulässig hält, gleichwohl nicht per se ausgeschlossen
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295
AUFSÄTZE
Daniel Weidemann
terinnen muslimischen Glaubens, die ein Kopftuch für sich
als verbindlich erachten, gleichkommt, muss in Anbetracht
der hohen Bedeutung des äußeren Anscheins der richterlichen
Neutralität und Distanz zum Geschehen sowie des Vertrauens
des Bürgers auf eine unvoreingenommene Justiz hingenommen werden.
Unter Umständen mildernd kann angefügt werden, dass
dieser strenge Maßstab für hauptamtliche Richter nur für die
Zeit gilt, in der sie Prozessbeteiligten begegnen, nicht hingegen für die Arbeit außerhalb der Verhandlungen. Wer darin
eine inkonsequente Handhabung sieht,95 verkennt, dass es
zuvörderst um das Vertrauen der Bürger in die Neutralität der
Justiz geht. Beim Gang in den Gerichtssaal bzw. insbesondere bei der Entscheidungsverkündung tritt der Richter den
Beteiligten gegenüber und signalisiert mit seinem dortigen
äußeren, neutralen Erscheinungsbild, dass alles vorangegangene, „im stillen Kämmerlein“ Erarbeitete mit genau derselben (inneren) Distanz und Neutralität geschehen ist, wie der
Richter es just in diesem Moment ausstrahlt – unabhängig
davon, ob er die Arbeit mit einem individuell getragenen
religiösen Symbol, zu Hause unter einem Kruzifix sitzend
oder gar völlig unbekleidet verrichtet hat. All diese Umstände
sind gerade nicht einsehbar. Insoweit kommt dem Auftreten
des Richters im Gerichtssaal eine besondere symbolische
Wirkung zu, da sich hier die nach außen hin zu gewährende
Neutralität kanalisiert. Dementsprechend kann zwischen der
nach innen und außen gerichteten richterlichen Tätigkeit
unterschieden werden.96
Für Berufsrichter bedarf es also eines strengeren Maßstabs hinsichtlich religiöser Symbolik als für Lehrkräfte.
Insoweit lassen sich die Grundsätze der Kopftuchrechtsprechung nicht eins zu eins übertragen.
Der Beitrag wird fortgesetzt.
sei, dass im Einzelfall Einwände von Prozessbeteiligten geltend gemacht werden können.
95
So Wißmann, DRiZ 6/2016, im Erscheinen.
96
In diese Richtung auch Mückl (Der Staat 40 [2001], 96
[123]), der die Außenwirkung der richterlichen Amtsführung
als entscheidendes Kriterium heranziehen und in diesen Fällen eine stärkere Möglichkeit der Grundrechtseinschränkung
bei Richtern als im bloß internen dienstlichen Bereich annehmen will. A.A. im Ergebnis wohl Wißmann, DRiZ
6/2016, im Erscheinen.
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ZJS 3/2016
296
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 2
Beiträge zum Medienstrafrecht – Teil 3*
Von Prof. Dr. Manfred Heinrich, Kiel
In Teil 1 der vorliegenden Darstellung zur Verbreitung von
Pornografie (vgl. ZJS 2016, 132) ging es zunächst in Abschnitt I. um den Pornografie-Begriff des § 184 StGB, sodann
in Abschnitt II. um das Verhältnis von Kunst und Pornografie, in Abschnitt III. um eine Reihe grundsätzlicher Überlegungen zu § 184 StGB, in Abschnitt IV. um den Schriftenbegriff des § 11 Abs. 3 StGB sowie in Abschnitt V. um den Begriff des „Verbreitens“ in den Überschriften der §§ 184 ff.
StGB. In Abschnitt VI. schließlich wurden bereits die Tathandlungen der § 184 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB besprochen, woran der nachfolgende Text nun nahtlos anknüpft.
3. § 184 Abs. 1 Nr. 3 StGB: Bestimmte Vertriebsformen
Dieser Gefährdungstatbestand erfasst den Vertrieb pornografischer Schriften in bestimmten Bereichen des Einzelhandels
(näher hierzu unten b), im Versandhandel (unten c) sowie in
gewerblichen Leihbüchereien bzw. in (ebenfalls: gewerblichen) Lesezirkeln (unten d).
Die Strafbarkeit nach Nr. 3 liegt darin begründet, dass
nach Auffassung des Gesetzgebers die genannten Formen des
Vertriebs insofern besonders gefährlich seien, als bei ihnen
„eine zuverlässige Alterskontrolle nicht garantiert werden“
könne und „eine ausreichende Überwachung dieser Vertriebsarten […] ebenfalls nicht möglich“ erscheine1 – was
ganz unvermittelt zur Frage etwaiger Straflosigkeit führt für
den Fall, dass in concreto eine Gefährdung Minderjähriger
ausgeschlossen ist (auch hierzu noch unten b), c) und d).
a) Die Tathandlungen
Die genannten Tathandlungen des „Anbietens“ und „Überlassens“ entsprechen denjenigen der Nr. 1 (vgl. daher zu ihnen
bereits oben 1. a) aa)/bb). Somit ist insbesondere festzuhalten, dass es auch hier um das an den Einzelnen gerichtete
individuelle Anbieten, nicht aber das an die Allgemeinheit
gerichtete feilbietende Anbieten im Sinne der Nr. 5 geht; vgl.
näher oben 1. a) aa) (1).
* Dieser Beitrag ist der dritte einer Reihe von Beiträgen des
Autors zum Medienstrafrecht, die sukzessive in der ZJS erscheinen. Thematisch sollen dabei insbesondere Besonderheiten der Verjährung, die Verbreitung pornographischer Schriften sowie im medialen Kontext bedeutsame Staats- und Friedensschutzdelikte behandelt werden. Der erste Beitrag – zu
Besonderheiten der Verjährung im Pressestrafrecht – ist in
ZJS 2016, 17 erschienen. Der vorliegende dritte Beitrag ist
die Fortsetzung der in ZJS 2016, 132 begonnenen Darstellung zur Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB.
1
BT-Drs. VI/3521, S. 60; siehe auch Schroeder, in: Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1,
10. Aufl. 2009, 23/13: „soll der Sicherung des Jugendschutzes dienen“.
b) Der Einzelhandel
„Einzelhandel“ meint – unter Ausschluss des Groß- und Zwischenhandels – das gewerbsmäßige Feilbieten an den Endverbraucher2 (sodass der private Verkauf, etwa an einem
Flohmarktstand, nicht erfasst wird). Die insoweit unter die
Strafbarkeit der Nr. 3 fallenden Vertriebsformen sind dabei
die des Einzelhandels außerhalb von Geschäftsräumen (man
denke an den Wühltisch vor dem Buchladen, ebenso aber
auch an jede Form des ambulanten Handels, wie den Straßenverkauf ohne Verkaufsstand, den mobilen Händler in
Gaststätten oder das Haustürgeschäft3), in Kiosken (wie insbesondere den vielerorts anzutreffenden Zeitschriftenkiosken) sowie in anderen Verkaufsstellen, die der Kunde nicht
zu betreten pflegt (Jahrmarktstand etc.).
Nicht einschlägig sind demgegenüber Verkaufsstände innerhalb von Kauf- oder Warenhäusern, für die es bei einer
etwaigen Strafbarkeit nach Nr. 1 und Nr. 2 verbleibt4. Nicht
erfasst ist auch der Fall, dass aufgrund einer (schriftlichen,
telefonischen oder persönlichen) Bestellung die Pornografika
aus den Geschäftsräumen heraus an die Kunden geliefert
werden, wobei es sich dann aber um einen Fall des Versandhandels gem. Nr. 3 Alt. 2 handeln kann5.
Richtigerweise ist die Tatbestandlichkeit zu verneinen
(siehe schon oben III. 3.), wenn der Vertrieb im Einzelfall an
Orten erfolgt, die von vornherein Minderjährigen nicht zugänglich sind6 (vgl. oben 2. a), oder wenn in concreto eine
zuverlässige Alterskontrolle erfolgt, etwa der Inhaber eines
Zeitungskiosks Pornohefte, die er uneinsehbar „unter dem
Ladentisch“ verwahrt, nur nach Vorlage des Personalausweises abgibt7 (oben 1. b) bb).
2
Wolters, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar
zum Strafgesetzbuch, 136. Lfg., Stand: Oktober 2012, § 184
Rn. 37; Laubenthal, Handbuch Sexualstrafrecht, Die Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung, 2012, Rn. 975;
Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar,
29. Aufl. 2014, § 184 Rn. 30.
3
Vgl. Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 30; Hörnle, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch,
Bd. 3, 2. Aufl. 2012, § 184 Rn. 55.
4
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 977; Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 37;
krit. jedoch Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 55.
5
BGHSt 9, 270; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 976; Hörnle (Fn. 3),
§ 184 Rn. 55; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 30.
6
Ebenso Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 29; a.A. Laubenthal
(Fn. 2), Rn. 974; Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 36.
7
Wie hier Eckstein, wistra 1997, 47 (51); Schroeder (Fn. 1),
23/13; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 29; siehe auch OLG Hamm
NStZ 1988, 415; Schroeder, Pornographie, Jugendschutz und
Kunstfreiheit, 1992, S. 43; a.A. OLG Düsseldorf NJW 1975,
529 (530); Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 36; Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 974; siehe auch Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 62.
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297
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
c) Der Versandhandel
„Versandhandel“ ist gem. der Legaldefinition des § 1 Abs. 4
JuSchG, die wegen der Identität der Schutzzwecke8 auch auf
§ 184 Abs. 1 Nr. 3, 4 StGB anwendbar ist9, „jedes entgeltliche Geschäft, das im Wege der Bestellung und Übersendung
einer Ware durch Postversand oder elektronischen Versand
ohne persönlichen Kontakt zwischen Lieferant und Besteller
oder ohne dass durch technische oder sonstige Vorkehrungen
sichergestellt ist, dass kein Versand an Kinder und Jugendliche erfolgt, vollzogen wird“. Wenn dabei (nur) von „entgeltlichem“ Geschäft die Rede ist, so heißt das nichts anderes, als
dass der Anbieter nicht unbedingt gewerblich zu handeln
braucht, sodass auch das (ggf. bloß einmalige) Tätigwerden
einer Privatperson (etwa über eBay) erfasst ist10.
Damit ist angesichts des § 1 Abs. 4 JuSchG schon von
vornherein kein Fall des „Versandhandels“ gegeben mangels
Bestellung: wenn die Ware unaufgefordert zugesandt wird
(dann aber Nr. 6); mangels Post- bzw. elektronischen Versands: wenn sie durch Boten überbracht wird; aufgrund persönlichen Kontakts: wenn die Bestellung unmittelbar vor Ort
erfolgte11; aufgrund effektiver Sicherheitsvorkehrungen:
wenn eine zuverlässige Altersverifikation gegeben ist (näher
zu den insoweit zu beachtenden strengen Anforderungen
oben 1. b) cc).
Dass gerade auch im letzten Fall der Tatbestand zu verneinen ist, folgt unmittelbar aus der (teleologisch motivierten)
Entscheidung, § 1 Abs. 4 JuSchG zugrundezulegen, nicht
aber erst aus einer noch eigens vorzunehmenden, zusätzlichen
teleologischen Überlegung heraus12 – so dass es widersprüchlich wäre, zwar § 1 Abs. 4 JuSchG heranzuziehen, dann aber
doch eine Straflosigkeit bei Vornahme effektiver Sicherheitsvorkehrungen abzulehnen13.
Einem eigenständigen Akt teleologischer Reduktion entspringt es dagegen, die Strafbarkeit auch für den Fall zu verneinen, dass ein dem Händler persönlich bekannter Kunde
telefonisch oder schriftlich eine pornografische Schrift bestellt und ausgeliefert erhält14.
Gegenstand des Versandhandels ist die Übersendung von
Trägermedien, aber auch die Übermittlung pornografischer
Dateien über das Internet im Wege des elektronischen Versands im Sinne des § 1 Abs. 4 JuSchG (video-on-demand)15 –
wobei (gerade) auch hier das eben zuvor zur Altersverifikation Gesagte gilt16. Erfasst vom „Versandhandel“ der Nr. 3
sind nicht nur Kaufgeschäfte, sondern ist es auch die bloße
Vermietung von Pornografika, da es unter Schutzaspekten
keinen Unterschied macht, ob dauerhafter oder nur vorübergehender Verbleib beim Empfänger intendiert ist17.
d) Gewerbliche Leihbüchereien und Lesezirkel
„Gewerbliche Leihbüchereien“ sind Unternehmen, die
zwecks Gewinnerzielung in ihren Geschäftsräumen Bücher
und andere Druckschriften (nicht relevant: sonstige Medien
wie DVDs etc.) zum zeitlich befristeten Gebrauch entgeltlich
überlassen (d.h. vermieten)18; nicht erfasst sind öffentliche
Bibliotheken, auch wenn sie Benutzungsgebühren erheben19.
„Gewerbliche Lesezirkel“ sind Unternehmen, die der Gewinnerzielung wegen Druckschriften (auch hier: keine Tonoder Bildträger) nunmehr außerhalb fester Geschäftsräume
mehreren Personen im Wege des Umlaufs gegen Entgelt zeitlich befristet zugänglich machen20. Bei diesen beiden vom
Gesetz genannten Formen des Überlassens fürchtet der Gesetzgeber eine besondere Breitenwirkung und damit einhergehende größere Gefahr des Zugänglichwerdens für Minderjährige21.
Dass aufgrund der vom Gesetz verwendeten Begriffe
„Leihbücherei“ und „Lesezirkel“ nur Druckschriften (Bücher,
Zeitungen, Zeitschriften), nicht aber die mittlerweile als
Pornografika weit bedeutenderen sonstigen Medien (insb.
Bild- und Tonträger) Relevanz erlangen22, mutet geradezu
kurios an und ist der Überalterung des § 184 StGB (vgl. oben
III. 4.) geschuldet – schadet aber letztlich insoweit nicht, als
hier statt dessen Nr. 3a eingreift (vgl. nachf. Abschnitt 4.).
8
Vgl. OLG München NJW 2004, 3344 (3346); anders jedoch
(auf den Aspekt auch des Konfrontationsschutzes bei § 184
Abs. 1 Nr. 3 StGB hinweisend) Wolters (Fn. 2), § 184
Rn. 36; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 981.
9
OLG München NJW 2004, 3344 (3346) mit insoweit zust.
Anm. Liesching, NJW 2004, 3303 (3304); Hörnle (Fn. 3),
§ 184 Rn. 56; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 32; dagegen jedoch
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 981, 983.
10
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 57.
11
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 982; Laufhütte/Roggenbuck, in:
Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 6, 12. Aufl. 2009, § 184
Rn. 24; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 32.
12
So ganz richtig Laubenthal (Fn. 2), Rn. 980, der denn auch
die Anwendbarkeit des § 1 Abs. 4 JuSchG ablehnt.
13
So aber Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184 Rn. 24 mit
Fn. 43; insofern konsequent beides verneinend dagegen
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 981, 983; ebenfalls konsequent beides bejahend Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 58.
14
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184 Rn. 24; Eisele
(Fn. 2), § 184 Rn. 32; ebenso Schreibauer, Das Pornographieverbot des § 184 StGB, 1999, S. 222.
15
Vgl. Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 56; zur Abgrenzung vom
bloßen (unter § 184 Abs. 1 Nr. 1, 2 StGB fallenden) Zugänglichmachen von Internetinhalten durch Passwort-Vergabe
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 985; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 32.
16
So explizit auch Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 56.
17
BVerfG NStZ 1982, 285; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 56;
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 984; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 32.
18
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 60; ähnl. Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 987.
19
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 60; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 987.
20
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 60; ein wenig abweichend
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 989.
21
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 986.
22
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 60; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 987.
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ZJS 3/2016
298
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 2
Auch bei dieser Tatbestandsvariante entfällt im Falle zuverlässiger Alterskontrolle die Strafbarkeit23, vgl. oben 1. b)
bb) sowie zuvor schon III. 3. a).
4. § 184 Abs. 1 Nr. 3a StGB: Gewerbliche Gebrauchsgewährung
Nachdem der eben behandelte Tatbestand der Nr. 3 zwar
grundsätzlich auch die Vermietung von Pornografika (insb.
im Versandhandel, vgl. oben 3. c) erfasst, nicht aber – außerhalb des Bereichs gewerblicher Leihbüchereien bzw. Lesezirkel (oben 3. d) – gerade auch die Vermietung in Geschäftsräumen (wie einer Videothek), welche der Kunde betritt (vgl.
oben 3. b), entstünde – vor allem im Hinblick auf den praktisch bedeutsamen „Verleih“ pornografischer Filme – eine
kaum hinnehmbare Regelungslücke24.
Diese Lücke schließt nun gezielt der erst nachträglich25
eingefügte Tatbestand der Nr. 3a, der jegliche gewerbliche
Gebrauchsgewährung, die außerhalb für Minderjährige unzugänglicher und uneinsehbarer Ladengeschäfte erfolgt,
unter Strafe stellt. Es wird damit eine Konzentration des
legalen Vermietgeschäfts mit Pornografika auf derartige,
gegenüber Minderjährigen abgeschottete, spezielle Ladengeschäfte bezweckt26.
a) Zur Gewerblichkeit der Gebrauchsgewährung
Die Vermietung bzw. Gebrauchsgewährung muss „gewerblich“ sein, d.h.27 zum einen entgeltlich zum Zwecke der Gewinnerzielung sowie zum anderen in der Absicht, sich aus
der fortlaufenden Tätigkeit eine nicht nur vorübergehende
Einnahmequelle zu schaffen; einmalige oder nur gelegentliche Tätigkeiten genügen nicht. Umfasst sind neben der (in
Nr. 3a explizit genannten) Vermietung auch mietähnliche Geschäfte, wie das „unentgeltliche“ Entleihen gegen Bezahlung
eines Mitgliedsbeitrags28.
b) Zur Gebrauchsgewährung in Ladengeschäften
Nicht unter Nr. 3a fällt das zur Gebrauchsgewährung erfolgende Anbieten und Überlassen pornografischer Schriften,
wenn es in „Ladengeschäften“ geschieht, die Minderjährigen
nicht zugänglich und die von ihnen nicht einsehbar sind (zu
dem auch in Nr. 1, 3 genannten Anbieten und Überlassen vgl.
oben 1. a) aa) und 1. a) bb), zu den auch in Nr. 2 genannten
Merkmalen zugänglich und einsehbar oben 2. a) und 2. b).
Dabei sind Ladengeschäfte nur solche (als Laden ausgestattete29) Geschäftslokale – gleichviel ob ortsgebunden oder
mobil (wie z.B. bei einem „besonders für diese gewerblichen
23
So auch Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 34.
Näher Laubenthal (Fn. 2), Rn. 992; Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 36.
25
Durch Art. 3 Nr. 2 des Gesetzes v. 25.2.1985 = BGBl. I
1985, S. 425 (429), in Kraft ab 1.4.1985.
26
Vgl. schon BT-Drs. 10/2456, S. 25; siehe auch BGHSt 48,
278 (282); Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 36.
27
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 993.
28
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 994 mit weiteren Beispielen.
29
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 38.
24
STRAFRECHT
Zwecke hergerichteten Lkw mit Kastenaufbau hinter der
Fahrerkabine“30) –, die „räumlich und organisatorisch selbstständig sind und deshalb einen eigenen Zugang von der Straße oder von einer allgemeinen Verkehrsfläche her haben“31.
Dies ist auch gegeben bei Einzelgeschäften innerhalb eines
Einkaufszentrums oder in einer Ladenpassage (und damit mit
Zugang von einer allgemeinen Verkehrsfläche aus), nicht
aber bei Nebenräumen, ja noch nicht einmal bei einer verselbständigten Abteilung („shop in the shop“) innerhalb eines
allgemein zugänglichen Geschäfts, selbst wenn sie gegenüber
dem allgemein zugänglichen Bereich durch Tür und Zugangskontrolle abgegrenzt sind32. Besteht ein eigener Eingang von der Straße aus, schadet jedoch auch eine Verbindung zu den sonstigen Geschäftsräumen nicht, wenn sie sorgfältig kontrolliert wird33.
c) Insbesondere: die Automatenvideothek
Auch eine Automatenvideothek ohne Personal ist ein „Ladengeschäft“, da dieser Begriff insoweit nicht mehr verlangt, als
dass in den Räumlichkeiten – und sei es in einem automatisierten Verfahren – entsprechende „Geschäfte“ betrieben
werden34. Sie ist auch ein im Rahmen der Nr. 3a privilegiertes Ladengeschäft, wenn durch technische Maßnahmen ein
effektiver Schutz gegen das Betreten bzw. Einsehen durch
Minderjährige gewährleistet ist35. Dass es hier (wie übrigens
auch sonst im Rahmen des Nr. 3a) nach der Vorstellung des
Gesetzgebers gerade auf die Unzugänglichkeit des Geschäftsraums ankommen soll36, nicht aber darauf, ob das Anmieten
selbst an einen (erst- oder nochmaligen) Altersnachweis
geknüpft wird, ergibt sich aus dem insoweit klaren Wortlaut
des Gesetzes37; daher ist bei schon am Eingang der Videothek
erfolgender effektiver Zugangskontrolle eine nochmalige
Überprüfung beim Anmieten am Automaten nicht erforderlich38.
30
So im Fall OLG Hamm NStZ 1988, 415; siehe auch Eisele
(Fn. 2), § 184 Rn. 38; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 65.
31
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 38 (Hervorhebung des Verf.);
siehe auch BGHSt 48, 278 (282); Hörnle (Fn. 3), § 184
Rn. 65.
32
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 38; zu Recht krit. jedoch Hörnle
(Fn. 3), § 184 Rn. 65.
33
LG Hamburg NJW 1989, 1046; Hörnle (Fn. 3), § 184
Rn. 65; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184 Rn. 28.
34
Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 40; Hörnle (Fn. 3), § 184
Rn. 66; siehe auch BGHSt 48, 278 (282 ff.); Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 63. Aufl. 2016,
§ 184 Rn. 14, die freilich die Aspekte „Ladengeschäft“ und
„Zugangskontrolle“ miteinander vermischen.
35
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 66; siehe auch BGHSt 48, 278
(282 ff.).
36
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 39: „darf das Ladengeschäft insgesamt für Jugendliche nicht zugänglich sein“; Hörnle
(Fn. 3), § 184 Rn. 66: „dass schon das Ladengeschäft Minderjährigen nicht zugänglich ist“.
37
I.d.S. auch Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 66 a.E.
38
Vgl. Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 66; insofern unklar BGHSt
48, 278 (282 ff.); Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 40.
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299
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
d) Zur Frage teleologischer Reduktion
Eine andere Frage im Hinblick gerade auf den Fall der Automatenvideothek (soeben c) ist es freilich, ob eine Verneinung des Tatbestandes im Zuge teleologischer Reduktion
auch dann vorzunehmen ist, wenn (bei nicht hinreichend
kontrolliertem Zutritt zur Videothek) die effektive Alterskontrolle erst beim Anmietvorgang selbst am Automaten stattfindet.
Angesichts des Umstandes, dass die Rechtsprechung zu
§ 184 Abs. 1 Nr. 2 StGB entschieden hat, dass ein „Zugänglichmachen“ nicht vorliege, wenn „Vorkehrungen getroffen
werden, die den visuellen Zugang Minderjähriger zu dem
Inhalt der Filme regelmäßig verhindern“39, und „Entsprechendes […] für den Ausnahmetatbestand des § 184 Abs. 1
Nr. 3a StGB gelten“ müsse40, wird man die Frage im Grundsatz zu bejahen haben – wenn auch nur unter der (vom BGH
in seiner Automatenvideotheken-Entscheidung41 nicht angesprochenen) einschränkenden Voraussetzung, dass dem nun
in der Videothek befindlichen Minderjährigen auch keine der
Werbung oder der Auswahl zu vermietender Pornofilme
dienenden pornografischen Darstellungen zu Augen kommen
können, unter der Voraussetzung also, dass derartige Darstellungen nur am Bedienmonitor des Ausgabeautomaten und
erst nach positiv verlaufener Altersverifikation (etwa mittels
Fingerabdruck-Scans) angezeigt werden.
Bejaht man die Anwendbarkeit – nicht nur der Nr. 3 (vgl.
oben 3. c), sondern – auch der Nr. 3a auf die Vermietung von
Filmen per Datenübermittlung (sog. video-on-demand)42 –
was aber voraussetzt, bei bloßer Datenübertragung ohne
Verfügungsmöglichkeit über den Datenspeicher eine „vergleichbare Gewährung des Gebrauchs“ anzunehmen43 –, so
ist auch hier (schon um Wertungswidersprüche zu Nr. 3 zu
vermeiden) bei zuverlässiger Altersverifikation mittels teleologischer Reduktion von Tatbestandslosigkeit auszugehen44.
e) Die Regelung des Abs. 2 S. 2
Für den Geschäftsverkehr mit gewerblichen Entleihern (etwa
den Betreibern eines Pornokinos) begründet § 184 Abs. 2 S. 2
StGB hinsichtlich Nr. 3a einen Tatbestandsausschluss – und
zwar selbst für den Fall, dass der „Verleih“ in einer Räumlichkeit vonstatten geht, die Minderjährigen ohne Weiteres
zugänglich ist45; allerdings greift hier schon Nr. 2 ein.
39
BVerwGE 116, 5 (14 ff.); zustimmend zitiert von BGHSt
48, 278 (285).
40
BGHSt 48, 278 (285).
41
BGHSt 48, 278.
42
So zu Recht Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 67.
43
Dies ablehnend Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 37; Eschelbach,
in: Matt/Renzikowski (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar,
2013, § 184 Rn. 43.
44
So überzeugend Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 67.
45
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1001; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 40.
5. § 184 Abs. 1 Nr. 4 StGB: Einführen im Wege des Versandhandels
Der Tatbestand der Nr. 4 ist verwirklicht, wenn jemand eine
pornografische Schrift „im Wege des Versandhandels einzuführen unternimmt“. Er trifft als Unternehmensdelikt – mit
Vollendungsstrafbarkeit (!) – sowohl den, der die Schriften
einführt (nachf. a), als auch den, der dies nur versucht (näher
unten b).
a) Zum Merkmal des „Einführens“
„Einführen“ bedeutet das Verbringen der pornografischen
Schrift in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland46. Da es dem § 184 Abs. 1 StGB – und insb. auch seiner
Nr. 4 – nicht um den Schutz wirtschaftlicher Interessen zu tun
ist, geht es bei ihm auch nicht (anders als in § 4 Abs. 2 Nr. 6
AWG) um das Verbringen in das Wirtschaftsgebiet der BRD,
das (gem. § 4 Abs. 1 Nr. 1, 2 AWG) einen anderen räumlichen Zuschnitt aufweist47, sondern um den räumlichen Geltungsbereich deutschen Strafrechts im Sinne des § 3 StGB
(„Inland“)48.
„Verbringen“ meint dabei „die von menschlichem Willen
gesteuerte tatsächliche Beförderung […] über die Grenze“49;
es genügt, wenn jemand bewirkt, dass die Schrift die Grenze
überschreitet50. Das „Einführen“ ist somit bereits vollendet,
wenn die Schrift die Grenze überschreitet51 – und zwar schon
beim Erreichen einer vorgeschobenen Grenzstelle52. Beendigung tritt hingegen erst ein mit der Ankunft der Schrift am
Bestimmungsort bzw. beim Adressaten53. Bei der Durchfuhr
durch das Bundesgebiet ist – schon im Sinne begrifflicher
46
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 69; Hilgendorf, in: Satzger/
Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 184 Rn. 37; siehe auch BGHSt 34, 252
(254); OLG Schleswig NJW 1971, 2319; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184 Rn. 30; B. Heinrich, in: Wandtke/Ohst
(Hrsg.), Medienrecht, Bd. 4, 3. Aufl. 2014, Rn. 188.
47
Durch Einbeziehung auch zweier österreichischer Gebiete
(siehe § 4 Abs. 1 Nr. 1 AWG) bzw. Ausschluss des Gebiets
der deutschen Gemeinde Büsingen (§ 4 Abs. 1 Nr. 2 AWG).
I.d.S. auch B. Heinrich (Fn. 46), Rn. 188.
48
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184 Rn. 30; Wolters
(Fn. 2), § 184 Rn. 41; siehe auch BGHSt 34, 252 (254).
49
Diemer, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze,
Kommentar, 205. Lfg., Stand: Oktober 2015, § 4 AWG
Rn. 10 (siehe auch Rn. 14: durch menschliches Zutun);
Schreibauer (Fn. 14), S. 237.
50
Vgl. (zum „Einführen von Propagandamitteln“ in § 86
Abs. 1 StGB) Steinmetz, in: Joecks/Miebach (Fn. 3), § 86
Rn. 34.
51
BGHSt 31, 252 (254); 34, 180 (181); Steinmetz (Fn. 50),
§ 86 Rn. 34; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 42.
52
König, NStZ 1995, 1 (2); Steinmetz (Fn. 50), § 86 Rn. 34.
53
Laufhütte/Kuschel, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 4,
12. Aufl. 2007, § 86 Rn. 33; Steinmetz (Fn. 50), § 86 Rn. 34.
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ZJS 3/2016
300
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 2
Voraussetzung54 – auch eine Einfuhr (ein „Einführen“) gegeben55.
Ob auch der ins Inland gerichtete Datentransfer per Internet als „Einführen“ begreifbar ist, mag mangels körperlichen Verbringens zweifelhaft erscheinen56. Zu bejahen57 ist
es aber nicht zuletzt angesichts der – auch auf § 184 Abs. 1
Nr. 4 StGB übertragbaren58 – Entscheidung des Gesetzgebers, zum einen in § 1 Abs. 4 JuSchG den Begriff des „Versandhandels“ auch auf die Fälle des „elektronischen Versands“ zu erweitern (vgl. bereits oben 3. c) und zum anderen
dann in § 15 Abs. 1 Nr. 5 JuSchG vom „Einführen im Wege
des Versandhandels“ zu sprechen. Anders verhält es sich
aber hinsichtlich der grenzüberschreitenden Ausstrahlung
einschlägigen Materials über Rundfunk oder Fernsehen: Hierin liegt kein „Einführen“59.
b) Das Unternehmen des Einführens
Nachdem bereits das „Unternehmen“ des Einführens unter
Strafe gestellt ist60, genügt – wie bei jedem Unternehmensdelikt (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB) – bereits der Versuch der
Einfuhr zur Tatbestandsverwirklichung und damit zur Vollendungsstrafbarkeit61, so dass z.B. ein Abfangen beim Zoll
die Strafbarkeit nicht hindert62.
Bereits das Aufgeben im Ausland zur Versandstelle (Post)
genügt63, ebenso das In-Bewegung-Setzen der Schrift von
einem grenznahen Ort aus in Richtung Grenze64.
c) Das Einführen im Wege des Versandhandels
Knüpft das Merkmal des „Einführens“ maßgeblich nur einfach daran an, dass jemand bewirkt, dass die Schrift die
Grenze überschreitet (vgl. oben a), so kann ein „Einführen“
an sich bei jedem gegeben sein, der entweder die Schrift
selbst über die Grenze bringt bzw. von einem anderen bringen lässt, oder der sie vom Ausland ins Inland versandt hat
oder der durch Bestellung das Bringen bzw. das Versenden
54
OLG Schleswig NJW 1971, 2319; Steinmetz (Fn. 50), § 86
Rn. 34.
55
Vgl. Fn. 54 sowie Heger, in: Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 184 Rn. 5; a.A. Laufhütte/Kuschel (Fn. 53), § 86 Rn. 33.
56
Abl. daher (wenn auch inkonsequent mit Versandhandel
argumentierend) Schreibauer (Fn. 14), S. 239 f.
57
So auch Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 67.
58
Vgl. (zu § 184 Abs. 1 Nr. 3 StGB) OLG München NJW
2004, 3344 (3346); Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 56.
59
Insoweit i.E. richtig Schreibauer (Fn. 14), S. 239 f.
60
Zu Recht krit. hierzu Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 43.
61
Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 41; Hilgendorf (Fn. 46), § 184
Rn. 37; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 69.
62
Hilgendorf (Fn. 46), § 184 Rn. 37.
63
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 42; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 69;
Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 42.
64
BGHSt 36, 249 (250); Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11),
§ 184 Rn. 30; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 69.
STRAFRECHT
ins Inland initiiert hat65. Aufgrund jedoch einerseits der Begrenzung des Tatbestandes der Nr. 4 auf die Fälle des Einführens „im Wege des Versandhandels“ (zum Versandhandel –
im Sinne des § 1 Abs. 4 JuSchG – vgl. bereits oben 3. c)
sowie andererseits mit Blick auf die ergänzende Regelung der
Nr. 8 sind allerdings insoweit Einschränkungen im Anwendungsbereich zu beachten:
So ist denn nach allgemeiner Auffassung66 davon auszugehen, dass – im Zusammenspiel mit Nr. 8 – von Nr. 4 nur
der aus dem Ausland ins Inland an den Endverbraucher versendende Versandhändler erfasst wird, nicht dagegen der aus
dem Inland heraus bestellende Zwischenhändler oder der ihn
beliefernde ausländische Versandhändler (für die beide Nr. 8
gilt, vgl. unten 9. b) – und auch nicht der die Ware unmittelbar oder über einen Zwischenhändler beziehende Letztabnehmer67, welcher keinem der beiden Tatbestände (Nr. 4 und
Nr. 8) unterfällt und der (unter dem Aspekt notwendiger
Beteiligung) sich auch nicht als Teilnehmer strafbar macht68.
Dies liegt, wie gesagt, nicht per se am Merkmal des „Einführens“, sondern beruht vielmehr darauf, dass aufgrund der
jeweiligen Zielsetzung der beiden Normen (Nr. 4 und Nr. 8)
jeweils nur bestimmte Fälle des „Einführens“ als für sie relevant erachtet werden.
d) Zur Problematik des Versendens im Ausland
In hohem Maße problematisch ist die Regelung der Nr. 4 im
Hinblick darauf, dass einerseits das dem Tatbestand unterfallende Versenden im Ausland stattfindet, andererseits aber § 6
Nr. 6 StGB die Geltung des deutschen Strafrechts für Auslandstaten auf die Fälle harter Pornografie gem. §§ 184a,
184b und 184c StGB begrenzt: Ganz überwiegend geht man
davon aus, dass die Regelung des § 184 Abs. 1 Nr. 4 StGB –
über ihren materiellen Gehalt hinaus – für den Fall des Versandhandels zugleich eine Erweiterung des Weltrechtsgrundsatzes über die Grenzen des § 6 Nr. 6 StGB hinaus darstellt69.
Andere widersetzen sich einer solchen Ausweitung deutscher
Strafgewalt und erklären, die Strafnorm ermögliche lediglich
„ein selbständiges Einziehungsverfahren, wenn das pornographische Material bei einer Zollkontrolle erfasst wird“70, –
oder sie umschiffen das Problem, indem sie (obwohl § 184
Abs. 1 Nr. 4 StGB ein abstraktes Gefährdungsdelikt dar65
Eben diese drei Varianten nennen auch Laufhütte/Kuschel
(Fn. 53), § 86 Rn. 33; siehe auch Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 1045.
66
Vgl. OLG Hamm NJW 2000, 1965 f.; Fischer (Fn. 34),
§ 184 Rn. 15; Hilgendorf (Fn. 46), § 184 Rn. 38; Hörnle
(Fn. 3), § 184 Rn. 68, 94; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1003,
1045.
67
Insb. auch hierzu mit guten, lesenswerten (!) Argumenten
OLG Hamm NJW 2000, 1965 (1966).
68
OLG Hamm NJW 2000, 1965 f.; Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 42; Schreibauer (Fn. 14), S. 361; Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 1003.
69
Vgl. Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 41; Wolters (Fn. 2), § 184
Rn. 42; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1002.
70
Eschelbach (Fn. 43), § 184 Rn. 46; siehe auch Schroeder
(Fn. 1), 23/18.
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301
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
stellt71, vgl. oben III. 2.) über § 9 Abs. 1 StGB eine Inlandstat
annehmen, „weil der Erfolg im Inland eintritt“72.
6. § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB: Feilbietendes Anbieten und Bewerben
Nr. 5 erfasst zum einen das an die Allgemeinheit gerichtete
feilbietende „Anbieten“ sowie das „Bewerben“ pornografischer Schriften (nachf. a). Dabei beschränken sich die beiden
Werbeverbote auf zwei mögliche Fallkonstellationen: darauf
nämlich, dass die Tathandlung entweder „öffentlich an einem
Ort, der Personen unter achtzehn Jahren zugänglich ist oder
von ihnen eingesehen werden kann“, erfolgt (hierzu unten b)
oder aber „durch Verbreiten von Schriften außerhalb des
Geschäftsverkehrs mit dem einschlägigen Handel“ (unten c).
a) Das Anbieten und Bewerben
Der Text des § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB ist erst jüngst geändert
worden: War zuvor noch davon die Rede, dass jemand pornografische Schriften (auf die im Tatbestand beschriebene
Weise) „anbietet, ankündigt oder anpreist“, heißt es seit der
Neufassung durch das 49. StÄG von 201573 stattdessen nun:
wer sie „anbietet oder bewirbt“.
aa) Das (feilbietende) Anbieten
Das – auch nach der Gesetzesänderung nach wie vor relevante – „Anbieten“ im hier verstandenen Sinn meint nicht den
Fall des – schon zuvor besprochenen (vgl. oben 1. a) aa) –
individuellen Anbietens im Sinne eines konkreten Angebots
auf Überlassen bzw. Zugänglichmachen der betreffenden
Schrift gegenüber einem bzw. mehreren bestimmten Adressaten74. Es erfasst vielmehr (nur) das überindividuelle Angebot
an eine Personenmehrheit, also das (nicht unbedingt öffentliche75) an einen unbestimmten Personenkreis gerichtete Feilbieten76 – z.B. durch Plakate, Lautsprecher- oder Rundfunkwerbung, Werbebroschüren, Aufstellen eines Automaten,
Ausstellen im Schaufenster bzw. im frei zugänglichen Verkaufsraum oder aber auch durch Auflistung eines entsprechenden Sortiments im Internet77.
Letztlich geht es um die Aufforderung an eine Mehrzahl
noch nicht individualisierter potentieller Kunden, von sich
aus ein Kauf- oder Mietangebot zu machen78, stellt es mithin
– zivilrechtlich gesprochen – eine invitatio ad offerendum
dar.
bb) Das Bewerben
Wie sich aus den einschlägigen Gesetzesmaterialien ergibt,
ist mit „Bewerben“ in dem durch das 49. StÄG neu gestalteten Tatbestand der Nr. 5 erklärtermaßen nichts anderes gemeint, als das, was vor der Gesetzesänderung in dieser Vorschrift durch die Begriffe „Ankündigen“ und „Anpreisen“
(vgl. oben vor aa) zum Ausdruck gebracht war; Zitat: „Ohne
inhaltliche Bedeutung und lediglich eine redaktionelle Änderung ist die Ersetzung der Wörter ‚ankündigen und anpreisen‘
durch das Wort ‚bewerben‘“.79 Ging es dem Gesetzgeber
(wie bei anderen Änderungen durch das 49. StÄG) auch bei
dieser Umformung lediglich um eine „vorsichtige Neuordnung und redaktionelle Bereinigung der §§ 130, 131, 184 bis
184c StGB“80, gibt es keinen Grund, in dem neu geschaffenen „Bewerben“ etwas anderes zu sehen, als eben eine Zusammenfassung von „Ankündigen“ und „Anpreisen“ in einem Wort.
(1) Unter „Ankündigen“ in § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB a.F.
war nach gängiger Formulierung jede Kundgabe zu verstehen, durch die auf eine – in jedenfalls nicht allzu ferner Zukunft liegende81 – Gelegenheit zum Bezug (wenn ein Überlassen der Schrift angestrebt ist) oder (wenn es nur um das
Zugänglichmachen, etwa eines Films, geht) zur Besichtigung
aufmerksam gemacht wird82. Essentiell ist also, dass – in
werbender Form – über Bezugsquellen bzw. Betrachtungsmöglichkeiten informiert wird83, wobei die rein sachliche
Darbietung der Informationen, frei von Befürwortung oder
Lob, bereits genügt84. Anders verhält es sich freilich, mangels
werbenden Charakters, bei erkennbar kritischer, gar ablehnender Positionierung85 (näher hierzu noch unten cc).
Gerade im Hinblick auf das Aufzeigen von Möglichkeiten
zum Bezug einer Schrift (anders als bei der ja per se zukunftsorientierten Ankündigung einer Filmvorführung86)
78
71
So denn auch der Einwand von Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 41.
72
Vgl. (dogmatisch nicht befriedigend) Hörnle (Fn. 3), § 184
Rn. 68.
73
49. StÄG v. 21.1.2015 = BGBl. I 2015, S. 10 ff., in Kraft
seit 27.1.2015.
74
Zur Notwendigkeit des Unterscheidens vgl. BGHSt 34, 94
(98); Schreibauer (Fn. 14), S. 188, 247; Hörnle (Fn. 3), § 184
Rn. 27.
75
Vgl. Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 47 (geschlossener Jugendclub); siehe auch § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB, der das Zusatzerfordernis des „öffentlich“ Anbietens denn auch explizit
nennt, vgl. dazu oben im Text nachf. b).
76
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 71; Wolters (Fn. 2), § 184
Rn. 47; siehe auch Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 47.
77
Vgl. diese und weitere Beispiele bei den soeben in Fn. 76
Genannten.
So hier und nachf. Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 71; siehe auch
Meier, NStZ 1985, 341 (342): „Vorschlag“.
79
BT-Drs. 18/2601, S. 24.
80
BT-Drs. 18/2601, S. 24.
81
Üblicherweise war denn auch von „naher Zukunft“ die
Rede, vgl. nur Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 47. – Zur Frage
einer Beschränkung überhaupt auf die erst künftige Gelegenheit vgl. gleich nachf. oben im Text.
82
RGSt 37, 142 (143); Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184
Rn. 32; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 45; B. Heinrich (Fn. 46),
Rn. 186; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1006.
83
B. Heinrich (Fn. 46), Rn. 186; Hörnle (Fn. 3), § 184
Rn. 72.
84
So explizit Hilgendorf (Fn. 46), § 184 Rn. 39.
85
Vgl. noch unten Fn. 104 sowie Hilgendorf (Fn. 46), § 184
Rn. 39; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184 Rn. 32.
86
Bei der die Kundgabe eines Vorführtermins allemal genügt, vgl. Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 72.
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ZJS 3/2016
302
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 2
STRAFRECHT
wird jedoch unterschiedlich beurteilt, ob von „Ankündigen“
nur bei erst künftiger, derzeit noch nicht bestehender Greifbarkeit der beworbenen Schrift zu sprechen ist87 (wie in Fall
1: „In Kürze ist bei uns das neue Porno-Magazin X erhältlich!“88) oder auch dann, wenn die Schrift bereits jetzt zu
bekommen ist89 (wie in Fall 2: „Das neue Porno-Magazin X
ist hier erhältlich! Jetzt zugreifen!“). Schon angesichts des
natürlichen Wortsinnes von „Ankündigen“ im Sinne des
Hinweisens auf ein in der Zukunft liegendes Ereignis90, nicht
zuletzt aber auch, um eine sachgerechte Abgrenzung zum
Merkmal „Anbieten“ zu ermöglichen, das in Fällen bereits
bestehender Verschaffbarkeit sowieso gegeben ist – vgl. oben
1. a) aa) (3) – und das bei entsprechend weiter Auslegung
von „Ankündigen“ ohne eigenständige Bedeutung bliebe91,
erscheint die engere Sichtweise überzeugend, in Fall 1 (nur)
ein „Ankündigen“ und in Fall 2 (nur) ein „Anbieten“ zu bejahen92.
(2) Unter „Anpreisen“ in § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB a.F.
war die lobende oder empfehlende Erwähnung bzw. Beschreibung entsprechender Schriften zu verstehen93, die Hervorhebung von Vorzügen, die Anerkennung günstiger Wirkungen, die rühmende Darstellung sowie die Beimessung
hohen Wertes94. Weder, so darf man auch unter der heutigen
Begrifflichkeit des „Bewerbens“ weiterhin zugrundelegen,
kommt es dabei darauf an, ob der Anpreisende vor hat, etwaigen Interessenten die Schrift später dann zu verschaffen oder
zugänglich zu machen95 (da es in Nr. 5 ja nur darum geht, ein
positives Interesse an der Schrift zu verhindern96), noch ist es
nötig, dass ein Hinweis auf mögliche Bezugsquellen gegeben
wird97; nur in Fällen fehlender Angabe einer Bezugsquelle
erlangt das „Anpreisen“ überhaupt erst einen gegenüber dem
„Anbieten“ und dem „Ankündigen“ eigenständigen Anwendungsbereich98.
87
97
So Meier, NStZ 1985, 341 (342); Schreibauer (Fn. 14),
S. 247 f.; i.d.S. auch Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 47, sowie
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 72 („erst zu einem späteren Zeitpunkt überlassen werden können“).
88
Beispiele (Fall 1 und Fall 2) von Schreibauer (Fn. 14),
S. 248.
89
So, wie aus den von ihnen gewählten Formulierungen
ersichtlich wird, die in Fn. 82 Genannten.
90
So (unter Hinweis auf den Duden) zu Recht Meier, NStZ
1985, 341 (342); siehe auch Schreibauer (Fn. 14), S. 248.
91
So überzeugend Meier, NStZ 1985, 341 (342): „Unterfall
des Ankündigens“; Schreibauer (Fn. 14), S. 247 f.
92
Vgl. auch die Überlegungen von Meier, NStZ 1985, 341
(342) zur geänderten Gesetzeslage.
93
Vgl. RGSt 37, 142 (143); OLG Hamburg NStZ 2007, 487;
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 73; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 45;
Hilgendorf (Fn. 46), § 184 Rn. 39; Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 1006; B. Heinrich (Fn. 46), Rn. 187.
94
So die weiteren von RGSt 37, 142 (143); OLG Hamburg
NStZ 2007, 487 genannten Kriterien.
95
OLG Hamburg NStZ 2007, 487; Hörnle (Fn. 3), § 184
Rn. 73; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 45; B. Heinrich (Fn. 46),
Rn. 187; a.A. Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 47; Laufhütte/
Roggenbuck (Fn. 11), § 184 Rn. 32.
96
So zum Normzweck ganz richtig Hörnle (Fn. 3), § 184
Rn. 73; siehe auch OLG Hamburg NStZ 2007, 487.
cc) Gemeinsame Erfordernisse
Die soeben benannten Werbeverbote bestehen unabhängig
vom Vorliegen einer Gewinnerzielungsabsicht99. Sie setzen
aber nicht nur voraus, dass die betreffende Schrift auch tatsächlich pornografisch ist100, sondern ebenso, dass mit dem
Anbieten bzw. Bewerben „das wohlwollende Interesse des
Publikums am Gegenstand der Werbung geweckt oder gefördert werden soll“101. Entscheidend ist also, dass die angesprochene Schrift „nicht in einer Weise dargestellt und erörtert wird, die gegenläufige Ziele erkennen lässt“102, so dass –
vgl. bereits oben bb) (1) – Beiträge, die sich erkennbar (und
nicht nur im Sinne eines Deckmantels103) kritisch mit der
Schrift befassen, auch dann kein Anbieten oder Bewerben
darstellen, wenn sie objektiv geeignet sind, Interesse an ihr zu
wecken104.
Fraglos muss die beworbene Schrift als solche hinreichend konkretisiert sein105 – sei es nun durch Nennung des
Titels, sei es (ohne Titelnennung) nur durch Angabe von Ort
und Zeit einer Filmvorführung bzw. durch (ggf. neutral verpacktes) Ausstellen im Verkaufsregal. Diskutiert wird aber,
ob unter dieser Voraussetzung auch eine ihrem Inhalte nach
bloß neutrale Werbung genügt106, d.h. eine Werbung ohne
aus sich selbst heraus gegebene Erkennbarkeit des pornografischen Charakters der Schrift.
In der Regel wird dies verneint107: Es müsse vielmehr jener Charakter „aus der Formulierung oder der Gestaltung von
OLG Hamburg NStZ 2007, 487; Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 45; Fischer (Fn. 34), § 184 Rn. 16.
98
Näher OLG Hamburg NStZ 2007, 487; siehe auch
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1006.
99
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 46; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 73
a.E.; siehe auch BGHSt 34, 218 (219 f.).
100
OLG Hamburg MDR 1978, 506; Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 1007; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 46.
101
BGHSt 34, 218 (220); siehe auch Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 46; Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 45; Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 1007.
102
BGHSt 34, 218 (220); ebenso Laubenthal, Sexualstraftaten, 2000, Rn. 811 mit anschaulichem Beispiel.
103
Näher hierzu BGHSt 34, 218 (220).
104
BGHSt 34, 218 (220); OLG Hamburg NStZ 2007, 487;
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 46; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1007;
speziell zum „Ankündigen“ ebenso B. Heinrich (Fn. 46),
Rn. 186.
105
I.d.S. auch BGHSt 34, 94 (98): „Das Objekt, für das geworben wird, muss in Erscheinung treten“; OLG München
NJW 1987, 453 (454): „genügend individualisiert“; siehe
auch Meier, NStZ 1985, 341 (342).
106
So noch RGSt 57, 359 (360); OLG München NJW 1987,
453; Schreibauer (Fn. 14), S. 243 ff.
107
BGHSt 34, 94 (98 f.); BGH NJW 1977, 1695 (1696);
1989, 409; ausf. Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1007 f.; Eisele
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303
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
Angebot, Ankündigung oder Anpreisung erkennbar sein“108;
erforderlich sei, dass er „für den durchschnittlich interessierten und informierten Betrachter aus der Schrift selbst heraus
erkennbar gemacht wird und von diesem deshalb auch so
verstanden werden muss“109. Nicht also genüge es, wenn sich
– wie bei der Erwähnung lediglich des per se unverfänglichen
Titels einer Schrift – jener Charakter „nur für denjenigen
erschließt, der mit dem Inhalt bereits vertraut ist“110, oder
wenn auf ihn nur aufgrund zusätzlichen Wissens zu schließen
ist111 – etwa bei der Werbung für einen Film mit unverfänglichem Titel aufgrund der Kenntnis, dass in dem betreffenden
Kino regelmäßig Pornofilme gespielt werden112.
Dem ist in der Sache prinzipiell zuzustimmen. Bei genauerem Hinsehen stellt sich die Frage nach der Strafbarkeit
auch neutraler Werbung jedoch nicht bereits im Hinblick auf
die Merkmale „Anbieten“ bzw. „Bewerben“, sondern handelt
es sich bei ihr (erst) um das darüber hinausgehende, weitere
Problem der intendierten Reichweite des Tatbestandes: Wird
eine Film-DVD mit neutralem Titel in unverfänglicher Weise
in Zeitungsanzeigen als Objekt möglichen Erwerbs präsentiert – gar mit Worten wie „Gelegenheit! unbedingt kaufen!“
(zweifellos) beworben –, so ist dies, auch ohne dass es auf die
Frage der Erkennbarkeit des pornografischen Inhalts der
DVD nur irgend ankäme, so oder so ein „Anbieten“ bzw.
„Bewerben“113. Ob dann freilich ein solches in neutraler
Form erfolgendes „Anbieten“ bzw. „Bewerben“ auch zur
Verwirklichung des Tatbestandes genügt, ist eine andere
Frage und hängt von dessen Zielsetzung ab.
b) Das „öffentliche“ Anbieten und Bewerben
aa) Was zunächst das „öffentliche“ Anbieten und Bewerben
als solches anlangt, so ist damit – wie auch sonst beim „öffentlichen“ Begehen im Rahmen zahlreicher anderer Delikte114 – der Fall gemeint, dass die betreffende Tathandlung
(Fn. 2), § 184 Rn. 46; siehe auch Laufhütte/Roggenbuck
(Fn. 11), § 184 Rn. 17, 32; Heger (Fn. 55), § 184 Rn. 5;
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 74; Hilgendorf (Fn. 46), § 184
Rn. 39; Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 48.
108
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 74, mit näheren Ausführungen
in Rn. 75; siehe auch Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 46.
109
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 46; vgl. bereits BGHSt 34, 94
(97, 99 f.); BGH NJW 1989, 409.
110
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 74.
111
Vgl. Fn. 112 sowie Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 74; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184 Rn. 32.
112
BGH NJW 1989, 409; Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2010,
§ 184 Rn. 31; siehe auch Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1008 f.
113
I.d.S. – speziell zum „Anbieten“ – auch Meier, NStZ
1985, 341 (342).
114
Vgl. nur Heger (Fn. 55), § 80a Rn. 2; Schäfer, in:
Joecks/Miebach (Fn. 3), § 130 Rn. 83; Hilgendorf, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Fn. 11), § 186 Rn. 13;
Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder (Fn. 2), § 186 Rn. 19;
Hilgendorf/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht,
2. Aufl. 2012, Rn. 360, 415; siehe auch Franke, GA 1984,
452 (458); Güntge, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier
„von einem größeren, individuell nicht feststehenden oder
jedenfalls durch persönliche Beziehungen nicht verbundenen
Personenkreis wahrgenommen werden kann“115. Damit sind
nicht nur Handlungen ausgeschlossen, die individualisierten
Einzelnen oder mehreren Einzelpersonen gegenüber erfolgen,
sondern auch solche, die im Rahmen einer geschlossenen
Personengruppe vorgenommen werden, wie etwa gegenüber
den Mitgliedern eines Vereins116 oder eines geschlossenen
Jugendclubs117 (wobei freilich auch hier entscheidend ist,
dass nicht auch außenstehende Dritte, gar Medienvertreter,
zugegen und imstande sind, von der Werbung Kenntnis zu
nehmen118). Ebenso wenig genügt die sukzessive Begehung
vor einer Vielzahl von Personen oder das nachträgliche Gelangen einer an sich vertraulichen Mitteilung an die Öffentlichkeit119.
Als „öffentliches“ Begehen kommt zunächst das Anbieten
bzw. Bewerben pornografischer Schriften in von vornherein
öffentlichem Raum in Betracht, wie etwa durch anpreisende
Reden auf dem Marktplatz, Anbringen von Plakaten in der
Fußgängerzone, Führen von Aufklebern auf einem Pkw oder
Aufsprühen bzw. Projizieren einschlägiger Werbebotschaften
auf eine Hauswand120. Von Bedeutung ist daneben aber auch
die Ausstrahlung über Rundfunk oder Fernsehen sowie das
Einstellen von Inhalten ins Internet, sofern sie für beliebige
Benutzer allgemein und ohne Weiteres abrufbar sind121 – was
nicht der Fall ist bei Bestehen wirksamer Zugangsbeschränkungen, die sicherstellen sollen, dass nur individuell ausgewählte Nutzer Zugriff nehmen können122 (Stichwort: „geschlossene Benutzergruppen“ – wozu der recht lockere
„Freundes“-Kreis des Inhabers eines Facebook-Profils nicht
gehört123). Auch der Massenversand von E-Mails oder SMS
(nicht aber der gezielte Versand an individuell ausgewählte
Personen) kann ein „öffentliches“ Begehen darstellen124.
bb) Nicht von Bedeutung für „öffentliches“ Begehen ist,
ob überhaupt jemand Kenntnis genommen hat, entscheidend
(Fn. 46), § 86a Rn. 7; Laufhütte/Kuschel (Fn. 53), § 90 Rn. 6,
sowie Eisele, Computer- und Medienstrafrecht, 2013, 6/108,
6/129; vgl. auch BGH NStZ 2015, 81 (83).
115
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 47; siehe auch Hörnle (Fn. 3),
§ 184 Rn. 76; Schreibauer (Fn. 14), S. 246 f.
116
Bsp. bei Lenckner/Eisele (Fn. 114), § 186 Rn. 19.
117
Bsp. bei Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 47; Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 1011.
118
Vgl. Lenckner/Eisele (Fn. 114), § 186 Rn. 19.
119
Vgl. zu beidem Lenckner/Eisele (Fn. 114), § 186 Rn. 19;
Regge/Pegel, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 186
Rn. 35 m.w.N.
120
Vgl. nur Lenckner/Eisele (Fn. 114), § 186 Rn. 19.
121
Lenckner/Eisele (Fn. 114), § 186 Rn. 19; Fischer (Fn. 34),
§ 186 Rn. 19; Hilgendorf/Valerius (Fn. 114), Rn. 360, 392,
416.
122
Vgl. nur Hilgendorf/Valerius (Fn. 114), Rn. 392.
123
So erst jüngst BGH NStZ 2015, 81 (83) zum „öffentlichen“ Verwenden im Rahmen des § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB.
124
Fischer (Fn. 34), § 186 Rn. 19; Regge/Pegel (Fn. 119),
§ 186 Rn. 35; Schäfer (Fn. 114), § 130 Rn. 84.
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ZJS 3/2016
304
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 2
ist allein die tatsächlich bestehende Möglichkeit zur Kenntnisnahme durch eine die Öffentlichkeit konstituierende Vielzahl von Personen125. So ist dementsprechend beim Anschlagen von Plakaten im öffentlichen Raum oder beim Führen
eines Autoaufklebers das Öffentlichkeitserfordernis per se als
erfüllt anzusehen, ebenso bei Rundfunk- und Fernsehsendungen. Ins Internet gestellte Inhalte (und das damit verbundene
tatbestandliche Begehen) sind auch unter dem Gesichtspunkt
der Kenntnisnahmemöglichkeit ohne Weiteres öffentlich,
wenn jedermann Zugang zu ihnen hat – wie auf frei abrufbaren Webseiten oder in offenen Chaträumen und Foren126.
Dabei schadet es nicht, dass „dieser Weg ggf. über Links
erschlossen […] und […] die Äußerung vom Empfänger
durch eigenes Handeln abgerufen werden muss“127.
In Fällen hingegen (wie dem des Verlesens eines Werbetextes auf öffentlichem Platz), in denen die Möglichkeit zur
Kenntnisnahme vieler nicht bereits in entsprechender Weise
generell zu bejahen (besser: als gegeben zu unterstellen) ist,
bedarf es im konkreten Fall des Nachweises, dass jene die
Öffentlichkeit konstituierende Personenvielzahl auch wirklich vor Ort und in der Lage war, das Begehen zur Kenntnis
zu nehmen. Die bloße Möglichkeit, dass sie immerhin hätten
anwesend sein können, genügt ebenso wenig, wie die Anwesenheit nur einiger weniger außenstehender Personen128.
Insofern ist es durchaus richtig, wenn man mitunter liest,
dass ein solcher Personenkreis „im Falle mündlicher Äußerungen tatsächlich anwesend sein und die Möglichkeit zur
Wahrnehmung haben“ müsse129. Jedoch stellt dies keine über
die zuvor erwähnte „Möglichkeit zur Kenntnisnahme“ hinausgehende Sondervoraussetzung dar und liegt es in Wahrheit auch nicht im Vorliegen (nur) „mündlicher“ (statt schriftlicher) Äußerungen begründet130. Es trägt vielmehr dem Umstand Rechnung, dass im Falle sowohl örtlich, wie auch zeitlich begrenzter Präsentation – wie etwa dem ebenso ortsgebundenen wie „flüchtigen“ Vorlesen eines Werbetextes, Vorzeigen eines Bildes oder Vorspielens einer Ton- oder Bildaufzeichnung – zwar von einer abstrakten, nicht aber ohne
Weiteres auch einer de facto bestehenden Erreichbarkeit der
erforderlichen Personenvielzahl ausgegangen werden kann131.
cc) Das „öffentliche“ Werben muss überdies (wie das tatbestandliche Handeln in Nr. 2) an einem (auch) Minderjährigen zugänglichen oder einsehbaren Ort geschehen (hier gilt
das zu Nr. 2 oben in 2. a)/b) Gesagte ganz entsprechend),
wobei es auch hier (wie in Nr. 2, vgl. oben 2. c) erforderlich
STRAFRECHT
ist, dass Minderjährige gerade auch zu dem Zeitpunkt Zutritt
zu dem Ort (bzw. die Möglichkeit der Einsichtnahme) haben,
an dem die Pornografie dort angeboten bzw. beworben wird.
Die bloße „Tauglichkeit des Ortes“ als solche genügt noch
nicht, so dass etwa das sukzessive Ansprechen einer Vielzahl
von Personen auf öffentlicher Straße aufgrund des darin liegenden individualisierenden und von daher nicht „öffentlichen“ Vorgehens nicht erfasst ist132.
In diesem Zusammenhang im Grunde überflüssig ist der
Hinweis, dass Werbung in Fernsehen, Rundfunk und Internet
per se unter Nr. 5 fällt133, da – selbstverständlich! – Rundfunkempfang und Internetzugang immer auch an Orten erfolgt, die Minderjährigen zugänglich sind134.
Gerade hierzu ist aber wiederum zu beachten, dass technische Zugangserschwerungen durch effektive Altersverifikationssysteme bei Inhalten in Fernsehen oder Internet im Zuge
teleologischer Reduktion zum Tatbestandsausschluss führen
(vgl. bereits oben 2. d) sowie zuvor schon 1. b) cc) und
III. 3. a). Nicht jedoch kommt eine teleologische Reduktion
aufgrund dessen in Betracht, dass das Auftauchen von Pornografiewerbung im Internet (insb. durch Pop-Up-Fenster)
schon längst geradezu ubiquitär ist; eine solche „Öffnung des
Werbemarktes“ läge allein in der Hand des Gesetzgebers135.
c) Die Begehung durch Verbreiten von Schriften
Bei der Tatbestandsvariante des Werbens „durch Verbreiten
von Schriften“ – im Sinne einer „Tätigkeit, die darauf gerichtet ist, die Schrift ihrer körperlichen Substanz nach durch
Weitergabe einem größeren Personenkreis zugänglich zu
machen“136 (zur Frage des „körperlosen“ Verbreitens von
Schriften über das Internet vgl. BGHSt 47, 55137) – ist zu
beachten, dass es hier nicht um die pornografischen Schriften
geht, die beworben werden, sondern um die Schriften, mit
denen für jene Pornografika geworben wird (man denke an
Flyer, Kataloge, Filmlisten etc.); bei § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB
ist also demgemäß zwischen zwei Arten von Schriften zu
unterscheiden.
Als von dem Verbreitensverbot der Nr. 5 erfasste Werbeschriften kommen aber, da sich in Nr. 5 kein Verweis auf § 11
Abs. 3 StGB findet, wegen der daraus folgenden Unanwendbarkeit dieser Norm nur Schriften i.e.S. (vgl. oben IV. 1.) in
Betracht, nicht jedoch sonstige Werbeträger in Form der in
132
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1011; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 47.
Explizit hierzu aber Schreibauer (Fn. 14), S. 256 ff.;
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 76.
134
Ausf. hierzu Schreibauer (Fn. 14), S. 257: Es genügt die
Zugänglichkeit irgendeines Empfangsortes.
135
So ganz richtig Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 76.
136
Eisele (Fn. 114), 6/36, 6/101; entspr. Laufhütte/Kuschel
(Fn. 53), § 86 Rn. 19; Fischer (Fn. 34), § 86a Rn. 15a;
Güntge (Fn. 114), § 86 Rn. 10; siehe auch BGH NJW 1999,
1979 (1980) i.A.a. BGHSt 13, 257 (258); 18, 63 (64); BGH
NJW 2005, 689 (690); BGH NStZ 2012, 564.
137
Ausf. zum Thema und eine solche Möglichkeit ablehnend
M. Heinrich, in: Hefendehl (Hrsg.), Streitbare Strafrechtswissenschaft, Festschrift für Bernd Schünemann zum 70. Geburtstag am 1. November 2014, 2014, S. 597.
133
125
Vgl. nur Lenckner/Eisele (Fn. 114), § 186 Rn. 19.
Hilgendorf/Valerius (Fn. 114), Rn. 360, 392.
127
So ganz richtig Fischer (Fn. 34), § 186 Rn. 19.
128
So ausdrücklich Hilgendorf (Fn. 114), § 186 Rn. 13;
Lenckner/Eisele (Fn. 114), § 186 Rn. 19.
129
Hilgendorf (Fn. 114), § 186 Rn. 13 (Hervorhebungen des
Verf.); ebenso Lenckner/Eisele (Fn. 114), § 186 Rn. 19.
130
Auf diesem Gegensatz aufbauend aber u.a. die in Fn. 129
Genannten; noch wieder anders differenzieren Laufhütte/
Kuschel ([Fn. 53], § 90 Rn. 8) zwischen „mündlichen Äußerungen“ und „optischem Zugänglichmachen der Äußerung“.
131
Durchaus i.d.S. spricht Fischer (Fn. 34), § 186 Rn. 16 von
der „konkreten Möglichkeit der Wahrnehmung“.
126
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305
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
§ 11 Abs. 3 StGB ergänzend genannten „Ton- und Bildträger,
Datenspeicher, Abbildungen und anderen Darstellungen“138.
Dies mag sachlich unbefriedigend sein139, kann jedoch, will
man sich nicht dem Vorwurf verbotener Analogie aussetzen,
allein vom Gesetzgeber korrigiert werden140. Auch § 184d
Abs. 1 StGB vermag hier keine Abhilfe zu schaffen, da bloße
Werbung für Pornografie, die selbst keine pornografischen
Elemente aufweist, dem in § 184d Abs. 1 S. 1 StGB enthaltenen Erfordernis des Zugänglichmachens pornografischer
Inhalte nicht genügt.
Letztlich ist dies aber weitgehend unschädlich, da die mit
Abstand meisten der damit über §§ 184 Abs. 1 Nr. 5, 184d
Abs. 1 S. 1 StGB nicht erfassbaren Fälle – insb. die gesamte
Rundfunk- und Internetwerbung – ein „öffentliches“ Begehen
darstellen141 (vgl. oben b); überdies ist zu vermerken, dass in
Bezug auf die Übermittlung von Pornografie über Rundfunk
oder Internet richtigerweise (im Gegensatz freilich zur Rechtsprechung des BGH, vgl. BGHSt 47, 55) auch im Geltungsbereich des § 11 Abs. 3 StGB die Möglichkeit einer Schriftenverbreitung abzulehnen ist142.
Tatbestandlich im Sinne des Nr. 5 ist das Verbreiten von
Werbeschriften nur dann, wenn es „außerhalb des Geschäftsverkehrs mit dem einschlägigen Handel“ stattfindet (wobei
zum Handel auch die auf Vermietung gerichtete Tätigkeit,
d.h. der Filmverleih, zählt143), was nicht der Fall ist, wenn es
ausschließlich an Fachhändler gerichtet ist144, wofür es genügt, wenn der Empfänger nur (als „normaler“ Buchhändler)
überhaupt mit dem Handel von Schriften, (noch) nicht aber
mit dem von Pornografika befasst ist145.
Anders als bei den übrigen Verwirklichungsformen des
§ 184 Abs. 1 StGB146 handelt es sich bei der Tatbestandsalternative des Verbreitens von Werbeschriften um ein Presseinhaltsdelikt147, da hier die Werbung für pornografische
Schriften – ungeachtet der Ausnahme für den „Geschäftsverkehr mit dem einschlägigen Handel“148 – nicht nur unter
138
Vgl. Schreibauer (Fn. 14), S. 249 („Begriff Schrift in
seiner ursprünglichen Bedeutung“); Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 49; ders. (Fn. 114), 6/15; siehe auch Hörnle (Fn. 3),
§ 184 Rn. 77 („Datenspeicher nicht erfasst“); a.A. Laufhütte/
Roggenbuck (Fn. 11), § 184 Rn. 33; Wolters (Fn. 2), § 184
Rn. 51.
139
Vgl. Schreibauer (Fn. 14), S. 249, 250; Laubenthal
(Fn. 2), Rn. 1014.
140
So ganz richtig Schreibauer (Fn. 14), S. 249 f., der für die
Einfügung von „(§ 11 Abs. 3)“ in Nr. 5 plädiert.
141
Vgl. Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 77.
142
Ausf. hierzu M. Heinrich (Fn. 137), S. 597.
143
Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 52; Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 50;
144
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1013.
145
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 50; Laufhütte/Roggenbuck
(Fn. 11), § 184 Rn. 33; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 80.
146
Näher M. Heinrich, ZJS 2016, 17 (23).
147
Vgl. nur Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1015 sowie M. Heinrich,
ZJS 2016, 17 (23 m.w.N.).
148
BayObLG MDR 1980, 73; Laufhütte/Roggenbuck
(Fn. 11), § 184 Rn. 34.
bestimmten Voraussetzungen, sondern schlechthin verboten
ist149; damit gelten für die Verbreitungstaten der Nr. 5 die
Verjährungsregelungen des Presserechts (ausführlich zu
diesen bereits Teil 1 meiner „Beiträge zum Medienstrafrecht“150).
7. § 184 Abs. 1 Nr. 6 StGB: Unaufgefordertes Gelangenlassen
Als einzige Tatbestandsvariante des § 184 Abs. 1 StGB dient
Nr. 6 gezielt dem Schutz Erwachsener vor ungewollter Konfrontation mit Pornografie151 (vgl. oben III. 1.); ein entsprechend ausgerichteter Schutz Minderjähriger ist schon durch
Nr. 1 gewährleistet, so dass es der Nr. 6 aus Gründen des
Jugendschutzes zumindest nicht bedarf.
a) Das Gelangenlassen
„Gelangenlassen“ bedeutet im Rahmen der Nr. 6 entsprechend dem „Zugehen“ im Sinne des BGB152 das „Überführen
einer Schrift in den Verfügungsbereich eines anderen, sodass
dieser davon Kenntnis nehmen kann“153 (ohne dass es freilich
darauf ankommt, dass eine Kenntnisnahme auch tatsächlich
erfolgt154). Es erfordert letztlich also, dass der Empfänger
Gewahrsam an der Schrift erlangt155 – weswegen das bloße
nichtkörperliche Zugänglichmachen pornografischer Inhalte
(etwa durch Vorlesen, Vorzeigen oder Vorführen) nicht genügt156. Das „Gelangenlassen“ kann auch durch Unterlassen
erfolgen, etwa durch Liegenlassen in fremder Wohnung157
oder öffentlichem Verkehrsmittel158, nicht aber durch bloßes
Zulassen, dass die Pornografika entwendet werden159.
149
BayObLG MDR 1980, 73: „generell verboten“; ebenso
Laufhütte, JZ 1974, 46 (48); Seetzen, NJW 1976, 497 (498);
Hilgendorf (Fn. 46), § 184 Rn. 56; sowie (zu § 5 Abs. 2 GjS
a.F.) BGHSt 12, 360 (362).
150
M. Heinrich, Besonderheiten der Verjährung im Bereich
des Pressestrafrechts, ZJS 2016, 17.
151
Näher Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1016: Schutz des Einzelnen
vor groben Belästigungen durch Dritte.
152
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 52; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1017.
153
B. Heinrich (Fn. 46), Rn. 192; siehe auch BGH NStZ
2005, 688; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 52; Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 1017.
154
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 82.
155
Hilgendorf (Fn. 46), § 184 Rn. 41; Hörnle (Fn. 3), § 184
Rn. 81.
156
Schreibauer (Fn. 14), S. 263; Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 1017, 1019; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 52.
157
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 81; Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 1018; insoweit ebenso Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 52.
158
Insoweit abl. Schreibauer (Fn. 14), S. 262 f.; Eisele
(Fn. 2), § 184 Rn. 52; diff. Schroeder (Fn. 7), S. 44 f.; wie
hier i.E. Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1018; Wolters (Fn. 2), § 184
Rn. 57; siehe auch Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184
Rn. 35.
159
Schreibauer (Fn. 14), S. 263; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 52;
a.A. Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 59: nur Vorsatzproblem.
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ZJS 3/2016
306
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 2
Ist nach dem soeben Gesagten das bloße nichtkörperliche
Zugänglichmachen pornografischer Inhalte (etwa durch Vorlesen, Vorzeigen oder Vorführen) an sich kein „Gelangenlassen“, so soll jedoch nach h.M. in Durchbrechung dieses
Grundsatzes ein solches sehr wohl zu bejahen sein für den
Fall des Versendens entsprechender Dateien im Anhang einer
E-Mail160 (nicht dagegen für den des bloßen Mitteilens einschlägiger Internet-Adressen, d.h. Links161). Diese Ausnahme
erscheint insoweit akzeptabel, als in anderen Tatbeständen
des StGB das „Gelangenlassen“ auch im Hinblick auf Fälle
zwingend körperloser Übermittlung zur Tathandlung erhoben
ist: etwa bei körperlosen Staatsgeheimnissen (sprich: geheimzuhaltenden Tatsachen und Erkenntnissen, vgl. § 93
Abs. 1 StGB) in §§ 94 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1, 97 Abs. 1, 2
StGB, bei Behauptungen und Nachrichten in § 101a Abs. 1
StGB oder bei Nachrichten in § 353b Abs. 2 StGB.
b) Das Fehlen vorheriger Aufforderung
Keine Strafbarkeit besteht im Falle vorheriger Aufforderung
durch den Empfänger, während demgegenüber weder ein
bloß vermutetes Einverständnis, noch eine nachträgliche
Genehmigung zu entlasten vermögen162. Zu bezweifeln ist
aber163, ob – gestützt auf Sinn und Zweck der Vorschrift
(Schutz vor ungewollter Konfrontation) – ein Tatbestandsausschluss auch dann anzunehmen ist164, wenn trotz fehlender Aufforderung (nur, aber immerhin) ein inneres Einverständnis des Empfängers – und zwar ebenfalls bereits zum
Zeitpunkt der Tathandlung, etwa des Versendens der Werbeschriften (und nicht erst beim Empfang bzw. beim Erkennen
ihres Inhalts)165 – gegeben ist, denn: Aktiv-initiierendes Auffordern, wie es das Gesetz ausdrücklich verlangt, geht qualitativ über bloß passiv-duldendes Befürworten hinaus166.
Die Aufforderung wirkt als tatbestandsausschließendes
Einverständnis167; sie kann ausdrücklich oder konkludent
erfolgen168. Sie muss nicht konkret auf die dann gelieferte
Schrift gerichtet sein. So genügt die „Bestellung“ einer bestimmten anderen (oder nur ganz allgemein überhaupt nur
irgendeiner) in ihrem pornografischen Gehalt vergleichbaren
STRAFRECHT
Schrift169; eine relevante Abweichung stellt es aber insbesondere dar, wenn statt der bestellten einfach-pornografischen
Schrift eine den §§ 184a/b/c StGB unterfallende geliefert
wird170. Die bloß mengenmäßige Mehrlieferung erfüllt den
Tatbestand nicht171; dagegen sind von einer Einzelbestellung
nicht per se auch nachfolgende weitere Zusendungen gedeckt172.
8. § 184 Abs. 1 Nr. 7 StGB: Öffentliche Filmvorführung
a) Sinn und Zweck der Vorschrift
Als die Vorschrift 1973 geschaffen wurde (vgl. oben I. vor 1.
mit Fn. 5), ging es dem Gesetzgeber primär darum, die öffentliche Vorführung pornografischer Filme in Filmtheatern
zu verbieten – aus Gründen des Jugendschutzes, da eine ausreichende Alterskontrolle an den Kassen nicht gewährleistet
sei, und um den erwachsenen Kinobesucher vor ungewollter
Konfrontation mit Pornografie zu schützen173. So befremdlich
dies auch erscheinen mag – denn warum sollte eine Kontrolle
an der Kinokasse weniger zuverlässig funktionieren, als am
Eingang eines Sex-Shops? Und kaum ein erwachsener Besucher wird eine Kinokarte erwerben, ohne zu wissen, welchen
Film er für sein Geld zu sehen bekommt174 –, vermag doch
das BVerfG in der Regelung keine Verfassungswidrigkeit zu
entdecken, insbesondere auch keinen Verstoß gegen den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit175.
Um nun aber kein Totalverbot aller öffentlichen Filmveranstaltungen zu schaffen, da es „ungereimt“ erschiene176, das
Vorführen von Pornofilmen auch dort zu verbieten, wo entsprechende Live-Darbietungen erlaubt sind (wie in Nachtclubs, Bordellen etc.), beschränkte man das Verbot auf den
Fall, dass Pornofilme „gegen ein Entgelt“ gezeigt werden,
„das ganz oder überwiegend für diese Vorführung verlangt
wird“, um damit gezielt die Vorführung in Nachtclubs, Bordellen etc., wo typischerweise die Filmvorführung nicht im
Mittelpunkt des Geschehens steht, straffrei zu halten177.
Damit meinte man seinerzeit, „ein einigermaßen brauchbares Abgrenzungsmerkmal“ gefunden zu haben178 – eine
bedauerliche Fehleinschätzung, wie sich inzwischen herausgestellt hat, denn gerade die Auslegung der Entgeltklausel
160
So u.a. die in Fn. 161 Genannten; a.A. aber Schreibauer
(Fn. 14), S. 263, 265; siehe auch Sieber, JZ 1996, 494 (495).
161
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1019; Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 52; Fischer (Fn. 34), § 184 Rn. 17; Hörnle (Fn. 3), § 184
Rn. 81.
162
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1020; Laufhütte/Roggenbuck
(Fn. 11), § 184 Rn. 35; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 84.
163
Krit. insofern auch Eschelbach (Fn. 43), § 184 Rn. 53.
164
So insb. Schreibauer (Fn. 14), S. 264; Wolters (Fn. 2),
§ 184 Rn. 58; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 84.
165
Dies zumindest machen die Befürworter zur Bedingung;
vgl. die in Fn. 164 Genannten.
166
Eschelbach (Fn. 43), § 184 Rn. 53: Bitte des Empfängers
um Zugänglichmachen, quasi eine Bestellung.
167
Näher Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1020; siehe auch Hörnle
(Fn. 3), § 184 Rn. 84; Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 58.
168
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1020; ausf. Hörnle (Fn. 3), § 184
Rn. 84 mit Beispielen.
169
Vgl. die in Fn. 170 Genannten sowie Wolters (Fn. 2),
§ 184 Rn. 58; Eschelbach (Fn. 43), § 184 Rn. 53.
170
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 84; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 53.
171
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 84; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 53.
172
Schreibauer (Fn. 14), S. 265.
173
BT-Drs. VI/3521, S. 61; BVerfGE 47, 109 (117); Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1021; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 54.
174
Vgl. Schroeder (Fn. 7), S. 45; Hörnle (Fn. 3), § 184
Rn. 86; zum Kontrollaspekt Schreibauer (Fn. 14), S. 276.
175
BVerfGE 47, 109 (119); siehe auch BGHSt 29, 68 (70); zu
Recht krit. Eschelbach (Fn. 43), § 184 Rn. 56.
176
BT-Drs. VI/3521, S. 61; i.d.S. auch Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 1025 („widersprüchliches Ergebnis“).
177
Näher BT-Drs. VI/3521, S. 61; siehe auch Schreibauer
(Fn. 14), S. 267; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 86.
178
BT-Drs. VI/3521, S. 61; näher hierzu Schreibauer
(Fn. 14), S. 267; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1025.
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307
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
„führt […] zu unauflösbaren Abgrenzungsschwierigkeiten“179
(vgl. unten c).
b) Das Zeigen in öffentlicher Filmvorführung
Nur Filmvorführungen sind strafbar, nicht aber das Zeigen
unbewegter Einzelbilder (etwa mittels Diaprojektion)180 oder
das Vorspielen akustischer Darbietungen und erst recht nicht
das Aufführen von Live-Darstellungen (vgl. oben VI. vor 1.),
obwohl doch auch in diesen Fällen eine Jugendgefährdung
bestehen kann181; schon hierin liegt eine der vielen Sinnwidrigkeiten dieser missglückten Vorschrift.
Welches Medium benutzt und wie der Film präsentiert
wird, ist gleichgültig, sodass fernseh- und internetgestütztes
Vorführen ebenso erfasst ist182 (näher unten d), wie auch der
Fall, dass der Kunde selbst durch Münzeinwurf den Film in
Gang setzt183.
„Öffentlich“ ist eine Filmvorführung (auch bei Ausschilderung eines „Jugendverbots“184, vgl. aber noch unten e)
immer dann, wenn sie „von einem größeren, individuell nicht
feststehenden oder jedenfalls durch persönliche Beziehungen
nicht verbundenen Personenkreis gleichzeitig wahrgenommen werden kann“185 (vgl. entsprechend zum „öffentlichen“
Begehen im Tatbestand der Nr. 5 schon oben 6. b) aa). Nicht
also genügt es, wenn die Vorführung (etwa in einer Filmkabine) jeweils nur von einer Person oder von vielen Einzelnen
nur nacheinander verfolgt werden kann186; anders aber bei
gleichzeitiger Vorführung eines Films in zahlreichen Kabinen187. Im Übrigen sei zum Merkmal „öffentlich“ auf oben
6. b) verwiesen.
c) Die Entgeltklausel
Die Entgeltklausel der Nr. 7 ist schon per se sinnwidrig188, da
auch dann, wenn Pornofilme unentgeltlich gezeigt werden
(etwa in einer Gastwirtschaft zur Steigerung des Umsatzes),
die Belange von Jugend- und Konfrontationsschutz beeinträchtigt sind189, letztere sogar in stärkerem Maße, als bei
entgeltlichen Vorführungen, da bei unentgeltlichen das Überraschungsmoment eine weit bedeutendere Rolle spielen dürfte190; obendrein erscheint es auch irrelevant, ob beim Erwerb
einer Kinokarte mit Getränkegutschein der Wert der Vorführung höher ist, als derjenige des Getränks, oder umgekehrt.
Darüber hinaus hat sie sich aber auch als letztlich nicht
praktikabel erwiesen191, da es bei einer (zur Umgehung der
Strafbarkeit oftmals bewusst gewählten192) Verknüpfung von
Vorführung und sonstiger Leistung kaum möglich ist, hinreichend taugliche Abgrenzungskriterien dafür zu benennen, ob
das Entgelt „ganz oder überwiegend für diese Vorführung“
verlangt wird193.
Immerhin aber wurden mittlerweile einige Eckpfeiler zur
Entgeltklausel herausgearbeitet194, die hier zumindest überblicksweise dargestellt werden sollen195: Unentgeltliche Präsentationen unterfallen niemals der Nr. 7196, entgeltliche
Vorführungen, bei denen keine weiteren Leistungen mit im
Spiel sind, werden dagegen immer von Nr. 7 erfasst (Variante
„ganz für diese Vorführung verlangt“). Bei entgeltlichen
Vorführungen mit Nebenleistungen kommt es darauf an, ob
ein innerer Zusammenhang zwischen Vorführung und
Nebenleistung besteht197, was nur dann zu bejahen ist, wenn
die Nebenleistung während der Vorführung verwendbar ist,
wie bei mitverkauften Snacks oder Getränken, nicht aber bei
Pornoheften, DVDs oder Präservativen. Besteht demgemäß
bei entgeltlichen Vorführungen mit Nebenleistungen kein
innerer Zusammenhang, wird der auf die Vorführung entfallende Teil des Entgelts (der in diesem Fall wie ein gesondertes Entgelt für die Filmvorführung zu betrachten ist) wiede189
179
So ganz richtig Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 62; siehe auch
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1026: „kein taugliches Instrument“.
180
Schreibauer (Fn. 14), S. 268 f.; Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 55; a.A. Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184 Rn. 36.
181
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 55; siehe auch Schreibauer
(Fn. 14), S. 269, der aber die Praxisrelevanz solcher Fälle
verneint.
182
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 87; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 55;
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1022; Schreibauer (Fn. 14), S. 273 f.
183
KG NStZ 1985, 220; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 87;
Schreibauer (Fn. 14), S. 268; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1022.
184
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1023; Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 56; Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 63.
185
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1023; Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 56; siehe auch BayObLG NJW 1976, 527 (528).
186
KG NStZ 1985, 220; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1023; Eisele
(Fn. 2), § 184 Rn. 56.
187
KG NStZ 1985, 220 f.; Schreibauer (Fn. 14), S. 269;
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 88; Fischer (Fn. 34), § 184 Rn. 18.
188
So ganz richtig Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 86 gerade zum
Aspekt des Konfrontationsschutzes; siehe auch Schreibauer
(Fn. 14), S. 276: „unter Jugendschutzgesichtspunkten völlig
wirkungslose[s] Zusatzerfordernis“.
Vgl. aber BT-Drs. VI/3521, S. 61: Die insoweit entstehende Gesetzeslücke sei „unproblematisch, da mit solchen Veranstaltungen nicht gerechnet zu werden braucht“; siehe auch
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1033.
190
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 86 (größere Überraschungsgefahr auch „bei einer privaten Geselligkeit“).
191
Schreibauer (Fn. 14), 275 f.; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 57
(kaum lösbare Abgrenzungsfragen und Beweisschwierigkeiten); Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 62 (unauflösbare Abgrenzungsschwierigkeiten); Fischer (Fn. 34), § 184 Rn. 19.
192
Schreibauer (Fn. 14), S. 270; Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 1027; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 89; siehe ergänzend
noch Fn. 199.
193
Zum insoweit beachtlichen Erfindungsreichtum der Rechtsprechung Schreibauer (Fn. 14), S. 270 f.; siehe auch den
Nachweis der „Sinngebungsvarianten durch die bedauernswerten Gerichte“ bei Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 65 Fn. 177.
194
Auf Grundlage der Entscheidung BVerfGE 47, 109, sowie
im Anschluss daran BGHSt 29, 68.
195
Ausf. Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1031 ff. m.w.N.; guter,
knapper Überblick bei Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 89 m.w.N.
196
Vgl. schon Fn. 189; krit. jedoch Schreibauer (Fn. 14),
S. 270 mit Fn. 985; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 86.
197
BVerfGE 47, 109 (122); BGHSt 29, 68 (70, 71); näher
und krit. hierzu Schreibauer (Fn. 14), S. 272 f., 275.
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ZJS 3/2016
308
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 2
rum „ganz für diese Vorführung verlangt“198, ohne dass
dabei die Höhe der einzelnen Entgeltanteile von Bedeutung
ist; besteht jedoch ein innerer Zusammenhang (Vorführung
mit Getränk), ist der Tatbestand der Nr. 7 nur dann verwirklicht, wenn der auf die Filmvorführung entfallende Anteil am
Gesamtentgelt der größere ist (Variante „überwiegend für
diese Vorführung verlangt“).
Um zu erwartenden willkürlichen Preisfestsetzungen zum
Zwecke der Aushebelung der Norm zu begegnen199, soll im
letzteren Falle bei der Feststellung der Anteile – trotz der an
sich klaren Formulierung des Gesetzes: „das […] verlangt
wird“ – nicht maßgeblich sein, wie der Anbieter selbst die
Einzelleistungen ausschildert200. Grundlage der Berechnung
soll vielmehr nur das sein, „was allgemein als angemessenes
und übliches Entgelt für beide Teilleistungen verlangt werden
kann“201 – unter Zuhilfenahme einer an den Umständen des
jeweiligen Einzelfalles zu orientierenden Schätzung (abstellend etwa auf Art und Menge des mitverkauften Getränks,
Art, Lage und Ausstattung des Betriebs etc.)202. Dies zu akzeptieren ist letztlich der Einsicht geschuldet, dass wohl nur
so dem unseligen Entgeltkriterium zu halbwegs hinreichender
Handhabbarkeit zu verhelfen ist203.
d) Filme im Fernsehen und im Internet
In Konkurrenz zur klassischen Filmvorführung an öffentlich
zugänglichem Ort sind mittlerweile die Ausstrahlung pornografischer Filme über das Fernsehen und der Abruf über das
Internet getreten204. Inwieweit freilich die auf die Vorführung
im Lichtspieltheater zugeschnittene Regelung der Nr.7 auf
diese moderneren Formen der Kommunikation anwendbar
ist, lässt sich nicht so ohne Weiteres beantworten205:
Ist die herkömmliche TV-Ausstrahlung (auch im Rahmen
des Pay-TV) noch fraglos eine „Filmvorführung“, in der die
ggf. zu verzeichnenden Pornofilme auch „gezeigt“ werden206
(ein Tatbestandsmerkmal, das unerfindlicherweise kaum je
STRAFRECHT
näher betrachtet wird207), ist dies im Internet zwar auch beim
sog. Near-Video-on-Demand-Verfahren, bei dem der Anbieter dem Zuschauer lediglich den Einstieg ins Programm erleichtert, indem Filme in kurzen zeitlichen Abständen wiederholte Male gestartet werden, noch der Fall208, nicht mehr
aber beim sog. echten Video-on-Demand-Verfahren, bei dem
der Nutzer vollständig selbst entscheidet, ob und wann er den
Film abruft; denn hier wird kaum mehr davon zu sprechen
sein, dass der Anbieter den Film „zeigt“, da er ihn doch nur
noch, wie ein Videothekar, zur „Abholung“ durch den Nutzer
bereit hält209.
Ebenso wird man das Merkmal „öffentlich“ zwar selbst
bei der TV-Ausstrahlung im Wege des Pay-per-View sowie
im Internet beim Near-Video-on-Demand noch bejahen können210, nicht mehr aber bei der im echten Video-on-Demand
erfolgenden Nutzung als Einzelbetrachter211 (vgl. bereits
oben b). Im Übrigen fehlt es am Eingreifen der Entgeltklausel, wenn keine Einzelabrechnung (mittels Pay-per-View)
erfolgt, sondern eine monatliche Pauschale vereinbart ist;
dies ist anerkannt für den Fall, dass mit einem solchen Payper-Channel sowohl der Abruf pornografischer, wie auch
nichtpornografischer Filme möglich ist212, muss aber – aufgrund der gesetzlichen Formel „ganz oder überwiegend für
diese Vorführung“ – auch gelten für die Nutzung eines reinen
„Porno-Kanals“, der nur Pornofilme anbietet213.
e) Zur Frage der teleologischen Reduktion
Obwohl der Wortlaut der Nr. 7 insoweit keinen Anhalt bietet,
ist doch bei (in Bezug auf Minderjährige) effektiver Zugangshinderung – durch zuverlässige Ausweiskontrolle an der
Kinokasse oder mittels tauglicher Altersverifikationssysteme
im Bereich von Fernsehen und Internet214 (dazu näher oben 1.
b) cc) – aus Gründen der Verhältnismäßigkeit215 ein Entfallen
207
198
So ausdrücklich BVerfGE 47, 109 (122); BGHSt 29, 68
(70 f.); Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 58.
199
Schreibauer (Fn. 14), S. 273; siehe auch Fn. 192 sowie
BVerfGE 47, 109 (121); OLG Stuttgart NStZ 1981, 262
(263).
200
BVerfGE 47, 109 (121); Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1035:
„bestenfalls Indizwirkung“; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 59.
201
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1035 i.A.a. BVerfGE 47, 109
(122), BGHSt 29, 68 (70); siehe auch Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 59.
202
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 89; siehe auch OLG Stuttgart
NStZ 1981, 262 (263) zur Berechnung im Einzelnen.
203
Anders aber Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 62 mit radikaler
Uminterpretation der Entgeltklausel in Rn. 65.
204
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 86, 90; siehe auch Eisele
(Fn. 2), § 184 Rn. 54.
205
Für Hörnle ([Fn. 3], § 184 Rn. 91) wird eben hierin die
Reformbedürftigkeit des § 184 I StGB deutlich.
206
Vgl. Beisel/B. Heinrich, JR 1996, 95 (98); Schreibauer
(Fn. 14), S. 273 f.; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 90.
Einzige Ausnahme, soweit ersichtlich: Schreibauer
(Fn. 14), S. 273 f., der dabei sehr überzeugend auf „die Tatherrschaft über das ‚Ob‘ und ‚Wann‘ der Ausstrahlung“
abstellt.
208
Da hier die Tatherrschaft noch beim Anbieter liegt, vgl.
Schreibauer (Fn. 14), S. 274 (vgl. schon Fn. 207).
209
So ganz richtig Schreibauer (Fn. 14), S. 274: Tatherrschaft „beim Zuschauer selber“ (vgl. schon Fn. 207).
210
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 90; zum Pay-per-View auch
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 58.
211
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 56; siehe auch Hörnle (Fn. 3),
§ 184 Rn. 90.
212
Vgl. BVerwG NJW 2002, 2966 (2969); Hörnle (Fn. 3),
§ 184 Rn. 90; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 59.
213
I.d.S. auch Schreibauer (Fn. 14), S. 274; andernorts wird
diese Konstellation nicht zur Sprache gebracht.
214
Speziell hierzu Beisel/B. Heinrich, JR 1996, 95 (98);
Schreibauer (Fn. 14), S. 274 f.
215
Eschelbach (Fn. 43), § 184 Rn. 56 (vgl. schon oben im
Text Abschnitt 8. a); siehe auch Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 54:
„um verfassungsrechtliche Bedenken auszuräumen“; Schreibauer (Fn. 14), S. 275: „Als Vorfeldtatbestand zu Nr. 1“.
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309
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
der Strafbarkeit zu bejahen216. Zur teleologischen Reduktion
in diesen Fällen vgl. schon oben III. 3. a)/c).
Wie bei Nr. 3 (vgl. oben 3. b) a.E.) erscheint auch bei
Nr. 7 in derartigen Fällen eine Verneinung des Tatbestandes
deswegen geboten, weil hier „im Hinblick auf den Jugendschutz nicht einmal eine abstrakt gefährliche Handlung“
vorliegt217 – und darüber hinaus auch der erwachsene Besucher des Konfrontationsschutzes nicht bedarf, wenn er (was
bei Entgeltlichkeit in aller Regel der Fall ist) den pornografischen Charakter des Films kennt218 (vgl. bereits oben
III. 3. a).
9. § 184 Abs. 1 Nr. 8 StGB: Vorbereitungshandlungen
Wegen strafbarer Vorbereitungshandlung wird über Nr. 8
nicht nur derjenige belangt, der eine pornografische Schrift
herstellt, bezieht, liefert oder vorrätig hält, sondern auch
derjenige, der es unternimmt, sie einzuführen.
Diese Tathandlungen (zu ihnen nachf. a) bewegen sich allesamt im Vorfeld der in Nr. 1 bis Nr. 7 benannten „eigentlichen“ Verbreitensstrafbarkeit219, womit denn auch das Erfordernis entsprechender Verwendungsabsicht korrespondiert
(unten d), die freilich nicht auf die den Gegenstand der Vorfeldhandlung bildende Schrift bezogen sein muss, sich vielmehr auch auf „aus ihr gewonnene Stücke“ beziehen kann –
woraus sich ergibt, dass auch das Herstellen etc. von Drucksätzen, Negativen und anderen „Mutterstücken“ sowie insb.
auch von Manuskripten erfasst ist, die ja nicht selbst verbreitet, sondern nur als Quelle aus ihnen zu „gewinnender“ Stücke dienen sollen (näher unten c).
a) Die einzelnen Tathandlungen
aa) Das Herstellen
Dabei umfasst „Herstellen“ in sehr umfassender Weise „alles
von Menschen unmittelbar oder mittelbar bewirkte Geschehen, das ohne weiteres oder in fortschreitender Entwicklung
ein bestimmtes körperliches Ergebnis zustande bringt“220.
Aufgrund dessen ist jeder am Herstellen beteiligt, „der in
irgendeiner Phase der Entwicklung bewusst zur Fertigstellung beigetragen hat“221, wie der Verfasser des Manuskripts
bzw. Drehbuchs, der Fotograf, der Verleger, der Drucker
etc.222, ebenso ein (Porno-)Darsteller. Auch das Anfertigen
216
So ganz richtig Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 54; Eschelbach
(Fn. 43), § 184 Rn. 56; siehe auch Schreibauer (Fn. 14),
S. 274 f.; a.A. jedoch Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1024; Hörnle
(Fn. 3), § 184 Rn. 86; Heger (Fn. 55), § 184 Rn. 1.
217
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 54; dies als solches offenbar
nicht bestreitend auch Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1024.
218
I.d.S. Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 54; Schreibauer (Fn. 14),
S. 274 f.; siehe auch Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1024.
219
Vgl. Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1039: Vorbereitungshandlungen zu den Taten nach Nr. 1-7.
220
So schon RGSt 41, 205 (207); siehe auch Heger (Fn. 55),
§ 184 Rn. 5; B. Heinrich (Fn. 46), Rn. 182.
221
Heger (Fn. 55), § 184 Rn. 5.
222
Vgl. Fischer (Fn. 34), § 184 Rn. 21; siehe auch Hörnle
(Fn. 3), § 184 Rn. 92.
eines Vervielfältigungsstücks (Kopie) ist stets ein „Herstellen“223.
Andererseits aber wird – obwohl dies vom Wortlaut nicht
zwingend vorgegeben ist224 – das „Herstellen“ nicht tätigkeits-, sondern erfolgsbezogen verstanden225, um den Anwendungsbereich der ja sowieso als Vorfeldtatbestand fungierenden Begehensweise (oben vor a) nicht ausufern zu
lassen226. Damit ist das „Herstellen“ erst mit Vorliegen des
im Tatbestand beschriebenen Endprodukts vollendet227, ein
ergebnisloses Produktionsgeschehen nur (strafloser) Versuch228.
Ein bloßes Manuskript, aus dem tatbestandsgemäß zu
verwendende Stücke erst noch (durch Drucklegung) „gewonnen“ werden müssen (vgl. schon oben vor a), ist – um nicht
in einer der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG widerstreitenden Weise bereits das noch intern bleibende Verfertigen eines Manuskripts zu erfassen229 – „erst dann hergestellt
[…], wenn die Gefahr jederzeit möglicher Verbreitung bereits ganz nahe gerückt ist“, wenn also „der zu veröffentlichende Inhalt feststeht und der Weg zur technischen Vervielfältigung freigegeben ist“, d.h. – wenn das Manuskript an
einen Verlag gegeben ist –, „der für die Schriftleitung Zuständige der Veröffentlichung […] zugestimmt hat“230.
bb) Das Beziehen
„Beziehen“ wird mitunter umschrieben als „das Erlangen
tatsächlicher eigener Verfügungsgewalt durch abgeleiteten
Erwerb […] von einem anderen“231. Zu bevorzugen ist aber
die Formel, es „beziehe“ (z.B. eine Schrift), „wer durch einverständliches Zusammenwirken mit dem früheren Gewahrsamsinhaber […] eigenen Gewahrsam erlangt“232; denn damit ist – nachdem der Gewahrsamswechsel nicht auf Dauer
angelegt sein muss233 – klargestellt, dass auch die Fälle des
Anmietens bzw. Entleihens erfasst sind234.
223
Fischer (Fn. 34), § 184 Rn. 21; Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 61.
224
So ganz richtig Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 92; Schreibauer
(Fn. 14), S. 278.
225
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 92.
226
Näher hierzu Schreibauer (Fn. 14), S. 278 f.
227
Heger (Fn. 55), § 184 Rn. 5; siehe auch Güntge (Fn. 114),
§ 86 Rn. 11.
228
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 92; siehe auch Laufhütte/
Kuschel (Fn. 53), § 86 Rn. 30; Steinmetz (Fn. 50), § 86
Rn. 32.
229
Ausführlich und lesenswert hierzu BGHSt 32, 1 (7); siehe
auch Schreibauer (Fn. 14), S. 278 f.
230
Alle drei vorstehenden Zitate BGHSt 32, 1 (8/Leitsatz/8);
siehe auch Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 92.
231
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 62; Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 1043; B. Heinrich (Fn. 46), Rn. 194.
232
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 93 (Hervorhebung des Verf.);
siehe auch Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184 Rn. 42;
Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 69.
233
So ganz richtig Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 93, sowie
(wenngleich zum „Liefern“) B. Heinrich (Fn. 46), Rn. 183.
234
So explizit zur Vermietung Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 93.
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ZJS 3/2016
310
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 2
Mangels abgeleiteten Erwerbs bzw. einverständlichen
Zusammenwirkens nicht erfasst ist der Fall eigenmächtigen
Sich-Verschaffens235, etwa durch Diebstahl236. Ob das Erlangen entgeltlich oder unentgeltlich erfolgt, ist gleichgültig237,
nicht aber genügt der bloße Abschluss eines (Kauf-)Vertrags
ohne gleichzeitige tatsächliche Verschaffung von tatsächlicher Verfügungsgewalt bzw. Gewahrsam238. Auch die bloße
Entgegennahme unverlangt zugesendeter Waren genügt
nicht239.
cc) Das Liefern
Das dem „Überlassen“ (oben 1. a) bb) ähnliche240 „Liefern“
ist das Spiegelbild zum „Beziehen“ (gerade eben bb)241. Wie
dort wird es denn auch als „Übergabe der Sache zur eigenen
Verfügungsgewalt des Bestellers“ beschrieben242 bzw., was
vorzuziehen ist – um wieder (vgl. schon soeben bb) zur nur
vorübergehenden Einräumung von Gewahrsam243) der Einbeziehung von Miete und Leihe244 eine sichere Grundlage zu
geben, – mit den Worten, es „liefere“ die Schrift, „wer durch
beiderseitiges Zusammenwirken dem anderen den Gewahrsam verschafft“245.
Auch beim „Liefern“ bedarf es also beiderseitigen Einvernehmens246, so dass es nicht vorliegt, wenn jemand dafür
sorgt, dass die Schrift unaufgefordert an den anderen gelangt247. Auf eine Entgeltlichkeit kommt es hingegen nicht
235
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 62; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 93;
Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 69.
236
RGSt 77, 113 (118); Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 93; Wolters
(Fn. 2), § 184 Rn. 69; Fischer (Fn. 34), § 184 Rn. 21.
237
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 62; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 93;
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1043.
238
B. Heinrich (Fn. 46), Rn. 194; Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 62.
239
Vgl. Fischer (Fn. 34), § 184 Rn. 21, der von „unverlangter
Entgegennahme“ spricht.
240
Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 69, der allerdings zu weit gehend von „gleichem Inhalt“ spricht.
241
Vgl. B. Heinrich (Fn. 46), Rn. 183 („Gegenstück“);
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1043; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 63.
242
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1043 (Hervorhebung des Verf.);
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 63; ähnlich B. Heinrich (Fn. 46),
Rn. 183.
243
Dass diese auch beim „Liefern“ genügt, erklären Hörnle
([Fn. 3], § 184 Rn. 93) und B. Heinrich ([Fn. 46], Rn. 183).
244
Eine solche ohne Weiteres bejahend BGHSt 29, 68 (69);
ebenso Schreibauer (Fn. 14), S. 279; Hörnle (Fn. 3), § 184
Rn. 93; B. Heinrich (Fn. 46), Rn. 183; a.A. aber Eisele
(Fn. 2), § 184 Rn. 63.
245
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 93 (Hervorhebung des Verf.);
entsprechend Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184 Rn. 42;
Schreibauer (Fn. 14), S. 279; siehe auch Wolters (Fn. 2),
§ 184 Rn. 69; Fischer (Fn. 34), § 184 Rn. 21.
246
So explizit B. Heinrich (Fn. 46), Rn. 183; siehe auch
Schreibauer (Fn. 14), S. 279; Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 69.
247
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 63; Wolters (Fn. 2), § 184
Rn. 69; Fischer (Fn. 34), § 184 Rn. 21.
STRAFRECHT
an248, so dass eine Schenkung ebenso genügt, wie eine unentgeltliche Leihe. Nicht ausreichend ist wieder (siehe bereits
oben bb) zum „Beziehen“) der Abschluss eines zur Verschaffung verpflichtenden Vertrags, entscheidend ist allein das
Verschaffen selbst.
dd) Das Vorrätighalten
Oft einem zuvor geschehenen „Herstellen“ oder „Beziehen“
nachfolgend249 meint das „Vorrätighalten“ den Besitz oder
Gewahrsam250 (bzw. das Bereithalten251) zu einem bestimmten Verwendungszweck252, etwa dem des „Überlassens“ in
Nr. 1. Ob der Zweck immer in einer körperlichen „Abgabe“
des Gegenstandes bestehen muss253 (etwa im Sinne eines
Verkaufens, Vermietens oder Verschenkens), erscheint zweifelhaft; sinnvoll ist es, die Formen unkörperlichen „Zugänglichmachens“ insoweit mit einzubeziehen254. Nicht jedoch
genügt der Besitz als solcher bzw. der Besitz in der Absicht,
den Gegenstand zu vernichten, den Behörden auszuhändigen
oder dem Hersteller zurückzugeben (etwa im Zuge einer
Reklamation) oder auch der Besitz in Unschlüssigkeit über
die weitere Verwendung255. Auch mittelbarer Besitz kommt
in Betracht256, unverzichtbar ist aber die eigene Verfügungsgewalt des Besitzenden im Sinne zumindest einer Mitbestimmungsmacht257 – so dass das bloße Verwahren für einen
anderen nicht hinreicht258.
Eines Vorrats bedarf es nicht, bereits das Vorhalten nur
eines Stücks reicht aus259; insbesondere genügt das Speichern
auch nur einer Datei auf einer Festplatte, wenn dabei an ein
Zugänglichmachen gedacht ist260.
248
Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 69.
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 64.
250
So ganz richtig Horn, NJW 1977, 2329 (2331); nur von
Besitz sprechen die in Fn. 252 Genannten.
251
So, das finale Element klarer aufzeigend Heger (Fn. 55),
§ 184 Rn. 5.
252
RGSt 42, 209 (210); Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 64; B. Heinrich (Fn. 46), Rn. 184; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1044.
253
So offenbar Horn, NJW 1977, 2329 (2331); Heger
(Fn. 55), § 184 Rn. 5; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1044.
254
So i.E. auch RGSt 47, 223 (226 f.): Vorrätighalten einer
Schallplatte zum Zwecke des Vorspielens.
255
So ganz richtig Horn, NJW 1977, 2329 (2331); Wolters
(Fn. 2), § 184 Rn. 69.
256
Heger (Fn. 55), § 184 Rn. 5; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 93.
257
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 64; Schreibauer (Fn. 14), S. 279;
B. Heinrich (Fn. 46), Rn. 184; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1044.
258
Wie Fn. 257; siehe auch Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 93;
Wolters (Fn. 2), § 184 Rn. 69; a.A. Fischer (Fn. 34), § 184
Rn. 21.
259
RGSt 42, 209 (210); 47, 223 (227); 62, 396; Eisele (Fn. 2),
§ 184 Rn. 64; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 93; B. Heinrich
(Fn. 46), Rn. 184; siehe auch Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1044.
260
Schreibauer (Fn. 14), S. 280 f.; B. Heinrich (Fn. 46),
Rn. 184; Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 93; Fischer (Fn. 34),
§ 184 Rn. 21.
249
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311
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
ee) Das Unternehmen des Einführens
Zum „Einführen“ vgl. bereits oben 5. a), zum „Unternehmen“
des Einführens oben 5. b).
„der zu veröffentlichende Inhalt feststeht und der Weg zur
technischen Vervielfältigung freigegeben ist“268 (näher bereits – zum „Herstellen“ von Manuskripten – oben a) aa).
b) Zum Verhältnis zu Nr. 4
Zum „Einführen“ im Rahmen der Nr. 8 ist zu beachten, dass
beim grenzüberschreitenden Versandhandel dieser Tatbestand zwar auf den aus dem Inland heraus bestellenden Zwischenhändler und den ihn beliefernden ausländischen Versandhändler anwendbar ist261, nicht aber – angesichts der
nach einhelliger Meinung gerade auf die Belieferung des
Endverbrauchers im Versandhandel zugeschnittenen262 Sonderregelung der Nr. 4 – auf den aus dem Ausland an den
Endverbraucher liefernden Versandhändler oder auch auf
den von diesem belieferten Endverbraucher (vgl. bereits
oben 5. c).
Außerhalb des Versandhandels hingegen, wo Nr. 4 keine
Rolle spielt, wird nicht nur derjenige von Nr. 8 erfasst, der
die Pornografika über die Grenze bringt oder bringen lässt,
sondern auch der Endverbraucher263, wenn die Verbringung
auf seine Veranlassung (d.h. auf seine Bestellung) hin erfolgt
ist; zur Abgrenzung: Die bloße Annahme nicht bestellter
Pornografika genügt nicht264. Auch wer die Pornografika nur
zum ausschließlich eigenen Gebrauch ins Inland verbringt,
erfüllt damit das Merkmal des „Einführens“ – macht sich
freilich mangels einer auf die Begehung der Nr. 1-7 gerichteten Verwendungsabsicht dennoch nicht nach Nr. 8 strafbar265.
d) Das Absichtserfordernis
Die Absicht (im technischen Sinne), „sie [d.h. die tatgegenständliche Schrift] oder aus ihr gewonnene Stücke im Sinne
der Nummern 1 bis 7 zu verwenden oder einer anderen Person eine solche Verwendung zu ermöglichen“, muss sich –
insofern anders als bei der an erster Stelle genannten Selbstverwendungsabicht – letzterenfalls nicht auf die Verwendung
durch die andere Person beziehen, sondern nur darauf, dieser
anderen Person die Verwendung zu ermöglichen269, was etwa
eine Rolle spielt, wenn es dem Täter letztlich nur um den
Kaufpreis geht270.
c) Zur Erstreckung der Nr. 8 auf „Mutterstücke“
Wie schon einführend dargetan (oben vor a), erstrecken sich
– wie sich aus dem in Nr. 8 genannten Erfordernis einer
Verwendungsabsicht ergibt – die Tathandlungen der Nr. 8
nicht nur auf solche pornografische Schriften, die selbst nach
Nr. 1-7 Verwendung finden sollen, sondern auch auf solche,
die nur als „Mutterstücke“ (Drucksätze, Negative, Masterbänder etc.) dazu dienen sollen, aus ihnen einschlägig zu
verwendende „Stücke“ (Bücher, Magazine, Fotoabzüge,
DVDs etc.) zu „gewinnen“266.
Erfasst ist damit auch das Herstellen etc. von Manuskripten267, die freilich bereits so weit gediehen sein müssen, dass
261
Anders zum Zwischenhändler Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 65; dagegen ganz richtig Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1045.
262
Vgl. nur Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 68: „Nr. 4 gilt der Belieferung von Endverbrauchern.“
263
Vgl. (wenn auch zu pauschal) Eschelbach (Fn. 43), § 184
Rn. 69.
264
So explizit (wenn auch zu § 86 Abs. 1 StGB, so doch
übertragbar) Laufhütte/Kuschel (Fn. 53), § 86 Rn. 33.
265
Vgl. Eschelbach (Fn. 43), § 184 Rn. 70: „Handlungen
zum Eigenkonsum bleiben straflos“.
266
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 60; Eschelbach (Fn. 43), § 184
Rn. 68; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1042; Schreibauer (Fn. 14),
S. 277.
267
So speziell zum Herstellen (in § 131 Abs. 1 Nr. 4 StGB
a.F.) BGHSt 32, 1 (2 f.); Eschelbach (Fn. 43), § 184 Rn. 68;
dem zustimmend und dabei den Gedanken – richtigerweise –
10. § 184 Abs. 1 Nr. 9 StGB: Ausführen in Verbreitungsabsicht
In systemwidriger Weise nicht auf Jugend- oder Konfrontationsschutz bedacht, sondern darauf, andere Staaten, die strengere Pornografieverbote aufweisen, nicht zu brüskieren und
damit ggf. die außenpolitischen Beziehungen der BRD zu
belasten271 (vgl. bereits oben III. 1.), stellt Nr. 9 das Unternehmen der Ausfuhr von Pornografika unter Strafe.
a) Die Tathandlung
„Ausführen“ – als Gegenstück zum „Einführen“ (oben 5. a) –
meint das „Verbringen aus dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik über die Grenze in ein fremdes Hoheitsgebiet“272, sei
es nun im Zuge persönlichen Außer-Landes-Bringens oder
durch Versenden ins Ausland273. Vollendung tritt ein mit dem
Grenzübertritt in ein Nachbarland der Bundesrepublik274,
auch wenn dies noch nicht das Bestimmungsland ist275. Bei
auch auf die übrigen Vorfeldhandlungen erweiternd Eisele
(Fn. 2), § 184 Rn. 60; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1040 f.;
Schreibauer (Fn. 14), S. 278.
268
So BGHSt 32, 1 (Leitsatz); siehe auch Hörnle (Fn. 3),
§ 184 Rn. 92.
269
Vgl. Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 66; Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 1047.
270
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 66.
271
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1048; siehe auch Schroeder
(Fn. 1), 23/2, 23/19; Otto, Grundkurs Strafrecht, Besonderer
Teil, 7. Aufl. 2005, § 66 Rn. 103; Hörnle (Fn. 3), § 184
Rn. 9.
272
B. Heinrich (Fn. 46), Rn. 189; Fischer (Fn. 34), § 184
Rn. 22; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 67; Hörnle (Fn. 3), § 184
Rn. 97; Hilgendorf (Fn. 46), § 184 Rn. 45.
273
Fischer (Fn. 34), § 184 Rn. 22.
274
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184 Rn. 45; Schreibauer (Fn. 14), S. 283.
275
Sondern nur Durchfuhr-Land; Laufhütte/Roggenbuck
(Fn. 11), § 184 Rn. 45; Fischer (Fn. 34), § 184 Rn. 22.
_____________________________________________________________________________________
ZJS 3/2016
312
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 2
sog. Durchfuhr durch das Bundesgebiet ist immer auch eine
Ausfuhr gegeben276.
Da bereits das „Unternehmen“ des Ausführens unter Strafe steht, genügen – als Versuch des „Ausführens“ (siehe § 11
Abs. 1 Nr. 6 StGB) – schon alle Handlungen, „die bei ungestörtem Fortgang unmittelbar zur Ausfuhr führen sollen oder
die in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zu ihr stehen“277, wie insbesondere die Aufgabe zum
Versand bzw. die Übergabe an das Beförderungsunternehmen278.
Ist man aufgrund der Entscheidung des Gesetzgebers,
zum einen in § 1 Abs. 4 JuSchG den Begriff des „Versandhandels“ auch auf die Fälle des „elektronischen Versands“ zu
erweitern (vgl. bereits oben 3. c) und zum anderen dann in
§ 15 Abs. 1 Nr. 5 JuSchG vom „Einführen im Wege des Versandhandels“ zu sprechen, dazu bereit, das Verständnis von
„Einführen“ auch auf den ins Inland gerichteten Datentransfer per Internet zu erweitern (vgl. oben 5. a), so wird man im
Anschluss daran konsequenterweise auch beim „Ausführen“
die Fälle der Datenübermittlung per Internet mit einbeziehen
müssen279. Nicht erfasst wird jedoch wiederum (wie schon
beim „Einführen“, vgl. oben 5. a) die Ausstrahlung einschlägigen Materials über Rundfunk oder Fernsehen.
b) Zur Kritik am Tatbestand
Mit der Verfolgung derartiger Ziele ein im Inland per se
strafloses Verhalten unter Strafe zu stellen, begegnet schon
unter dem Aspekt des Schuldprinzips erheblichen Bedenken280. Jedenfalls aber im Hinblick auf die mittlerweile weltweit jederzeit bestehende Möglichkeit, über das Internet auf
Pornografie zuzugreifen (hierzu schon oben III. 4.), hat die
Vorschrift ihre Daseinsberechtigung endgültig verloren, ist es
– um mit Fischer zu sprechen281 – angesichts dessen „geradezu absurd, einen Deutschen für den Versuch (!) zu bestrafen,
sich in Deutschland an einer in Deutschland straflosen Handlung zu beteiligen“.
c) Zum grenzüberschreitenden Versandhandel ins Ausland
Von vornherein nicht erfasst ist aber immerhin der grenzüberschreitende Versandhandel ins Ausland, da dieser allein
dem Anwendungsbereich der Nr. 3 unterfällt282 – wobei eine
Strafbarkeit nach der dem Jugendschutz verschriebenen Nr. 3
276
OLG Schleswig NJW 1971, 2319; Eisele (Fn. 2), § 184
Rn. 67; B. Heinrich (Fn. 46), Rn. 189.
277
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184 Rn. 45; siehe auch
Schreibauer (Fn. 14), S. 283; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1049.
278
Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 97.
279
So i.E. auch Hörnle (Fn. 3), § 184 Rn. 97; Laue, in:
Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Handkommentar, Gesamtes
Strafrecht, 3. Aufl. 2013, § 184 Rn. 15; a.A. Schreibauer
(Fn. 14), S. 285.
280
Näher Fischer (Fn. 34), § 184 Rn. 22.
281
Fischer (Fn. 34), § 184 Rn. 22 (Hervorhebung im Original); siehe auch Schumann, AfP 2012, 348.
282
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1048; Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 67.
STRAFRECHT
voraussetzt, dass auch in jenem Staat ein gerade dem Jugendschutz gewidmetes Verbot besteht283.
VII. Das Zugänglichmachen pornografischer Inhalte mittels Rundfunk oder Telemedien gem. § 184d Abs. 1 StGB
Im Zuge der im Jahr 2015 erfolgten Umgestaltung diverser
Tatbestände des StGB durch das 49. StÄG284 wurde die bis
dahin in § 184d S. 1 StGB a.F. enthaltene Strafbarkeit der
„Verbreitung pornographischer Darbietungen durch Rundfunk, Medien- oder Teledienste“ ersetzt durch diejenige des
„Zugänglichmachens pornographischer Inhalte mittels Rundfunk oder Telemedien“ in § 184d Abs. 1 StGB n.F.
1. Sinn und Zweck der Regelung
a) Mit der Neugestaltung wollte der Gesetzgeber erklärtermaßen zweierlei erreichen: Zum einen sollte die in § 184d
S. 1 StGB a.F. verankerte Erfassung einschlägiger (Live-)
Darbietungen in Rundfunk und Telemedien fortgeführt werden285. Zum anderen sollte aber auch die (nach h.M. unter
§ 184d S. 1 StGB a.F. nicht subsumierbare286) via Rundfunk
und Telemedien erfolgende Wiedergabe zuvor gefertigter
Aufzeichnungen entsprechenden Inhalts mit einbezogen sein
– ohne dabei aber, wie bisher, an das „Verbreiten“ oder „Zugänglichmachen“ einer Schrift anknüpfen zu müssen287 (was
dem Gesetzgeber ersichtlich, v.a. mit Blick auf den „internetspezifischen Verbreitensbegriff“ des BGH288, dogmatische
„Bauchschmerzen“ bereitete289).
Mit der bislang uneinheitlichen Behandlung der genannten Fallgruppen unzufrieden, beschloss der Gesetzgeber, im
Bereich von Rundfunk und Telemedien das „Zugänglichmachen von Schriften“ einerseits und das „Zugänglichmachen
von (Live-)Darbietungen“ andererseits in dem beides umfassenden „Zugänglichmachen von Inhalten“ zusammenzuführen. Es ging ihm – im Angesicht der evidenten Sinnhaftigkeit
eines solchen Gleichlaufs – darum, Regelungen zu installieren, auf deren Grundlage „insoweit nicht mehr zwischen
verkörperten und nicht verkörperten Inhalten unterschieden
wird“290.
b) Mit der Neuregelung hat der Gesetzgeber in erfreulicher Weise dem Umstand Rechnung getragen, dass das herkömmliche, noch auf die klassischen Medien zugeschnittene
Instrumentarium überlieferter Tathandlungsbeschreibungen
auf die Neuen Medien nur recht eingeschränkt „passt“. Kurz283
Eisele (Fn. 2), § 184 Rn. 67.
49. StÄG v. 21.1.2015 = BGBl. I 2015, S. 10 ff., in Kraft
seit 27.1.2015.
285
Vgl. BT-Drs. 18/2601, S. 16, 24.
286
Vgl. Wolters (Fn. 2), § 184d Rn. 3; Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 1111.
287
Vgl. BT-Drs. 18/2601, S. 16: Demgegenüber seien „einfachere und klarere Regelungen möglich“.
288
Vgl. BGHSt 47, 55; ausf. und krit. hierzu M. Heinrich
(Fn. 137), S. 597.
289
BT-Drs. 18/2601, S. 16: „Zwar hat die Rechtsprechung
dafür Lösungen entwickelt […]“.
290
BT-Drs. 18/2601, S. 24.
284
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313
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
um: Auch der Gesetzgeber ist insoweit – endlich! – im Internetzeitalter angekommen.
Gerade im Hinblick auf die Pornografiestrafbarkeit liegt
es übrigens auch im internationalen Vergleich durchaus „im
Trend“, im Bereich von Rundfunk und Telemedien den Fokus auf die übermittelten Inhalte zu richten; so ist es außerhalb Deutschlands schon längst üblich, nicht mehr auf „pornografische Schriften“ abzustellen, sondern von vornherein
auf „Pornografie“291. Auch insofern ist das „Nachziehen“ des
deutschen Gesetzgebers zu begrüßen.
c) Abzuwarten bleibt freilich, wie die Rechtsprechung mit
der neuen Regelung des § 184d Abs. 1 StGB umzugehen
gedenkt. Naheliegend wäre es, sie im Bereich von Rundfunk
und Telemedien als lex specialis zu begreifen gegenüber den
in §§ 184 Abs. 1, 184a S. 1 Nr. 1, 184b/c Abs. 1 Nr. 1 StGB
noch immer enthaltenen Tathandlungsvarianten des Verbreitens bzw. Zugänglichmachens pornografischer Schriften.
Gerade dies schwebte auch dem Gesetzgeber vor, plädierte er
doch explizit dafür, „in den genannten Fällen nicht mehr auf
die Verbreitung oder das Zugänglichmachen […] der Schrift
und ihr nach § 11 Abs. 3 StGB gleichstehender Medien abzustellen, sondern auf das Zugänglichmachen von Inhalten
durch Rundfunk oder Telemedien“292.
Nicht ausschließbar erscheint es jedoch, dass der BGH –
insb. indem er bei seiner (in BGHSt 47, 55) einmal gefundenen „internetspezifischen“ Verbreitenslösung293 verharrt – in
Fortführung der bisherigen Judikatur auch weiterhin für den
Bereich des Internetgeschehens hauptsächlich oder gar ausschließlich auf den Aspekt des Verbreitens bzw. Zugänglichmachens von Schriften (und damit auf § 184 Abs. 1
StGB) abstellt und der Möglichkeit tatbestandlicher Erfassung einschlägiger Verhaltensweisen mittels des Zugänglichmachens der Inhalte gem. § 184d Abs. 1 StGB weniger
Beachtung schenkt, als vom Gesetzgeber intendiert.
2. Der sachliche Gehalt der Regelung
a) Kaum erklärungsbedürftig ist zunächst der Begriff des
„Inhalts“, welcher verwendet wurde, „um das Bezugsobjekt
der strafbaren Handlung zu bezeichnen“294 – wenn man sich
nur dessen bewusst ist, dass es zur Bejahung eines „Inhalts“
auf eine wie auch immer geartete Verkörperung nicht ankommt. Letztlich ist mit „Inhalt“ nichts anderes gemeint, als
mit dem Begriff der „Information“ im Telemediengesetz295 –
wobei der Gesetzgeber das Wort „Information“ freilich „im
vorliegenden Zusammenhang schon sprachlich nicht passend“296 fand (tatsächlich wäre die Bezeichnung insb. kinderpornografischer Darstellungen als „Information“ wohl befremdlich), so dass er lieber (ersichtlich neutraler gehalten)
von „Inhalt“ sprechen wollte. Alles also, was über Rundfunk
und Telemedien übermittelt wird, ist als „Inhalt“ anzuspre291
Näher hierzu Gercke, ZUM 2014, 641 (642) sowie insb.
schon ders., CR 2010, 798 (802 ff.).
292
BT-Drs. 18/2601, S. 16.
293
Vgl. zu dieser bereits oben bei und in Fn. 288.
294
BT-Drs. 18/2601, S. 24.
295
So auch der Gesetzgeber, vgl. BT-Drs. 18/2601, S. 24.
296
BT-Drs. 18/2601, S. 24.
chen, sei es in Form einer Live-Übertragung oder als Wiedergabe zuvor auf Ton-, Bild- oder Datenträgern erstellter
Aufzeichnungen (vgl. schon oben VI. 1. a).
b) Tatbestandsrelevant ist das Zugänglichmachen einschlägiger Inhalte nur, wenn es „mittels Rundfunk oder Telemedien“ erfolgt. Was „Telemedien“ sind, ergibt sich dabei
aus der Legaldefinition des § 1 Abs. 1 S. 1 TMG (inhaltsidentisch mit § 2 Abs. 1 S. 3 Rundfunkstaatsvertrag): „alle
elektronischen Informations- und Kommunikationsdienste,
soweit sie nicht Telekommunikationsdienste […] oder Rundfunk […] sind“. Hinsichtlich des „Rundfunks“ sei auf § 2
Abs. 1 S. 1, 2 Rundfunkstaatsvertrag verwiesen, wo es heißt:
„Rundfunk ist ein linearer Informations- und Kommunikationsdienst; er ist die für die Allgemeinheit und zum zeitgleichen Empfang bestimmte Veranstaltung und Verbreitung von
Angeboten in Bewegtbild oder Ton entlang eines Sendeplans
unter Benutzung elektromagnetischer Schwingungen. Der
Begriff schließt Angebote ein, die verschlüsselt verbreitet
werden oder gegen besonderes Entgelt empfangbar sind“.
Ganz im Einklang damit erstreckt sich das Zugänglichmachen „mittels Rundfunk“297 sowohl auf öffentlich-rechtliche, wie auch auf private Rundfunkangebote298 (nicht aber,
da i.d.R. nicht „entlang eines Sendeplans“ sendend, auf Amateursender299) und zwar unabhängig davon, ob die Übermittlung über Antenne, Satellit oder Leitung erfolgt300. Dies gilt
auch bei entgeltlichen Angeboten (sog. Pay-TV)301. Auch
eine etwaige Programm-Übertragung via Internet geschieht
„mittels Rundfunk“ – sei es nun zeitgleich zu einer entsprechenden herkömmlichen Ausstrahlung (sog. Live-Streaming)
oder als exklusive Übertragung über das Internet (sog.
Webcasting)302.
c) Was die Tathandlung des „Zugänglichmachens“ durch
Rundfunk oder Telemedien anlangt, gilt in weitem Umfang
im Grunde nichts anderes, als beim entsprechenden „Zugänglichmachen“ einer Schrift303 (weswegen insoweit auf die
Darlegungen oben in Abschnitt VI. 1. a) cc) verwiesen werden kann).
Entscheidend für das Zugänglichmachen „mittels Rundfunk“ ist (wie schon für das Verbreiten mittels Rundfunks
297
Dass der Gesetzgeber des § 184d StGB offensichtlich
nicht über die Kenntnis darüber verfügt, dass nach „mittels“
stets ein Genitiv zu stehen hat, sei hier nur am Rande vermerkt.
298
Eisele (Fn. 114), 6/61; Hörnle (Fn. 3), § 184d Rn. 6;
Fischer (Fn. 34), § 184d Rn. 4.
299
So i.E auch Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184d Rn. 2;
Wolters (Fn. 2), § 184d Rn. 4 Fn. 12; Fischer (Fn. 34),
§ 184d Rn. 4; a.A. jedoch Hörnle (Fn. 3), § 184d Rn. 6;
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1107; Eisele (Fn. 114), 6/61.
300
Hörnle (Fn. 3), § 184d Rn. 6; Fischer (Fn. 34), § 184d
Rn. 4; Hilgendorf (Fn. 46), § 184d Rn. 4; Wolters (Fn. 2),
§ 184d Rn. 4.
301
Eisele (Fn. 114), 6/61; Hörnle (Fn. 3), § 184d Rn. 6;
Eisele (Fn. 2), § 184d Rn. 3.
302
Hörnle (Fn. 3), § 184d Rn. 6; Wolters (Fn. 2), § 184d
Rn. 4; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184d Rn. 3.
303
So auch der Gesetzgeber, vgl. BT-Drs. 18/2601, S. 24.
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ZJS 3/2016
314
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 2
nach altem Recht) nicht, ob die ausgestrahlte bzw. per Kabel
übertragene Sendung tatsächlich auch von jemandem empfangen wird304, und noch weniger, ob jemand von den übermittelten Inhalten Kenntnis erlangt305. Der tatbestandliche
Erfolg ist vielmehr schon dann eingetreten, wenn die Sendung empfangen werden kann306 – was nicht der Fall ist,
wenn „das Signal beim Zuschauer überhaupt nicht ankommen konnte, weil z.B. der Satellit […] defekt war“307; vereinfachend (mit Blick auf die klassische terrestrische Rundfunkausstrahlung) gesprochen: „Die Tat ist vollendet, wenn die
Darbietung in den Äther gelangt“308.
Ganz entsprechend kommt es auch im Bereich der Telemedien (wiederum wie im bisherigen Recht309) allein auf
„die Möglichkeit der Wahrnehmung“ an310, die zu bejahen
ist, wenn „der Nutzer, sofern er über die erforderlichen technischen Möglichkeiten verfügt, die Daten über den jeweiligen
Dienst beziehen kann“.
d) Hinsichtlich der Adressaten des Zugänglichmachens
spricht § 184d Abs. 1 S. 1 StGB davon, dass die Inhalte „einer anderen Person“ (nicht nur also einer minderjährigen,
sondern – alternativ – auch einer Person über achtzehn Jahren) oder „der Öffentlichkeit“ zugänglich gemacht werden.
Dabei ist ein pornografischer „Inhalt“ der Öffentlichkeit stets
„dann zugänglich gemacht, wenn die Möglichkeit der Wahrnehmung durch unbestimmt viele Personen besteht“311 – so
dass insoweit das Versenden von E-Mails, die Vergabe von
Zugangs-Codes oder die Mitteilung ansonsten geheim gehaltener Internetadressen an einzelne Personen nicht genügt.
In der Variante „mittels Rundfunk“ ist ein Zugänglichmachen gegenüber „der Öffentlichkeit“ übrigens bereits per
definitionem gegeben, ist doch gem. § 2 Abs. 1 S. 1 RStV
„Rundfunk“ von vornherein ausschließlich „die für die Allgemeinheit [und damit per se für eine unbestimmte Vielzahl
von Personen] […] bestimmte Veranstaltung und Verbreitung
[…]“ (vgl. oben b).
e) Im Hinblick auf wirksame Zugangshindernisse für Jugendliche, insb. in Form von Altersverifikationssystemen, hat
das Zugänglichmachen (einfach-)pornografischer Inhalte
gem. § 184 Abs. 1 StGB insoweit in § 184d Abs. 1 S. 2 StGB
eine eigene Regelung erfahren: Nach dieser ist eine Strafbar-
STRAFRECHT
keit gem. § 184d Abs. 1 S. 1 StGB – allerdings nur „bei einer
Verbreitung mittels Telemedien“ – nicht gegeben, „wenn
durch technische oder sonstige Vorkehrungen sichergestellt
ist, dass der pornographische Inhalt Personen unter achtzehn
Jahren nicht zugänglich ist“ (näher zu den entsprechenden
Erfordernissen bereits oben in Abschnitt VI. 1. b) aa)/cc).
Damit ist die weitreichende Strafbarkeit aus § 184d Abs. 1
S. 1 StGB desjenigen, der (einfach-)pornografische Inhalte
„einer anderen Person oder der Öffentlichkeit“ zugänglich
macht, im Bereich der Telemedien de facto heruntergebrochen auf die Strafbarkeit dessen, der keine wirksamen Vorkehrungen dagegen trifft, dass die Inhalte „einer Person unter
achtzehn Jahren“ zugänglich werden.
304
Zum alten Recht Schreibauer (Fn. 14), S. 289, 291;
Albrecht/Hotter, Rundfunk und Pornographieverbot, 2002,
S. 58 (Nachweis des Zugangs entbehrlich).
305
Zum alten Recht Hörnle (Fn. 3), § 184d Rn. 6, 7.
306
Zum alten Recht Fischer (Fn. 34), § 184d Rn. 5; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 11), § 184d Rn. 5; Eisele (Fn. 2),
§ 184d Rn. 5; Wolters (Fn. 2), § 184d Rn. 5; siehe auch
Hilgendorf (Fn. 46), § 184d Rn. 5 sowie ausführlich Schreibauer (Fn. 14), S. 288 f.
307
Zum alten Recht Schreibauer (Fn. 14), S. 289; in diesem
Fall ist nur Versuch gegeben (Schreibauer, a.a.O.).
308
Zum alten Recht: Albrecht/Hotter (Fn. 304), S. 58; ebenso
Schreibauer (Fn. 14), S. 288.
309
So ausdrücklich auch der Gesetzgeber, vgl. BT-Drs. 18/
2601, S. 24.
310
Hier und nachf. BT-Drs. 18/2601, S. 24.
311
BT-Drs. 18/2601, S. 24 (Hervorhebung des Verf.).
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315
20 Wiederholungsfragen zum internationalen Diplomatenrecht
Von Wiss. Mitarbeiter Jan-Philipp Redder, Hamburg*
Das Diplomatenrecht gehört zu den ältesten Gebieten des
Völkerrechts. Mit den Worten der Präambel des Wiener
Übereinkommens über diplomatische Beziehungen (WÜD)
haben die Völker aller Staaten von alters her die besondere
Stellung des diplomatischen Vertreters anerkannt. Wesentliche Grundsätze des WÜD gelten zudem seit Jahrhunderten
als Völkergewohnheitsrecht. Ungestörte diplomatische Beziehungen sind conditio sine qua non für den internationalen
Rechtsverkehr. Diplomatisches Geschick auf internationaler
Ebene dient der effektiven Krisenbewältigung und damit
einem der vielen Ziele der UN-Charta. Der Diplomat vor Ort
ist mit den kulturellen Gepflogenheiten des Empfangsstaates
bestens vertraut und kann effektiv die Interessen des Entsendestaates und seiner Bürger vertreten.
Gleichwohl sorgen die diplomatischen Vorrechte in verschiedensten Fallkonstellationen immer wieder für Aufsehen.
Viele Einzelfragen werden durch das WÜD nicht geklärt und
bieten somit hinreichend Prüfungsstoff. Dieser Beitrag bietet
Studierenden 20 Wiederholungsfragen zur Vorbereitung auf
die schriftliche und mündliche Prüfung des Schwerpunktbereiches Internationales Recht.
I. Wieso ist das WÜD ein self-contained regime?
Das WÜD und das diplomatische Völkergewohnheitsrecht
(Präambel des WÜD, 5. Erwägungsgrund), d.h. die rechtlichen Regeln des Diplomatenrechts stellen eine in sich geschlossene Ordnung (sog. self-contained regime) dar, „das
die möglichen Reaktionen auf Mißbräuche der diplomatischen Vorrechte und Immunitäten abschließend umschreibt“1. Mit den Worten des IGH: „The rules of diplomatic
law, in short, constitute a self-contained régime which, on the
one hand, lays down the receiving State’s obligations regarding the facilities, privileges and immunities to be accorded to
diplomatic missions and, on the other, foresees their possible
abuse by members of the mission and specifies the means at
the disposal of the receiving State to counter any such
abuse.“2 Verstößt die diplomatische Mission also gegen geltendes Recht des Empfangsstaates (das sie nach Art. 41
Abs. 1 S. 1 WÜD zu beachten hat), dürfen gegen sie grundsätzlich nur solche Gegenmaßnahmen ergriffen werden, die
das Diplomatenrecht selbst vorsieht, was insbesondere die
Erklärung zur persona non grata nach Art. 9 WÜD einschließt; dies gilt auch bei Rechtsverstößen durch den Entsendestaat selbst (siehe auch Art. 50 Abs. 2 lit. b ILCEntwurf zur Staatenverantwortlichkeit). Der Grund für diese
Einschränkung liegt in der besonderen Bedeutung des Diplomatenrechts für die internationalen Beziehungen: „Dürfte
der Empfangsstaat auch mit anderen als den vom Diplomatenrecht vorgesehenen Mitteln gegen den Diplomaten vorgehen, so würden die Grundlagen der diplomatischen Beziehungen erschüttert, die ein Zusammenleben der Staaten erst
ermöglichen.“3 Wie sich aus der obigen Darstellung ergibt,
ist eine missbräuchliche Verwendung diplomatischer Vorrechte und Immunitäten notwendig; im Falle von Rettungseinsätzen auf dem Botschaftsgelände greift die Einschränkung also nicht (siehe Frage XVII.).
Vor diesem Hintergrund ist die Frage, inwiefern außerhalb des WÜD Völkergewohnheitsrecht besteht (siehe Präambel des WÜD, 5. Erwägungsgrund), bedeutsam: Wird eine
Gegenmaßnahme (z.B. Notwehr gegen den rechtswidrig
handelnden Diplomaten) als Teil des diplomatischen Völkergewohnheitsrecht qualifiziert, liegt bereits keine Kollision
mit dem Konzept des self-contained regime vor, da die Gegenmaßnahme dann ein Teil der Regeln des Diplomatenrechts ist.
II. Was versteht man unter dem Grundsatz „ne impediatur legatio“?
Der völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Grundsatz „ne
impediatur legatio“ verbietet es dem Empfangsstaat, die Erfüllung diplomatischer Aufgaben durch die diplomatische
Mission des Entsendestaates zu beeinträchtigen.4 Maßgeblich
kommt es darauf an, ob die Funktionsfähigkeit der diplomatischen Vertretung beeinträchtigt wird5, was bspw. bei einer
Zwangsvollstreckung in Gegenstände, die vom diplomatischen Personal benötigt werden, zu bejahen ist6. Im Rahmen
von arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten, die diplomatische
Vertretungen betreffen, ist die geschuldete Arbeitsleistung zu
berücksichtigen.7
III. Wie kann der besondere Status der diplomatischen
Mission begründet werden?
Aufgrund des umfangreichen Schutzes der diplomatischen
Mission, der bereits seit Jahrhunderten völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist, wurde bereits früh die Frage erörtert,
wie sich ihre besondere Stellung erklären lässt.8 Nach der
älteren (und überholten) Exterritorialitätstheorie wurden die
von der diplomatischen Mission genutzten Räumlichkeiten
mittels einer rechtlichen Fiktion als exterritorial, d.h. als dem
Territorium des Entsendestaates zugehörig, angesehen. Die
Repräsentationstheorie betrachtet den Diplomaten als Vertreter des souveränen Entsendestaates (bzw. nach älterem
Staatsverständnis dessen Herrschers); dementsprechend müs3
* Der Autor ist wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr.
Jörn Axel Kämmerer, Lehrstuhl Öffentliches Recht I, Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Bucerius Law
School.
1
BVerfGE 96, 68 (83).
2
IGH, Urt. v. 24.5.1980 (United States of America v. Iran) =
ICJ Rep. 1980, 3 (40).
BVerfGE 96, 68 (82).
Siehe BVerfGE 46, 342 (395); BVerfG NJW-RR 2003,
1218.
5
Vgl. BVerfGE 46, 342 (395).
6
BVerfGE 46, 342 (394 f.).
7
Siehe BAG NZA 1998, 813 (814).
8
Siehe hierzu Seidenberger, Die diplomatischen und konsularischen Immunitäten und Privilegien, 1994, S. 21 ff.
4
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ZJS 3/2016
316
20 Wiederholungsfragen zum internationalen Diplomatenrecht
se die staatliche Souveränität in Person des Repräsentanten
(des Diplomaten) geachtet werden. Nach der Funktionalitätstheorie stehen der diplomatischen Mission Vorrechte und
Immunitäten deshalb zu, damit sie ihre Aufgaben (siehe
Art. 3 WÜD) angemessen und unbeeinflusst durch den Empfangsstaat wahrnehmen kann.
Nach der Präambel des WÜD (4. Erwägungsgrund) haben
die Immunitäten und Vorrechte des WÜD „zum Ziel […],
den diplomatischen Missionen als Vertretungen von Staaten
die wirksame Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu gewährleisten“. Andererseits erstreckt sich die Immunität auch auf private Handlungen, mittels derer der Diplomat keine diplomatische Aufgabe bzw. Funktion wahrnimmt. Daher wird überwiegend davon ausgegangen, dass dem WÜD sowohl die
Funktionalitäts- als auch die Repräsentationstheorie zugrunde
liegt.9
IV. Kann ein Diplomat im Empfangsstaat zivilrechtlich
verklagt werden?
Nach Art. 31 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 WÜD steht dem Diplomaten
Immunität von der Zivilgerichtsbarkeit des Empfangsstaates
zu. Art. 31 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 lit. a-c WÜD sieht verschiedene
Ausnahmen vor, bei denen ein Diplomat ausnahmsweise
verklagt werden kann. Art. 32 Abs. 3 WÜD regelt den folgerichtigen Sonderfall der Widerklage, „denn es wäre aus
rechtsstaatlichen Gründen nicht gerechtfertigt, wenn der
Gegenseite im Rahmen der Klage eines Diplomaten die Geltendmachung von Ansprüchen, die mit der Klage in unmittelbarem Zusammenhang stehen, auf Grund der Immunität des
Diplomaten unmöglich wäre“10.
V. Kann ein Diplomat im Empfangsstaat Zivilklage erheben?
Nach Art. 31 Abs. 1 S. 2 WÜD steht dem Diplomaten grundsätzlich Immunität von der Zivilgerichtsbarkeit des Empfangsstaates zu, d.h. er darf grundsätzlich nicht verklagt werden (siehe Frage IV.). Nicht ausdrücklich geregelt ist hingegen die Frage, ob der Diplomat selbst Klage im Empfangsstaat erheben kann.
Der Wortlaut des Art. 31 Abs. 1 WÜD („von dessen Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit“) deutet darauf hin, dass
nur Klagen gegen den Diplomaten durch die Immunität ausgeschlossen sind. In systematischer Hinsicht ist die Vorschrift des Art. 32 Abs. 3 WÜD zu beachten: Wenn das
WÜD die Möglichkeit einer Widerklage gegen den Diplomaten vorsieht, muss der Diplomat konsequenterweise auch
selbst Klage erheben können. Auch im Hinblick auf den
Telos der Norm wird die Arbeit des Diplomaten bzw. die
Funktion der diplomatischen Mission nicht dadurch gefährdet, dass der Diplomat selbst Klage erhebt: „Es handelt sich
dabei gerade nicht um gegen ihn gerichtete Maßnahmen, vor
denen er auf Grund seiner Position besonders geschützt werden muss bzw. die ihn in der freien, unbeeinflussten Arbeit
9
Siehe Heintschel von Heinegg, Casebook Völkerrecht,
2005, Rn. 780.
10
BGH NJW-RR 2011, 721 (722).
ÖFFENTLICHES RECHT
im Empfangsstaat hindern.“11 Die h.M. geht daher zu Recht
davon aus, dass der Diplomat im Empfangsstaat Klage erheben kann.12
Da sich die diplomatische Immunität also grundsätzlich
nur auf die Beklagtenposition erstreckt, unterfallen Klagen
des Diplomaten nach Auffassung des BGH bereits nicht der
Immunität.13 Konsequenterweise ist weder ein Immunitätsverzicht noch eine Genehmigung der Prozessführung erforderlich.14 Nach Auffassung des österreichischen OGH unterstellt Art. 32 Abs. 3 WÜD hingegen einen Immunitätsverzicht des Entsendestaates.15 Beide Ansichten gelangen aber
zum Ergebnis, dass der Entsendestaat den Immunitätsverzicht
nicht ausdrücklich nach Art. 32 Abs. 1, 2 WÜD erklären
muss.
VI. Darf der Empfangsstaat den Diplomaten an Rechtsverstößen hindern?
Nach Art. 29 S. 1 WÜD ist die Person des Diplomaten unverletzlich. Dieser Grundsatz wird durch Art. 29 S. 2 WÜD,
wonach er keiner Festnahme oder Haft irgendwelcher Art
unterliegt, konkretisiert. Nach Art. 29 S. 3 WÜD muss der
Empfangsstaat ihn mit gebührender Achtung behandeln und
alle geeigneten Maßnahmen treffen, um jeden Angriff auf
seine Person, seine Freiheit oder seine Würde zu verhindern.
Geschriebene Ausnahmen hiervon sieht das WÜD nicht vor.
Art. 29 S. 1 WÜD wirft aufgrund seiner unbestimmten
Formulierung viele Einzelfragen auf, die in der Staatenpraxis
nicht einheitlich gelöst werden.16 Zumindest dürfte für eine
Verletzung des Art. 29 S. 1 WÜD ein gewisses Maß an Intensität zu verlangen sein, das allerdings – aufgrund der Bedeutung der Unverletzlichkeit des Diplomaten für die diplomatischen Beziehungen – sehr weit zu verstehen ist.
Auch wenn das Verbot der Festnahme absolut gewährleistet scheint, können sich in Ausnahmefällen Einschränkungen
dieses Grundsatzes ergeben, wenn konkrete Gefahren vom
Diplomaten für seine eigene Person (z.B. die Festnahme
eines betrunkenen Diplomaten, um ihn an der Weiterfahrt zu
hindern) oder Rechtsgüter Dritter (z.B. bei einem bevorstehenden Diebstahl des Diplomaten) drohen: „Naturally, the
observance of this principle [of inviolability] does not mean
[…] that a diplomatic agent caught in the act of committing
an assault or other offence may not, on occassion, be briefly
arrested by the police of the receiving State in order to
11
BGH NJW-RR 2011, 721 (722); vgl. dort auch die Ausführungen zu Wortlaut und Systematik.
12
BGH NJW-RR 2011, 721 (722); BVerwG NJW 1996,
2744; OVG Münster NJW 1992, 2043; offen gelassen in
RGZ 111, 149 (150 f.); siehe auch Denza, Diplomatic Law,
3. Aufl. 2008, S. 340 ff. m.w.N.
13
BGH NJW-RR 2011, 721 (722).
14
BGH NJW-RR 2011, 721 (722).
15
OGH, Entsch. v. 17.5.2000 – 2 Ob 166/98w; so auch
Richtsteig, Wiener Übereinkommen über diplomatische und
konsularische Beziehungen, 2. Aufl. 2010, S. 77.
16
Siehe etwa zu Blastests zur Feststellung des Alkoholkonsums Richtsteig (Fn. 15), S. 68.
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317
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
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prevent the commission of the particular crime.“17 Ähnlich
hatte bereits die Völkerrechtskommission 1958 angenommen:
„This principle [of personal inviolability] does not exclude in
respect of the diplomatic agent either measures of selfdefense or, in exceptional circumstances, measures to prevent
him from committing crimes or offences.“18 Das Selbstverteidigungsrecht gegen unmittelbar rechtswidrige Angriffe
dürfte völkergewohnheitsrechtlich anerkannt sein,19 so dass
kein Konflikt mit der Einschränkung des self-contained regime droht (siehe Frage I.). Jedenfalls ist unter Berücksichtigung des Schutzes der internationalen Beziehungen immer
ein strenger Abwägungsmaßstab zugrunde zu legen und die
zuständigen Behörden des Entsendestaates müssen umgehend
informiert werden.
VII. Was ist das Schutzgut der diplomatischen Immunität?
Die diplomatische Immunität kommt faktisch vor allem dem
Diplomaten persönlich zugute, da er nach Art. 31 Abs. 1
WÜD von der Strafgerichtsbarkeit, mit Ausnahmen auch von
der Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit des Empfangsstaates befreit ist.
Richtigerweise schützt die diplomatische Immunität aber
nicht die persönlichen Interessen des Diplomaten, sondern sie
dient der Repräsentation des Entsendestaates.20 Entscheidend
ist in diesem Zusammenhang die Präambel (3. und 4. Erwägungsgrund), die darlegt, dass die durch das Diplomatenrecht
gewährleisteten Privilegien und Immunitäten gerade nicht
Einzelne bevorzugen sollen, sondern der Stärkung der internationalen Beziehungen dienen. Der Diplomat befindet sich
nicht im Empfangsstaat, um seine persönlichen, d.h. privaten
Interessen zu verfolgen, sondern hat die in Art. 3 WÜD näher
beschriebenen Aufgaben zu erfüllen. Die diplomatische Immunität erleichtert und schützt also die internationalen Beziehungen.21
VIII. Kann der Diplomat auf seine Immunität verzichten?
Nach Art. 32 Abs. 1 WÜD kann der Entsendestaat auf die
Immunität des Diplomaten von der Gerichtsbarkeit des Empfangsstaates verzichten. Dieser Verzicht muss nach Art. 32
Abs. 2 WÜD ausdrücklich erklärt werden. Praktisch wird
diese Möglichkeit allerdings kaum genutzt.22 Ob der Diplomat selbst, d.h. ohne ausdrückliche Erklärung des Entsendestaates, auf seine Immunität verzichten kann, ist im WÜD
17
IGH, Urt. v. 24.5.1980 (United States of America v. Iran) =
ICJ Rep. 1980, 3 (40); siehe auch Denza (Fn. 12), S. 267.
18
Yearbook of the International Law Commission 1958,
Bd. 2, 1958, S. 97.
19
Siehe Heintze, in: Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, § 24
Rn. 18; siehe auch Doehring, Völkerrecht, 2. Aufl. 2004,
Rn. 677.
20
BGH NJW-RR 2011, 721 (722).
21
Siehe BGH NJW-RR 2011, 721 (722); Doehring (Fn. 19)
Rn. 675.
22
Siehe Stein/v. Buttlar, Völkerrecht, 13. Aufl. 2012,
Rn. 756.
nicht ausdrücklich geregelt. Der IGH versteht Art. 32 WÜD
offenbar als abschließende Regelung: „It provides in Article
32 that only the sending State may waive such immunity.“23
In der Gerichtspraxis wird die Frage teilweise ausdrücklich
verneint;24 der BGH hat sie in einem Beschluss von 2011
offengelassen.25 Es lässt sich auch nicht feststellen, dass sich
ein anderer Rechtssatz völkergewohnheitsrechtlich (Präambel
des WÜD, 5. Erwägungsgrund) entwickelt hätte: Immerhin
stellt die Immunität ein Recht des Entsendestaates und kein
persönliches Privileg des Diplomaten dar (siehe Frage VII.).26
IX. Wann beginnt die Immunität des Diplomaten?
Art. 39 Abs. 1 WÜD regelt den Beginn der diplomatischen
Immunität. Hiernach steht sie dem Diplomaten von dem
Zeitpunkt an zu, in dem er in das Hoheitsgebiet des Empfangsstaates einreist, um dort seinen Dienst anzutreten
(Alt. 1), oder, wenn er sich bereits in diesem Hoheitsgebiet
befindet, von dem Zeitpunkt an, in dem seine Ernennung dem
Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten oder dem anderen in gegenseitigem Einvernehmen bestimmten Ministerium
notifiziert wird (Alt. 2).
Im Rahmen der zweiten Alternative kann das (ungelöste)
Problem auftreten, dass ein Diplomat unmittelbar vor der
Notifizierung seiner Ernennung einen Rechtsverstoß begeht
und durch die Notifizierung anschließend geschützt wird,
obwohl der Empfangsstaat sofort mitgeteilt hat, den Diplomaten nicht zu akzeptieren.27 Das WÜD sieht allerdings keine Möglichkeit eines Widerrufs der Notifizierung vor; aus
Gründen der Rechtssicherheit ist eine solche auch nicht anzuerkennen. Damit beginnt die Immunität des Diplomaten in
jedem Fall ab der Notifizierung, so dass er auch im Hinblick
auf Rechtsverstöße, die er vor Beginn der Immunität begangen hat, geschützt ist. Der Empfangsstaat kann den Diplomaten allerdings jederzeit zur persona non grata nach Art. 9
WÜD erklären.
X. Wann endet die Immunität des Diplomaten?
Art. 39 Abs. 2 WÜD regelt das Ende der diplomatischen
Vorrechte und Immunitäten und unterscheidet dabei zwi23
IGH, Urt. v. 14.2.2002 (Democratic Republic of the Congo
v. Belgium) = ICJ Reports 2002, 3 (21, Hervorhebung des
Verf.); siehe auch die Entscheidung des österreichischen
OGH, Entsch. v. 17.5.2000 – 2 Ob 166/98w: „Nach Art 32
Abs 1 dieses Übereinkommens kann nur der Entsendestaat
auf die einem Diplomaten zustehende Immunität von der
Gerichtsbarkeit verzichten, […].“
24
Court of Appeal (Judge Kerr), Entsch. v. 19.2.1988 (Fayed
v. Al-Tajir) = Law Reports Queen’s Bench 1988, 712 (737):
„It is elementary that only the sovereign can waive the immunity of its diplomatic representatives. They cannot do so
themselves.“
25
BGH NJW-RR 2011, 721 (722).
26
Siehe Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. 1,
2. Aufl. 1988, S. 280; siehe auch Heintze (Fn. 19), § 24
Rn. 19.
27
Siehe Richtsteig (Fn. 15), S. 96 f.
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ZJS 3/2016
318
20 Wiederholungsfragen zum internationalen Diplomatenrecht
schen persönlicher (ratione personae) und funktioneller
(ratione materiae) Immunität. Nach Art. 39 Abs. 2 S. 1 Hs. 1
WÜD enden die Vorrechte und Immunitäten des Diplomaten,
dessen dienstliche Tätigkeit beendet ist, normalerweise im
Zeitpunkt der Ausreise oder aber nach Ablauf einer hierfür
gewährten angemessenen Frist. Damit gilt die persönliche
Immunität des Diplomaten zeitlich begrenzt, d.h. nach Ablauf
der Frist ist er der Gerichtsbarkeit des Entsendestaates unterworfen. Demgegenüber gilt die sog. funktionelle Immunität
zeitlich unbegrenzt und erstreckt sich auf alle Handlungen,
die der Diplomat in Ausübung seiner dienstlichen Tätigkeit
als Mitglied der Mission vorgenommen hat (Art. 39 Abs. 2
S. 2 WÜD). Diese Regelung ist folgerichtig, da Diensthandlungen des Diplomaten dem Empfangsstaat zuzurechnen sind
und der Empfangsstaat (zumindest mittelbar) über Handlungen des Entsendestaates richten würde, was dem völkerrechtlichen Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Staaten
widerspräche.28 Allerdings ist die „diplomatische Immunität
für dienstliche Handlungen […] nicht nur ein Reflex der
Immunität des Entsendestaates, sondern erklärt sich eigenständig aus dem besonderen Status des Diplomaten“29.
Damit stellt sich die Frage, wie zwischen privaten und
dienstlichen Tätigkeiten unterschieden werden kann. Weder
der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte sind insofern
eindeutig.30 Nach der Rspr. des BVerfG ist jedenfalls dann
von einer dienstlichen Handlung auszugehen, „wenn der
Diplomat für seinen Entsendestaat als dessen ausführendes
Organ und somit diesem zurechenbar handelt“31.
Besonders relevant ist das Ende der Immunität im Hinblick auf Straftaten: Wenn eine Straftat als private, d.h. nicht
dienstliche Handlung einzuordnen ist, können die Strafverfolgungsbehörden den Diplomaten nach Ablauf der in Art. 39
Abs. 1 S. 1 WÜD genannten Frist festnehmen bzw. ein Strafverfahren gegen ihn eröffnen. Letzteres geschah etwa im Fall
des papua-neuguineanischen Botschafters Abisinito, der
einen Autounfall mit Personenschaden verursachte hatte,
durch die USA nach seiner Abberufung und Ausreise.32 Nach
Auffassung des OLG Düsseldorf im Fall des iranischen Sonderbotschafters Tabatabai sollte etwa die (strafrechtlich verbotene) „Einfuhr von Betäubungsmitteln ohne Genehmigung
des Empfangsstaates nicht zu den dienstlichen Obliegenheiten eines Sonderbotschafters“ gehören.33 Das BVerfG hat
hingegen betont, dass für die Abgrenzung sowohl ein Verstoß
gegen das nationale Recht des Empfangsstaates als auch die
Erfüllung einer diplomatischen Aufgabe im Sinne von Art. 3
WÜD unbedeutend seien.34 „Die Begehung von Straftaten
gehört schlechthin nicht zu den Aufgaben der Mission. Wäre
allein deshalb eine Straftat niemals als dienstlich anzusehen,
ÖFFENTLICHES RECHT
bliebe die fortwirkende Immunität inhaltsleer.“35 Jedenfalls
ist nach allgemeiner Auffassung der Begriff der Amtshandlung weit zu verstehen.36
XI. Wirkt die in Art. 39 Abs. 2 S. 2 WÜD statuierte Immunität auch (erga omnes) gegenüber Drittstaaten?
Die diplomatischen Regeln des WÜD betreffen primär die
bilateralen Beziehungen zwischen Entsende- und Empfangsstaat; das WÜD sieht – mit Ausnahme des Art. 40 Abs. 1 S. 1
WÜD – nicht ausdrücklich vor, dass Drittstaaten die Immunität des Diplomaten beachten müssen. In der Literatur wird
allerdings z.T. darauf verwiesen, dass die Immunität ratione
materiae vor allem auf dem Grundsatz der Staatenimmunität
beruhe, der von allen Staaten beachtet werden müsse und
eine erga omnes-Wirkung bejaht.37 Verschiedene Vorschriften des WÜD sprechen allerdings gegen diese Ansicht: Nach
dem Wortlaut des Art. 31 Abs. 1 WÜD genießt der Diplomat
Immunität von der Gerichtsbarkeit des Empfangsstaates.
Gegen eine erga omnes-Wirkung spricht indirekt auch Art. 40
Abs. 1 S. 1 WÜD, der eine Sonderregelung für die Durchreise von Diplomaten durch Drittstaaten enthält. Würde die
Immunität erga omnes wirken und Drittstaaten binden, wäre
Art. 40 Abs. 1 S. 1 WÜD nicht erforderlich.38 Darüber hinaus
ist zu bedenken, dass der Empfangsstaat nur seine eigene
Rechtsordnung gestalten kann: Wenn die Immunität erga
omnes wirken würde, hätte dies zur Konsequenz, dass der
Empfangsstaat durch Erteilung des Agrément die Gerichtsbarkeit in anderen Staaten blockieren könnte.39 Auch völkergewohnheitsrechtlich (Präambel des WÜD, 5. Erwägungsgrund) geht die gerichtliche Staatenpraxis nicht von einer
erga omnes-Wirkung aus.40
XII. Kann die diplomatische Immunität verwirkt werden?
Nach Art. 41 Abs. 1 S. 1 WÜD müssen Diplomaten die Gesetze und andere Rechtsvorschriften des Empfangsstaates
beachten. Da Diplomaten nach Art. 31 Abs. 1 S. 1 WÜD
weder der Strafgerichtsbarkeit und nach S. 2 grundsätzlich
auch nicht der Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit unterliegen, können einfache Rechtsverstöße zu keiner Verwirkung führen – Art. 31 Abs. 1 WÜD wäre andernfalls überflüssig.41 In der Literatur wird aber teilweise für Situationen,
in denen das Verhalten der Diplomaten mit ihrer Funktion in
extremer Weise unvereinbar ist (z.B. Folter, Mord), eine
35
BVerfGE 96, 68 (82).
Siehe Doehring/Ress, AVR 1999, 68 (72).
37
Siehe Doehring/Ress, AVR 1999, 68 (75 ff.); siehe auch
Faßbender, NStZ 1998, 144.
38
Siehe BVerfGE 96, 68 (88).
39
Vgl. zur mangelnden Zustimmung auch BVerfGE 96, 68
(87 f.). Siehe zum genauen Beginn der diplomatischen Immunität Frage IX.
40
BVerfGE 96, 68 (88 f.).
41
Siehe auch Higgins, American Journal of International Law
79 (1985), 641 (649).
36
28
Vgl. BVerfGE 96, 68 (80); Heintze (Fn. 19), § 24 Rn. 19;
Doehring (Fn. 19), Rn. 679.
29
BVerfGE 96, 68 (85 f.).
30
Vgl. Stein/v. Buttlar (Fn. 22), Rn. 758.
31
BVerfGE 96, 68 (80); Kau, in: Vitzthum/Proelß, Völkerrecht, 6. Aufl. 2013, 3. Abschnitt Rn. 60.
32
Siehe Heintze (Fn. 19), § 24 Rn. 21.
33
OLG Düsseldorf NJW 1986, 2204 (2205).
34
Siehe BVerfGE 96, 68 (80 ff.).
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319
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Jan-Philipp Redder
Verwirkung bejaht; der Status einer Mission könne nicht
mehr anerkannt werden.42
XIII. Greift die Immunität des Diplomaten auch bei
schwerwiegenden Straftaten?
Nach Art. 31 Abs. 1 WÜD genießt der Diplomat Immunität
von der Strafgerichtsbarkeit des Empfangsstaates. Eine Ausnahme hiervon besteht nach h.M. grundsätzlich selbst bei
besonders gravierenden Rechtsverstößen nicht, da die Regeln
des Diplomatenrechts ein sog. self-contained regime darstellen und damit die möglichen Reaktionen des Empfangsstaates
auf Missbräuche abschließend umschreiben (siehe Frage I.).43
Mangels einschlägiger Präzedenzfälle44 dürfte sich zu dieser
Frage kein Völkergewohnheitsrecht gebildet haben. Aus der
Rspr. des BVerfG kann geschlossen werden, dass die Ausnahmen, die für schwere Menschenrechtsverletzungen im
Rahmen der Staatenimmunität diskutiert werden, nicht auf
die diplomatische Immunität übertragen werden können:
„Staatenimmunität und diplomatische Immunität stellen zwei
verschiedene Institute des Völkerrechts mit jeweils eigenen
Regeln dar, so daß von etwaigen Beschränkungen in einem
Bereich nicht auf den anderen geschlossen werden kann […].
Einem Schluß von der Staatenimmunität auf die diplomatische Immunität ratione materiae steht das personale Element
jeder diplomatischen Immunität entgegen, das nicht den Entsendestaat, sondern den Diplomaten als handelndes Organ
persönlich schützt.“45 Teilweise wird in der Literatur aber bei
brutalen Verletzungen der Menschenrechte von einer Immunitätsverwirkung ausgegangen (siehe Frage XII.).
Ob der Diplomat nach Ende seines Immunitätsschutzes
strafrechtlich verfolgt werden kann, wird nicht einheitlich
beurteilt (siehe Frage X.).
XIV. Darf sich ein Diplomat kritisch zur Menschenrechtslage im Empfangsstaat äußern?
Der Kritik könnte Art. 41 Abs. 2 S. 2 WÜD entgegenstehen.
Ähnlich wie beim allgemeinen völkerrechtlichen Nichteinmischungsverbot wird auch im Rahmen von Art. 41 Abs. 1 S. 2
WÜD diskutiert, ob Menschenrechte Teil der inneren Angelegenheiten eines Staates sind, in die sich der Diplomat (z.B.
durch Kritik an der Menschenrechtslage im Empfangsstaat)
nicht einmischen darf. Auch wenn der Grundsatz der Nichteinmischung völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist,46 lässt
sich eine einheitliche Staatenpraxis im Hinblick auf den
Schutz der Menschenrechte noch nicht feststellen. Anfang
42
Doehring (Fn. 19), Rn. 684.
Siehe BVerfGE 96, 68 (83); der IGH hat die Möglichkeit
der Strafverfolgung eines Außenministers selbst bei Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit abgelehnt (IGH, Urt. v. 14.2.2002 [Democratic Republic of the
Congo v. Belgium] = ICJ Rep. 2002, 3 [24]).
44
Vgl. Stein/v. Buttlar (Fn. 22), Rn. 760.
45
BVerfGE 96, 68 (85); siehe auch Kau (Fn. 31),
3. Abschnitt Rn. 63.
46
Siehe Jamnejad/Wood, Leiden Journal of International
Law 22 (2009), 345 (365).
43
der 1980er Jahre verwies etwa die niederländische Regierung
darauf, dass das Verständnis darüber, was zu den inneren
Angelegenheiten eines Staates gehört, von Ort zu Ort und
Zeit zu Zeit variiere.47 Gleichwohl lässt sich argumentieren,
dass die Bedeutung eines effektiven Menschenrechtsschutzes
weltweit zunehmend akzeptiert wird, so dass die Verletzung
von Menschenrechten die staatliche Gemeinschaft als Ganzes
berührt.
XV. Darf der Empfangsstaat mittels elektronischer Kontrollen das diplomatische Gepäck durchleuchten?
Nach Art. 27 Abs. 3 WÜD darf das diplomatische Kuriergepäck weder geöffnet noch zurückgehalten werden. Damit
stellt sich die Frage, ob eine elektronische Durchleuchtung
unter das Merkmal „öffnen“ subsumiert werden kann. Der
Wortlaut spricht eher dagegen, da unter „öffnen“ üblicherweise das mit einem gewissen Kraftaufwand verbundene
Umgehen einer Sicherung verstanden wird; zwingend ist dies
jedoch nicht. Maßgeblich ist vielmehr der Telos der Vorschrift, der unterschiedlich verstanden wird: Teilweise wird
darauf abgestellt, dass der Empfangsstaat allgemein daran gehindert werden soll, „vom Inhalt des Kuriergepäcks Kenntnis
zu nehmen“48. Etwas restriktiver ließe sich aber auch argumentieren, dass lediglich der genaue Inhalt des Diplomatengepäcks, d.h. z.B. der Inhalt von Dokumenten geschützt sein
soll, da hiermit dem Schutzbedürfnis des Kuriergepäcks hinreichend Rechnung getragen wird. Die Staatenpraxis behandelt diese Frage nicht einheitlich.49
XVI. Darf das Botschaftsgelände bei einer missbräuchlichen Verwendung auch ohne Zustimmung des Missionschefs betreten werden?
Nach Art. 22 Abs. 1 WÜD sind die Räumlichkeiten der Mission unverletzlich und Vertreter des Empfangsstaates dürfen
sie nur mit Zustimmung des Missionschefs betreten. Die
Praxis zeigt die Bemühungen der Staaten, selbst in Extremfällen die Unverletzlichkeit des Botschaftsgeländes zu achten50. Als etwa im Jahre 1984 aus der syrischen Botschaft in
London auf Demonstranten vor der Botschaft geschossen und
eine Polizistin tödlich getroffen wurde, betrat die Polizei
nicht das Botschaftsgelände, um den Täter zu ermitteln. Eine
Ausnahme vom Grundsatz der Unverletzlichkeit ist im WÜD
nicht vorgesehen; ein Rückgriff auf andere Regelungsmechanismen ist aufgrund des Charakters des WÜD als selfcontained regime dann problematisch, wenn man diese nicht
als Völkergewohnheitsrecht qualifiziert (siehe Präambel des
WÜD, 5. Erwägungsgrund). Mangels eindeutiger Staatenpraxis ist der Nachweis hierfür nicht einfach zu führen, doch ist
man sich im Ergebnis darüber einig, dass dem Empfangsstaat
dann ein Betretungsrecht zusteht, wenn erhebliche Gefahren
für den Empfangsstaat vom Botschaftsgelände ausgehen;
47
Siehe Netherlands Yearbook of International Law 1984,
1984, S. 308.
48
Bleckmann, Völkerrecht, 2001, Rn. 754.
49
Vgl. hierzu auch Denza (Fn. 12), S. 238 ff.
50
Siehe v. Arnauld, Völkerrecht, 2. Aufl. 2014, Rn. 580.
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320
20 Wiederholungsfragen zum internationalen Diplomatenrecht
lediglich die dogmatische Begründung ist äußerst umstritten51. Umstritten ist ferner, ob ein Betretungsrecht bei
schwerwiegenden Verstößen gegen Menschenrechte (z.B.
Mord, Folter) anzuerkennen ist (siehe auch Frage XIII.).
XVII. Darf das Botschaftsgelände bei Rettungseinsätzen
auch ohne Zustimmung des Missionschefs betreten werden?
Kommt es zu Unglücksfällen auf dem Botschaftsgelände, ist
es sehr umstritten, ob das Botschaftsgelände auch ohne Zustimmung des Missionschefs betreten werden darf. Die Einschränkung des self-contained regime greift in dieser Fallkonstellation nicht, da die diplomatischen Immunitäten und
Vorrechte nicht auf missbräuchliche Art und Weise genutzt
werden. Es erscheint zu restriktiv, Art. 22 Abs. 1 WÜD als
Absolutheitsgrundsatz aufzufassen und jede Ausnahme abzulehnen. Überzeugender ist es, aufgrund der Bedeutung der
Rechtsgüter Leben und Gesundheit, aber auch zum Schutz
des Empfangsstaates selbst (wenn bspw. ein Feuer auf andere
Gebäude übergreifen kann) eng begrenzte Ausnahmen zuzulassen. Hierfür werden in der Literatur verschiedene Begründungsansätze diskutiert, u.a. eine Lösung über den völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Staatsnotstand.52
XVIII. Welche Folgen hat eine nachträgliche Zustimmung (i.S.v. Art. 22 Abs. 1 WÜD) durch den Entsendestaat?
Wenn Vertreter des Empfangsstaates das Botschaftsgelände
ohne Zustimmung des Missionschefs betreten, kann der
Mangel durch eine nachträgliche (freiwillige) Zustimmung
geheilt werden, da das WÜD den Staaten kein völkerrechtliches Delikt aufzwingt. Aus diplomatischen Gründen kann
sich eine solche nachträgliche Zustimmung durchaus anbieten. Als im Jahre 1997 Guerillas die japanische Botschaft in
Peru besetzten und peruanische Sicherheitskräfte die Botschaft ohne Zustimmung Japans stürmten, wurde der Mangel
durch die nachträgliche Zustimmung Japans geheilt.53
XIX. Besteht ein völkerrechtlicher Anspruch auf die Ausübung diplomatischen Schutzes?
Nach der Rspr. des IGH im Barcelona Traction Case hat der
Staat zwar das Recht, diplomatischen Schutz auszuüben,
doch bestimmen sich Ansprüche des Einzelnen ausschließlich
nach nationalem Recht: „The Court would here observe that,
within the limits prescribed by international law, a State may
exercise diplomatic protection by whatever means and to
whatever extent it thinks fit, for it is its own right that the
State is asserting. Should the natural or legal persons on
whose behalf it is acting consider that their rights are not
adequately protected, they have no remedy in international
law. All they can do is to resort to municipal law, if means
are available, with a view to furthering their cause or obtain51
Siehe hierzu etwa Doehring (Fn. 19), Rn. 676.
Siehe hierzu Redder, AVR 53 (2015), 501.
53
Siehe Heintze (Fn. 19), § 24 Rn. 17; siehe auch v. Arnauld
(Fn. 50), Rn. 575.
52
ÖFFENTLICHES RECHT
ing redress. The municipal legislator may lay upon the State
an obligation to protect its citizens abroad, and may also
confer upon the national a right to demand the performance
of that obligation, and clothe the right with corresponding
sanctions. However, all these questions remain within the
province of municipal law and do not affect the position
internationally.“54 Nach h.M. hat sich bis heute im Völkerrecht noch kein allgemeiner Anspruch des Einzelnen gegen
seinen Staat auf Ausübung diplomatischen Schutzes entwickelt55. Dieser Auffassung liegt vor allem das klassische
Verständnis von Staaten als Völkerrechtssubjekte, denen
völkerrechtliche Rechtspositionen zustehen, zugrunde: „Die
traditionelle Konzeption des Völkerrechts als eines zwischenstaatlichen Rechts versteht den Einzelnen nicht als Völkerrechtssubjekt, sondern gewährt ihm nur mittelbaren internationalen Schutz: Bei völkerrechtlichen Delikten durch Handlungen gegenüber fremden Staatsbürgern steht ein Anspruch
nicht dem Betroffenen selbst, sondern nur seinem Heimatstaat zu [...]. Der Staat macht im Wege des diplomatischen
Schutzes sein eigenes Recht darauf geltend, daß das Völkerrecht in der Person seines Staatsangehörigen beachtet wird
[...].“56 Soweit einen Staat eine Schutzpflicht aus menschenrechtlichen Verträgen trifft, folgt daraus nicht zwingend ein
Anspruch auf diplomatischen Schutz – vielmehr muss der
Ermessensspielraum des Staates beachtet werden.57
XX. Steht die Gewährung diplomatischen Asyls mit dem
Völkerrecht im Einklang?
Mittels diplomatischen Asyls gewährt die diplomatische
Mission des Entsendestaates einer durch die Behörden des
Empfangsstaates gesuchten Person auf dem geschützten Missionsgelände Zuflucht und entzieht sie damit dem Zugriff des
Empfangsstaates.58 Diese Zufluchtsgewährung könnte gegen
das Zweckentfremdungsverbot in Art. 41 Abs. 3 WÜD verstoßen. Hiernach dürfen die Räumlichkeiten der Mission
nicht in einer Weise benutzt werden, die unvereinbar ist mit
den Aufgaben der Mission, wie sie im WÜD, in anderen
Regeln des allgemeinen Völkerrechts (zu denen auch das
Völkergewohnheitsrecht zu rechnen ist) oder in besonderen,
zwischen dem Entsende- und Empfangsstaat in Kraft befindlichen Übereinkünften niedergelegt sind. Gleichzeitig droht
eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Empfangsstaates, deren Unverletzlichkeit sich aus der souveränen
Gleichheit aller Staaten (Art. 2 Nr. 1 UN-Charta) und speziell
aus Art. 41 Abs. 1 S. 2 WÜD ableiten lässt. Für die rechtliche
Beurteilung ist insbesondere der Zweck der Asylgewährung
entscheidend.
54
IGH, Urt. v. 5.2.1970 (Belgium v. Spain) = ICJ Rep. 1970,
3 (44).
55
Siehe Heintze (Fn. 19), § 24 Rn. 9.
56
BVerfGE 94, 315 (329).
57
Vgl. zur EMRK auch Frenz, Handbuch Europarecht, 4.
Aufl. 2009, Rn. 4960 f.
58
Siehe Doehring (Fn. 19), Rn. 928; zum Problem auch
Ress/Stein (Hrsg.), Der diplomatische Schutz im Völker- und
Europarecht, 1996.
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321
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Jan-Philipp Redder
Unumstritten darf die diplomatische Mission dann kein
diplomatisches Asyl gewähren, wenn sie damit einen Straftäter vor der rechtmäßigen Verfolgung durch die Strafverfolgungsbehörden des Empfangsstaates schützt.59 Nach h.M. ist
die Gewährung diplomatischen Asyls für politisch Verfolgte
ebenfalls unzulässig, da sich entsprechendes universelles
Völkergewohnheitsrecht (immer noch) nicht herausgebildet
habe – umstritten ist dies allerdings im Hinblick auf mögliches regionales Völkergewohnheitsrecht in Lateinamerika60.
Ferner ist noch nicht abschließend geklärt, ob die Gewährung
von Asyl aus humanitären Gründen (humanitäres Asyl) auf
dem Botschaftsgelände völkerrechtlich zulässig ist. In Bürgerkriegssituationen oder ähnlichen humanitären Hilfslagen
ist die Botschaft teilweise der einzige Zufluchtsort zum
Schutz von Leib und Leben. In der Literatur wird allerdings
stark bezweifelt, dass sich trotz zahlreicher Einzelfälle bereits
entsprechendes Völkergewohnheitsrecht herausbilden konnte;61 teilweise wird ein Gebot humanitären Schutzes im engeren Sinne aufgrund von „elementaren Erwägungen der
Menschlichkeit“ angenommen.62
59
Siehe Stein/v. Buttlar (Fn. 22), Rn. 745.
Siehe bereits IGH, Urt. v. 20.11.1950 (Colombia v. Peru) =
ICJ Rep. 1950, 266 (277): „The facts brought to the knowledge of the Court disclose so much uncertainty and contradiction, so much fluctuation and discrepancy in the exercise of
diplomatic asylum and in the official views expressed on
various occasions, there has been so much inconsistency in
the rapid succession of conventions on asylum, ratified by
some States and rejected by others, and the practice has been
so much influenced by considerations of political expediency
in the various cases, that it is not possible to discern in all this
any constant and uniform usage, accepted as law, with regard
to the alleged rule of unilateral and definitive qualification of
the offence.“; zum regionalen Völkergewohnheitsrecht in
Lateinamerika IGH, a.a.O., 276 ff.; Doehring (Fn. 19),
Rn. 928.
61
Siehe Marauhn/Simon, ZJS 2012, 593 (598); Stein/
v. Buttlar (Fn. 22), Rn. 748.
62
Siehe hierzu v. Arnauld (Fn. 50), Rn. 578.
60
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ZJS 3/2016
322
Schwerpunktbereichsklausur: Von Puffautos und Kaffeebohnen
Von Akad. Rat a.Z. Dr. Tim Husemann, Wiss. Mitarbeiterin Antje Weirauch, Bochum*
Der Fall wurde – gekürzt um die Problematik der Beteiligung
des Betriebsrats – im Wintersemester 2015/1016 von Prof.
Dr. Jacob Joussen als Vorlesungsabschlussklausur zur Vorlesung „Individualarbeitsrecht mit europäischen Bezügen“
im Schwerpunktbereich „Arbeit und Soziales“ gestellt.
Sachverhalt1
K ist Betreiber einer Kaffeemanufaktur mit Sitz in Düsseldorf. K beschäftigt zwölf Mitarbeiter, davon sind zehn in der
Produktion tätig und zwei als Auslieferungsfahrer. Der Produktionshelfer X ist Betriebsrat in der Kaffeemanufaktur.
Einer der Auslieferungsfahrer ist A, der seit zwei Jahren bei
K tätig ist und die Cafés in Bochum mit Kaffeebohnen beliefert. Da A im Kollegenkreis nicht gerne über sein Privatleben
spricht, geht im Betrieb das Gerücht um, er sei homosexuell.
Anfang Januar 2015 schafft K ein neues Auslieferfahrzeug an. Dieses hat er – wie er findet – besonders werbewirksam gestalten lassen: Auf der Beifahrerseite des Autos ragen
zwei nur mit roten Pumps bekleidete Frauenbeine aus einem
Meer von Kaffeebohnen hervor. Darüber steht die Aufschrift
„Verführerisch lecker“.
K hinterlässt dem V, der als die rechte Hand von K agiert,
eine Notiz: „Lass unseren Schwulen mit dem neuen Wagen
fahren, da freut er sich ☺.“ A findet später diese Notiz. Während A nunmehr mit dem neuen Fahrzeug fahren muss, behält
Y, der andere Auslieferungsfahrer, sein ursprüngliches Auslieferungsfahrzeug. A ist empört. Die Werbung sei geschmacklos und einfach nur peinlich. Er erklärt gegenüber
dem K: „Mit so einem Puffauto fahre ich nicht!“
Daraufhin erhält er am 15.1.2015 ein von K unterschriebenes Schreiben: „Sehr geehrter Herr A, wir haben Ihnen ein
neues Dienstfahrzeug zugeteilt. Sie weigern sich jedoch
grundlos, mit diesem ,Puffauto‘, wie Sie es nennen, zu fahren. Wir weisen Sie darauf hin, dass Ihre schwulen Befindlichkeiten für uns bei der Auswahl unseres Wagenparks keine
Rolle spielen können. Sollten Sie sich weiterhin weigern,
dieses Dienstfahrzeug zu benutzen, sehen wir keine andere
Möglichkeit, als Ihnen zu kündigen.“
A ist der Meinung, solche Beleidigungen müsse er sich
nicht gefallen lassen, geschweige denn ihnen Folge leisten.
Er weigert sich weiterhin, mit dem Auto zu fahren. Unterstützung bekommt er bei X, der sich – nachdem er Kenntnis des
Sachverhalts bekommen hat – am 17.1.2015 schriftlich an K
wendet und mitteilt:
„Als Betriebsrat teile ich Ihnen mit, dass ich mit der Versetzung des A in ein anderes Auto nicht einverstanden bin.
Das nächste Mal fragen Sie mich vorher.“
* Die Autoren sind Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches
Recht, Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht und Sozialrecht von Prof. Dr. Jacob Joussen an der Ruhr-Universität in
Bochum. Die Verf. danken ihm für wertvolle Hinweise.
1
Der Sachverhalt ist inspiriert durch den der Entscheidung
des ArbG Mönchengladbach, Urt. v. 14.10.2015 – 2 Ca
1765/15, zugrunde liegenden Fall.
K nimmt den Brief des X und heftet ihn zu den anderen.
Stattdessen teilt er X am 19.1.2015 schriftlich mit, dass er
beabsichtige, A zu kündigen. X wird über den Sachverhalt
informiert und erhält den später verwendeten Entwurf des
Kündigungsschreibens. Nach dessen Lektüre ist er völlig entsetzt und beschließt, besser nichts mehr zu sagen.
Am 27.1.2015 erhält A folgenden Brief:
„Wir kündigen Ihr Arbeitsverhältnis zu Ende Februar
2015. Da eine weitere Tätigkeit keinen Sinn mehr hat, können Sie von heute an zu Hause bleiben.“
Der Brief ist am selben Tag von V unterzeichnet worden.
Zwar ist V die rechte Hand von K, aber zur Kündigung von
Arbeitsverhältnissen ist er nicht ermächtigt worden. V hatte
den Brief ohne Kenntnis des K geschrieben und abgeschickt,
während K auf Geschäftsreise war. A fragt sich zwar, ob V
überhaupt das Recht hat, ihm zu kündigen, ist aber so wütend, dass er auf keinen Fall mit V reden möchte. Er unternimmt daher nichts und bleibt fortan zu Hause. Am
12.2.2015 erhält er von K ein Schreiben, in dem dieser die
Kündigung vom 27.1.2015 bestätigt.
Nachdem sich A von dem anfänglichen Schock erholt hat,
erhebt er am 27.2.2015 Klage vor dem Arbeitsgericht Bochum. K könne das Arbeitsverhältnis so doch unmöglich
wirksam beendet haben. Dass er das Auto nicht habe fahren
wollen, sei schließlich kein Grund. K hätte es doch auch dem
anderen Auslieferer zuteilen können. Dies und die Schreiben
vom 15.1.2015 und vom 27.1.2015 zeigten doch, dass K es
auf ihn abgesehen habe. K bestreitet dies. Er könne seine
Fahrzeuge doch zuteilen, wie er wolle. Im Übrigen würde
sich ein normaler Mensch doch gar nicht über diese Werbung
aufregen. A solle daher nicht behaupten, er sei ungerecht behandelt worden.
Wird die Klage des A Erfolg haben?
Bearbeiterhinweis
Von Partei-, Prozess- und Postulationsfähigkeit der Parteien
ist auszugehen. Das folgende Bild zeigt das Fahrzeug, das A
benutzen sollte.
Foto: picture alliance/dpa/Roland Weihrauch
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323
ÜBUNGSFÄLLE
Tim Husemann/Antje Weirauch
Lösungsvorschlag
Die Klage des A hat Erfolg, wenn sie zulässig und soweit sie
begründet ist.
A. Zulässigkeit
I. Sachliche Zuständigkeit
Das Arbeitsgericht ist nach §§ 2 Abs. 1 Nr. 3b, 8 Abs. 1
ArbGG sachlich zuständig, da um die Beendigung eines
Arbeitsverhältnisses im ersten Rechtszug gestritten wird. A
ist Arbeitnehmer.2 Das Arbeitsgericht entscheidet gem. §§ 2
Abs. 5, 46 Abs. 1 ArbGG im Urteilsverfahren.
II. Örtliche Zuständigkeit, §§ 2, 46 ArbGG, §§ 12 ff. ZPO
Das Arbeitsgericht Bochum müsste örtlich zuständig sein. In
Betracht kommt eine örtliche Zuständigkeit nach § 48
Abs. 1a ArbGG.
Für den besonderen Gerichtstand des Arbeitsortes ist nach
§ 48 Abs. 1a S. 1 ArbGG der Ort maßgeblich, an dem der
Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung gewöhnlich
tatsächlich erbringt. Erfolgt die Erbringung der Arbeitsleistung gewöhnlich an mehreren Orten, ist der Ort zu bestimmen, an dem die Arbeitsleistung überwiegend erbracht wird.3
K startet von Düsseldorf aus die Belieferung der Cafés,
diese liegen jedoch alle im Bochumer Stadtgebiet, sodass K
seine Arbeitsleistung überwiegend in Bochum erbringt, was
für ein Verfahren nach § 2 Abs. 1 Nr. 3b ArbGG die Zuständigkeit des Arbeitsgerichts in Bochum begründet.
III. Parteifähigkeit, Prozessfähigkeit, Postulationsfähigkeit
Partei-, Prozess- und Postulationsfähigkeit sind gegeben.
IV. Ordnungsgemäße Klageerhebung, §§ 253, 256 ZPO
A müsste ordnungsgemäß Klage erhoben haben. Er begehrt
die Feststellung, dass sein Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht wirksam beendet wurde. Damit ist die Kündigungsschutzklage als besondere (negative) Feststellungsklage
statthafte Klageart.
V. Feststellungsinteresse, § 256 ZPO
A müsste zudem ein besonderes Feststellungsinteresse geltend machen. Ein solches ist bei Feststellungsklagen gem.
§ 256 ZPO stets erforderlich. Bei einer Kündigungsschutzklage ist dies wegen der Wirksamkeitsfiktion der §§ 4, 7
KSchG und dem evtl. drohenden Verlust des Arbeitsplatzes
jedoch immer anzunehmen.
VI. Zwischenergebnis
Die Klage des A ist zulässig.
2
Die Arbeitnehmereigenschaft des A war hier unproblematisch, zur Darstellung von Fällen, in denen dies nicht der Fall
ist vgl. Greiner, Jura 2014, 273.
3
Hohmann, in: Nomos Kommentar zum ArbGG, 3. Aufl.
2014, § 48 Rn. 5.
B. Begründetheit
Die Klage des A müsste begründet sein. Dies ist der Fall,
wenn das Arbeitsverhältnis des A durch die Kündigung vom
27.1.2015 nicht wirksam beendet wurde.
I. Wirksamkeitsfiktion, §§ 4, 7 KSchG
Dazu dürfte zunächst keine Wirksamkeitsfiktion gem. §§ 4, 7
KSchG eingetreten sein. Zur Verhinderung der Wirksamkeitsfiktion muss der Arbeitnehmer gem. § 4 KSchG innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung Kündigungsschutzklage erheben. Ob A rechtzeitig
Klage erhoben hat, hängt davon ab, wann ihm die schriftliche
Kündigung zugegangen ist. Hierfür kommen zwei mögliche
zeitliche Anknüpfungspunkte in Betracht: Der Zugang der
Kündigungserklärung des V am 27.1.2015 oder der Zugang
der Bestätigung der Kündigung am 13.2.2015.
1. Wirksame Vertretung?
Hinweis: Schon in diesem Zusammenhang kann die Frage
angesprochen werden, ob K durch V überhaupt wirksam
vertreten wurde.
Damit das Kündigungsschreiben des V vom 27.1.2015 überhaupt als Kündigung des K gesehen werden kann, müsste V
den K wirksam vertreten haben. Dies ist zunächst abzulehnen, da V nicht zur Kündigung von Arbeitsverträgen ermächtigt war. Da die Kündigung ein einseitiges Rechtsgeschäft
darstellt, ist eine Vertretung ohne Vertretungsmacht grundsätzlich gem. § 180 S. 1 BGB unzulässig.
Die Vertretung könnte jedoch ausnahmsweise gem. § 180
S. 2 BGB zulässig sein. Dies ist der Fall, wenn der Erklärungsempfänger die behauptete Vertretungsmacht nicht beanstandet. V hat durch Auftreten als Stellvertreter des K Vertretungsmacht behauptet. A hat dies nicht beanstandet. Eine
Ausnahme im Sinne des § 180 S. 2 BGB liegt daher vor und
führt zur Anwendbarkeit des § 177 BGB, demzufolge der
Vertretene die Vertretung ohne Vertretungsmacht genehmigen kann. Eine Genehmigung gem. § 177 Abs. 1 BGB ist
durch K erfolgt.
Damit ist die Vertretung des K durch V wirksam. V hat
am 27.1.2015 wirksam die Kündigung ausgesprochen.
Hinweis: Die gerade i.V.m. Kündigungen regelmäßig herangezogene Norm des § 174 BGB betrifft demgegenüber
Erklärungen des wirksam bevollmächtigten Vertreters,
der seine Bevollmächtigung allerdings bei der Kündigungserklärung gegenüber dem Arbeitnehmer nicht
nachweist.4
2. Frist eingehalten?
Für die Einhaltung der Frist des § 4 KSchG ist entscheidend,
auf welchen Zeitpunkt abzustellen ist:
4
Valenthin, in: Beckʼscher Online-Kommentar zum BGB,
Ed. 38, Stand: 1.11.2013, § 174 Rn. 1.
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ZJS 3/2016
324
Schwerpunktbereichsklausur: Von Puffautos und Kaffeebohnen
Wenn es auf den Zeitpunkt, in dem V die Kündigung ausspricht (27.1.2015), ankommt, dann ist die Klage (27.2.2015)
verfristet.
Wenn auf den Zeitpunkt der Genehmigung (13.2.2015)
abzustellen ist, dann wäre die Klage noch rechtzeitig.
Nach einer Ansicht kommt es nur auf den Zeitpunkt der
Kündigungserklärung an, da der Arbeitnehmer sich ohnehin
nur noch gegen inhaltliche Fehler der Kündigung wenden
könne.5 In diesem Fall stünden die Mängel bereits bei Erklärung der Kündigung fest und es sei nicht erforderlich, den
Arbeitnehmer bis zur Genehmigung besonders zu schützen.6
Auch der Arbeitgeber werde dadurch nicht benachteiligt, da
es ihm freistehe, die Kündigung zu genehmigen oder nicht7
und die Präklusionsfrist für eine Klage seinerseits nicht gelte.8
Nach anderer Ansicht ist in solchen Fällen auf den Zeitpunkt der Genehmigung abzustellen: Dem Arbeitgeber sei
eine Kündigung durch einen nicht ermächtigten Vertreter, die
aufgrund der fehlenden Vertretungsmacht nicht vom Willen
des Arbeitgebers gedeckt sei, nicht zuzurechnen. Dies würde
erst durch seine Genehmigung geschehen.9 Dass diese Rückwirkung entfaltet (vgl. § 184 Abs. 1 BGB), sei für die Präklusionsfrist nicht von Belang.10 Denn § 4 S. 1 KSchG knüpfe
den Beginn der Frist an den Zugang der Kündigungserklärung, also auch an die Möglichkeit der Kenntnisnahme durch
den Arbeitnehmer.11 Gleiches müsse dann auch für die Genehmigung gelten.12 Das arbeitgeberseitige Interesse an der
Klärung der Wirksamkeit der Kündigung beginne bei Kündigungen durch einen Vertreter ohne Vertretungsmacht erst mit
der Genehmigung.13
Hinweis: An dieser Stelle muss ein Streitentscheid erfolgen. Beide Ansichten sind vertretbar. Schon aus klausurtaktischen Gründen bietet es sich jedoch an, wie hier vorgeschlagen, dem BAG zu folgen.
A hat somit die Frist des § 4 KSchG eingehalten. Die Wirksamkeit der Kündigung wird nicht gem. §§ 4, 7 KSchG fingiert.
5
Stiebert, NZA 2013, 657 (660).
Stiebert, NZA 2013, 657 (660).
7
Stiebert, NZA 2013, 657 (660).
8
Dem stünde schon der Wortlaut des § 4 KSchG entgegen,
der nur von der Kündigungsschutzklage des Arbeitnehmers
spreche, vgl. Stiebert, NZA 2013, 657 (659 f.).
9
BAG AP KSchG 1969 § 4 Nr. 70.
10
Vgl. allgemein Ellenberger, in: Palandt, Kommentar zum
BGB, 72. Aufl. 2013, § 184 Rn. 2; zur Verjährung Gursky,
in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2009, § 184 Rn. 38
m.w.N.
11
BAGE 143, 84.
12
BAGE 143, 84.
13
BAGE 143, 84.
6
ZIVILRECHT
II. Kündigungserklärung
1. Schriftform, § 623 BGB
Die Kündigung müsste für ihre Wirksamkeit gem. § 623
BGB die Schriftform wahren. Dies ist der Fall.
2. Wirksame Vertretung
V hat K wirksam vertreten.
Hinweis: Hier fiel die Prüfung der wirksamen Vertretung
mit der Einhaltung der Drei-Wochen-Frist des § 4 KSchG
zusammen. Wäre dies nicht der Fall, müsste man die
Thematik des § 180 BGB an dieser Stelle problematisieren.
3. Unwirksamkeit gem. § 134 BGB i.V.m. § 7 Abs. 1 Hs. 1
AGG?
Hinweis: Kann auch als separater Prüfungspunkt behandelt werden.
Die Kündigung könnte gem. § 134 BGB i.V.m. § 7 Abs. 1
Hs. 1 AGG unwirksam sein. Dies setzt jedoch voraus, dass
das AGG auf Kündigungen anwendbar ist. Dem könnte § 2
Abs. 4 AGG entgegenstehen.
Nach einer Ansicht solle § 2 Abs. 4 AGG die Anwendung
der in Umsetzung der europarechtlichen Antidiskriminierungsrichtlinien geschaffenen gesetzlichen Regelungen im
Bereich der Kündigungen vollständig ausschließen.14 Die
Regelung des § 2 Abs. 4 AGG verstoße daher gegen Unionsrecht, denn die Antirassismusrichtlinie und die Rahmenrichtlinie erstreckten ihren sachlichen Anwendungsbereich
ausdrücklich auch auf Entlassungsbedingungen. Der EuGH
habe in der Entscheidung „Chacon Navas“15 das Verbot der
Diskriminierung wegen des Alters auf die Kündigung bezogen. Wegen des Verbots der Auslegung contra-legem sei eine
richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich. Allerdings
greife die Argumentation des EuGH in den Rechtssachen
„Mangold“16 und „Kücükdeveci“17 auch hier: § 2 Abs. 4
AGG sei auch an der Europäischen Grundrechtecharta
(EUGRCh) zu messen und verstoße gegen Art. 20, 21
EUGRCh. Ein Verstoß sei gegeben, wenn ganze Sachbereiche von vornherein aus dem Antidiskriminierungsrecht herausgenommen würden. § 2 Abs. 4 AGG sei deshalb unanwendbar, so dass eine Anwendung der übrigen Normen des
Gesetzes möglich sei.18
14
Bayreuther, DB 2006, 1842; Sagan, NZA 2006, 1257 f.;
Schleusener, in: Schleusener/Suckow/Voigt, Kommentar zum
AGG, 2. Aufl. 2008, § 2 Rn. 28 ff.
15
EuGH, Urt. v. 11.7.2006 – C-13/05 (Sonia Chacón Navas
v. Eurest Colectividades SA).
16
EuGH, Urt. v. 22.11.2005 – C-144/04 (Werner Mangold v.
Rüdiger Helm).
17
EuGH, Urt. v. 19.1.2010 – C-555/07 (Seda Kücükdeveci v.
Swedex GmbH & Co. KG).
18
Vgl. Sagan, NZA 2006, 1257 (1259 f.); Schleusener
(Fn. 14), § 2 Rn. 28 ff.; ähnlich v. Steinau-Steinrück/
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325
ÜBUNGSFÄLLE
Tim Husemann/Antje Weirauch
Nach anderer Ansicht sage § 2 Abs. 4 AGG hingegen nur,
dass Diskriminierungsverbote nicht als eigene Unwirksamkeitsnormen angewendet werden sollen19. § 2 Abs. 4 AGG
könne richtlinienkonform ausgelegt werden: Die Diskriminierungsverbote des AGG seien bei Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des KSchG in der Weise zu beachten, dass
sie Konkretisierungen des Begriffs der Sozialwidrigkeit darstellten. Bei Verstoß einer ordentlichen Kündigung gegen
Diskriminierungsverbote des AGG sei daher u.U. die Sozialwidrigkeit der Kündigung nach § 1 KSchG gegeben.20
Der Streit kann jedoch dahinstehen, wenn die Kündigung
bereits aus anderen Gründen unwirksam ist.
Hinweis: Bei einem Streitentscheid sind beide Ansichten
vertretbar. Entweder wird daraufhin die AGG Problematik an dieser Stelle behandelt oder (wie hier vorgeschlagen) später im Rahmen der Kündigung.
III. Besonderer Kündigungsschutz
Es liegen keine Anhaltspunkte für einen besonderen Kündigungsschutz vor.
IV. Beteiligung des Betriebsrats
Der Betriebsrat war vor der Kündigung gem. § 102 Abs. 1
S. 1 BetrVG zu hören, dabei sind gem. § 102 Abs. 1 S. 2
BetrVG die Gründe für die Kündigung mitzuteilen. Dies
geschieht hier am 19.1.2016. Da X sich entschließt nunmehr
besser zu schweigen, gilt seine Zustimmung sogar gem.
§ 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG nach Ablauf von einer Woche, d.h.
am 26.1.2015, als erteilt. Die am 27.1.2015 ausgesprochene
Kündigung ist damit nicht wegen fehlender Beteiligung des
Betriebsrates unwirksam.
V. Allgemeiner Kündigungsschutz
Die Kündigung könnte wegen eines Verstoßes gegen das
KSchG unwirksam sein. Das setzt zunächst dessen Anwendbarkeit voraus. Als Arbeitnehmer, der zwei Jahre, also länger
als sechs Monate, bei K beschäftigt ist, fällt A in den persönlichen Anwendungsbereich des KSchG gem. § 1 KSchG. Der
betriebliche Anwendungsbereich gem. § 23 KSchG ist ebenfalls eröffnet, da im Betrieb des A zwölf Arbeitnehmer, also
nicht weniger als fünf, beschäftigt sind. Das KSchG ist somit
anwendbar.
VI. Soziale Rechtfertigung der Kündigung
Infolgedessen ist die Kündigung unwirksam, wenn sie sozial
ungerechtfertigt ist, § 1 Abs. 1 KSchG. Dies ist gem. § 1
Abs. 2 KSchG der Fall, wenn die Kündigung nicht durch
Schneider, in: AnwaltKommentar zum Arbeitsrecht, 2. Aufl.
2010, § 2 AGG Rn. 21; Bayreuther, DB 2006, 1842;
Wenckebach, AuR 2008, 70 (71); Thüsing, BB 2007, 1506
(1507); Düwell, FA 2007, 107 (109); Däubler, in: Däubler/
Bertzbach, Handkommentar zum AGG, 3. Aufl. 2013, § 2
Rn. 256 ff.
19
Vgl. BAG NZA 2009, 361 (365).
20
Vgl. BAG NZA 2009, 361 (363).
personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Gründe gerechtfertigt ist. In Betracht kommt eine verhaltensbedingte Kündigung des A.
1. Verletzung von Vertragspflichten durch steuerbares Verhalten
Dazu müsste A seine Vertragspflichten durch steuerbares
Verhalten verletzt haben. Eine solche Verletzung könnte in
der Weigerung des A, das „Puffauto“ zu fahren, zu sehen
sein. Dies ist aber nur dann eine Verletzung seiner arbeitsvertraglichen Pflicht, wenn eine Vertragspflicht überhaupt besteht. Dies setzt voraus, dass die Weisung, das „Puffauto“ zu
fahren, rechtmäßig ist.
a) Rechtsgrundlage für die Weisung: § 106 GewO
Dazu müsste K die Weisung im Rahmen seines Weisungsrechts nach § 106 GewO erteilt haben. Das Weisungsrecht
findet seine Grenzen u.a. in gesetzlichen Regelungen, wozu
auch das AGG gehört.21
aa) Verstößt die Weisung gegen § 7 AGG?
Die Weisung könnte gegen § 7 AGG verstoßen.
(1) Anwendbarkeit des AGG?
Dazu müsste das AGG zunächst anwendbar sein. Der persönliche Anwendungsbereich ist eröffnet, denn A ist Beschäftigter im Sinne von § 6 Abs. 1 AGG. Auch der sachliche Anwendungsbereich ist gem. § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG eröffnet, da
die Weisung Arbeitsbedingungen des A betrifft, nämlich das
zu nutzende Fahrzeug. Das AGG ist somit anwendbar.
(2) Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes?
Die Weisung müsst eine Benachteiligung aufgrund eines in
§ 1 AGG genannten Grundes darstellen. Hier kommt eine
unmittelbare Benachteiligung wegen der sexuellen Identität
des A in Betracht.
Die Homosexualität gehört zur sexuellen Identität, allerdings gibt es nur Gerüchte, dass A schwul ist. Nach § 7
Abs. 1 Hs. 2 AGG22 ist es aber gerade nicht notwendig, dass
das Merkmal auch tatsächlich vorliegt. Es reicht aus, wenn
zur Benachteiligung auf ein nur vermutetes Merkmal abgestellt wird. Insoweit erfüllt das Abstellen auf die - vermeintliche - Homosexualität hier die Voraussetzungen des AGG.
Grundsätzlich wäre A darüber hinaus beweisbelastet für
das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen, aber er könnte
evtl. gem. § 22 AGG Indizien vortragen, die eine Benachtei-
21
BAG NZA 2013, 1160 Rn. 27; Wank, in: Tettinger/Wank/
Ennuschat, Kommentar zur GewO, 8. Aufl. 2011, § 106
Rn. 15; Preis, in: Erfurter Kommentar zur GewO, 16. Aufl.
2016, § 106 Rn. 4.
22
Wortlaut: „[…] dies gilt auch, wenn die Person, die die
Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten
Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt.“
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ZJS 3/2016
326
Schwerpunktbereichsklausur: Von Puffautos und Kaffeebohnen
ZIVILRECHT
ligung vermuten lassen und zu einer Beweislastverschiebung
führen würden.23
Fraglich ist, ob die Schreiben des K (Abmahnung; Kündigung) i.V.m. der Weisung, das neue Auslieferungsfahrzeug
zu fahren, als ausreichendes Indiz für eine Benachteiligung
zu werten sind. Hier ist zu trennen:
Lassen die Schreiben hinreichend vermuten, dass die
Weisung, das „Puffauto“ zu fahren, auf der Homosexualität
des A beruht? Die Abmahnung folgt zeitlich erst auf die
Weisung, das Auto zu fahren; dies gilt jedoch nicht für den
Zettel, den A später findet.
Damit ist zumindest dieser Zettel ein ausreichendes Indiz,
dass die Weisung auf dem genannten Grund beruht.
Im Hinblick auf die Frage, ob die Weisung auf der Homosexualität beruht, liegt ein ausreichendes Indiz vor. K müsste
hier den vollen Gegenbeweis erbringen, was ihm kaum gelingen dürfte.
Von dem Umstand, ob die Weisung auf der sexuellen
Orientierung des A beruht, ist allerdings die Frage zu trennen,
ob das Fahren des „Puffautos“ überhaupt eine Benachteiligung darstellt.
Hier muss nach wie vor A den vollen Beweis erbringen,
§ 22 AGG ist auf diese Tatbestandsvoraussetzung nicht anwendbar.24 Der Wortlaut der Vorschrift, („die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen“), könnte hier auf eine weites Verständnis hindeuten, ist
jedoch mit Blick auf die europäische Herkunft der Vorschrift
nur auf den Kausalzusammenhang und nicht auch auf das
Vorliegen der Benachteiligung an sich zu beziehen.25
Nach § 3 Abs. 1 AGG liegt eine unmittelbare Benachteiligung vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 genannten
Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine
andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.
Erfährt A hier eine weniger günstige Behandlung, weil er
mit dem neuen Auslieferungsfahrzeug fahren muss?
A selbst bejaht dies, was schon aus seiner Reaktion deutlich wird. Für die Beurteilung, ob eine weniger günstige
Behandlung vorliegt, kommt es jedoch auf die objektive
Einschätzung eines verständigen Dritten an.26
Es spricht viel dafür, dass ein verständiger Dritter sich nicht
an der Werbung gestört hätte, zumal es durchaus üblich ist,
dass Firmenwagen, insbesondere Lieferfahrzeuge, Werbung
aufweisen. Der Umstand an sich stellt also keine Benachteiligung dar. Ist es dann aber die besondere Form der Werbung,
die auch von einem verständigen Dritten als Benachteiligung
eingestuft werden könnte? Auch dies ist zu verneinen. Dass
in der Werbung unbekleidete Frauenbeine gezeigt werden, ist
nicht unüblich und würde auch einen verständigen Dritten
nicht irritieren. Selbst wenn er diese Art von Werbung nicht
gutheißt, ist nicht anzunehmen, dass er sich daran in der
Form stören würde, dass er in der Weisung, das betreffende
Auto zu fahren, eine Benachteiligung sehen würde. Dies gilt
insbesondere vor dem Hintergrund, dass ein verständiger
Dritter die Werbung mit der Firma und nicht mit A selbst in
Verbindung bringen würde, sodass A in dieser Hinsicht keine
Rufschädigung droht.
Eine Benachteiligung des A liegt somit nicht vor.
Hinweis: An dieser Stelle sollte eine vertiefende Argumentation erfolgen, warum das Fahren in dem Auto eine
Benachteiligung darstellt oder nicht. Entscheidend ist,
dass hier der Maßstab (subjektives Empfinden des A vs.
Einschätzung eines verständigen Dritten) thematisiert
wird.
Hinweis: Nur ergänzend, d.h. für Bearbeiter, die die fehlende Anwendbarkeit übersehen, sei auf den folgenden
Prüfungspunkt hingewiesen:
Hinweis: Hier lässt sich - unter genauerer Argumentation
- auch eine andere Auffassung vertreten.
(3) Ergebnis zum Verstoß gegen AGG
Die Weisung des K verstößt nicht gegen das AGG und ist aus
diesem Grund nicht unwirksam.
bb) Verstößt die Weisung gegen betriebsverfassungsrechtliches Mitbestimmungsrecht?
Dies hätte zur Folge, dass sie dann ebenfalls unwirksam wäre, denn eine Weisung, die unter Missachtung der Mitbestimmungsrechte erfolgt, ist nach Ansicht des BAG und herrschender Lehre unwirksam (sog. Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung).27
(1) Bestehendes Mitbestimmungsrecht:
Voraussetzung ist zunächst das Bestehen eines Mitbestimmungsrechts. Ein solches könnte evtl. aus § 99 BetrVG folgen, welcher hier aber wegen weniger als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern nicht anwendbar ist.
(2) Verletzung des Mitbestimmungsrechts
Außerdem liegt in der Zuteilung eines anderen Fahrzeugs
keine Versetzung im Sinne des § 95 Abs. 3 BetrVG, so dass
ein Mitbestimmungsrecht auch aus diesem Grunde nicht
besteht.
23
Zum Regelungskonzept des § 22 AGG vgl. Schlachter, in:
Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2016, § 22
AGG Rn. 1.
24
Roloff, in Beckʼscher Online-Kommentar zum AGG,
Ed. 38, Stand: 1.12.2015, § 22 Rn. 3 mit Verweis auf BTDrs. 16/2022, S. 30.
25
So etwa auch Schlachter (Fn. 23), § 22 Rn. 2.
26
Vgl. BAG NZA 2010, 561; BAG NZA 2012, 555.
27
BAG AP Nr. 5 zu § 84 ArbGG 1979; Wank (Fn. 21), § 106
Rn. 16; Reichold, in: Münchener Handbuch zum ArbR,
3. Aufl. 2009, § 36 Rn. 25; a.A. die sog. Theorie der erzwingbaren Mitbestimmung: Richardi, in: Kommentar zum
BetrVG, 12. Aufl. 2010, § 87 Rn. 104 ff.
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327
ÜBUNGSFÄLLE
Tim Husemann/Antje Weirauch
cc) Ergebnis Verletzung von Vertragspflicht
Damit bestand eine Vertragspflicht und A hat hiergegen verstoßen.
2. Verhältnismäßigkeit
Die Kündigung müsste zudem verhältnismäßig sein. Ausprägung dieser Anforderung bei einer verhaltensbedingten Kündigung ist, dass der Arbeitgeber das zu beanstandende Verhalten zunächst abmahnt. Dies ist hier geschehen. Die Abmahnung erfüllt die an sie gesetzten Anforderungen der Hinweis- und Warnfunktion.28
3. Konkrete Interessenabwägung
Schließlich müsste die Kündigung einer konkreten Interessenabwägung standhalten. Der Werbung als Recht des K,
seine (Berufs-) Tätigkeit auszuüben, steht das Persönlichkeitsrecht des A, gegen seinen Willen nicht mit einem solchen Auto fahren zu müssen, gegenüber.
Das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers ist hier jedoch eher nur marginal tangiert, so dass eine Interessenabwägung zugunsten des K ausfällt.
VII. Einhaltung der Kündigungsfrist
K müsste die gesetzliche Kündigungsfrist des § 622 BGB
eingehalten haben. Diese hängt bei einer Kündigung durch
den Arbeitgeber gem. § 622 Abs. 2 BGB von der Beschäftigungsdauer des Arbeitnehmers ab. A ist seit zwei Jahren für
K tätig. Gem. § 622 BGB Abs. 2 Nr. 1 BGB beträgt die Kündigungsfrist somit einen Monat zum Ende eines Kalendermonats. A erhielt die Kündigung zu Ende Februar 2015 am
27.1.2015. Die Kündigungsfrist wurde folglich eingehalten.
VIII. Ergebnis
Die Kündigung des A ist somit wirksam und die Klage damit
unbegründet. Das Arbeitsgericht wird die Kündigungsschutzklage abweisen.
28
Zur Abmahnung vgl. Eisemann, in: Küttner, Personalbuch,
22. Aufl. 2015, Stichwort: Abmahnung Rn. 1 ff.
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ZJS 3/2016
328
Fortgeschrittenenklausur: Das Golfparadies
Von Rechtsanwältin Antje G. I. Tölle, Berlin*
Sachverhalt
Der Eigentümer Ewald (E) verpachtet sein unbebautes
Grundstück an den eingetragenen Verein „Grünes-Glück
e.V.“ (G), der durch seinen Vorstand vertreten wird. Im Vertrag behält sich G das Recht zur Unterverpachtung vor.
G findet Paulsen (P) als Pächter, der das brachliegende
Gelände zu einem Golfplatz ausbauen möchte. Der vom
Vereinsvorstand und P abgeschlossene Vertrag enthält unter
anderem folgende Passagen:
§ 8 Nach Beendigung des Pachtvertrages kann der Pächter vom Verpächter einen angemessenen Verwendungsersatz
für Umbauten auf dem Grundstück verlangen.
§ 9 Bei Beendigung des Vertrages hat der Pächter das
Recht, Dinge, mit denen er die Pachtsache versehen hat, wegzunehmen. Dem Verpächter steht seinerseits das Recht zu,
die Wegnahme zu verlangen.
Zur Gestaltung des Golfplatzes legt P eine große Rasenfläche an und baut ein Mehrzweckgebäude mit einer Nutzfläche von 400 Quadratmetern. Hier finden unter anderem Stellplätze für Golfmobile, Umkleideräume und eine Speisewirtschaft Platz.
Nach sechs Jahren Pachtzeit kündigt P fristgemäß den
Pachtvertrag mit dem Verein. Nach der Räumung des Grundstückes macht er jedoch weder von seinem Wegnahmerecht
Gebrauch noch verlangt er Verwendungsersatz. Der Verein
ist darüber sehr glücklich, denn ein Verwendungsersatz hätte
sein Budget um ein vielfaches überstiegen und bei einer neuen Verpachtung als Golfplatz kann er einen höheren Pachtzins verlangen.
Fünf Monate nach der Räumung des Golfplatzes übersendet P an E eine Kostenaufstellung, die seine Investitionen in
den Golfplatz enthält. Er veranschlagt 200.000 € für die Errichtung des Mehrzweckgebäudes und 1.800 € für die Rasensamen, die er für die Golffläche eingesetzt hat. E sieht sich
nicht in der Pflicht diese Investitionen zu ersetzen. Schließlich hätten P und G eine vertragliche Regelung über Verwendungsersatz getroffen, so dass sich P an den Verein halten
müsse. Darüber hinaus wären diese Kosten nicht angefallen,
wenn P oder G von ihrem Wegnahmerecht aus § 9 ihres Vertrages Gebrauch gemacht hätten. Dieses Unterlassen könne
nicht zu Lasten des Eigentümers gehen. Vor allem, weil der
Mehrwert des Golfplatzes bei der Neuverpachtung nur G und
nicht ihm als Eigentümer zugutekäme.
Frage 1
Hat P gegen E einen Anspruch auf Ersatz der 201.800 €?
* Die Autorin ist Geschäftsführerin des Forschungsinstitutes
für Anwaltsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin und
wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Singer an der
Humboldt-Universität zu Berlin.
Frage 2
Hätte P gegen E einen Anspruch auf Ersatz der 201.800 €,
wenn zwischen G und P § 8 und § 9 im Pachtvertrag nicht
vereinbart worden wären?
Zusatzfrage
Welches Gericht ist für eine Klage von P gegen E örtlich und
sachlich zuständig?
Bearbeitervermerk
Es ist die jeweils geltende Rechtslage anzuwenden. Übergangsvorschriften sind nicht zu prüfen.
Lösungsvorschlag zu Frage 1
I. Anspruch P gegen E auf Verwendungsersatz aus Vertrag
Ein Anspruch auf Verwendungsersatz von P gegen E muss
ausscheiden, denn zwischen beiden wurde kein Vertrag geschlossen. Dieser bestand alleine zwischen P und G.
II. Anspruch P gegen E auf Aufwendungsersatz gem.
§§ 683 S. 1, 670 BGB
P könnte gegen E einen Anspruch auf Aufwendungsersatz
aus einer echten berechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag
nach §§ 683 S. 1, 670 BGB haben. Dazu müsste P ein Geschäft des E mit Fremdgeschäftsführungswillen geführt haben. Außerdem müsste die Geschäftsführung dem Willen und
Interesse von E entsprochen haben und P dürfte nicht aufgrund einer Verpflichtung gehandelt haben.
1. Führung eines fremden Geschäftes
Das Anlegen eines Golfplatzes müsste ein fremdes Geschäft
sein. Ein Geschäft ist jedes rechtliche oder tatsächliche Handeln. Es ist fremd, wenn es aus objektiver Perspektive dem
Rechtskreis eines anderen zuzuordnen ist. Das Anlegen eines
Golfplatzes und der Bau eines Mehrzweckgebäudes ist ein
tatsächliches Handeln. Aus objektiver Perspektive gehören
solche grundlegenden Umgestaltungen in die Sphäre des
Eigentümers.
2. Fremdgeschäftsführungswille
Darüber hinaus müsste P mit Fremdgeschäftsführungswillen
gehandelt haben. Er müsste also um die Fremdheit des Geschäftes gewusst haben und es für einen anderen tätigen gewollt haben. Hier wollte P den Golfplatz anlegen, um das
gepachtete Grundstück für sich selber wirtschaftlich nutzbar
zu machen. Insoweit handelte er nur für sich und ohne
Fremdgeschäftsführungswillen.
III. Anspruch P gegen E auf Verwendungsersatz gem.
§ 994 Abs. 1 BGB
P könnte gegen E einen Anspruch auf Verwendungsersatz
aus § 994 BGB haben.
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329
ÜBUNGSFÄLLE
Antje G. I. Tölle
1. Anspruch entstanden
Für einen entstandenen Anspruch müsste eine Vindikationslage vorliegen, die Umgestaltung müsste eine nützliche Verwendung sein und P müsste gutgläubig sein.
a) Vindikationslage im Zeitpunkt der Verwendung
Für eine Vindikationslage müsste der Anspruchsgegner E
Eigentümer sein, der Anspruchssteller P Besitzer ohne Recht
zum Besitz sein.
aa) Anspruchsgegner ist Eigentümer
E ist Eigentümer und hat sein Eigentum nie verloren. Die
Verpachtung an G und die Unterverpachtung von G an P
betrafen nur das Besitzrecht.
bb) Anspruchssteller ist Besitzer
Im Zeitpunkt der Umgestaltung des Grundstückes war P
unmittelbarer Besitzer.
cc) Anspruchssteller hat kein Recht zum Besitz
Problematisch ist, ob P im Zeitpunkt des Umbaus gegenüber
dem Eigentümer ein Recht zum Besitz im Sinne des § 986
Abs. 1 BGB hatte.
spruches eine Vindikationslage bestände. Insoweit ist dann
§ 994 BGB analog anzuwenden.1
Danach wäre zugunsten von P eine Vindikationslage gegeben.
Eine andere Meinung weist darauf hin, dass diese Lösung
den Besitzer unbillig bevorteilen würde. Er habe sich vorrangig innerhalb seines geschlossenen Pachtvertrages an seinen
Verpächter – hier G – zu halten. Dieser Vorrang vertraglicher
Abreden und des dort eingegangenen Insolvenzrisikos dürfe
nicht künstlich im EBV durchbrochen werden. Darüber hinaus käme es in allen anderen Situationen immer auf die Vindikationslage im Zeitpunkt des haftungsauslösenden Ereignisses an.2
Danach würde keine Vindikationslage im Zeitpunkt der
Verwendung bestehen und damit ein Anspruch aus § 994
BGB ausscheiden.
Da die Meinungen zu unterschiedlichen Ergebnissen
kommen, ist eine Entscheidung des Streites erforderlich. Für
die erste Meinung spricht, dass der ursprünglich berechtigte
Besitzer nach dem Wegfall seines Rechtes zum Besitz
schlechter steht als wenn er von Anfang an kein Recht zum
Besitz besessen hätte. Diese Situation scheint ihn zu benachteiligen, so dass eine Korrektur über die analoge Anwendung
von §§ 994 ff. BGB geboten ist.
(1) Eigenes Recht zum Besitz, § 986 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB
P könnte ein eigenes Recht zum Besitz gegenüber dem Eigentümer im Sinne des § 986 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB gehabt
haben. Allerdings verband P und E weder ein dingliches noch
ein vertragliches Recht, so dass dies ausscheiden muss.
Hinweis: Eine andere Meinung, die das temporale Element aller Ansprüche aus dem EBV betont, ist gut vertretbar. Bearbeiter, die das Institut des „Nicht-mehrBerechtigten“ ablehnen, müssen die folgende Wertungskorrektur nicht eröffnen.
(2) Abgeleitetes Recht zum Besitz, § 986 Abs. 1 S. 1 Alt. 2,
S. 2 BGB
In Betracht kommt jedoch ein abgeleitetes Recht im Sinne
des § 986 Abs. 1 S. 1 Alt. 2, S. 2 BGB. Dazu müsste G als
mittelbarer Besitzer dem Eigentümer gegenüber zum Besitz
berechtigt und zur Weitergabe des Besitzes an einen Dritten
ermächtigt gewesen sein. Hier hatten E und der kraft Eintragung (§ 21 BGB) rechtsfähige Verein G, vertreten durch den
Vorstand (§ 26 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 BGB), einen Pachtvertrag
geschlossen. Dieser Pachtvertrag stellt im Sinne des § 868
BGB ein Besitzmittlungsverhältnis dar und G war berechtigter unmittelbarer Besitzer. G war die Besitzüberlassung an P
im Rahmen der Unterverpachtung gestattet, so dass P ein
abgeleitetes Recht zustand. Somit stand ihm ein Recht zum
Besitz im Zeitpunkt der Umgestaltung zu.
(4) Ausschluss aus Wertungsgesichtspunkten
Im Rahmen dieses Sachverhaltes ist jedoch problematisch, ob
der Befund nicht zu korrigieren ist. In die Abwägung ist
einzustellen, dass P und G im Pachtvertrag einen Verwendungsersatz vereinbart haben. Dies könnte eine vorrangige
vertragliche Regelung darstellen. Grundsätzlich ist anerkannt,
dass Ansprüche aus dem Eigentümer-Besitzer-Verhältnis und
aus einem Vertrag nebeneinander stehen können. Im vorliegenden Fall wäre der vertragliche Anspruch jedoch gegen
den mittelbaren Besitzer G zu richten. Der Eigentümer wäre
nur Schuldner eines Anspruches aus § 994 BGB, so dass
dieser belastet wäre, weil der Gläubiger seinen vertraglichen
Anspruch nicht geltend gemacht hat. Diese Situation benachteiligt den Eigentümer unbillig, so dass eine Vindikationslage
mit Blick auf eine vorrangige vertragliche Anspruchsgrundlage nicht vorliegt.
(3) Korrektur über das Institut des „Nicht-mehr-Berechtigten“ Besitzers
Fraglich ist, ob dieser Befund über die Figur des „Nichtmehr-Berechtigten“ zu korrigieren ist.
Eine Meinung möchte dem „Nicht-mehr-Berechtigten“
Besitzer in dieser Situation eine Brücke bauen und ihm einen
Anspruch auf Verwendungsersatz aus den §§ 994 ff. BGB
zusprechen. Betont wird, dass es nur darauf ankäme, dass im
Zeitpunkt der Geltendmachung des Verwendungsersatzan-
b) Zwischenergebnis
Es liegt keine Vindikationslage vor.
1
BGH NJW 1961, 499 (501 f.); BGH NJW 2015, 229
(230 f.).
2
Baldus, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl.
2013, Vorb. §§ 987-1003, Rn. 13; Bauer/Stürner, Sachenrecht, 2009, § 11 Rn. 30.
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ZJS 3/2016
330
Fortgeschrittenenklausur: Das Golfparadies
2. Ergebnis
Mithin hat P keinen Anspruch gegen E auf Verwendungsersatz gem. § 994 BGB.
IV. Anspruch P gegen E auf Wertersatz gem. §§ 951
Abs. 1 S. 1, 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB
P könnte gegen E einen Anspruch auf Wertersatz gem.
§§ 951 Abs. 1 S. 1, 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB haben.
1. Anspruch entstanden
a) Anwendbarkeit
Der Anwendbarkeit von § 951 Abs. 1 S. 1 BGB steht keine
Sperrwirkung der Regeln des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses entgegen, denn es liegt keine Vindikationslage vor.
b) Voraussetzungen von § 951 Abs. 1 S. 1 BGB
Es müssten zunächst die Voraussetzungen von § 951 Abs. 1
S. 1 BGB vorliegen. P müsste aufgrund von §§ 946-950 BGB
sein Eigentum verloren haben.
In Betracht kommt eine Verbindung mit einem Grundstück nach § 946 BGB, indem P Rasen säte und das Mehrzweckgebäude errichtete. Nach § 946 BGB erwirbt der Eigentümer eines Grundstückes Eigentum an allen mit diesem
verbundenen Gegenständen.
aa) Rasen
Nach § 94 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 BGB werden Samen mit dem
Aussäen Teil des Grundstückes und gehen so in das Eigentum des Grundstückseigentümers über.
bb) Mehrzweckgebäude
Nach §§ 93, 94 Abs. 1 S. 1 BGB gehören zu einem Grundstück alle mit ihm verbundenen Gebäude.
c) Voraussetzungen des Bereicherungsrechts
Darüber hinaus müssten die Voraussetzungen des Bereicherungsrechtes vorliegen. Zunächst ist fraglich, ob es sich um
einen Rechtsgrund oder einen Rechtsfolgenverweis handelt.
Die h.M. in Literatur und Rechtsprechung geht dabei von
einem Rechtsgrundverweis aus.3
aa) Etwas erlangt
E müsste etwas erlangt haben. Dies kann jeder vermögenswerte Vorteil sein. Hier kommen zwei Bereicherungsgegenstände in Betracht.
ZIVILRECHT
(1) Eigentum am Golfplatz
Der E ist nunmehr Eigentümer eines Golfplatzes samt einem
Mehrzweckgebäude. Beides stellt einen vermögenswerten
Vorteil dar.
(2) Mehrwert bei erneuter Verpachtung
Darüber hinaus könnte die Möglichkeit, das Grundstück als
Golfplatz zu einem höheren Preis zu verpachten als ein
brachliegendes Grundstück, einen vermögenswerten Vorteil
darstellen. Grundsätzlich ist der Mehrwert eines höheren
Pacht- oder Mietzinses anerkannt.4 Diese Fallkonstruktion
wendet der BGH jedoch nur an, wenn der Vermieter durch
eine vorzeitige Beendigung des Vertrages in den Genuss der
Wertsteigerung kommt. Im vorliegenden Fall war jedoch kein
befristeter Pachtvertrag geschlossen worden. Darüber hinaus
kommt der Mehrwert im Moment nicht dem Eigentümer zu,
sondern dem Pächter G. Solange der Pachtvertrag zwischen
G und E fortbesteht, kann nur G einen höheren Unterpachtzins generieren, so dass eine Bereicherung des E abzulehnen
ist.
bb) Durch Leistung des Anspruchsstellers
Vor der Frage, ob eine Leistung von E vorliegt, ist zu klären,
ob der Verweis auf das Bereicherungsrecht sowohl einen
Verweis auf die Leistungskondiktion und die Kondiktion in
sonstiger Weise erfasst, oder ob nur die Kondiktion in sonstiger Weise umfasst ist.
In der überwiegenden Literatur wird vertreten, dass mit
dem Wortlaut „erleidet“ nur ein gesetzlicher Erwerb und
keine rechtsgeschäftliche Leistung gemeint ist. Derjenige, der
einen Rechtsverlust erleidet, muss auch identisch mit dem
Anspruchssteller sein. Wenn jemand jedoch Materialien verbaut, die im Eigentum eines Dritten stehen, fallen diese Positionen auseinander.5
Danach wäre nur die Kondiktion in sonstiger Weise vom
Verweis erfasst.
Namentlich die Rechtsprechung geht davon aus, dass der
Verweis sowohl die Leistungskondiktion als auch die Kondiktion in sonstiger Weise erfasst. Insgesamt ist es möglich,
dass ein Dritter einen Rechtsverlust erleidet, weil jemand
anderes leistet.6
Danach wäre es möglich, eine Leistungskondiktion zu
prüfen.
In Zweipersonenverhältnissen hat dieser Streit keine Bedeutung. Hier wird auch mit Blick auf die Leistungskondiktion der Rechtsverlust beim Leistenden eintreten. Soweit man
mit der Literatur im Dreipersonenverhältnis nur einen Verweis auf die Nichtleistungskondiktion anerkennen möchte, ist
neben der Prüfung von § 951 BGB die Prüfung einer eigen4
BGH NJW-RR 2006, 294 (295); BGH NJW 2009, 2374.
Gursky (Fn. 3), § 951 Rn. 2; Füller, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, § 951 Rn. 3; Stürner/
Heggen, JuS 2000, 328 (330 f.).
6
So die st. Rspr., BGH NJW 1989, 2745 (2746); ohne Argument, aber die Leistungskondiktion prüfend BGH NJW 2015,
229 (231).
5
3
BGH NJW 2015, 229 (231); Gursky, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2011, § 951 Rn. 1; Kritik ist daran vereinzelt geblieben: Imlau, NJW 1964, 1999; Hadding, in: Festschrift für Otto Mühl zum 70. Geburtstag am 10. Oktober
1981, 1981, S. 225 (260 ff.).
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331
ÜBUNGSFÄLLE
Antje G. I. Tölle
ständigen Leistungskondiktion ohne Verweis aus § 951
Abs. 1 S. 1 BGB möglich.
Hinweis: Wenn eine Entscheidung des Streites erforderlich ist, sprechen die besseren Argumente für die Rechtsprechung, denn der Wortlaut des § 951 BGB enthält
eben gerade keine Beschränkung. Eine andere Ansicht ist
jedoch gut vertretbar.
P müsste nun an E geleistet haben, also bewusst und zweckgerichtet das Vermögen von E gemehrt haben. Vorliegend
verfolgte P mit dem Anlegen des Golfplatzes jedoch nur
eigene Ziele, ohne zweckgerichtet das Vermögen von E vermehren zu wollen. Mithin muss eine Leistung ausscheiden.
2. Ergebnis
Mithin hat P keinen Anspruch gegen E auf Wertersatz gem.
§§ 951 Abs. 1 S. 1, 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB.
V. Anspruch P gegen E auf Wertersatz gem. §§ 951 Abs. 1
S. 1, 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB
P könnte gegen E einen Anspruch auf Wertersatz gem.
§§ 951 Abs. 1 S. 1, 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB haben.
1. Anspruch entstanden
a) Anwendbarkeit
Der Anspruch auf Wertersatz gem. § 951 Abs. 1 S. 1 BGB ist
nicht gesperrt, denn es liegt keine Vindikationslage vor.
b) Voraussetzungen von § 951 Abs. 1 S. 1 BGB
Wie oben bereits gezeigt, liegen die Voraussetzungen des
§ 951 Abs. 1 S. 1 BGB vor.
c) Voraussetzungen des Bereicherungsrechtes
Es müssten die weiteren Voraussetzungen einer Kondiktion
in sonstiger Weise vorliegen.
aa) Etwas erlangt
E hat das Eigentum an dem Golfplatz und dem Mehrzweckgebäude erlangt.
bb) In sonstiger Weise
Diese Bereicherung müsste E in sonstiger Weise erfahren
haben. Mit Blick auf die Subsidiarität der Nichtleistungskondiktion dürfte niemand an E geleistet haben. Vorliegend hat
niemand bewusst und zweckgerichtet das Vermögen von E
gemehrt, so dass grundsätzlich der Weg für die Kondiktion in
sonstiger Weise geebnet ist. Im Rahmen des Bereicherungsrechtes im Mehrpersonenverhältnis verbietet sich jedoch eine
schematische Lösung, sondern es ist der Einzelfall zu betrachten. In diesem ist in Rechnung zu stellen, dass die Bereicherung des E entfallen wäre, wenn P von seinem Wegnahmerecht Gebrauch gemacht hätte oder wenn G die Wegnahme nach § 9 des Vertrages eingefordert hätte. Es ist also ein
zufälliges Ergebnis, dass der Eigentümer mit dem Golfplatz
belastet ist. Es erscheint mit Blick auf die vertraglichen Rege-
lungen - die grundsätzlich Vorrang genießen - unbillig, dem
Eigentümer eine Bereicherung in sonstiger Weise aufzuerlegen.
2. Ergebnis
Mithin hat P keinen Anspruch gegen E auf Wertersatz gem.
§§ 951 Abs. 1 S. 1, 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB.
Lösungsvorschlag zu Frage 2
Hätte P gegen E einen Anspruch auf Ersatz der 201.800 €,
wenn zwischen G und P § 8 und § 9 im Pachtvertrag nicht
vereinbart worden wären?
I. Anspruch P gegen E auf Verwendungsersatz aus Vertrag
Ein vertraglicher Anspruch auf Verwendungsersatz von P
gegen E muss ausscheiden, denn zwischen beiden wurde kein
Vertrag geschlossen. Dieser bestand alleine zwischen P und
G.
II. Anspruch P gegen E auf Aufwendungsersatz gem.
§§ 683 S. 1, 670 BGB
Ein Anspruch aus einer Geschäftsführung ohne Auftrag
scheitert wiederum am fehlenden Fremdgeschäftsführungswillen des P.
Hinweis: Mit Blick auf die unten diskutierte Sperrwirkung
der Regeln des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses wären
auch Ansprüche aus der Geschäftsführung ohne Auftrag
gesperrt. Vor diesem Hintergrund ist es vertretbar den
Anspruch erst nach den dinglichen Ansprüchen zu prüfen.
Da er jedoch ohnehin ausscheidet ist dies nicht zwingend.
III. Anspruch P gegen E auf Verwendungsersatz gem.
§ 994 BGB
1. Anspruch entstanden
a) Vindikationslage im Zeitpunkt der Verwendung
Für eine Vindikationslage müsste der Anspruchsgegner E
Eigentümer sein, der Anspruchssteller P Besitzer ohne Recht
zum Besitz sein.
aa) Anspruchssteller ist Eigentümer
E ist Eigentümer und hat sein Eigentum nie verloren. Die
Verpachtung an G und die Unterverpachtung von G an P
betrafen nur das Besitzrecht.
bb) Anspruchssteller ist Besitzer
Im Zeitpunkt der Umgestaltung des Grundstückes war P unmittelbarer Besitzer.
cc) Anspruchssteller hat kein Recht zum Besitz
Problematisch ist, ob P im Zeitpunkt des Umbaus gegenüber
dem Eigentümer ein Recht zum Besitz im Sinne des § 986
Abs. 1 BGB hatte.
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ZJS 3/2016
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Fortgeschrittenenklausur: Das Golfparadies
(1) Eigenes Recht zum Besitz, § 986 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB
P hat weder ein dingliches noch ein vertragliches Verhältnis
zu E.
(2) Abgeleitetes Recht zum Besitz, § 986 Abs. 1 S. 1 Alt. 2,
S. 2 BGB
Wie oben festgestellt, hat P im Zeitpunkt der Verwendung
ein abgeleitetes Recht zum Besitz aus dem Pachtvertrag zwischen G und E.
(3) Korrektur über das Institut des „Nicht-mehr-Berechtigten“ Besitzers
Wie oben bereits diskutiert, könnte dieses Ergebnis korrigiert
werden über das Institut des „Nicht-mehr-Berechtigten“. Die
oben vorgestellten divergierenden Meinungen sind zugunsten
einer Korrektur über das Institut des „Nicht-mehr-Berechtigten“ zu entscheiden.
Alternativlösung 1: Für Bearbeiter, die das Institut des
„Nicht-mehr-Berechtigten“ ablehnen, endet die Prüfung
von § 996 BGB hier.
b) Notwendige Verwendungen
Die Investitionen in die Umgestaltung des brachliegenden
Grundstückes in einen Golfplatz müssten nützliche Verwendungen sein.
aa) Verwendung
Dazu müssten Verwendungen vorliegen. Die Auslegung
dieses Begriffes ist umstritten.
Nach dem engen Verwendungsbegriff des BGH sind dies
nur freiwillige Vermögensopfer, die der Sache zugutekommen ohne sie umzugestalten. Dies wird begründet mit dem
Sprachgebrauch des § 950 BGB, wo eine gänzlich neue Gestaltung eine Veränderung und keine Verwendung mehr sei.
Die Errichtung eines Hauses sei eine Veränderung.7
Danach würde der Hausbau keine Verwendung mehr darstellen.
Eine andere Meinung begreift den Verwendungsbegriff
weiter und will auch Umgestaltungen darunter subsumieren.
Für sie ergibt sich eine Beschränkung weder aus dem Wortlaut des Gesetzes noch aus den Materialien des Bürgerlichen
Gesetzbuches.8
Danach stellt die Errichtung des Hauses eine Verwendung
dar.
Da die Meinungen zu unterschiedlichen Ergebnissen
kommen, ist eine Entscheidung des Streites erforderlich. Die
Meinung der Rechtsprechung erscheint vorzugswürdig, denn
sie bewahrt den Eigentümer vor grundlegenden Umgestaltungen, die tief in die Dispositionsfreiheit des Eigentümers
über sein Eigentum eingreifen.
7
So die st. Rspr., grundlegend dazu BGH NJW 1953, 1466.
Roth, JuS 1997, 1087 (1089); Bassenge, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 74 Aufl. 2015, § 994 Rn. 4; Baldus
(Fn. 2), § 994 Rn. 11.
8
ZIVILRECHT
Hinweis: Eine andere Ansicht ist vertretbar.
bb) Zwischenergebnis
Bei dem Hausbau handelt es sich nicht um eine Verwendung.
2. Ergebnis
Mithin hat P keinen Anspruch gegen E auf Verwendungsersatz gem. § 994 BGB.
Alternativlösung 2: Für Bearbeiter, die mit der Literatur
den weiten Verwendungsbegriff verfolgen, müssen weiter
prüfen, ob die Verwendungen notwendig waren, kommen
aber dann mangels Notwendigkeit zum selbigen Ergebnis.
Ferner wäre wie folgt ein Verwendungsersatzanspruch
nach § 996 BGB zu prüfen:
Im Zeitpunkt der Umgestaltung bestand eine Vindikationslage (s.o.).
Bei den vorgenommen Maßnahmen handelt es sich auch
um Verwendungen (s.o.).
Weiter müssten das Aussäen des Rasens und der Bau des
Mehrzweckhauses nützlich sein. Verwendungen sind
nützlich, wenn sie den Wert oder die Brauchbarkeit der
Sache verbessern, ohne eine reine Luxusverwendung zu
sein. Eine Rasenfläche steigert den Wert eines Grundstückes im Vergleich zu einer brachliegenden Fläche.
Gleichzeitig ist es noch keine Luxusverwendung. Die Errichtung eines Hauses steigert sowohl den Wert als auch
die Brauchbarkeit eines Grundstückes.
P dürfte ferner weder rechtshängig verklagt worden sein
noch dürfte er bösgläubig hinsichtlich seines Rechtes zum
Besitz gewesen sein. Hier war P keine Klage des Eigentümers auf Herausgabe zugestellt worden (§§ 253 Abs. 1,
261 Abs. 1 ZPO) und er war nicht bösgläubig (§ 932
Abs. 2 BGB).
Mithin hat P auch keinen Anspruch gegen E auf Verwendungsersatz gem. § 996 BGB.
IV. Anspruch P gegen E auf Wertersatz gem. §§ 951
Abs. 1 S. 1, 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB
P könnte gegen E einen Anspruch auf Wertersatz gem.
§§ 951 Abs. 1 S. 1, 812 Abs. 1 S 1 Alt. 2 BGB haben.
1. Anspruch entstanden
a) Anwendbarkeit
Der Anspruch auf Wertersatz gem. § 951 Abs. 1 S. 1 BGB
müsste anwendbar sein. Näher zu betrachten ist das Verhältnis des Verwendungsersatzes aus dem Eigentümer-BesitzerVerhältnis und § 951 Abs. 1 S. 1 BGB.
Nach der oben verfolgten Lösung liegt eine Vindikationslage unter Anwendung der Lehre vom „Nicht-mehrBerechtigten“ vor. Das Gesetz hält keine Regelung zur
Sperrwirkung der §§ 994 ff. BGB bereit, so dass fraglich ist,
ob die Regeln über den Verwendungsersatz ähnlich zu den
Regeln über Nutzungs- und Schadensersatz abschließend
sind. Bei dieser Analyse ist besonders zu beachten, dass nach
hier erfolgter Lösung des BGH der Anspruch aus § 996 BGB
an seinem engen Verwendungsbegriff gescheitert ist.
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333
ÜBUNGSFÄLLE
Antje G. I. Tölle
Die Rechtsprechung betrachtet die §§ 994 ff. BGB als geschlossenes System. Soweit nach dem oben gefundenen Ergebnis eine Vindikationslage vorliegt, bleibt dem Besitzer
nur das (im Fall des Hausbaus) wertlose Wegnahmerecht.9
Danach würde ein Ersatz über das Bereicherungsrecht
ausscheiden.
Eine andere Meinung folgt dem oben vorgestellten engen
Verwendungsbegriff, möchte jedoch aus Wertungsgesichtspunkten den Wertersatz über §§ 946, 951 Abs. 1, 812 ff.
BGB eröffnen.10
Danach wäre ein Regress nach §§ 946, 951 Abs. 1, 812 ff.
BGB möglich.
Eine andere Meinung, die an den weiten Verwendungsbegriff anknüpft, folgt einer Exklusivität der Ansprüche aus
§§ 994 ff. BGB.11
Danach wäre das Bereicherungsrecht auch gesperrt.
Da die Meinungen zu unterschiedlichen Ergebnissen
kommen, ist eine Entscheidung des Streites erforderlich.
Soweit oben dem Begriff des engen Verwendungsersatzes
gefolgt wurde, muss die Sperrwirkung der Ansprüche aus
dem EBV konsequent verfolgt werden und ebenso die Anwendung des Bereicherungsrechtes - und auch § 951 BGB ist gesperrt.
Hinweis: Eine andere Ansicht ist vertretbar.
b) Zwischenergebnis
Die Anwendung des § 951 Abs. 1 S. 1 BGB ist durch das
Eigentümer-Besitzer-Verhältnis gesperrt.
2. Ergebnis
Mithin hat P keinen Anspruch gegen E auf Wertersatz gem.
§§ 951 Abs. 1 S. 1, 812 Abs. 1 S 1 Alt. 2 BGB.
Alternativlösung 1: Bearbeiter, die oben der ersten Alternativlösung gefolgt sind, haben keine Vindikationslage
angenommen und so kommt keine Sperrwirkung in Betracht. Sie prüfen weiter, wie unter der Alternativlösung 3.
Alternativlösung 2: Bearbeiter, die dem weiten Verwendungsbegriff gefolgt sind, können hier an der Sperrwirkung der Ansprüche aus dem Eigentümer-Besitzer-Verhältnis festhalten. Für sie besteht ein Anspruch aus § 996
BGB und so muss nicht aus Gesichtspunkten der Billigkeit die Anwendung von §§ 951 Abs. 1 S. 1, 812 BGB eröffnet werden.
9
So die st. Rspr., grundlegend dazu BGH NJW 1953, 1466.
Nachweise bei Fritzsche, in: Beckʼscher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 34, Stand: 1.2.2015, § 994 Rn. 20.
11
Kindl, JA 1996, 201 (207 f.); Stadler, in: Soergel, Kommentar zum BGB, 13. Aufl. 2007, § 994 Rn. 16; Bassenge,
in: Palandt, Kommentar zum BGB, 75. Aufl 2016, § 951
Rn. 23.
10
Alternativlösung 3: Bearbeiter, die eine Durchbrechung
der Sperrwirkung für die Annahme des engen Verwendungsbegriffes vorgeschlagen haben, prüfen weiter:
E müsste etwas erlangt haben. Hier hat er das Eigentum
an einem Golfplatz und am Mehrzweckgebäude erlangt.
Diese Sachen dürfte im Rahmen der Subsidiarität der
Nichtleistungskondiktion niemand an P geleistet haben.
Vorliegend hat niemand bewusst und zweckgerichtet das
Vermögen von P gemehrt, die Vermögensverschiebung
erfolgte daher in sonstiger Weise und nicht durch Leistung.
Letztlich erfolgte dies auch ohne Rechtsgrund, so dass P
einen Anspruch gegen E auf Wertersatz gem. §§ 951
Abs. 1 S. 1, 812 Abs. 1 S 1 Alt. 2 BGB hat.
V. Anspruch P gegen E auf Wertersatz gem. § 812 Abs. 1
S. 1 Alt. 2 BGB
P könnte gegen E einen Anspruch auf Wertersatz gem. § 812
Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB haben. Wie aber oben bereits festgestellt, ist das Bereicherungsrecht neben den Ansprüchen aus
dem EBV gesperrt. Mithin hat P keinen Anspruch gegen E
auf Wertersatz gem. § 812 Abs. 1 S 1 Alt. 2 BGB.
Alternativlösung 1: Bearbeiter, die oben der ersten Alternativlösung gefolgt sind, haben keine Vindikationslage
angenommen und so kommt keine Sperrwirkung in Betracht. Sie prüfen weiter, wie unter der Alternativlösung 3.
Alternativlösung 2: Bearbeiter, die dem weiten Verwendungsbegriff gefolgt sind, können hier an der Sperrwirkung der Ansprüche aus dem Eigentümer-Besitzer-Verhältnis festhalten. Für sie besteht ein Anspruch aus § 996
BGB und so muss nicht aus Gesichtspunkten der Billigkeit die Anwendung von § 812 BGB eröffnet werden.
Alternativlösung 3: Bearbeiter, die eine Durchbrechung
der Sperrwirkung für die Annahme des engen Verwendungsbegriffes vorgeschlagen haben, prüfen weiter:
E hat das Eigentum an einem Golfplatz und am Mehrzweckgebäude erlangt (s.o.).
Es dürfte im Rahmen der Subsidiarität der Nichtleistungskondiktion niemand an P geleistet haben. Vorliegend hat niemand bewusst und zweckgerichtet das Vermögen von P gemehrt, die Vermögensverschiebung erfolgte daher in sonstiger Weise und nicht durch Leistung.
Letztlich erfolgte dies auch ohne Rechtsgrund, so dass P
einen Anspruch gegen E auf Herausgabe des Erlangten
gem. § 818 Abs. 1 BGB und, soweit dies nicht möglich
ist, auf Wertersatz gem. § 818 Abs. 2 BGB hat.
Zusatzfrage
Welches Gericht ist für eine Klage von P gegen E örtlich und
sachlich zuständig?
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ZJS 3/2016
334
Fortgeschrittenenklausur: Das Golfparadies
ZIVILRECHT
I. Örtliche Zuständigkeit
Die örtliche Zuständigkeit könnte sich aus dem ausschließlichen Gerichtsstand nach § 29a Abs. 1 ZPO ergeben. Es müsste sich um Ansprüche aus einem Miet- oder Pachtverhältnis
handeln. Zwischen P und E bestand jedoch kein Pachtvertrag,
so dass § 29a ZPO ausscheiden muss. Es greift also der allgemeine Gerichtsstand des Wohnortes des Eigentümers nach
§§ 12, 13 ZPO.
II. Sachliche Zuständigkeit
Die sachliche Zuständigkeit richtet sich nach § 1 ZPO nach
dem Gerichtsverfassungsgesetz. Eine ausschließliche Zuständigkeit des Amtsgerichts kommt nach § 23 Nr. 2a GVG nicht
in Betracht, denn es handelt sich nicht um eine Klage aus
einem Wohnraummietverhältnis. Danach richtet sich die
Zuständigkeit nach dem Streitwert. Soweit hier zwei Forderungen aus 1.800 € und 200.000 € zusammen verfolgt werden, sind die beiden Beträge nach § 5 Hs. 1 ZPO zu addieren.
Der Wert von 201.800 € liegt über der Grenze von 5.000 €,
so dass das Landgericht nach §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG
zuständig ist.
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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com
335
Schwerpunktbereichsklausur: Ekelskandal bei Burger No. 1
Von Wiss. Mitarbeiter Tobias von Bressensdorf, Leipzig*
Diese anspruchsvolle Klausur wurde im Wintersemester
2015/2016 als Prüfungsaufgabe im Schwerpunktbereich
Unternehmensrecht an der Juristenfakultät der Universität
Leipzig ausgegeben. Die Bearbeitungszeit betrug vier Stunden. Teil 1 hat Streitfragen rund um Kündigung und nachvertragliche Entschädigungs- sowie Ausgleichsansprüche bei
Franchiseverhältnissen zum Gegenstand. In Teil 2 war das
Bestehen eines Schadensersatzanspruchs gegen einen GmbHGeschäftsführer zu prüfen.
Sachverhalt
Teil 1
Die Fastfood-Kette Burger No. 1 GmbH (B-GmbH) wirbt mit
folgendem Geschäftsmodell:
„Die Burger No. 1 GmbH sucht motivierte Unternehmer,
die sich den Traum eines eigenen Burger-No.-1-Stores erfüllen wollen!
Wir unterstützen Sie bei diesem Vorhaben, indem wir Ihnen das Know-how der Zubereitung unserer Burger, Pommes
Frites und anderer Speisen zur Verfügung stellen, bei regionalen Marketingaktionen beratend zur Seite stehen und überregionale Marketingaktionen im Interesse aller Vertragspartner selbst durchführen. Das Markenlogo der Burger No. 1
GmbH darf von Ihnen genutzt werden. Als Gegenleistung
verpflichten Sie sich zur Zahlung einer monatlichen Gebühr.
Aktuell wollen wir unsere Präsenz in den neuen Bundesländern abseits der Großstädte ausbauen. Geeignete Standorte
haben wir durch aufwendige Marktanalysen ausfindig gemacht und gesichert.“
Am 9.4.2014 unterzeichnen F, der Geschäftsführer der BGmbH, und G einen „Partner-Vertrag“, wobei G eine Ausfertigung ausgehändigt wird. Der Vertrag enthält u.a. folgende
Vereinbarungen:
Auszug aus dem Vertrag
§ 3 Vertragslaufzeit
Die Vertragslaufzeit beträgt fünf Jahre. Ein Recht zur vorzeitigen Kündigung besteht nicht.
§ 4 Räumlichkeiten
Die Burger No. 1 GmbH stellt dem lokalen Vertragspartner
acht voll ausgestattete Restaurants in den Landkreisen Sächsische Schweiz-Osterzgebirge und Erzgebirgskreis zur Verfügung. Die Räumlichkeiten sind bei Vertragsende herauszugeben. Das Erscheinungsbild des Stores darf nur in Absprache mit der Burger No. 1 GmbH verändert werden.
* Der Autor ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht
von Prof. Dr. Tim Drygala an der Juristenfakultät der Universität Leipzig.
§ 9 Zutaten
Zutaten dürfen ausschließlich von der Burger No. 1 GmbH
oder von mit der Burger No. 1 GmbH kooperierenden Händlern bezogen werden.
§ 10 Produkte
Produktpalette und Endpreise werden von der Burger No. 1
GmbH festgelegt. Der lokale Vertragspartner bemüht sich um
den Absatz der Produkte im Rahmen des Burger-No.-1Konzepts.
§ 11 Kontroll- und Weisungsrechte
Die Burger No. 1 GmbH ist berechtigt durch Kontrollen die
Einhaltung der Burger-No.-1-Standards zu überprüfen und
Weisungen hinsichtlich der Leitung des Stores auszusprechen.
§ 25 Wettbewerbsverbot
Nach Vertragsende ist es G für zwei Jahre untersagt, Fastfood-Restaurants in den Landkreisen Sächsische SchweizOsterzgebirge und Erzgebirgskreis zu betreiben.
Im August 2015 deckt Enthüllungsjournalist W auf, dass in
den Restaurants des G massiv gegen Hygiene- und Arbeitsschutzrichtlinien verstoßen wird. Er nimmt mit verdeckter
Kamera auf, wie G Mitarbeiter anweist, Lebensmittel, deren
Haltbarkeitsdatum bereits deutlich überschritten ist, umzuetikettieren und für die Zubereitung der Speisen zu verwenden. Außerdem ist dokumentiert, dass Frittieröl über Wochen
nicht gewechselt wird und die hygienischen Zustände in den
Lokalen allgemein desaströs sind. Die B-GmbH hatte bei
einer Kontrolle im Juni 2015 bereits Mängel – wenn auch
nicht in diesem Ausmaß – festgestellt und G abgemahnt.
Nachdem W seine Erkenntnisse am 11.8.2015 im Fernsehen enthüllt hat, dominiert der „Ekelskandal bei Burger
No. 1“ die Schlagzeilen. Die Umsätze in den Stores brechen
bundesweit ein. F sieht sich gezwungen zu handeln und teilt
G im Namen der B-GmbH am 17.8.2015 schriftlich mit, dass
das Vertragsverhältnis mit sofortiger Wirkung gekündigt
werde.
G bestreitet, dass die Kündigung wirksam ist. Jedenfalls
stehe ihm zumindest ein Ausgleichsanspruch gegen die BGmbH zu. Schließlich habe er durch zahlreiche Werbeaktionen dazu beigetragen, dass sich im Erzgebirge eine regelrechte Fangemeinde der Marke Burger No. 1 entwickelt habe, die
nach einer Wiederöffnung der Stores durch einen neuen lokalen Betreiber rasch wieder für erhebliche Umsätze sorgen
werde. Außerdem habe er Anspruch auf eine Entschädigung
wegen des nachvertraglichen Wettbewerbsverbots. Dieses
schränke ihn erheblich in seiner beruflichen Freiheit ein. Die
B-GmbH weist die Forderungen des G am 26.8.2015 schriftlich zurück und teilt mit, dass sie auf das Wettbewerbsverbot
verzichte. G hat an dem Verzicht kein Interesse. Er will lieber
eine Entschädigungszahlung, da ihm bewusst ist, dass er
infolge des TV-Beitrags des W in näherer Zukunft keinen
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ZJS 3/2016
336
Schwerpunktbereichsklausur: Ekelskandal bei Burger No. 1
Fuß mehr auf den Boden der Fastfood-Branche bekommen
wird.
Frage 1
Liegt eine wirksame Kündigung vor?
Frage 2
Unterstellt die Kündigung ist wirksam, bestehen wegen des
nachvertraglichen Wettbewerbsverbots Entschädigungsansprüche des G gegen die B-GmbH?
Frage 3
Unterstellt die Kündigung ist wirksam, bestehen Ausgleichsansprüche des G gegen die B-GmbH wegen des von ihm geworbenen Kundenstamms?
Teil 2
Die Gesellschafterversammlung der B-GmbH beschließt den
Neubau einer Vertriebszentrale in Sachsen. Geschäftsführer F
besichtigt im September 2015 mehrere geeignete Grundstücke im Leipziger Umland. Anschließend trifft er sich mit
seiner alten Studienfreundin S zu einem privaten Abendessen. Beiläufig erwähnt S, dass sie ein Gewerbegrundstück in
der Leipziger Peripherie geerbt habe und beabsichtige, dieses
zu verkaufen. Das Grundstück ist ideal für das Vorhaben der
B-GmbH und deutlich günstiger als die zuvor von F besichtigten. Dennoch sieht F von einem Erwerb für die B-GmbH
ab. Stattdessen vermittelt er das Grundstück seinem Bruder
X, der nach einem geeigneten Produktionsstandort für sein
Tech-Start-up sucht. X erwirbt das Grundstück zu einem
Preis von 200.000 €. Die Gesellschafter der B-GmbH macht
F auf den Vorgang nicht aufmerksam. Vielmehr leitet er den
Erwerb eines anderen Grundstücks zu einem Preis von
300.000 € in die Wege. Im November 2015 erfahren die
Gesellschafter zufällig von dem Vorgang. Auf der nächsten
planmäßigen Gesellschafterversammlung beschließen sie
mögliche Ersatzansprüche gegen F geltend zu machen.
Frage 4
Bestehen wegen der Vermittlung des Geschäfts an X Ansprüche der B-GmbH gegen F?
Lösungsvorschlag zu Frage 1
Fraglich ist, ob die B-GmbH den Vertrag mit G wirksam
gekündigt hat.
I. Vertragstyp
Dazu müsste zunächst ein Vertrag zwischen der B-GmbH
und G bestanden haben. Die B-GmbH, vertreten durch Geschäftsführer F (§ 35 Abs. 1 S. 1 GmbHG), hat am 9.4.2014
mit G einen Vertrag geschlossen. Die Rechtsnatur des Vertrags ist durch Auslegung (§§ 133, 157 BGB) zu ermitteln1:
1
Die Rechtsnatur des Vertrags muss nicht notwendigerweise
bereits an dieser Stelle geklärt werden, wenngleich sich dies
ZIVILRECHT
Insbesondere § 10 des „Partner-Vertrags“ verpflichtet G, das
Fastfood-Restaurant-Konzept der B-GmbH anzuwenden und
zu fördern. Dabei handelt es sich um eine selbstständige
Tätigkeit wirtschaftlicher Art, für die die B-GmbH grundsätzlich selbst zu sorgen hat. Da G die Stores auf eigene Rechnung betreibt, besteht für ihn im Gegenzug eine Verdienstmöglichkeit. Darin ist ein Entgelt für die Konzeptanwendung
und -förderung zu sehen. Der Vertrag hat somit den Charakter eines Geschäftsbesorgungsvertrags dienstrechtlicher Natur
(§§ 675, 611 ff. BGB).2 Daneben tritt noch ein vorvertraglich-kaufrechtliches Element (§§ 433 ff. BGB): § 9 des
„Partner-Vertrags“ enthält nämlich nicht nur die Pflicht,
Zutaten ausschließlich bei der B-GmbH und deren Kooperationspartnern zu beziehen, sondern begründet im Umkehrschluss auch einen Anspruch auf Abschluss entsprechender
Kaufverträge. Darüber hinaus weist der Vertrag auch pachtrechtliche Elemente (§§ 581 ff. BGB) auf. Dies gilt zum
einen für die nach § 4 zu überlassenden Räumlichkeiten.3
Zum anderen entrichtet G eine monatliche Gebühr dafür, dass
er das Markenlogo, das Know-how und die Rezepte – mithin
also das Unternehmenskonzept – der B-GmbH nutzen und
die Früchte daraus ziehen darf.4 Bei dem Vertrag zwischen
der B-GmbH und G handelt es sich somit um einen typengemischten, gesetzlich nicht kodifizierten Vertrag im Sinne des
§ 311 Abs. 1 BGB mit geschäftsbesorgungs-, kauf- und
pachtrechtlichen Elementen. Diese Art von Vertrag wird
allgemein als Franchisevertrag bezeichnet.5 Zwischen der B-
aus Gründen der Übersichtlichkeit anbietet. Verorten ließe
sich die Frage insbesondere auch unter Prüfungspunkt II. 1.
2
Ein Handelsvertretervertrag im Sinne der §§ 84 ff. HGB,
bei dem es sich um eine qualifizierte Form des Geschäftsbesorgungsvertrags handelt, scheidet aus, da G die Restaurants
in eigenem Namen betreibt und keine Geschäfte an die BGmbH vermitteln soll. Vgl. Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl.
2006, § 18 Rn. 5; Schreiber, Jura 2009, 115 (116).
3
Die Überlassung von voll ausgestatten Gaststätten fällt
regelmäßig unter § 581 BGB und nicht unter §§ 578 Abs. 2,
535 BGB, vgl. C. Wagner, in: Beckʼscher OnlineKommentar zum BGB, Ed. 38, Stand: 1.2.2015, § 581 Rn. 12
m.w.N.
4
So etwa Canaris (Fn. 2), § 18 Rn. 17 f.; Dickersbach, in:
Erman, Kommentar zum BGB, 14. Aufl. 2014,Vor § 581
Rn. 20; Giesler, in: Giesler/Nauschütt, Franchiserecht,
3. Aufl. 2016, S. 370 ff.; etwas zurückhaltender K. Schmidt,
Handelsrecht, 6. Aufl. 2014, § 28 Rn. 33; weitergehend hingegen Möller, AcP 203 (2003), 319 (333 f.); Harke, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 581 Rn. 20;
a.A. für eine lizenzrechtliche Einordnung etwa Emmerich,
JuS 1995, 761 (762 f.). Insbesondere die pachtrechtliche
Komponente ist Abgrenzungskriterium zum Vertragshändlervertrag, vgl. etwa Schreiber, JURA 2009, 115 (116).
5
Siehe zu Begriff, Entwicklung und Bedeutung des Franchising Emmerich, JuS 1995, 761; Martinek, Moderne Vertragstypen II, 1992, S. 5 ff.; Skaupy, NJW 1992, 1785. Grundsätzlich gibt es drei Arten von Franchising: Das Vertriebsfranchising, das Dienstleistungsfranchising und das seltenere
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337
ÜBUNGSFÄLLE
Tobias von Bressensdorf
GmbH und G bestand seit dem 9.4.2014 ein Schuldverhältnis
in Form eines Franchisevertrags.
II. Wirksame Kündigung des Vertrags
Die B-GmbH müsste den Franchisevertrag wirksam gekündigt haben. Da F im Namen der B-GmbH erklärte, dass der
Vertrag „mit sofortiger Wirkung gekündigt sei“, sind zunächst außerordentliche Kündigungsrechte zu prüfen.
1. Einschlägige Kündigungsvorschrift?
Mangels eines vertraglichen Kündigungsrechts kommt nur
ein gesetzliches Recht zur außerordentlichen Kündigung in
Betracht. Bei typengemischten Verträgen sind die einzelnen
Vertragsbestandteile hinsichtlich des anzuwendenden Rechts
grundsätzlich selbstständig zu beurteilen. Es gelten jeweils
die Vorschriften des insoweit einschlägigen Vertragstyps.
Soweit es um die Beendigung des Vertrags im Ganzen geht,
ist allerdings eine Gesamtbeurteilung vorzunehmen. Es gelten
allein die Regeln desjenigen Vertragstyps, der den Vertrag
am stärksten prägt.6
Der Vertrag zwischen der B-GmbH und G wird vor allem
dadurch gekennzeichnet, dass G das Unternehmenskonzept
der B-GmbH anwendet und fördert. Im Vordergrund steht
daher der geschäftsbesorgungsrechtliche Teil des Vertrags.
Die außerordentliche Kündigung eines Geschäftsbesorgungsvertrags mit dienstrechtlichem Charakter richtet sich grundsätzlich nach § 626 BGB. Nach der h.L. ist bei Franchiseverhältnissen aber vorrangig § 89a HGB - der die außerordentliche Kündigung von Handelsvertreterverträgen regelt - heranzuziehen.7 Sowohl bei Handelsvertreter- als auch bei
Franchiseverträgen verfolgten die Beteiligten primär das Ziel,
in Arbeitsteilung dauerhaft Produkte zu vertreiben.8 Dieser
Zweck hebe beide Vertragstypen gleichermaßen aus dem
Kreis der typengemischten Verträge mit Geschäftsbesorgungscharakter hervor und rechtfertige - trotz der im Übrigen
Produktionsfranchising, siehe dazu Giesler/Nauschütt, in:
Giesler/Nauschütt, Franchiserecht, 3. Aufl. 2016, S. 14 ff.
6
Vgl. Emmerich, in: Münchener Kommentar zum BGB,
7. Aufl. 2016, § 311 Rn. 28 ff. m.w.N.; ausführlich dazu
Oechsler, Vertragliche Schuldverhältnisse, 3. Aufl. 2013,
Rn. 15 ff.
7
So etwa Hopt, in: Baumbach/Hopt, Kommentar zum HGB,
36. Aufl. 2014, § 84 Rn. 11; K. Schmidt (Fn. 4), § 28 Rn. 43;
v. Hoyningen-Huene, in: Münchener Kommentar zum HGB,
6. Aufl. 2016, § 89a Rn. 9; vgl. für einen Vorrang des § 89
HGB bei ordentlicher Kündigung BGH NJW-RR 2002, 1554.
Siehe auch zur außerordentlichen Kündigung eines McDonaldʼs-Franchisevertrags BGH NJW 1985, 1894.
8
Sowohl das ordentliche Kündigungsrecht gemäß § 89 HGB
als auch das außerordentliche gemäß § 89a HGB setzen nicht
voraus, dass der Handelsvertreter in concreto schutzwürdig
ist. Anders als bei § 90a HGB oder auch § 89b HGB (siehe
unten Frage 2 und 3) ist daher für die Analogie nicht entscheidend, dass der Franchisenehmer konkret wegen der
engen Verbindung zum Unternehmer besonders schutzwürdig
ist. Vgl. Canaris (Fn. 2), § 16 Rn. 9.
zum Teil erheblichen Unterschiede - eine einheitliche Behandlung hinsichtlich der Vertragsbeendigung.
Diese Argumentation ist zwar nicht ohne Widerspruch
geblieben9, überzeugt aber aufgrund ihrer praxisnahen Vertriebsformorientierung. Auch das für die pachtrechtlichen
Elemente einschlägige außerordentliche Kündigungsrecht in
§ 581 Abs. 2 BGB i.V.m. § 543 BGB und das allgemeine
Recht zur Kündigung aus wichtigem Grund in § 314 BGB
treten daher zurück. Daher kommt allein § 89a HGB analog
als Rechtsgrundlage der Kündigung in Frage.
2. Ausschluss des Kündigungsrechts gemäß § 3 des Vertrags
Da gemäß § 89a Abs. 1 S. 2 HGB das Recht zur außerordentlichen Kündigung nicht ausgeschlossen werden kann, steht
§ 3 des „Partner-Vertrags“ einer Kündigung nicht im Weg.
3. Kündigungserklärung
Die B-GmbH hat am 17.8.2015 gegenüber G die Kündigung
erklärt. Ein Formerfordernis kennt § 89a HGB nicht.
4. Kündigungsgrund
Es müsste ein wichtiger Grund im Sinne des § 89a Abs. 1
S. 1 HGB vorliegen. Ein solcher liegt vor, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die
Fortsetzung des Vertragsverhältnisses bis zur vereinbarten
Beendigung oder bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist nicht
zugemutet werden kann.10
G hat sich massive, z.T. vorsätzliche Verstöße gegen Hygiene- und Arbeitsschutzrichtlinien zuschulden kommen
lassen. So wurde zum einen Frittieröl über Wochen nicht
gewechselt, zum anderen wurden Mitarbeiter angewiesen,
Lebensmittel deutlich nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums
für die Zubereitung von Speisen zu verwenden. Diese Zustände sind durch den TV-Beitrag des Journalisten W öffentlich bekannt geworden. Die Folge waren Imageschäden für
die B-GmbH und Umsatzeinbußen bei allen Franchisenehmern.
Angesichts des Gewichts dieser Verstöße erscheint eine
Vertragsfortsetzung bis zum Ende des Franchiseverhältnisses
für die B-GmbH unzumutbar, zumal eine ordentliche Kündigung gemäß § 3 des „Partner-Vertrags“ zulässigerweise ausgeschlossen ist. Ein wichtiger Grund im Sinne des § 89a
Abs. 1 S. 1 HGB liegt daher vor.
9
A.A. für eine Anwendung von § 314 BGB auf Franchiseverhältnisse Giesler, ZIP 2002, 420 (427); Schreiber, Jura
2009, 115 (117); für eine Anwendung der pachtrechtlichen
Vorschriften Harke (Fn. 4), § 581 Rn. 54; Schaub, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearbeitung 2013, § 581
Rn. 106.
10
Vgl. BGH NJW 1986, 1931; Hopt (Fn. 7), § 89a Rn. 6;
v. Hoyningen-Huene (Fn. 7), § 89a Rn. 12; vgl. §§ 314 Abs. 1
S. 2, 626 Abs. 1 S. 1 BGB.
_____________________________________________________________________________________
ZJS 3/2016
338
Schwerpunktbereichsklausur: Ekelskandal bei Burger No. 1
5. Abmahnung
Daneben ergibt sich aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen das
Erfordernis einer vorherigen Abmahnung.11 Die B-GmbH
hatte im Juni 2015 bereits Verstöße gegen Hygiene- und
Arbeitsschutzrichtlinien festgestellt und abgemahnt, sodass
dieses Erfordernis gewahrt ist.
6. Rechtzeitigkeit der Kündigung
Die Kündigung muss außerdem rechtzeitig erklärt worden
sein. Nach ganz h.M. ist insoweit keine starre Frist anzusetzen, sondern der Zeitpunkt, bis zu dem eine Kündigung zulässig ist, anhand der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen.12 Die Kündigung wurde am 17.8.2015 und damit sechs
Tage nach Ausstrahlung der Dokumentation erklärt. Allein
schon um der B-GmbH einen angemessen Zeitraum für Überlegungen und eine rechtliche Prüfung des Falls einzuräumen,
ist die Frist zur Ausübung des Kündigungsrechts deutlich länger anzusetzen. Die B-GmbH erklärte die Kündigung daher
rechtzeitig.
7. Ergebnis
Die B-GmbH hat den Vertrag mit G am 17.8.2015 analog
§ 89a Abs. 1 S. 1 HGB wirksam außerordentlich gekündigt.
III. Ergebnis
Die Kündigung ist wirksam.
Lösungsvorschlag zu Frage 2
Fraglich ist, ob G wegen des nachvertraglichen Wettbewerbsverbots Entschädigungsanspruche gegen die B-GmbH zustehen.
I. Anspruch aus § 90a Abs. 1 S. 3 HGB analog
G könnte einen Anspruch auf Zahlung einer angemessenen
Wettbewerbsentschädigung aus § 90a Abs. 1 S. 3 HGB analog gegen die B-GmbH haben.
1. Voraussetzungen für eine Analogie
§ 90a Abs. 1 S. 3 HGB müsste analog anwendbar sein.13 Das
ist dann der Fall, wenn das Fehlen eines entsprechenden Entschädigungsanspruchs bei Franchiseverhältnissen eine planwidrige Regelunglücke darstellt und die Interessenlage des
konkreten Falls mit der des gesetzlich geregelten Falls vergleichbar ist.
11
Hopt (Fn. 7), § 89a Rn. 10; Löwisch, in: Ebenroth/
Boujong/Joost/Strohn, Handelsgesetzbuch, 3. Aufl. 2014,
§ 89a Rn. 25 ff.; Canaris (Fn. 2), § 15 Rn. 91.
12
So in Anlehnung an § 314 Abs. 3 BGB die ganz h.M.:
BGH NJW-RR 1999, 1481 (1484); Hopt (Fn. 7), § 89a
Rn. 30; Die allgemeine Vorschrift des § 626 Abs. 2 BGB ist
nicht heranzuziehen, da sie dem besonderen Schutzbedürfnis
des Arbeitnehmers dient und daher nicht passt. Vgl. v. Hoyningen-Huene (Fn. 7), § 89a Rn. 5.
13
Anders als bei § 89a HGB ist hier die Analogie vertieft zu
prüfen, vgl. oben Fn. 8.
ZIVILRECHT
a) Planwidrige Regelungslücke
Ein Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung für wirtschaftliche Nachteile, die sich aus einem nachvertraglichen
Wettbewerbsverbot ergeben, existiert für Franchiseverhältnisse nicht. Bei Schaffung des HGB existierte das Franchising als Vertriebsform noch nicht, später verzichtete der Gesetzgeber auf eine Regelung, allerdings ohne eine analoge
Anwendung einzelner Vorschriften ausschließen zu wollen.
Eine planwidrige Regelungslücke liegt daher vor.
b) Vergleichbare Interessenlage
Im konkreten Fall müsste eine zum gesetzlichen Regelfall
vergleichbare Interessenlage bestehen. § 90a HGB soll die
nachvertraglichen Interessen von Handelsvertreter und Unternehmer in einen gerechten Ausgleich bringen.14
Einerseits hat der Handelsvertreter ein evidentes Interesse
daran, sein weiteres berufliches Fortkommen nach Beendigung der Tätigkeit für den Unternehmer autonom planen zu
können.15
Andererseits hat der Unternehmer ein Interesse daran,
dass der Handelsvertreter im Rahmen des Vertragsverhältnisses gewonnene Kenntnisse nicht zu seinen Lasten ausnutzt,
indem er eine konkurrierende Tätigkeit aufnimmt.16 Diesen
Interessenkonflikt versucht § 90a HGB dadurch auszugleichen, dass zwar grundsätzlich die Vereinbarung eines Wettbewerbsverbot für zulässig erklärt, der Unternehmer zugleich
aber zur Zahlung einer Karenzentschädigung verpflichtet
wird.17 Sonderkenntnisse erlangt der Handelsvertreter im
Rahmen des Vertragsverhältnisses, weil er eng in die Absatzorganisation des Unternehmers eingebunden ist. Analogievoraussetzung ist daher, dass G als Franchisenehmer Aufgaben zu erfüllen hatte, die wirtschaftlich in erheblichem Umfang mit denen eines Handelsvertreters vergleichbar sind.18
Typusprägende Aufgabe des Handelsvertreters ist das
fremdnützige Vertreiben und Absetzen von Produkten (vgl.
§ 86 Abs. 1 HGB, sog. Bemühungs- und Interessenwahrnehmungspflicht).19 G war gegenüber der B-GmbH zur Konzeptanwendung und -förderung verpflichtet (siehe oben Frage 1.
I.). Dies beinhaltete insbesondere auch die Pflicht zur Förderung des Produktabsatzes, an dem die B-GmbH durch monatliche Gebührenzahlungen und den Verkauf von Zutaten (vgl.
§ 9 des Franchisevertrags) mittelbar wirtschaftlich partizipierte. Weiterhin ist für die Aufgabenorganisation im Han14
Busche, in: Oetker, Kommentar zum HGB, 4. Aufl. 2015,
§ 90a Rn. 2; Hopt (Fn. 7), § 90a Rn. 2.
15
Vgl. v. Hoyningen-Huene (Fn. 7), § 90a Rn. 4; Busche
(Fn. 14), § 90a Rn. 1.
16
Vgl. Roth, in: Koller/Kindler/Roth/Morck, Handelsgesetzbuch, 8. Aufl. 2015, § 90a Rn. 1; Hopt (Fn. 7), § 90a Rn. 2.
17
Vgl. BGH WM 1987, 512 (513); v. Hoyningen-Huene (Fn.
7), § 90a Rn. 4.
18
Vgl. BGH WM 1987, 512 (513); Canaris (Fn. 2), § 18
Rn. 26; Martinek (Fn. 5), S. 157 ff.; kritisch hinsichtlich einer
Analogie Kroll, in: Giesler/Nauschütt, Franchiserecht,
3. Aufl. 2016, S. 560.
19
Siehe dazu Canaris (Fn. 2), § 15 Rn. 26 ff.
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ÜBUNGSFÄLLE
Tobias von Bressensdorf
delsvertreterverhältnis typisch, dass der Unternehmer gegenüber dem Handelsvertreter weisungsbefugt ist.20 Ein solches
Recht ist in § 11 des Franchisevertrags ausdrücklich angeordnet. Da die B-GmbH auch im Übrigen erheblichen Einfluss auf das Unternehmen des G ausübte (vgl. etwa §§ 4
S. 3, 10 des Franchisevertrags), ist in der Gesamtschau von
einer Vergleichbarkeit der Aufgaben und damit auch der
Interessenlage auszugehen.
c) Zwischenergebnis
§ 90a Abs. 1 S. 3 HGB ist analog auf das Franchiseverhältnis
zwischen G und der B-GmbH anwendbar.
2. Beendigung
Der Anspruch aus § 90a Abs. 1 S. 3 HGB analog setzt voraus, dass der Franchisevertrag wirksam beendet wurde. Dies
ist durch die außerordentliche Kündigung der B-GmbH am
17.8.2015 geschehen (siehe oben Frage 1).
3. Wettbewerbsabrede im Sinne des § 90a Abs. 1 HGB analog
Die B-GmbH und G müssten eine wirksame Wettbewerbsabrede im Sinne des § 90a Abs. 1 S. 1, 2 HGB getroffen haben.
Eine dahingehende Vereinbarung findet sich in § 25 des
Franchisevertrags. Dass eine Ausgleichszahlung nach Vertragsende nicht ausdrücklich vereinbart ist, ist für die Wirksamkeit der Abrede irrelevant (arg. e contrario § 74 Abs. 1
S. 2 HGB). Entscheidend ist allein, dass die inhaltlichen
Anforderungen in § 90a Abs. 1 S. 2 HGB erfüllt sind. Das ist
der Fall: Das Wettbewerbsverbot ist auf die Landkreise Sächsische Schweiz-Osterzgebirge und Erzgebirgskreis und eine
Dauer von zwei Jahren beschränkt. Da der Vertrag außerdem
schriftlich im Sinne des § 126 BGB geschlossen und G am
9.4.2014 eine Vertragsurkunde ausgehändigt wurde, sind
auch die Formerfordernisse des § 90a Abs. 1 S. 2 HGB analog gewahrt. Eine wirksame Wettbewerbsabrede im Sinne
des § 90a Abs. 1 S. 1, 2 HGB liegt daher vor.
4. Lossagung gemäß § 90a Abs. 3 HGB analog
Die B-GmbH könnte sich aber vom Wettbewerbsverbot analog § 90a Abs. 3 HGB losgesagt haben.21
a) Kündigung aus wichtigem Grund wegen schuldhaften
Verhaltens
Die B-GmbH müsste zunächst das Vertragsverhältnis aus
wichtigem Grund wegen schuldhaften Verhaltens des G gekündigt haben. Eine entsprechende außerordentliche Kündigung liegt vor (siehe oben Frage 1). Da G vorsätzlich hinsichtlich der Verstöße handelte, knüpfte sie auch an ein
20
Vgl. BGHZ 97, 317 (323 f.); BGH NJW 1992, 2818
(2819); ausführlich dazu Canaris (Fn. 2), § 15 Rn. 34 ff.
21
In Frage kommt auch ein Verzicht der B-GmbH auf das
Wettbewerbsverbot gemäß § 90a Abs. 2 HGB analog. Da die
Rechtsfolgen des § 90a Abs. 3 HGB aber weiterreichen, ist
diese Vorschrift im Rahmen eines Gutachten vorrangig zu
prüfen.
schuldhaftes Verhalten (vgl. § 276 Abs. 1 S. 1 BGB) des G
an.
b) Frist- und formgerechte Ausübung des Lossagungsrechts
Außerdem müsste die B-GmbH das Lossagungsrecht formund fristgerecht ausgeübt haben. Die B-GmbH „verzichtete“
schriftlich auf das Wettbewerbsverbot. Das Formerfordernis
des § 90a Abs. 3 HGB i.V.m. § 126 BGB ist daher gewahrt.
Fristbeginn war gemäß § 187 Abs. 1 BGB der auf die Kündigung folgende Tag, d.h. der 18.8.2015 um 0.00 Uhr. Fristende war gemäß § 188 Abs. 2 BGB der 17.9.2015 um 24.00
Uhr. Die B-GmbH „verzichtete“ bereits am 23.8.2015.22 Das
Lossagungsrecht wurde damit form- und fristgerecht ausgeübt.
c) Zwischenergebnis
Die B-GmbH hat sich vom Wettbewerbsverbot gemäß § 90a
Abs. 3 HGB analog losgesagt.
5. Ergebnis
G hat keinen Anspruch gegen die B-GmbH aus § 90a Abs. 1
S. 3 HGB analog.
II. Ergebnis
G hat keinen Anspruch auf Zahlung eines Ausgleichs oder
einer Entschädigung gegen die B-GmbH.
Lösungsvorschlag zu Frage 3
Fraglich ist, ob G wegen der Schaffung eines treuen Kundenstamms im Erzgebirge einen Ausgleichsanspruch gegen die
B-GmbH hat.
I. Anspruch aus § 89b HGB analog
Ein solcher Entschädigungsanspruch könnte sich aus § 89b
HGB analog ergeben.
1. Voraussetzungen für eine Analogie
Wiederum ist im Einzelfall in Bezug auf die konkrete Norm
zu ermitteln, ob eine Analogie in Frage kommt.
a) Planwidrige Regelungslücke
Ein Ausgleichsanspruch für Vorteile, die der Franchisegeber
nach Vertragsende aus den vom Franchisenehmer zu Stande
gebrachten Geschäftsbeziehungen zieht, ist gesetzlich nicht
geregelt. Eine planwidrige Regelungslücke liegt daher vor.
b) Vergleichbare Interessenlage
Fraglich ist, ob die Interessenlage des konkreten Falls mit der
des gesetzlich geregelten Falls vergleichbar ist. Dies ist unter
Beachtung des Telos des § 89b Abs. 1 HGB zu ermitteln.
Zweck der Norm ist es, den Vorteil auszugleichen, den der
Unternehmer dadurch erlangt, dass er nach Vertragsbeendigung einen durch den Handelsvertreter geschaffenen Kun22
Der Verzicht lässt sich auch ohne Weiteres als Lossagung
auslegen (§§ 133, 157 BGB).
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Schwerpunktbereichsklausur: Ekelskandal bei Burger No. 1
denstamm nunmehr alleine oder gemeinsam mit einem Dritten nutzen kann.23
Dieser Vorteil wurzelt zum einen in der engen Absatzorganisation zwischen Handelsvertreter und Unternehmer.
Erste Analogievoraussetzung ist daher, dass der Franchisenehmer wirtschaftlich in erheblichem Umfang mit denen des
Handelsvertreters vergleichbare Aufgaben zu erfüllen hatte.24
Das ist der Fall (siehe oben Frage 2. I. 1. b).
Zum anderen wurzelt der Vorteil darin, dass der Handelsvertreter bei Vertragsende gemäß § 675 Abs. 1 BGB i.V.m.
§ 667 BGB die Kundenkartei und alle anderen gespeicherten
kundenbezogenen Daten an den Unternehmer herauszugeben
hat.25 Analogievoraussetzung ist daher, dass der Franchisegeber den Kundenstamm vom Franchisenehmer so übertragen
bekommt, dass er diesen bei Vertragsende sofort und ohne
weiteres nutzbar machen kann.26 Eine rechtliche Pflicht, den
Kundenstamm zu übertragen, ist nicht ausdrücklich im Vertrag vereinbart worden. Da es sich bei Besuchen von Fastfood-Restaurants um anonyme Massengeschäfte handelt, ist
dem Vertrag eine entsprechende Pflicht auch nicht durch
Auslegung zu entnehmen. Sie ergibt sich auch nicht mittelbar
aus anderen Pflichten. Dennoch profitiert die B-GmbH von
den von G geworbenen Kunden. Diese werden nämlich bei
der zu erwartenden Fortführung der Stores durch einen neuen
Franchisenehmer von Beginn an für erhebliche Umsätze
sorgen.
Fraglich ist, ob eine solche bloße faktische Kontinuität
des Kundenstamms genügt. Dagegen spricht, dass Franchisenehmer ‒ anders als Handelsvertreter ‒ im eigenen Namen
und auf eigene Rechnung handeln. Sie besorgen mit der
Werbung eines Kundenstamms daher primär ein eigenes und
kein fremdes Geschäft.27 Dazu kommt, dass der geworbene
anonyme Kundenstamm nicht in jedem Fall nach Vertragsbeendigung für den Franchisegeber nutzbar ist. Vor allem dann,
wenn der Franchisenehmer am selben Standort unter eigenem
Namen oder dem Kennzeichen eines konkurrierenden Franchisesystems weiterhin ein Geschäft betreiben kann, ist die
Möglichkeit zur Nutzung des Kundenstamms stark eingeschränkt. Da G gemäß § 4 des Franchisevertrags zur Herausgabe der Restaurants an die B-GmbH verpflichtet ist, droht
eine solche Beeinträchtigung der Nutzbarkeit des Kundenstamms aber nicht.
Dies rechtfertigt aber noch keine analoge Anwendung von
§ 89b HGB. Hinsichtlich der überlassenen Restaurants sind
nämlich die gesetzgeberischen Wertungen des Pachtrechts zu
berücksichtigen.28 Nach diesen ist ein etwaiger Wertzuwachs
bei Rückgabe des Pachtgegenstands dem Verpächter zuge23
v. Hoyningen-Huene (Fn. 7), § 89b Rn. 2 ff.
Vgl. BGHZ 204, 166 (169 f.); K. Schmidt (Fn. 4), § 28
Rn. 46; v. Hoyningen-Huene (Fn. 7), § 89b Rn. 20, 24.
25
Siehe dazu Canaris (Fn. 2), § 15 Rn. 98 ff.
26
Vgl. Canaris (Fn. 2), § 17 Rn. 25 ff.; Löwisch (Fn. 11),
§ 89b Rn. 216; Seit BGHZ 29, 83 (89 f.) st. Rspr. beim Vertragshändler, siehe zuletzt BGH NJW 2011, 848 sowie BGH
NJW-RR 2011, 389.
27
Vgl. BGHZ 204, 166 (171 m.w.N.).
28
So ausdrücklich BGHZ 204, 166 (172).
24
ZIVILRECHT
wiesen.29 Die Pflicht zur Herausgabe der Restaurants in § 4
des Franchisevertrags lässt daher den Schutzbereich des
§ 89b HGB unberührt.30 Die bloße faktische Kontinuität des
Kundenstamms, den G geschaffen hat, reicht daher nicht aus.
Die Interessenlage ist im konkreten Fall mit der des gesetzlichen Regelfalls nicht vergleichbar.
c) Zwischenergebnis
§ 89b HGB ist nicht analog anwendbar.
2. Ergebnis
G hat keinen Anspruch (auf angemessenen Ausgleich aus
§ 89b HGB analog) gegen die B-GmbH.
Lösungsvorschlag zu Frage 4
Fraglich ist, ob der B-GmbH wegen der Vermittlung des
Grundstücks an X Ansprüche gegen F zustehen.
I. Anspruch aus § 43 Abs. 2 GmbHG
Die B-GmbH könnte gegen F einen Anspruch auf Schadensersatz aus § 43 Abs. 2 GmbHG haben.
1. Haftungsadressat
F ist Geschäftsführer der B-GmbH.
2. Verletzung organschaftlicher Pflichten
Gemäß § 43 Abs. 2 GmbHG müsste F eine organschaftliche
Pflicht verletzt haben.
a) Pflichtverstoß
Der von F zu beachtende Pflichtenmaßstab31 ist in § 43
Abs. 1 GmbHG normiert: Geschäftsführer haben in Angelegenheiten der Gesellschaft die Sorgfalt eines ordentlichen
Geschäftsmannes anzuwenden. Zu den Pflichten eines „ordentlichen GmbH-Geschäftsführers“ gehört die organschaftliche Treuepflicht, die aus der herausgehobenen Funktion des
Geschäftsführers als Verwalter fremden Vermögens und der
damit einhergehenden besonderen Vertrauensstellung folgt.32
Sie verpflichtet den Geschäftsführer über § 242 BGB hinaus
zu loyalem Verhalten gegenüber der Gesellschaft.
Aus der Treuepflicht folgt u.a. ein Wettbewerbsverbot:
Dem Geschäftsführer ist es untersagt im Geschäftsbereich der
29
Vgl. BGH NJW 1986, 2306 (2307); BGH NJW-RR 2003,
894.
30
BGHZ 204, 166 (172); a.A. für einen Ausgleichsanspruch
bei faktischer Kontinuität Busche (Fn. 14), § 89b Rn. 67;
K. Schmidt (Fn. 4), § 28 Rn. 46 ff.
31
Die Diktion des § 43 Abs. 2 GmbHG entspricht nicht dem
modernen Verständnis von Obliegenheiten. Gemeint sind in
§ 43 Abs. 2 GmbHG echte Pflichten.
32
Vgl. Drygala/Staake/Szalai, Kapitalgesellschaftsrecht,
2012, § 11 Rn. 67; Haas/Ziemons, in: Beck’scher OnlineKommentar GmbHG, Ed. 26, Stand: 15.1.2016, § 43
Rn. 138 ff.; ausführlich dazu Fleischer, WM 2003, 1045
m.w.N.
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ÜBUNGSFÄLLE
Tobias von Bressensdorf
Gesellschaft auf eigene oder fremde Rechnung Geschäfte zu
machen oder sich an Unternehmen zu beteiligen, die mit der
Gesellschaft im Wettbewerb stehen.33 Dieses Verbot ist hier
aber nicht einschlägig, da der Erwerb von Grundstücken nicht
in den Geschäftszweig der B-GmbH gehört.
Daneben verbietet die Treuepflicht dem Geschäftsführer,
Geschäftschancen die dem Geschäftszweig der Gesellschaft
zuzuordnen sind oder an denen die Gesellschaft ein konkretes
Interesse hat, an sich zu ziehen (sog. Geschäftschancenlehre).34 Da das Verbot das Interesse der Gesellschaft an ihrer
wirtschaftlichen Entwicklung schützt, dürfen die Geschäftschancen auch nicht an Dritte weitergegeben werden.35 Zwar
war der Grundstückserwerb nicht dem Geschäftszweig der BGmbH zugewiesen, da die Gesellschaft aber konkret auf der
Suche nach einem Grundstück für eine neue Vertriebszentrale
war, liegt auf den ersten Blick dennoch ein Verstoß vor.
Problematisch ist aber, dass S dem F bei einem privaten
Abendessen von ihrer Verkaufsabsicht erzählte. Nach einer
im Schrifttum verbreiteten Auffassung soll die Geschäftschancenlehre in Fällen der Kenntniserlangung im privaten
Kontext nur eingeschränkt Anwendung finden.36 Rechtsprechung und Teile der Literatur sehen das anders: Die
Treuepflicht sei unteilbar, der Geschäftsführer gewissermaßen „immer im Dienst“.37 Dies überzeugt nicht. Die Privatsphäre des Geschäftsführers darf angesichts ihres verfassungsrechtlichen Gewichts nicht vollständig zurücktreten.
Nach der insoweit überzeugenden, einschränkenden Auffassung liegt dann kein Pflichtverstoß vor, wenn die Chance
dem Geschäftsführer höchstpersönlich angetragen wurde,
etwa im Familien- oder Freundeskreis.38 S erwähnte nur beiläufig und ohne konkrete Verkaufsabsicht, dass sie zur Zeit
ein Gewerbegrundstück in der Leipziger Peripherie veräußere. Es handelt sich daher nicht um eine dem F höchstpersönlich angetragene Geschäftschance. Anders wäre dies, wenn S
ihm – gerade wegen ihrer freundschaftlichen Verbindung –
den Erwerb des Grundstücks in Aussicht gestellt hätte. Dass
33
BGH NJW 1997, 2055; Haas/Ziemons (Fn. 32), § 43
Rn. 155 ff.; Jaeger, in: Münchener Kommentar zum
GmbHG, 2. Aufl. 2015, § 35 Rn. 361.
34
BGH NJW 1986, 585 (586); Fleischer, in: Münchener
Kommentar zum GmbHG, 2. Aufl. 2016, § 43 Rn. 175 ff.;
Lutter, GmbHR 2000, 301 (306). Siehe zum umstrittenen
Verhältnis von Wettbewerbsverbot und Geschäftschancenlehre einerseits Goette, DStR 1998, 1137 (1139); Merkt, ZHR
159 (1995), 423 (434); andererseits BGH NZG 2013, 217 f.;
Fleischer (a.a.O.), § 43 Rn. 176.
35
Vgl. BGH NJW 1986, 584; Haas/Ziemons (Fn. 32), § 43
Rn. 176 m.w.N.
36
Fleischer (Fn. 33), § 143 Rn. 186 f. m.w.N.; ders., NJW
2006, 3239 (3240), ders., NZG 2013, 361 (365);
U. H. Schneider, in: Scholz, Kommentar zum GmbHG,
11. Aufl. 2013, § 43 Rn. 205.
37
BGH NJW 1986, 584 (585); BGH NZG 2013, 216 (218);
Altmeppen, in: Roth/Altmeppen, Kommentar zum GmbHG,
8. Aufl. 2015, § 43 Rn. 30; Haas/Ziemons (Fn. 32), § 43
Rn. 180.
38
Vgl. Fleischer (Fn. 34), § 143 Rn. 186 f. m.w.N.
F von der Geschäftschance privat Kenntnis erlangt hat, rechtfertigt daher im konkreten Fall keine Durchbrechung der Geschäftschancenlehre. F hat gegen eine ihm obliegende Pflicht
im Sinne des § 43 Abs. 1 GmbHG verstoßen.
b) Business Judgment Rule
Fraglich ist, ob eine Pflichtverletzung infolge analoger Anwendung der Business Judgment Rule (§ 93 Abs. 1 S. 2
AktG)39 ausscheidet. Das ist der Fall, wenn der Geschäftsführer bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Zwar handelt
es sich bei der Weitergabe der Informationen bzw. dem Unterlassen des Grundstückskaufs um eine unternehmerische
Entscheidung. F handelte dabei aber nicht zum Wohle der
Gesellschaft.40 § 93 Abs. 1 S. 2 AktG analog ist daher tatbestandlich nicht einschlägig und schließt eine Pflichtverletzung
des F nicht aus.
c) Kein Pflichtverstoß wegen Weisung oder (nachträglicher)
Billigung
Kein Pflichtverstoß liegt vor, wenn der Geschäftsführer aufgrund einer rechtmäßigen Weisung der Gesellschafterversammlung handelte oder sein Verhalten (nachträglich) durch
die Gesellschafter gebilligt wurde.41 Das ist nicht der Fall.
d) Zwischenergebnis
F hat eine organschaftliche Pflicht verletzt, indem er das
Grundstück an X vermittelte.
3. Verschulden
F handelte vorsätzlich und damit schuldhaft im Sinne des
§ 276 Abs. 1 BGB.
4. Kausaler und ersatzfähiger Schaden
Der Schaden der B-GmbH liegt im Nichterwerb des Grundstücks. Die Mehraufwendungen i.H.v. 100.000 € für den
Erwerb des nächstgünstigsten Grundstücks sind gemäß § 249
Abs. 1 BGB ersatzfähig.
5. Beschluss der Gesellschafterversammlung über Geltendmachung
Zur Geltendmachung des Anspruchs bedarf es gemäß § 46
Nr. 8 GmbHG eines Gesellschafterbeschlusses.42 Ein solcher
wurde im November 2015 gefasst.
39
Vgl. BGHZ 152, 280 (282 f.); Haas/Ziemons (Fn. 32), § 43
Rn. 105 ff.
40
Darüber hinaus findet die Business Judgment Rule bei
Verstößen gegen Rechtspflichten ohnehin keine Anwendung,
vgl. Drygala/Staake/Szalai (Fn. 32), § 21 Rn. 85.
41
Vgl. Drygala/Staake/Szalai (Fn. 32), § 11 Rn. 70 ff.
42
Dabei handelt es sich nach h.M. um eine materielle Anspruchsvoraussetzung vgl. BGHZ 28, 355 (359); BGH NZG
2004, 962 (964); a.A. Fastrich, DB 1981, 925.
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Schwerpunktbereichsklausur: Ekelskandal bei Burger No. 1
ZIVILRECHT
6. Ergebnis
Die B-GmbH hat einen Anspruch auf Zahlung von 100.000 €
gegen F aus § 43 Abs. 2 GmbHG.
II. Anspruch aus § 280 Abs. 1 BGB
Der sich (möglicherweise) aus §§ 280 Abs. 1, 611 Abs. 1
BGB ergebende Anspruch wegen Verletzung einer Pflicht
aus dem Anstellungsvertrag wird durch § 43 Abs. 2 GmbHG
verdrängt (lex-specialis-Wirkung).43
III. Ergebnis
Die B-GmbH hat einen Anspruch auf Zahlung von 100.000 €
gegen F aus § 43 Abs. 2 GmbHG.
43
Vgl. Drygala/Staake/Szalai (Fn. 32), § 11 Rn. 85.
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Fortgeschrittenenhausarbeit: Profit, Moral und die rechtlichen Grenzen der Kriegswaffenexportkontrolle – Teil 2*
Von Prof. Dr. Christoph Herrmann, LL.M., Wiss. Mitarbeiter Herbert Rosenfeldt, Passau**
Die anspruchsvolle und umfangreiche Hausarbeit beschäftigt
sich aus zweierlei Perspektive mit dem Recht der Kriegswaffenexportkontrolle. Der erste, staatsrechtlich bestimmte Teil
fordert die Bearbeitenden dazu auf, die verfassungsrechtlichen Grenzen einer verschärften Exportkontrolle in der prozessualen Einkleidung einer unionsrechtlich modifizierten
Verfassungsbeschwerde zu eruieren. In der Begründetheit
sind die Reichweite der Berufsfreiheit und die Prüfung des
Art. 26 Abs. 2 GG i.V.m. dem Gewaltenteilungsgrundsatz
(dazu maßgeblich BVerfG, Urt. v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11)
von besonderem Gewicht. Im zweiten Teil werden anhand
einer verweigerten Ausfuhrgenehmigung nach KrWaffKG der
systematische Umgang mit unbekannten Normen eingeübt
und Grundsätze des Verwaltungs(prozess)rechts wie der
Ermessensfehlerlehre wiederholt. Dabei ist ebenfalls auf
unionale Grundfreiheiten und Grundrechte einzugehen. Beide Teile der Hausarbeit lassen sich getrennt auch als eigenständige Examensklausuren mittleren Schwierigkeitsgrades
bearbeiten.
rechtigen, eine zu Exportzwecken erteilte Transportgenehmigung2 zu widerrufen. Das Ausfuhrgenehmigungsverfahren
berechtigt den Staat, das wirtschaftliche Tätigwerden im
Bereich des Kriegswaffenhandels in Hinblick auf vorrangige
staatliche Interessen zu kontrollieren und auszugestalten. Die
Norm ist somit dem öffentlichen Recht zuzuordnen und die
Streitigkeit öffentlich-rechtlich.
Eine verfassungsrechtliche Streitigkeit setzt voraus, dass
der Kern der Streitigkeit verfassungsrechtlicher Art ist und
Kläger und Beklagter unmittelbar am Verfassungsleben beteiligte Rechtsträger sind (doppelte Verfassungsunmittelbarkeit).3 Die K-KG kann sich hier zwar ggf. auf Grundrechte
des Grundgesetzes berufen, den Kern des Rechtsstreits bildet
allerdings das im KrWaffG einfachgesetzlich geregelte Ausfuhrgenehmigungsverfahren. Jedenfalls nimmt die K-KG
selbst nicht unmittelbar am Verfassungsleben teil. Die Streitigkeit ist damit auch nicht verfassungsrechtlicher Art.
Eine abdrängende Sonderzuweisung ist ebenso wenig ersichtlich. Der Verwaltungsrechtsweg ist somit eröffnet.
2. Teil: Verwaltungsgerichtliche Klagen
Die K-KG erhebt verwaltungsgerichtliche Klage mittels dreier nachgeschalteter Anträge. Diese haben Aussicht auf Erfolg, wenn die Sachurteilsvoraussetzungen gegeben und die
Anträge begründet sind.
2. Statthafte Klageart
Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren
(§ 88 VwGO). Die Anfechtungsklage ist nach § 42 Abs. 1
1. Alt. VwGO statthaft, wenn die K-KG die Aufhebung eines
sie belastenden Verwaltungsaktes begehrt. Vorliegend wendet sie sich mit dem ersten Antrag gegen den Widerruf der
Ausfuhrgenehmigung, dessen Aufhebung sie begehrt. Der
Widerruf ist als actus contrarius der Genehmigung selbst eine
hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines
Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen trifft (§ 35 S. 1
VwVfG).4
Die Bedenken, die gegen die Statthaftigkeit einer sog. isolierten Anfechtungsklage vorgetragen werden,5 greifen hier
nicht durch. Es bedarf bei Erfolg der Anfechtungsklage keiner zusätzlichen Verpflichtungsklage, um das Rechtsschutzziel der K-KG, nämlich die Ausfuhr der Kettenpanzer, zu
realisieren. Denn durch die Beseitigung des Widerrufs lebt
die ursprüngliche Genehmigung wieder auf.
Die Aufhebung des Bescheids vom 9.7.2015 wird vorliegend in Form einer statthaften Anfechtungsklage beantragt.
A. Beseitigung des Widerrufs
I. Sachurteilsvoraussetzungen
1. Verwaltungsrechtsweg
Die Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges nach § 40 Abs. 1
S. 1 VwGO setzt in Ermangelung einer aufdrängenden Sonderzuweisung zunächst das Vorliegen einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit voraus. Dazu müssten die streitentscheidenden Normen öffentlich-rechtlicher Art sein, mithin Hoheitsträger einseitig berechtigen oder verpflichten bzw. ein
Subordinationsverhältnis regeln.1
Der angegriffene Bescheid stützt sich auf die §§ 7, 6
KrWaffG, die die Genehmigungsbehörde einseitig dazu be* Fortsetzung von Herrmann/Rosenfeldt, ZJS 2016, 207.
** Der Autor Herrmann ist Inhaber des Lehrstuhls für Staatsund Verwaltungsrecht, Europarecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Passau; der
Autor Rosenfeldt ist wiss. Mitarbeiter ebendort. Die Hausarbeit wurde im Rahmen der Übung im Öffentlichen Recht für
Fortgeschrittene im Wintersemester 2015/16 an der Juristischen Fakultät der Universität Passau gestellt.
1
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschl. v. 6.10.2014 –
7 C 14.1372, Rn. 10; die verschiedenen Abgrenzungstheorien
werden in der Praxis nicht trennscharf angewandt, vgl.
Ehlers/Schneider, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, 29. Lfg., Stand: 2015, § 40 Rn. 218 ff.,
229 m.w.N.
2
So die nach der Gesetzessystematik korrekte Terminologie,
vgl. Zähe, Der Staat 44 (2005), 463 (475); im Folgenden
verkürzt: Ausfuhrgenehmigung.
3
Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 9. Aufl. 2013, § 11
Rn. 49 f.; Ehlers/Schneider (Fn. 1), § 40 Rn. 136 f.
4
Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 16. Aufl.
2015, § 49 Rn. 5a; Pottmeyer, Kriegswaffenkontrollgesetz,
2. Aufl. 1994, § 7 Rn. 32.
5
Hufen (Fn. 3), § 14 Rn. 19-21.
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Profit, Moral und Grenzen der Kriegswaffenexportkontrolle – Teil 2 ÖFFENTLICHES RECHT
3. Klagebefugnis
Anfechtungsklagebefugt ist nach § 42 Abs. 2 1. Var. VwGO,
wer geltend machen kann, durch den streitgegenständlichen
Verwaltungsakt möglicherweise in eigenen Rechten verletzt
zu sein. Dies dürfte vorliegend zumindest nicht ausgeschlossen sein.6
Der K-KG wurde durch den Widerruf der Genehmigung
das Recht entzogen, das beantragte Exportgeschäft tatsächlich durchzuführen. Das Kriegswaffengesetz beruht auf einem Herstellungs- und Transportverbot mit Genehmigungsvorbehalt. Die erteilte Genehmigung verlieh der K-KG demnach ein subjektives Recht auf den Export des Kettenpanzers,
das durch den Widerruf möglicherweise verletzt ist. Eines
Rückgriffes auf das Auffanggrundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG
(„Adressatentheorie“) bedarf es deswegen nicht.
Die K-KG ist klagebefugt.
4. Vorverfahren
Fraglich ist, ob die K-KG Widerspruch gegen den Widerruf
hätte erheben müssen. Die Möglichkeit, Verwaltungsakte
oberster Bundesbehörden in einem Vorverfahren zu überprüfen, besteht nach § 68 Abs. 1 S. 1, S. 2 1. Var. VwGO nicht.
Den Widerruf erließ die Bundesregierung, die aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern besteht (Art. 62 GG).
Dabei handelt es sich um oberste Bundesorgane,7 gegen deren Entscheidung ein Widerspruch unstatthaft wäre. Die
ordnungsgemäße Durchführung eines Vorverfahrens ist damit
auch keine Klagevoraussetzung.
5. Klagefrist und -form
Die Klagefrist beträgt einen Monat nach Bekanntgabe des
Bescheids (§ 74 Abs. 1 S. 2 VwGO) und berechnet sich gem.
§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO nach §§ 187
Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB. Sie beginnt mit dem Tag der Bekanntgabe zu laufen, dieser Tag wird jedoch nicht mitgerechnet. Die Klagefrist endet nach § 188 Abs. 2 BGB mit demjenigen Tag des nächsten Monats, der seiner Zahl nach dem
Tag der Bekanntgabe entspricht.8 Die Bundesregierung hat
die Genehmigung am 9.7.2015 widerrufen. Selbst mit einer
unterstellten Bekanntgabe an die K-KG am selben Tag wurde
die Monatsfrist mit Klageerhebung am 16.7.2015 eingehalten.9
Die Klageerhebung erfolgte formgerecht schriftlich und
begründet (§§ 81, 82 Abs. 1 VwGO).
6
BVerwG, Urt. v. 20.3.1964 – VII C 10.61 = BVerwGE 18,
154 (157); BVerwG, Urt. v. 17.6.1993 – 3 C 3/89 =
BVerwGE 92, 313 (316) – und st. Rspr.
7
Dolde/Porsch, in: Schoch/Schneider/Bier (Fn. 1), § 68
Rn. 15.
8
Brink, in: Posser/Wolff (Hrsg.), Beck’scher Onlinekommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, 36. Ed., Stand: 2016,
§ 74 Rn. 21.
9
Das Fehlen einer Rechtsbehelfsbelehrung unterstellt kann
vertretbar auch von einer (selbstredend gewahrten) Jahresfrist
im Sinne des § 58 Abs. 2 VwGO ausgegangen werden.
6. Weitere Sachentscheidungsvoraussetzungen
Das Verwaltungsgericht ist gemäß § 45 VwGO sachlich zuständig. Die Bundesregierung erlässt den angegriffenen Bescheid, sodass nach § 3 Berlin/Bonn-Gesetz i.V.m. § 52 Nr. 2
S. 1 VwGO, § 1 Abs. 1 AGVwGO Berlin das VG Berlin zuständig ist.
Die klagende K-KG ist nach § 61 Nr. 1 2. Var. VwGO beteiligten- und nach § 62 Abs. 1 Nr. 3 VwGO prozessfähig
durch ihre nach materiellem (österreichischem) Recht vertretungsbefugten Komplementäre.
Die Bundesrepublik Deutschland ist nach § 61 Nr. 1
2. Var. VwGO beteiligtenfähig und wird im Prozess durch
die Bundesregierung, diese durch die den Beschluss tragenden Bundesministerien, gesetzlich vertreten (§ 62 Abs. 3
VwGO).
II. Begründetheit
Die Klage ist begründet, soweit sie sich gegen den richtigen
Beklagten richtet (§ 78 Abs. 1 VwGO), der Bescheid der
Bundesregierung rechtswidrig und die K-KG dadurch in
ihren Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
1. Richtiger Beklagter
Richtiger Beklagter ist nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO bei der
Anfechtungsklage der Rechtsträger der Behörde, die den
angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat. Vorliegend hat
die Bundesregierung als Kollegialorgan den Bescheid erlassen (§ 11 Abs. 1 KrWaffG, Art. 62 GG). Damit ist eine Klage
gegen die Bundesrepublik Deutschland zu erheben.10 Ausreichend ist dabei nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 a.E. VwGO jedoch,
dass die Klage – wie vorliegend geschehen – gegen die Bundesregierung als handelnde Behörde gerichtet ist.
2. Rechtswidrigkeit des Bescheids
a) Rechtsgrundlage
Die Bundesregierung hat die Genehmigung nach § 7 Abs. 1
KrWaffG widerrufen. Diese spezialgesetzliche Regelung geht
den allgemeineren §§ 48 f. VwVfG auch insofern vor, als sie
nicht zwischen der Aufhebung rechtmäßiger und rechtswidriger Verwaltungsakte differenziert.11
Allerdings setzt die Aufhebung eines Verwaltungsaktes
die Wirksamkeit desselben voraus.12 Der Widerruf im Sinne
des KWKG setzt somit eine wirksame Ausfuhrgenehmigung
voraus. Daran könnte bereits in Hinblick auf den erfolgten
Widerspruch des KWKA nach § 10a Abs. 2 S. 2 KrWaffG
gezweifelt werden, nach dem die Genehmigung als nicht
erteilt gilt. Doch die erfolgte Gesetzesänderung wurde durch
das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig (vgl.
Bearbeitervermerk) und damit nichtig erklärt (§ 95 Abs. 3
S. 1 BVerfGG), sodass von ihrer Rechtsunwirksamkeit ex
10
Pottmeyer (Fn. 4), § 7 Rn. 32.
Pottmeyer (Fn. 4), § 7 Rn. 3 f.
12
Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011,
§ 11 Rn. 16; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 8. Aufl. 2014, § 48 Rn. 38.
11
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ÜBUNGSFÄLLE
Christoph Herrmann/Herbert Rosenfeldt
tunc auszugehen ist.13 Somit steht fest, dass der KWKA und
seine Handlungen von Anfang an unwirksam waren und
keine Auswirkungen auf die Genehmigung haben konnten.
b) Formelle Rechtmäßigkeit
Der Widerruf müsste formell rechtmäßig sein, also von der
zuständigen Behörde in einem ordnungsgemäßen Verfahren
formgerecht erlassen worden sein.
Mit der Bundesregierung hat die nach § 11 Abs. 1
KrWaffG zuständige Behörde gehandelt. Fraglich ist, ob die
K-KG hätte angehört werden müssen und welche Rechtsfolgen sich daraus ergeben. Mangels abschließender Regelung
im KrWaffG findet das allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG Anwendung,
das wiederum in § 28 Abs. 1 VwVfG ein grundsätzliches
Anhörungserfordernis aufstellt.14 Danach hätte die K-KG
angehört werden müssen, was vor dem Erlass des Widerrufs
nicht geschehen ist. Die Bundesregierung hat der K-KG jedoch später Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben und
darauf erwidert, womit der Verfahrensfehler nach § 45 Abs. 1
Nr. 3, Abs. 2 VwVfG geheilt ist. Eine Heilung dieses Verfahrensfehlers wäre darüber hinaus noch bis zum Abschluss des
verwaltungsgerichtlichen Verfahrens möglich.15
Besondere Formvorschriften waren nicht einzuhalten.
Der Widerruf erfolgte damit formell rechtmäßig.
c) Materielle Rechtmäßigkeit
Nach § 7 Abs. 1 KrWaffG kann die Ausfuhrgenehmigung jederzeit widerrufen werden. Der Widerruf ist somit an keine
Tatbestandsvoraussetzungen geknüpft. Die Behörde hat darüber außerhalb der zwingenden Widerrufsgründe nach § 7
Abs. 2, § 6 Abs. 3 KrWaffG, die nicht vorliegen, nach
pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden.
Die Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens hat sich an
Sinn und Zweck des KrWaffG zu orientieren und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 40 VwVfG).
Das Ermessen muss betätigt worden sein (ansonsten Ermessensnichtgebrauch), es muss die aufklärungsbedürftigen Gesichtspunkte berücksichtigen und sachbezogene Erwägungen
anstellen (ansonsten Ermessensdefizit) und die Maßnahme
darf nicht unverhältnismäßig oder gleichheitswidrig wirken
(sonst Ermessensüberschreitung).16 Überschreitet die Behörde diese Ermessensgrenzen, handelt sie ermessensfehlerhaft
und damit im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Prü13
Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl.
2015, § 95 Rn. 44.
14
Dieser entfaltet insofern eine rechtsstaatlich gebotene „Lückenschließungsfunktion“ bei belastender Verwaltungstätigkeit, vgl. Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 12), § 28
Rn. 9-12.
15
Mangels expliziter Sachverhaltsangaben erscheint es vertretbar, die rechtzeitige ordnungsgemäße Anhörung gleichermaßen zu unterstellen. Jedenfalls sollte § 28 Abs. 1 VwVfG
Erwähnung finden.
16
Ramsauer, Die Assessorprüfung im öffentlichen Recht,
7. Aufl. 2010, § 37 Rn. 20-28.
fungsmaßstabs nach § 114 S. 1 VwGO auch rechtswidrig.
Das Verwaltungsgericht wird mithin keine eigenen Ermessenserwägungen anstellen, sondern den Widerruf auf Ermessensfehler überprüfen.
Teilweise wird bereits bestritten, dass Antragstellern von
Genehmigungen nach dem KrWaffG überhaupt ein (einklagbares) Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zusteht.
Diese Meinung beruft sich auf den Wortlaut des § 6 Abs. 1
KrWaffG („kein Anspruch“) und darauf, dass Art. 26 Abs. 2
GG ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt darstelle.
Mit dem Argument, es dürfe aus rechtsstaatlichen Gründen
keine völlig ermessensfreie Verwaltungstätigkeit geben, die
gerichtlich nicht überprüft werden könnte, lässt sich dieser
Meinung trefflich entgegen treten.
In Hinblick auf die grundsätzlich freie Widerrufbarkeit
der Genehmigung (§ 7 Abs. 1 KrWaffG), auf die ohnehin
kein Anspruch besteht (§ 6 Abs. 1 KrWaffG), wird jedoch
unzweifelhaft deutlich, dass das KrWaffG eine restriktive
Kontrolle von Kriegswaffen bezweckt. Dabei sind die von
Art. 26 GG geschützten öffentlichen Belange (völkerrechtliches Friedensgebot, innere und äußere Sicherheit,17 exekutive
Eigenverantwortung, dazu siehe oben 1. Teil B. II. 3. b bb)
und die gesamten Umständen des Einzelfalls zu berücksichtigen. Es bedarf daher entweder besonderer öffentlicher Interessen oder besonderer privater Gründe für die Erteilung der
Genehmigung.18 An Ablehnung oder Widerruf der Genehmigung sind entsprechend geringe Anforderungen zu stellen;
der Gesetzgeber räumt insofern der Behörde einen sehr weiten Spielraum ein.19
Vorliegend begründet die Bundesregierung den Widerruf
mit dem fehlenden Deutschlandbezug der K-KG. Damit
nimmt die Behörde Bezug auf ein Regelbeispiel der in § 6
Abs. 2 KrWaffG aufgeführten fakultativen Versagungsgründe (§ 6 Abs. 2 Nr. 2 lit. a KrWaffG). Der gesetzlichen Wertung, dass Nicht-Deutschen im Sinne des Grundgesetzes
keine Genehmigung erteilt werden kann, trägt die Bundesregierung im Rahmen des Widerrufs jedenfalls nicht sachfremd
Rechnung. Dies gilt selbst für den Fall, dass ihr diese Tatsache bereits zum Genehmigungszeitpunkt bekannt war.20 In
Anbetracht des Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV, der mitgliedstaatliche Maßnahmen den Handel mit Kriegsmaterial betreffend (worunter laut Bearbeitervermerk auch der Kampfpanzer „Bruno 3B8+“ fällt) von der Einhaltung des Unionsrechts
befreit, kann in dieser Erwägung der Bundesregierung auch
keine unionsrechtswidrige Diskriminierung erblickt werden.
Ferner führt die Bundesregierung ein durch kritische Berichterstattung geändertes gesamtstaatliches Interesse an.
Auch die öffentliche Meinung kann die Bundesregierung unproblematisch in die Entscheidung über eine derartige sicher-
17
Pathe/Wagner, in: Bieneck (Hrsg.), Handbuch des Außenwirtschaftsrechts mit Kriegswaffenkontrollrecht, 2. Aufl.
2005, § 34 Rn. 1, 4 f.
18
BVerwG, Urt. v. 16.9.1980 – I C 1.77, Rn. 62.
19
Pathe/Wagner (Fn. 17), § 40 Rn. 14, 24; Pietsch, in:
Hohmann/John (Hrsg.), Ausfuhrrecht, 2002, § 7 Rn. 2.
20
Pottmeyer (Fn. 4), § 7 Rn. 7.
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ZJS 3/2016
346
Profit, Moral und Grenzen der Kriegswaffenexportkontrolle – Teil 2 ÖFFENTLICHES RECHT
heits- und außenpolitisch sensible und relevante Frage einstellen.
Des Weiteren stand die Entscheidung auch in Einklang
mit den ermessensleitenden „Politischen Grundsätzen der
Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern vom 19. Januar 2000“21, bei denen es
sich um eine intern geltende Verwaltungsvorschrift handelt,
die die Ermessensausübung der Genehmigungsbehörden im
Exportbereich allgemeinen Regeln unterwirft.22Auch andere
Ermessensfehler sind nicht ersichtlich.
Die Bundesregierung handelte ermessensfehlerfrei. Der
Widerruf war materiell rechtmäßig.
III. Zwischenergebnis
Der Widerrufsbescheid vom 9.7.2015 ist rechtmäßig.
Der erste Antrag erfüllt die Sachurteilsvoraussetzungen,
ist allerdings unbegründet und hat daher keine Aussicht auf
Erfolg.
B. Feststellung der Genehmigungsfreiheit
I. Statthaftigkeit23
Mit dem zweiten Antrag begehrt die K-KG, die Genehmigungsfreiheit des Exportvorhabens gerichtlich festzustellen.
Dafür könnte die allgemeine Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1
1. Alt VwGO) statthaft sein, die auf das Bestehen eines
Rechtsverhältnisses gerichtet ist und ein Feststellungsinteresse voraussetzt. Ferner darf sie gem. § 43 Abs. 2 S. 1 VwGO
nicht subsidiär sein.
21
Bundesanzeiger Nr. 19 v. 28.1.2000, S.1299; unter
http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/366
862/publicationFile/3681/PolGrdsaetzeExpKontrolle.pdf
(5.5.2016) abrufbar.
22
Glawe, DVBl. 2012, 329 (331), Kirchner, DVBl. 2012,
336 (342); Barowski/Kochendörfer/List, in: Ehlers/Wolffgang (Hrsg.), Recht der Exportkontrolle – Bestandsaufnahme
und Perspektiven, 2015, S. 157 (163); Pottmeyer (Fn. 4), § 6
Rn. 12-15; Rüstungsexportbericht 2014, S. 9 f., unter
http://www.bmwi.de/DE/Themen/Aussenwirtschaft/ruestungs
exportkontrolle,did=716882.html (18.5.2016) abrufbar.
23
Der Antrag wird laut Sachverhalt hilfsweise, d.h. unter der
Bedingung gestellt, dass der Hauptantrag abgewiesen wird.
Dies kann innerhalb der Statthaftigkeit kurz thematisiert
werden, obgleich man das Problem innerhalb einer vollständigen Zulässigkeitsprüfung in der ordnungsgemäßen Klageerhebung verorten würde. Nach allgemeinen verwaltungsprozessualen Erwägungen, die sich auch auf die §§ 81 f. VwGO
stützen lassen, muss die Klage unbedingt erhoben werden,
d.h. sie darf nicht von außerprozessualen Bedingungen abhängig gemacht werden. Werden wie vorliegend mehrere
Anträge in einer Klage hilfsweise für den Fall der Abweisung
des Hauptantrags erhoben (innerprozessuale Bedingung),
steht die unbedingte Klageerhebung jedoch außer Frage und
der Sicherheit des Rechtsverkehrs ist genüge getan (vgl.
Hufen [Fn. 3], § 18 Rn. 4). Die hilfsweise Antragstellung ist
daher zulässig.
1. Konkretes Rechtsverhältnis
Die Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO setzt einen
konkreten Sachverhalt voraus, auf den Rechtsnormen angewendet werden, aus denen sich eine rechtliche Beziehung
zwischen den am Streit Beteiligten ergibt.24 Die Klärung
abstrakter Rechtsfragen hingegen ist unzulässig.
Die K-KG begehrte als Antragsteller in einem Genehmigungsverfahren nach KrWaffG eine Ausfuhrgenehmigung für
ein konkretes Exportgeschäft. Die Bundesregierung hat als
zuständige Genehmigungsbehörde darüber nach §§ 3 Abs. 3,
Abs. 2, 11 Abs. 1 KrWaffG zu entscheiden. Dieser Genehmigungsvorbehalt ist im vorliegenden Fall umstritten. Ob die KKG der Genehmigung bedarf, ist die mit konkreten Folgen
verbundene Frage nach der Ausgestaltung des (negativen)
Rechtsverhältnisses der Verfahrensbeteiligten.
Ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis liegt damit vor.
2. Feststellungsinteresse
Die K-KG müsste ein berechtigtes Interesse an der baldigen
Feststellung der Genehmigungsfreiheit des Exportvorhabens
haben (§ 43 Abs. 1 VwGO). Durch dieses subjektive und
zeitliche Erfordernis soll verhindert werden, dass die Gerichte funktionswidrig zu Auskunfts- oder Gutachterstellen in
Rechtsfragen werden. Ausreichend für die Zulässigkeit der
Feststellungsklage ist jedes schutzwürdige, aus Eigenbetroffenheit des Klägers resultierende vernünftige Interesse, sei es
rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Natur.25
Durch die Genehmigungspflichtigkeit des Vorhabens
wird das wirtschaftliche Tätigwerden der K-KG erschwert.
Diese hat ein wirtschaftliches Interesse an der Ausfuhr des
Kriegspanzers, das ohne ein Genehmigungserfordernis befriedigt werden würde.
Das erforderliche Feststellungsinteresse ist gegeben.
3. Keine Subsidiarität
Fraglich ist, ob der Feststellungsantrag aufgrund seines subsidiären Charakters unstatthaft ist. Dies ist gemäß § 43 Abs. 2
S. 1 VwGO der Fall, soweit der Kläger seine Rechte durch
Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann, sodass er
durch eine andere Klageart Rechtsschutz im gleichen Umfang
und mit derselben Wirkung erlangen kann oder erlangen
konnte.26 Den Rückgriff auf die Feststellungsklage will der
Gesetzgeber dann verhindern, wenn für die Rechtsverfolgung
ein unmittelbareres, sachnäheres und wirksameres Verfahren
zur Verfügung steht, dessen besondere Voraussetzungen andernfalls umgangen werden.27 Davon kann dann keine Rede
sein, wenn die Feststellungsklage einen Rechtsschutz gewährleistet, der weiter reicht, als er mit der Gestaltungsklage
erlangt werden kann.28
24
Hufen (Fn. 3), § 18 Rn. 4.
Stern/Blanke, Verwaltungsprozessrecht in der Klausur,
9. Aufl. 2008, Rn. 463.
26
Hufen (Fn. 3), § 18 Rn. 5.
27
Ramsauer (Fn. 16), § 16 Rn. 8.
28
BVerwG, Urt. v. 21.2.2008 – 7 C 43/07, Rn. 11.
25
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Christoph Herrmann/Herbert Rosenfeldt
In Betracht kommt hier erstens eine vorbeugende Unterlassungsklage, die dem durch die Bundesregierung ausgesprochenen Exportverbot vorbeugen soll. Zweitens könnte
die BRD darauf verklagt werden, eine Genehmigung zu erteilen (dazu siehe unten C.). Schließlich könnte die K-KG den
Widerruf der Genehmigung gerichtlich anfechten (siehe oben
A.). Hinsichtlich der Unterlassungsklage und der Anfechtungsklage umgeht die K-KG keine besonderen Sachurteilsvoraussetzungen, da für die Unterlassungsklage solche nicht
normiert und sie im Fall der Anfechtungsklage ohnehin erfüllt sind. Die Verpflichtungsklage würde scheitern, wenn die
Genehmigung nicht erforderlich wäre. Auf eine nicht erforderliche Genehmigung besteht nämlich kein Anspruch, sodass diese Klage dann jedenfalls kostenpflichtig abzuweisen
wäre. Eine vorbeugende Unterlassungsklage ist der K-KG
darüber hinaus unbehilflich, da nach der gesetzlichen Ausgestaltung durch das KrWaffG ein positives Verhalten der
Verwaltung erforderlich ist, damit die K-KG den Export
durchführen kann. Schließlich geht der Feststellungsantrag
über die abgelehnte Einzelgenehmigung hinaus, indem er es
der K-KG ggf. ermöglichen würde, gleichgeartete Exportgeschäfte zukünftig genehmigungsfrei durchzuführen.
Die Feststellungsklage der K-KG ist somit nicht subsidiär
(a.A. vertretbar).29
1. Genehmigung durch das BAFA
Fraglich ist, ob die Genehmigung nach dem KrWaffG entbehrlich ist, weil bereits eine Genehmigung nach § 8 Abs. 1
AWV durch das BAFA erteilt wurde.
Das Außenwirtschaftsrecht und das Kriegswaffenexportkontrollrecht sehen allerdings jeweils Genehmigungen vor,
die sich nach Rechtsgrundlage, Voraussetzungen, erfassten
Rechtsgütern und Genehmigungsbehörden unterscheiden.
Eine Genehmigung nach AWG/AWV präjudiziert oder ersetzt nach § 6 Abs. 4 KrWaffG i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 1 AWG
nicht die Entscheidung nach dem in Bezug auf Kriegswaffen
einschlägigen, aber im Rechtssinne gerade nicht spezielleren
KrWaffG.31 Fällt das Exportgut sowohl unter Kriegswaffen
(§ 1 KrWaffG i.V.m. der Kriegswaffenliste) als auch unter
die genehmigungsbedürftigen Exportgüter nach der Ausfuhrliste (Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung), bedarf es
beider Genehmigungen.32
Vorliegend ersetzt die Genehmigung durch das BAFA
nicht die Genehmigung nach § 3 Abs. 3, Abs. 2 KrWaffG.
Letztere ist demnach weiterhin erforderlich.
II. Begründetheit
Der Antrag ist begründet, wenn das bestrittene Rechtsverhältnis nicht besteht. Vorliegend dürfte das beabsichtigte
Exportgeschäft der K-KG nicht genehmigungspflichtig durch
die Bundesregierung sein.
Nach der einfachgesetzlichen Ausgestaltung durch das
KrWaffG und der Einordnung des „Bruno 3B8+“ als Kriegswaffe im Sinne dieses Gesetzes ist nach § 3 Abs. 3, Abs. 2
KrWaffG grundsätzlich eine Genehmigung für die inländische Beförderung der zum Export nach Saudi-Arabien bezweckten Charge erforderlich,30 soweit nicht ausnahmsweise
Genehmigungsfreiheit besteht. Dafür gibt es mehrere Anknüpfungspunkte.
2. Positive Voranfrage als Vorbescheid
Eine Genehmigung des Exportvorhabens ist nicht mehr erforderlich, wenn die positive Beantwortung der Voranfrage
als Vorbescheid im Sinne einer abschließenden Teilregelung
oder Teilgenehmigung einzuordnen ist. Über einzelne Genehmigungsvoraussetzungen entscheidet der Vorbescheid abschließend und verbindlich, ohne dass es einer gesonderten
gesetzlichen Regelung bedarf.33
Der Zweck der Voranfrage im Kriegswaffenkontrollrecht,
nämlich dem Exporteur von vorn herein vergebliche Aufwendungen zu ersparen, spricht nicht zwingend dafür, dass
die positive Beantwortung abschließend verbindlich sein
sollte. Denn zu diesem Zeitpunkt sind seine Bemühungen
noch nicht vergeblich – wären sie dies, würde die Voranfrage
negativ ausfallen. Der Wortlaut der Beantwortung, dass die
Bundesregierung die Genehmigung vorbehaltlich einer wesentlichen Änderung der Umstände in Aussicht stelle, deutet
eindeutig darauf hin, dass die Behörde zum Zeitpunkt der
Beantwortung der Voranfrage gerade keine abschließende
Entscheidung trifft.34
29
31
Während die Rechtsprechung das Subsidiaritätserfordernis
u.a. in Hinblick auf mögliche Unterlassungs- und Leistungsklagen teleologisch beschränkt, vertritt die Literatur überwiegend eine strenge Auffassung dieser Klagevoraussetzung.
Wer bei einer auch nur statthaften anderen Klage die Subsidiarität bejaht (vgl. Sodan, in: Sodan/Ziekow [Hrsg.], Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Aufl. 2014, § 43 Rn. 116; Möstl, in:
Posser/Wolff [Fn. 8], § 43 Rn. 12), kann vorliegend dann nur
noch mit dem umfassenderen Rechtsschutz durch die Feststellungsklage argumentieren.
30
Nach a.A. stellt § 3 Abs. 3 KrWaffG einen echten Ausfuhrtatbestand dar, sodass der Export selbst genehmigungspflichtig ist, vgl. dazu m.w.N. Holthausen, JZ 1995, 284 und
Kirchner, DVBl. 2012, 336 (339).
Diemer, in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), Strafrechtliche Nebengesetze, 206. Lfg., Stand: Januar 2016, Vorb. AWG Rn. 10;
Heinrich, in: Steindorf/Papsthart (Hrsg.), Waffenrecht,
10. Aufl. 2015, Vorb. KWKG Rn. 7 m.w.N.
32
Kirchner, DVBl. 2012, 336 (339); Pottmeyer, in:
Wolffgang/Simonsen/Rogmann (Hrsg.), AWR-Kommentar,
46. Lfg., Stand: November 2015, Einl. KWKG Rn. 13f.
33
Maurer (Fn. 12), § 9 Rn. 63.
34
BVerfG, Urt. v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11, Rn. 161;
Pottmeyer (Fn.4), § 9 Rn. 55; entsprechend auch das behördeneigene Verständnis der Bundesregierung, siehe Rüstungsexportbericht 2014, S. 9.; unklar Zähe, Der Staat 44 (2005),
462 (475), der von einer Bindungswirkung ausgeht, ohne
dass der Genehmigungsantrag ersetzt werde.
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Profit, Moral und Grenzen der Kriegswaffenexportkontrolle – Teil 2 ÖFFENTLICHES RECHT
Die positive Voranfrage macht die versagte Exportgenehmigung nicht entbehrlich.
3. Unionsrechtswidrigkeit des Genehmigungserfordernisses
Fraglich ist, ob das Genehmigungserfordernis des § 3 Abs. 3,
Abs. 2 KrWaffG als solches unionsrechtswidrig ist. Verstößt
§ 3 Abs. 3, Abs. 2 KrWaffG gegen unmittelbar anwendbares
Unionsrecht, wäre aufgrund des Anwendungsvorrangs des
Unionsrechts35 der von der K-KG beabsichtigte Export genehmigungsfrei.36
a) Verstoß gegen die Ausfuhrfreiheit
Der nationale Genehmigungsvorbehalt könnte gegen den
Grundsatz der Ausfuhrfreiheit aus Art. 1 Verordnung (EU)
2015/47937 verstoßen. Nach verbreiteter Ansicht stellt Art. 1
VO (EU) Nr. 2015/479 die Ausfuhrfreiheit lediglich deklaratorisch fest, da sie bereits aus den EU-Grundrechten und dem
Bekenntnis der EU-Mitgliedstaaten zu liberaler Handelspolitik (Art. 206 AEUV) folge.38 Danach ist die Ausfuhr von
Handelswaren aus den EU-Mitgliedstaaten in Drittstaaten
grundsätzlich vorbehaltslos gestattet.39
Allerdings erlaubt es Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV den
Mitgliedstaaten, die für die Wahrung ihrer wesentlichen
Sicherheitsinteressen erforderlichen Maßnahmen hinsichtlich
des Handels mit Kriegswaffen zu treffen. Dieser Ausnahmetatbestand ist nach seinem Wortlaut, dass jeder Mitgliedstaat
Maßnahmen ergreifen kann, denen die Vorschriften der Verträge dann nicht entgegenstehen, als Rechtfertigungsgrund,
nicht als Bereichsausnahme vom Unionsrecht zu verstehen.40
Den sachlichen Anwendungsbereich dieser umfassenden
Derogationsbefugnis von der gemeinsamen Handelspolitik
und damit auch von der Ausfuhrfreiheit gibt nach Art. 346
Abs. 2 AEUV eine durch den Rat festgelegte Liste vor.41 Die
nationalen Maßnahmen müssen zur Wahrung wesentlicher
Sicherheitsinteressen erforderlich sein. Sie werden in
Art. 346 Abs. 2 AEUV allerdings nicht konkretisiert und
unterliegen der Einschätzungsprärogative des jeweiligen
35
Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 6. Aufl.
2014, § 10 Rn. 32 f.
36
Die Prüfung anhand höherrangigen Unionsrechts kann
unproblematisch und mit dem gleichen Ergebnis auch innerhalb des 3. Antrags (siehe unten C. II. 2. c) erfolgen. Dort
könnte dann auf das Genehmigungserfordernis und die verweigerte Genehmigung im Einzelfall abgestellt werden.
37
Bis zum 16.4.2015: Verordnung (EG) Nr. 1061/2009.
38
Vgl. Hohmann, in: Hohmann/John (Fn. 19), Art. 1 EGAusfuhrVO v. 1969, Rn. 1 f. m.w.N.
39
Weiß, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der
Europäischen Union, 57. Lfg., Stand: August 2015, Art. 207
AEUV Rn. 145.
40
Dittert, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 346 AEUV Rn. 1-4;
Richter, Die Rüstungsindustrie im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2007, S. 50-57.
41
Weiß (Fn. 39), Art. 207 AEUV Rn. 146.
Mitgliedstaates.42 Dabei sind der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Unionsinteresse und zwingende Vorgaben des
Unionsrechts im Rüstungsexportbereich zu beachten.43
Der Kampfpanzer „Bruno 3B8+“ fällt unter die Liste des
Rates vom 15.4.1958 nach Art. 346 Abs. 2 AEUV. Vorliegend gewährleistet der Genehmigungsvorbehalt nach § 3
Abs. 3, Abs. 2 KrWaffG die Kontrolle der Bundesregierung
über den Transport und Verbleib von Kriegswaffen, d.h. von
Gegenständen, die Eingang in die Kriegswaffenliste gefunden
haben, weil sie sich aufgrund ihrer objektiven Beschaffenheit
dazu eignen, den Völkerfrieden mit großformatiger Gewaltanwendung zu stören.44 Als solche stellen sie potentielle Bedrohungen der inneren und äußeren Sicherheit dar. Der Genehmigungsvorbehalt entspricht somit wesentlichen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland und ist auf
Grundlage des Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV ein gerechtfertigter Eingriff in die Ausfuhrfreiheit.
b) Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit
Weiterhin könnte der Genehmigungsvorbehalt gegen die
Warenverkehrsfreiheit aus Art. 28, 34 f. AEUV, insbesondere
gegen das Verbot von Ausfuhrbeschränkungen (Art. 35
AEUV) verstoßen.
Die Kampfpanzer sind handelbare körperliche Gegenstände mit Geldwert,45 die aus Deutschland, einem Mitgliedstaat der EU stammen. Sie sind damit Waren im Sinne des
Art. 28 Abs. 1 AEUV. Die Ausfuhrbeschränkung muss allerdings zwischen den Mitgliedstaaten, das heißt im Binnenmarkt bestehen. Beschränkungen der Warenausfuhr in Drittländer sind dagegen als Teil der Handelspolitik gemäß
Art. 207 AEUV zu beurteilen.46 Die K-KG möchte die
Kampfpanzer aus dem Binnenmarkt hinaus nach SaudiArabien exportieren.
Der Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit ist
somit nicht eröffnet.47
42
Kokott, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012,
Art. 346 AEUV Rn. 7.
43
Dittert (Fn. 40), Art. 346 AEUV Rn. 25, 31 f.; dazu zählt
etwa die Dual-Use-VO (Verordnung [EG] Nr. 428/2009), auf
die laut Bearbeitervermerk allerdings nicht einzugehen war.
44
Epping, Kriegswaffenkontrolle, 1993, S. 81.
45
Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV,
4. Aufl. 2011, Art. 36 AEUV Rn. 120.
46
Schroeder, in: Streinz (Fn. 42), Art. 35 AEUV Rn. 2;
Streinz, Europarecht, 9. Aufl. 2012, Rn. 1228.
47
In Hinblick auf die Einordnung des § 3 Abs. 3, Abs. 2
KrWaffG als Ausfuhrbeförderungstatbestand (anknüpfend an
einen innerdeutschen Transit zum Zwecke des Exports, nicht
an die Ausfuhr selbst, vgl. Pottmeyer [Fn. 4], § 3 Rn. 131149; a.A. Heinrich [Fn. 31], § 3 KWKG Rn. 4) kann ebenso
argumentiert werden, dass es an einem Eingriff fehle, da das
Genehmigungserfordernis nicht an einen Grenzübertritt anknüpfe oder diesen erschwere.
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Christoph Herrmann/Herbert Rosenfeldt
c) Verstoß gegen EU-Grundrechte
Die K-KG könnte durch den Genehmigungsvorbehalt in ihrer
unternehmerischen Freiheit aus Art. 16 EUGRCh verletzt
sein.
Dazu müsste die EUGRCh Anwendung finden. Sie gilt
gemäß Art. 51 Abs. 1 EUGRCh für die Mitgliedstaaten bei
der Durchführung von Unionsrecht. Darunter fallen nach der
Rechtsprechung des EuGH mitgliedstaatliche Maßnahmen im
Anwendungsbereich des Unionsrechts.48 Dieser Anwendungsbereich ist bei hinreichendem Unionsrechtsbezug eröffnet.49 Die K-KG kann sich grundsätzlich auf die ihr möglicherweise unionsrechtlich gewährte Ausfuhrfreiheit berufen
(siehe oben a). Ein Unionsrechtsbezug ist damit vorhanden
und der Anwendungsbereich des Unionsrechts, insbesondere
auch der der EUGRCh, eröffnet.
Art. 16 EUGRCh schützt natürliche und juristische Personen in ihren auf eine gewisse Dauer angelegten und gegen
Entgelt erbrachten selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeiten in allen Aspekten.50 Das Exportgeschäft der K-KG ist
eine solche unternehmerische Tätigkeit, die durch das Genehmigungserfordernis unmittelbar erschwert wird.51
Eingriffe lassen sich nach § 52 Abs. 1 EUGRCh auf
Grundlage einer gesetzlichen Regelung in Hinblick auf dem
Gemeinwohl dienende Ziele unter Beachtung der Wesensgehaltsgarantie und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
rechtfertigen.52 Vorliegend ist der Gesetzesvorbehalt durch
§ 3 Abs. 3, Abs. 2 KrWaffG gewahrt. Die Ziele des KrWaffG
– kontrollierter Handel mit gefährlichsten Gütern zur Wahrung des Weltfriedens und der äußeren und inneren Sicherheit53 – stellen gemeinwohlorientierte Ziele dar, denen sich
insbesondere auch die Union verpflichtet hat (vgl. Art. 3
Abs. 1, 21 Abs. 1 und 2 EUV). Der Verhältnismäßigkeit wird
jedenfalls dadurch Rechnung getragen, dass es sich nicht um
ein Totalverbot handelt, sondern der Kriegswaffenexport
unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist. Angesichts
des Schutzes überragender Gemeinwohlgüter greift der Genehmigungsvorbehalt verhältnismäßig in das Grundrecht der
K-KG ein.54
48
EuGH, Urt. v. 26.2.2013 – C-617/10 (Åkerberg Fransson)
= NJW 2013, 1415 f. m. Anm. Streinz, JuS 2013, 568.
49
Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der
Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, § 51 Rn. 30b.
50
Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union,
2. Aufl. 2013, Art. 16 Rn. 7-9.
51
So noch zur Rechtslage vor Inkrafttreten der EUGRCh
Ehlers/Pünder, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 40. Aufl. 2009, Verordnung (EWG)
Nr. 2603/69 des Rates, Rn. 27 f.
52
Jarass (Fn. 50), Art. 16 Rn. 18-24.
53
Pathe/Wagner (Fn. 17), § 34 Rn. 1, 4 f.
54
Alternativ ließe sich auch erneut Art. 346 Abs. 1 lit. b
AEUV als primärrechtsübergreifender Rechtfertigungsgrund
anführen und diesbezüglich nach oben verweisen. Dafür
spricht auch, dass die in den Verträgen geregelten ChartaRechte den Bedingungen und Grenzen der Verträge unterliegen (Art. 52 Abs. 3 EUGRCh).
Der Genehmigungsvorbehalt wahrt die unternehmerische
Freiheit der K-KG aus Art. 16 EUGRCh.
4. Verfassungswidrigkeit des Genehmigungserfordernisses
Das Genehmigungserfordernis könnte gegen das Grundgesetz
verstoßen und damit – nach verfassungsgerichtlicher Klärung
– nichtig sein.
Allerdings ist laut Bearbeitervermerk von der Verfassungsmäßigkeit des KrWaffG mit Ausnahme der Neuregelungen betreffend den KWKA auszugehen. Im Übrigen
spricht ganz grundsätzlich gegen die Zulässigkeit dieses Vorbringens, dass die verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage
damit zu einer kaschierten prinzipalen Normenkontrolle des
formellen Gesetzgebers umfunktioniert wird, die allein dem
Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist.55
Das Genehmigungserfordernis aus § 3 Abs. 3, Abs. 2
KrWaffG verstößt nicht gegen das Grundgesetz.
III. Zwischenergebnis
Das Exportvorhaben der K-KG ist grundsätzlich und weiterhin genehmigungsbedürftig. Der als Feststellungsklage statthafte zweite Antrag ist somit unbegründet.
C. Verpflichtung zur Genehmigungserteilung
I. Statthaftigkeit
Der dritte, wiederum hilfsweise zulässige Antrag, die Bundesregierung zur Erteilung der Ausfuhrgenehmigung zu verpflichten, könnte als Verpflichtungsklage im Sinne des § 42
Abs. 1 2. Alt. VwGO statthaft sein. Dies setzt den begehrten
Erlass eines Verwaltungsaktes (§ 35 S. 1 VwVfG) voraus,
dessen Voraussetzungen in der Ausfuhrgenehmigung unproblematisch gegeben sind.56 Als darin enthaltenes Minus ist in
dem Antrag gleichzeitig die Klage auf Neubescheidung bei
mangelnder Spruchreife zu sehen (§ 113 Abs. 5 S. 2
VwGO).57
Die Verpflichtungsklage ist statthaft.
II. Begründetheit
Die Verpflichtungsklage ist gem. § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO
begründet, wenn sie sich gegen den richtigen Beklagten richtet, die Ablehnung des Verwaltungsaktes rechtswidrig war
und die K-KG dadurch in ihren eigenen Rechten verletzt ist.
Letzteres ist der Fall, wenn K einen Anspruch auf die Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung hat.
55
Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 47. Lfg., Stand: 2015, § 90
Rn. 407.
56
Pottmeyer (Fn. 4), § 6 Rn. 37; entsprechend hinsichtlich
einer Transportgenehmigung das Ausgangsverfahren in
BVerwG, Urt. v. 16.9.1980 – I C 1.77 = BVerwGE 61, 24.
57
Ramsauer (Fn. 16), § 15 Rn. 1-3; Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 21. Aufl. 2015, § 113 Rn. 201.
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ZJS 3/2016
350
Profit, Moral und Grenzen der Kriegswaffenexportkontrolle – Teil 2 ÖFFENTLICHES RECHT
1. Richtiger Beklagter
Richtiger Beklagter ist nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO bei der
Verpflichtungsklage der Rechtsträger der Behörde, die den
beantragten Verwaltungsakt unterlassen hat. Vorliegend hätte
die Bundesregierung den Bescheid erlassen (§ 11 Abs. 1
KrWaffG, Art. 62 GG). Damit ist eine Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland zu erheben. Ausreichend ist dabei
nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 a.E. VwGO jedoch, dass die Klage –
wie vorliegend geschehen – gegen die Bundesregierung als
handelnde Behörde gerichtet ist.
2. Anspruch auf Erteilung der Exportgenehmigung
a) Generell kein Anspruch
Auf die Erteilung einer Genehmigung besteht grundsätzlich
nach § 6 Abs. 1 KrWaffG gerade kein Anspruch, denn danach „gibt es keinen Lebenssachverhalt, bei dessen Vorliegen
eine der nach den §§ 2 ff. KWKG erforderlichen Genehmigungen notwendig erteilt werden müsste. Vielmehr hängt es
von einer zweckgerichteten Prüfung und Bewertung aller
Umstände ab, ob im jeweiligen Einzelfall die erbetene Genehmigung abzulehnen ist, erteilt werden darf oder gar erteilt
werden muss. Hierbei ist nach dem erkennbaren Zweck des
in Art. 26 Abs. 2 S. 1 GG normierten Verbots mit Genehmigungsvorbehalt davon auszugehen, dass zur Kriegführung
[…] bestimmte Waffen grundsätzlich nicht in die Hand von
Privatpersonen gehören und eine Genehmigung nach dem
Kriegswaffenkontrollgesetz deshalb nur erteilt werden darf,
wenn nach den gesamten Umständen des Einzelfalls entweder besondere öffentliche Interessen die Erteilung der Genehmigung fordern oder wenn besondere private Gründe für
die Erteilung der Genehmigung sprechen, und diese Genehmigung mit den durch das Verbot des Art. 26 Abs. 2 S. 1 GG
geschützten öffentlichen Belangen vereinbar ist.“58
b) Anspruch aus positiver Voranfrage
Die am 10.6.2015 positiv beantwortete Voranfrage könnte als
Zusicherung (§ 38 Abs. 1 S. 1 VwVfG) die einseitige Verpflichtung der Bundesregierung begründen, das beabsichtigte
Exportgeschäft der K-KG zu genehmigen. Eine Zusicherung
ist die behördenseitig erteilte verbindliche Zusage, einen
bestimmten Verwaltungsakt zu erlassen. Die Zusicherung
wird als hoheitliche Maßnahme einer Behörde nach § 35 S. 1
VwVfG einseitig vorgenommen.59 Gleichzeitig bedarf es
eines nach Auslegung entsprechend § 133 BGB unzweideutig
zu erkennenden Bindungswillens des Zusichernden. Dies
unterscheidet die Zusicherung von einer bloßen Absichtserklärung.60
58
BVerwG, Urt. v. 16.9.1980 – I C 1.77, Rn. 62; entgegen
des hier gewählten direkten Zitats von den Bearbeitern sinngemäß oder paraphrasiert wiederzugeben.
59
Tiedemann, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), Beck’scher
Onlinekommentar
zum
Verwaltungsverfahrensgesetz,
30. Ed., Stand: 2016, § 38 Rn. 13-14; von Alemann/
Scheffczyk, in: Bader/Ronellenfitsch (a.aO.), § 35 Rn. 122.
60
Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 12), § 38 Rn. 21.
Die Voranfrage bezieht sich auf die spätere Ausfuhrgenehmigung, die selbst ein Verwaltungsakt ist (siehe oben
C. I.). Sie wurde durch das Auswärtige Amt einseitig positiv
beantwortet. Konsensuales Handeln lag damit nicht vor.
Problematisch ist vorliegend der Bindungswille, da nach dem
Wortlaut die Genehmigung lediglich in Aussicht gestellt
wird. Unter Hinweis auf zukünftige Änderungen wird damit
die Auskunft gegeben, dass das Vorhaben nach derzeitiger
Sachlage grundsätzlich genehmigungsfähig ist. Das gesetzlich nicht geregelte Institut der Voranfrage gibt dem Exporteur eine erste Einschätzung, ob sich weitere Investitionen
lohnen, ohne die Verwaltung hernach zu binden (a.A. vertretbar).61
c) Anspruch aus Verfassungs- oder Unionsrecht
Das Genehmigungserfordernis ist mit geltendem Unions- und
Verfassungsrecht vereinbar (siehe oben 2. Teil B. II. 3. und
4.). Besondere Anhaltspunkte für eine unions- oder verfassungsrechtlich zwingend zu erteilende Genehmigung im
vorliegenden Einzelfall sind nicht ersichtlich.62
d) Anspruch aus Ermessensreduzierung auf Null
In Frage käme eine Selbstbindung durch ständige Verwaltungspraxis. Eine durch interne Richtlinie fixierte Verwaltungspraxis der Behörde kann sich ermessensreduzierend
auswirken und zu einem Anspruch auf Genehmigungserteilung führen. Die Richtlinie selbst wirkt nicht ohne weiteres
im Außenverhältnis zwischen Verwaltung und Bürger, sondern besitzt nur interne Geltung. Insoweit sie aber eine ständige Verwaltungspraxis widerspiegelt, verbietet der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) eine willkürliche Abweichung im Einzelfall und führt diesbezüglich
zu einer Selbstbindung auch im Außenverhältnis.63 Innerhalb
61
So im Ergebnis die ganz h.M., vgl. BVerfG, Urt. v.
21.10.2014 – 2 BvE 5/11, Rn. 161, Pottmeyer (Fn. 4), § 9
Rn. 55 und Harnischmacher/Ovie, in: Ehlers/Wolffgang (Fn.
22), S. 205 (209 Fn. 16); anders insbesondere zur Voranfrage
nach AWG das VG Frankfurt, Urt. v. 1.11.2001 – 1 E
6167/00 (1); Bearbeiter, die von einer Zusicherung ausgehen,
müssen – deren Schriftlichkeit unterstellt (§ 38 Abs. 1 S. 1
VwVfG) – sodann erörtern, ob sich die Sach- und Rechtslage
aufgrund des KrWaffGÄndG oder der geänderten öffentlichen Meinung im Sinne des § 38 Abs. 3 VwVfG derart geändert hat, dass die Bindungswirkung entfällt.
62
Entsprechend Augsberg, nach dem Grundrechtsschutz zwar
grundsätzlich erhalten bliebe, dem Einzelnen als „rechtlicher
Reflex“ jedoch von Verfassung wegen keine Rechtsposition
zuweise (wiedergegeben bei Sievers Diskussion, in: Ehlers/
Terhechte/Wolffgang/Schröder [Hrsg.], Aktuelle Entwicklungen des Rechtsschutzes und der Streitbeilegung im Außenwirtschaftsrecht, 2013, S. 207 ff. [209]).
63
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschl. v. 10.6.2014
– 10 ZB 12.2393, Rn. 23 m.w.N.; Bull/Mehde, Allgemeines
Verwaltungsrecht mit Verwaltungslehre, 9. Aufl. 2015, § 6
Rn. 232-236; dies in Hinblick auf den Kriegswaffenexport
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351
ÜBUNGSFÄLLE
Christoph Herrmann/Herbert Rosenfeldt
der Kriegswaffenexportkontrolle besorgen dies die „Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern vom 19. Januar
2000“.64 Ermessensreduzierungen auf Null können danach
z.B. bei Aufträgen innerstaatlicher Stellen und Nato-Partnern
angenommen werden.65 Die Entscheidungen der Bundesregierung entsprachen jedoch diesen Grundsätzen (vgl. Bearbeiterhinweis).
Eine Ermessensreduzierung auf Null liegt nicht vor. Ein
Anspruch auf die Erteilung der Ausfuhrgenehmigung besteht
nicht.
3. Anspruch auf Neubescheidung
In Frage käme als Minus schließlich ein Anspruch auf Neubescheidung. Dazu wird das Verwaltungsgericht die Bundesregierung nach § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO verpflichten, wenn
deren Unterlassen rechtswidrig war und Rechte der K-KG
verletzt, der Bundesregierung aber Beurteilungs- oder Ermessensspielraum bezüglich der begehrten Entscheidung verbleibt.66
Vorliegend könnten mangels expliziter Tatbestandvoraussetzungen der positiven Bescheidung nur Ermessensfehler die
Rechtswidrigkeit der Ablehnung begründen. Die K-KG könnte dann zumindest einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie
Entscheidung geltend machen.67
In Hinblick auf die Genehmigungsentscheidung hat der
Gesetzgeber der Behörde einen sehr weiten Ermessensspielraum eingeräumt, wie an § 6 Abs. 1 KrWaffG deutlich
wird.68 Ermessensfehler umfassen Überschreitungen, Nichtgebrauch und Fehlgebrauch des Ermessens.69
Sachfremde Erwägungen hat die Bundesregierung nicht
angestellt. Auch die „Politischen Grundsätze“ (siehe oben
2. d) wurden eingehalten.
Vorliegend verweist die Bundesregierung auf den fehlenden Deutschlandbezug des Antragstellers. Der fehlende
Deutschlandbezug des Antragstellers wird als ein Regelbeispiel der fakultativen Versagungsgründe in § 6 Abs. 2 Nr. 2
lit. a KrWaffG geführt, von dem die Behörde aufgrund der
österreichischen Staatsangehörigen als vertretungsbefugte
Organe der K-KG auch zutreffend ausgeht. Die Bezugnahme
auf die öffentliche Meinung und das gesamtstaatliche Interesse sind ebenfalls nicht sachfremd.
Die Bundesregierung hat den erneuten Antrag auf eine
Ausfuhrgenehmigung somit ermessensfehlerfrei abgelehnt.
Ein Anspruch der K-KG auf Neubescheidung ihres Genehmigungsantrags besteht nicht.
III. Zwischenergebnis
Der als Verpflichtungsklage statthafte dritte Antrag ist unbegründet.
D. Ergebnis
Die Klage der K-KG hat insgesamt keine Aussicht auf Erfolg.
erwägend Chr. Herrmann, wiedergegeben bei Sievers
(Fn. 62), S. 208.
64
Bundesanzeiger Nr. 19 v. 28.1.2000, S. 1299; unter
http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/366
862/publicationFile/3681/PolGrdsaetzeExpKontrolle.pdf
(1.2.2016) abrufbar; entsprechend Glawe, DVBl. 2012, 329
(331), Barowski/Kochendörfer/List (Fn. 22), S. 163;
Pottmeyer (Fn. 4), § 6 Rn. 12-15; Rüstungsexport 2014,
S. 9 f.
65
Pottmeyer (Fn. 4), § 6 Rn. 24-26.
66
Kopp/Schenke (Fn. 57), § 113 Rn. 195.
67
Zum diesbezüglichen Streitstand siehe oben A. II. 2. c).
68
Pathe/Wagner (Fn. 17), § 40 Rn. 14 ff.
69
Maurer (Fn. 12), § 7 Rn. 19; Ramsauer (Fn. 16), § 37
Rn. 20.
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352
Schwerpunktbereichsklausur: Das Krim-Märchen und der Krieg
Von Wiss. Mitarbeiter David Koppe, Wiss. Mitarbeiter Alexander Schwarz, Leipzig*
Die Klausur wurde in etwas abgewandelter Form im Wintersemester 2015/16 als Teil der universitären Schwerpunktbereichsprüfung im Schwerpunktbereich 4: „Europarecht –
Völkerrecht – Menschenrechte“ an der Universität Leipzig
gestellt. Der Durchschnitt lag bei 5,9 Punkten.
Sachverhalt
Seit dem Ende des Kalten Krieges ist die Ukraine hin- und
hergerissen zwischen den machtpolitischen Einflusssphären
der Europäischen Union einerseits und dem Vielvölkerstaat
Russland andererseits. Während sich der Osten der Ukraine
eher an Russland orientiert und Russisch dort die Muttersprache vieler Bewohner ist, orientiert sich der Westen eher an
der Europäischen Union. Zu dem Staatsgebiet der Ukraine
gehört auch die Halbinsel Krim, die maßgeblich von ukrainischen Staatsangehörigen bewohnt wird, aber teilweise auch
von einer dort lebenden Minderheit russischer Staatsangehöriger. Letztere sprechen Russisch, das auf der zweisprachigen
Krim auch in den Schulen unterrichtet wird und neben Ukrainisch zur offiziellen Amtssprache gehört. Die Bräuche und
Riten der Krim-Russen wurden von den ukrainischen Staatsangehörigen in friedlicher Koexistenz stets respektiert.
Ende Februar 2014 wird der Präsident der Ukraine, J,
durch das ukrainische Parlament abgesetzt und eine Interimsregierung eingesetzt. Die Interimsregierung schafft die Zweisprachigkeit ab und erklärt Ukrainisch zur einzig offiziellen
Amtssprache im gesamten Staatsgebiet. J flieht kurzerhand
ins russische Exil und bittet von dort aus die Regierung Russlands um militärische Unterstützung in der Ukraine. Parallel
eskaliert die Lage auf der Krim zwischen dem pro-russischen
und dem pro-europäischen Lager und es kommt vereinzelt zu
kleineren gewalttätigen Zusammenstößen. Am 1.3.2014 beschließt daher das russische Parlament gegen den Willen der
ukrainischen Regierung, russische Streitkräfte auf dem Territorium der Krim zum Schutz der dort lebenden Russen einzusetzen. Die russischen Streitkräfte besetzen ohne jeglichen
Widerstand zahlreiche Verwaltungsgebäude auf der Krim. Zu
einem Waffeneinsatz kommt es nicht. Am 11.3.2014 erklärt
das Parlament der autonomen Republik Krim ein Referendum
über die Unabhängigkeit der Krim von der Ukraine und den
Anschluss der Halbinsel an Russland abzuhalten. Darauf aufbauend hält es am 16.3.2014 ein Referendum ab, in dem sich
die Mehrheit der Bevölkerung der Krim in Anwesenheit der
russischen Streitkräfte für die Unabhängigkeit der Ukraine
und den Anschluss der Halbinsel an Russland entscheidet.
Am 18.3.2014 wird zwischen der nunmehr ausgerufenen
* Der Verf. Koppe, Ass. iur., MLE., LL.M. ist Wiss. Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Völkerrecht, Europarecht und Öffentliches Recht (Prof. Dr. Stephanie
Schiedermair) an der Universität Leipzig. Der Verf. Schwarz
ist Wiss. Mitarbeiter am selben Lehrstuhl und Doktorand am
Lehrstuhl für Strafrecht, Rechtsvergleichung und internationales Strafrecht (Prof. Dr. Dr. h.c. Kai Ambos) an der GeorgAugust-Universität Göttingen.
„Republik Krim“ und Russland ein Vertrag über die Aufnahme des Gebiets in den russischen Staatsverband geschlossen. Mit der Unterzeichnung der entsprechenden Gesetze am
21.3.2014 durch den russischen Präsidenten P ist der Aufnahmeprozess abgeschlossen. In den darauffolgenden Tagen
beurteilt die UN-Generalversammlung das Referendum und
die Inkorporation in den russischen Staatsverbund als unrechtmäßig. Der russische Präsident P hingegen behauptet,
Sezession, Referendum und Beitritt seien völkerrechtlich gar
nicht geregelt. Ergänzend weist P darauf hin, dass eine Abspaltung vom Ursprungsstaat im Falle drohender Menschenrechtsverletzungen spätestens seit dem Kosovo-Fall im Völkerrecht anerkannt sei.
Dies habe der IGH unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Bezug auf den Kosovo gerichtlich
so festgestellt, woran man sich als Staat schließlich zu halten
habe. Schließlich begründet P das Vorgehen Russlands auf
der Halbinsel Krim damit, dass die dort lebende russisch
sprechende Bevölkerung auch präventiv vor Übergriffen
seitens der Zentralregierung der Ukraine geschützt werden
müsse. Schließlich kam es, was zutrifft, bereits kurz nach
Amtsaufnahme der Interimsregierung zur Verdrängung der
pro-russischen Bevölkerung der Ukraine aus öffentlichen
Ämtern und einzelnen Übergriffen radikaler pro-ukrainischer
Bevölkerungsteile, welche jedoch von der Interimsregierung
stets verurteilt wurden.
Infolge der Ereignisse rund um die Halbinsel Krim beginnen nun auch im Osten der Ukraine schwerbewaffnete, prorussische Separatisten, die teilweise vom Territorium des
Staates Russland aus agieren, mit zeitlich ausgedehnten
Kampfhandlungen, militärische Stellungen der Ukraine massiv anzugreifen. Die separatistischen Truppen verfügen über
eine armeeähnliche Kommandostruktur und kontrollieren
bereits nach wenigen Monaten einen Teil des Ostens der
Ukraine. Verschiedene zutreffende Medienberichte weisen
darauf hin, dass die pro-russischen Separatisten hierbei von
der russischen Regierung durch Waffenlieferungen unterstützt werden, von dieser aber weder befehligt noch anderweitig bestimmt werden. Die Ukraine reagiert hierauf mit
massiven Luftangriffen gegen die auf ukrainischem Gebiet
befindlichen Stellungen der Separatisten. Bei den ukrainischen Angriffen im Osten der Ukraine wird unter anderem
ein Krankenhaus zerstört, in dem sich laut ukrainischem Geheimdienst mutmaßlich der Führungsstab der Separatisten
aufhalten soll. Tatsächlich werden bei dem Phosphorbombenangriff zwölf Ärzte der Organisation Ärzte ohne Grenzen
sowie zehn Patienten getötet.
Fragen
1. Verstößt Russland durch die Stationierung von Soldaten
auf der Halbinsel Krim gegen das Völkerrecht?
2. Wie ist die Abspaltung der Krim vom ukrainischen
Staat völkerrechtlich zu bewerten?
3. Kann sich die Ukraine wegen der Geschehnisse auf der
Krim auf ihr Selbstverteidigungsrecht berufen?
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353
ÜBUNGSFÄLLE
David Koppe/Alexander Schwarz
4. Verstoßen die Ukraine und Russland wegen der Geschehnisse im Osten des Landes gegen Völkerrecht?
Bearbeitervermerk
Verfassungsrechtliche Fragen der beteiligten Staaten sind
außer Betracht zu lassen. Verstöße gegen Menschenrechte
sind nicht zu prüfen. Die beteiligten Staaten sind Mitglieder
der Vereinten Nationen, der WVK sowie der Genfer Rotkreuzkonventionen von 1949 und ihrer Zusatzprotokolle aus
dem Jahre 1977. Eine Phosphorbombe ist eine Brandbombe,
die ein Gemisch aus weißem Phosphor und Kautschuk enthält. Weißer Phosphor und seine Dämpfe sind hochgiftig. Er
verursacht schmerzvolle Verbrennungen zweiten und dritten
Grades mit unsicherer Heilungstendenz.
Lösungsvorschlag
Frage 1
I. Deliktsfähigkeit
Die Ukraine und Russland sind als Staaten originäre Völkerrechtssubjekte und somit aktiv und passiv deliktsfähig.
II. Zurechenbarkeit
Die Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim durch die
russischen Streitkräfte ist eine dem Staat Russland nach
Art. 4 des ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit zurechenbare Handlung.
III. Normverstoß
Fraglich ist, ob die Stationierung der russischen Streitkräfte
auf der ukrainischen Halbinsel Krim einen Völkerrechtsverstoß begründet.
1. Verstoß gegen das Gewaltverbot, Art. 2 Abs. 4 UN-Charta
Die Stationierung von russischen Soldaten auf der Halbinsel
Krim könnte gegen das Gewaltverbot in Art. 2 Abs. 4 UNCharta verstoßen. Dann müsste die Stationierung der russischen Streitkräfte auf der ukrainischen Halbinsel eine Anwendung von Gewalt (2. Alt.) oder eine Androhung von
Gewalt (1. Alt.) darstellen.
a) Anwendung von Gewalt
Die Stationierung der russischen Streitkräfte könnte zunächst
als Anwendung von Gewalt im Sinne des Art. 2 Abs. 4 UNCharta aufzufassen sein. Die Konkretisierung des Gewaltbegriffs ist jedoch umstritten.1 Einigkeit besteht insoweit, als
dass Anwendung von Gewalt im Sinne von Art. 2 Abs. 4
UN-Charta jeden militärischen Waffeneinsatz gegen einen
anderen Staat erfasst.2 Die russischen Streitkräfte besetzen
ohne jeglichen Widerstand zahlreiche Verwaltungsgebäude
auf der Halbinsel Krim. Zu militärischen Kampfhandlungen
1
Wie auch die für die Interpretation zu verwendende Methode, siehe Blanchi, LJIL 22 (2009), 651 (653 f.).
2
Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, S. 1063 Rn. 18 m.w.N;
Dinstein, War, Agression and Self-Defence, 5. Aufl. 2012,
S. 87 f.
zwischen ukrainischen und russischen Streitkräften kommt es
zu diesem Zeitpunkt gerade nicht. Eine Anwendung von
Gewalt, verstanden als militärischen Waffeneinsatz, liegt
nicht vor. Ein anderes Verständnis des Gewaltbegriffs könnte
sich unter Zugrundelegung der UN-Prinzipienerklärung vom
24.10.19703 ergeben. Nach dessen Abs. 10 des ersten Prinzips darf das Hoheitsgebiet nicht zum Gegenstand einer militärischen Besetzung gemacht werden. Mitunter wird hierin
eine zutreffende Konkretisierung des Art. 2 Abs. 4 UNCharta gesehen und die schlichte militärische Besetzung
bereits als Gewaltanwendung im Sinne des Art. 2 Abs. 4 UNCharta verstanden. Wörtlich verbietet die Prinzipiendeklaration der UN-Generalversammlung den Mitgliedstaaten „nur“,
das Hoheitsgebiet eines anderen Staates zum Gegenstand
einer militärischen Besetzung zu machen, die sich als Ergebnis der Anwendung von Gewalt darstellt.4 Die Besetzung ist
folglich nur dann nach Abs. 10 des ersten Prinzips der UNPrinzipiendeklaration verboten, wenn diese sich als Folge
einer Anwendung von Gewalt ergibt. Die bloße militärische
Besetzung eines fremden Staatsgebiets ohne vorangegangene
Kampfhandlungen stellt damit keine Anwendung von Gewalt
im Sinne der Prinzipienerklärung dar.5
Etwas anderes könnte sich aus der Aggressionsdefinition
vom 14.12.19746 ergeben. Nach deren Art. 3 lit. a der Aggressionsdefinition gilt jede Invasion des Hoheitsgebiets eines
Staates durch die Streitkräfte eines anderen Staates als Angriffshandlung. Damit stellt bereits das Einfallen von Truppen auf fremdem Staatsgebiet gegen den Willen dieses Staates eine Angriffshandlung im Sinne der Resolution dar. Die
Resolution definiert jedoch den Begriff der „Angriffshandlung“ im Sinne des Art. 39 UN-Charta. Eine Übertragung des
Art. 3 lit. a der Aggressionsdefinition auf Art. 2 Abs. 4 UNCharta ist damit nicht möglich.7 Eine Anwendung von Gewalt im Sinne des Art. 2 Abs. 4 2. Alt. UN-Charta liegt damit
nicht vor.
3
A/Res/2625 [XXV].
„The territory of a State shall not be the object of military
occupation resulting from the use of force in contravention of
the provisions of the Charter. The territory of a State shall not
be the object of acquisition by another State resulting from
the threat or use of force. No territorial acquisition resulting
from the threat or use of force shall be recognized as legal.“
5
Anders der IGH, der bereits den Einfall (incursion) als
Verstoß gegen die UN-Prinzipienerklärung erachtet: „the
United States has committed a prima facie violation of that
principle [Art. 2 Abs. 4 UN-Charta] by its assistance to the
contras in Nicaragua by organizing or encouraging the organization of irregular forces or armed bands […] for incursion
into the territory of another State“, ICJ Rep. 2006, 226.
6
A/Res/3314 [XXIX].
7
Für die Ablehnung der Gewaltanwendung durch rein militärische Besetzung streitet auch der Umstand, dass die für die
Gewaltanwendung im Sinne des Art. 2 Nr. 4 UN-Charta
erforderliche Gewaltintensität nach wie vor umstritten ist,
vgl. Bothe, in: Vitzthum/Proelß, Völkerrecht, 6. Aufl. 2013,
S. 582 Rn. 10.
4
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ZJS 3/2016
354
Schwerpunktbereichsklausur: Das Krim-Märchen und der Krieg
b) Androhung von Gewalt
Es könnte jedoch eine Androhung von Gewalt im Sinne des
Art. 2 Abs. 4 1. Alt. UN-Charta vorliegen. Die Androhung
von Gewalt im Sinne des Art. 2 Abs. 4 1. Alt. UN-Charta ist
gegeben, wenn der militärische Waffeneinsatz konkret in
Aussicht gestellt wird.8 Russland hat gegenüber der Ukraine
den Waffeneinsatz seiner Streitkräfte nicht ausdrücklich in
Aussicht gestellt. Darüber hinaus diene die Stationierung der
russischen Streitkräfte, so der russische Präsident P, auf der
Halbinsel Krim allein dem Schutz der dort lebenden prorussischen Bevölkerung. Die Präsenz der russischen Streitkräfte auf der Halbinsel Krim kann diesen Zweck jedoch nur
erfüllen, weil und insoweit in der bloßen Präsenz von Streitkräften auf fremden Terrain typischerweise bereits die Androhung enthalten ist, dass diese zur Verfolgung ihres
Zwecks notfalls auch von ihren Waffen Gebrauch machen.
Eine (konkludente) Androhung von Gewalt im Sinne des
Art. 2 Abs. 4 1. Alt. UN-Charta liegt damit vor.
c) Zielgerichtetheit der Gewaltandrohung
Dass Art. 2 Abs. 4 UN-Charta von „gegen die territoriale
Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines
Staates gerichtete Gewalt“ spricht, wird z.T. als Argument für
eine einschränkende Auslegung angeführt: Danach sollen nur
solche militärischen Handlungen und Androhungen von militärischen Handlungen vom Gewaltverbot umfasst sein, die
gegen die territoriale Unversehrtheit des Staates gerichtet
sind.9 Dies ist unstreitig gegeben, wenn sich die konkludente
Androhung des Waffeneinsatzes gegen die ukrainischen
Streitkräfte richtet.
Die konkludente Androhung Russlands durch die Präsenz
der Streitkräfte auf der Halbinsel Krim ließe sich auch dahingehend deuten, dass sich ein etwaiger Waffeneinsatz „nur“
gegen die pro-ukrainische Bevölkerungsteile richten würde,
welche die pro-russische Bevölkerung auf der Krim bedrohen. Die Verhütung und Zerschlagung von Angriffen einzelner Bevölkerungsteile auf andere fällt jedoch als Teil der
inneren Angelegenheit in die Zuständigkeit der Ukraine, in
deren Staatsgebiet die Übergriffe stattfinden (würden) und
der aufgrund der Staatszugehörigkeit der gesamten ukrainischen Bevölkerung (ganz gleich ob pro-ukrainisch oder prorussisch) hierüber die Personalhoheit innehat. Ein tatsächlicher Waffeneinsatz durch russische Streitkräfte gegen proukrainische Bevölkerungsteile würde daher eine verbotene
Einmischung in den domaine réservé des Staates Ukraine
begründen, mithin einen Verstoß gegen das aus Art. 2 Abs. 1
UN-Charta abgeleitete zwischenstaatliche Interventionsverbot darstellen. Soweit sich Russland für eine solche Intervention auf den Schutz der pro-russischen Bevölkerung beruft,
schließt dies die Zielgerichtetheit der Gewaltandrohung nicht
8
Hobe/Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 10. Aufl.
2014, S. 253.
9
IGH, Urt. v. 27.6.1986 (Nicaragua v. United States of
America [Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua]) = ICJ Rep. 1986, 89; Amato,
AJIL 1983, 585.
ÖFFENTLICHES RECHT
aus, sondern ist vielmehr eine Frage der Rechtfertigung. Die
Androhung richtet sich gegen die territoriale Unversehrtheit
der Ukraine. Ein Streitentscheid über die Erforderlichkeit
dieses Tatbestandsmerkmals ist damit entbehrlich.
d) Internationaler Sachverhalt
Die konkludente Androhung von Gewalt ging von den auf
der Halbinsel Krim stationierten Streitkräften Russlands aus
und richtete sich gegen die Ukraine. Ein internationaler
Sachverhalt liegt damit vor.
e) Zwischenergebnis
Russland verstößt mit der Stationierung seiner Streitkräfte auf
der Halbinsel Krim gegen das Gewaltverbot in Art. 2 Abs. 4
1. Alt. UN-Charta.10
2. Verstoß gegen das zwischenstaatliche Interventionsverbot,
Art. 2 Abs. 1 UN-Charta i.V.m. dem Prinzip der souveränen
Gleichheit der UN-Mitgliedstaaten
Russland könnte hier durch die Stationierung seiner Streitkräfte auch gegen das zwischenstaatliche11 Interventionsverbot verstoßen haben. Dem Interventionsverbot kommt jedoch
im Rahmen militärischer Einmischung keine eigenständige
Bedeutung zu, da Art. 2 Abs. 4 UN-Charta spezieller ist.12
Ein Verstoß gegen das Interventionsverbot aus Art. 2 Abs. 1
UN-Charta i.V.m mit dem Prinzip der souveränen Gleichheit
der UN-Mitgliedstaaten tritt insoweit hinter den Verstoß
gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Abs. 4 Alt. 1 UN-Charta
zurück.
IV. Rechtfertigung nach der UN-Charta
Die Stationierung der russischen Streitkräfte auf der Krim
könnte jedoch gerechtfertigt sein. Als Rechtfertigungsgrund
aus der UN-Charta kommt vorliegend allein die (unilaterale)
Selbstverteidigung gem. Art. 51 S. 1 UN-Charta in Betracht.
Fraglich ist, ob die Voraussetzungen für das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 S. 1 UN-Charta erfüllt sind. Voraussetzung des Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 S. 1
UN-Charta ist das Vorliegen eines bewaffneten Angriffs. Der
bewaffnete Angriff im Sinne des Art. 51 S. 1 UN-Charta setzt
eine Gewaltenanwendung voraus, die über die des Art. 2
Abs. 4 2. Alt. UN-Charta hinausgeht. Vorliegend sind jedoch
10
Die Stationierung der russischen Streitkräfte auf der Halbinsel Krim stellt zudem einen Verstoß gegen das gewohnheitsrechtliche Gewaltverbot dar. Dieses besteht neben Art. 2
Abs. 4 UN-Charta als ius cogens fort und ist mit diesem
weitgehend deckungsgleich. Da es sich bei den beteiligten
Staaten um Mitglieder der Vereinten Nationen handelt, ist ein
Rückgriff auf Völkergewohnheitsrecht jedoch nicht erforderlich.
11
Davon streng zu unterscheiden ist das gemäß Art. 2 Abs. 7
UN-Charta zwischen den Vereinten Nationen und seinen
Mitgliedstaaten geltende Interventionsverbot.
12
Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht – Theorie und
Praxis, 3. Aufl. 1984, § 490 S. 300; Ipsen (Fn. 2), S. 1074
Rn. 45.
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355
ÜBUNGSFÄLLE
David Koppe/Alexander Schwarz
keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Ukraine eine
solche Waffengewalt gegen Russland eingesetzt hat. Damit
scheidet auch ein bewaffneter Angriff im Sinne des Art. 51
S. 1 UN-Charta aus. Eine Rechtfertigung nach Art. 51 S. 1
UN-Charta kommt nicht in Betracht.
V. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe
Als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe kommen die Rettung fremder Staatsangehöriger, die humanitäre Intervention
sowie die Intervention auf Einladung in Betracht.
1. Rettung fremder Staatsangehöriger
P begründet das Vorgehen der russischen Streitkräfte auf der
Krim damit, dass die dort lebende russische Bevölkerung präventiv vor Übergriffen seitens der Zentralregierung der Ukraine geschützt werden müsse. Zum Teil wird der Schutz bzw.
die Rettung eigener Staatsangehöriger aus fremdem Staatsgebiet als ungeschriebener Rechtfertigungsgrund für einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 4 UN-Charta unter Verweis auf die
jüngere Staatspraxis als Gewohnheitsrecht anerkannt.13 Danach sei der Einsatz von Streitkräften gerechtfertigt, wenn
dieser ausschließlich zu dem Zweck erfolge, eigene Staatsangehörige aus einer Gefahrensituation zu retten, ohne dass die
betroffene Regierung dem zustimmen müsste.14 Diese Ansicht kann jedoch allein auf die Befreiungsaktion der USA im
Jahr 1980 bezüglich der in Teheran festgehaltenen Angehörigen des diplomatischen und konsularischen Personals sowie
auf die israelische Befreiungsaktion im ugandischen Entebbe
1976 gestützt werden. Ungeachtet dieser unsicheren gewohnheitsrechtlichen Geltung haben diese Fälle gemeinsam, dass
Leib und Leben der Staatsangehörigen unmittelbar gefährdet
waren, die Regierungen der Aufenthaltsstaaten nicht willens
oder in der Lage waren, den erforderlichen Schutz zu gewährleisten und die Rettungseinsätze darauf beschränkt blieben, die Personen aus der Gefahrensituation zu retten. Hier
schwelen auf der autonomen Halbinsel Krim zwar Auseinandersetzungen zwischen dem pro-europäischem und dem prorussischem Lager, von einer unmittelbaren Gefahr für Leib
und Leben für die dort lebende russische Bevölkerung kann
jedoch nicht ohne weiteres ausgegangen werden. Der Verstoß
gegen das Gewaltverbot in Art. 2 Abs. 4 UN-Charta kann
somit nicht mit dem Rechtfertigungsgrund der Rettung eigener Staatsangehöriger aus fremdem Staatsgebiet gerechtfertigt werden.
2. Intervention auf Einladung
Der abgesetzte Präsident J bat die russische Regierung um
militärische Unterstützung in der Ukraine. Damit könnte die
13
Romzitti, Rescuing Nationals Abroad through Military
Coercion and Intervention on Grounds of Humanity, 1985,
S. 65 ff.; Wingfield/Mayen (Hrsg.), Lillich on the Forcible
Protection of Nationals Abroad, 2002, S. 25 ff.; Green,
IsrYVHR 6 (1976), 312; Akehurst, The Use of Force to Protect Nationals Abroad, International Relations, 1977, 3.
14
Ipsen (Fn 2), S. 1097 Rn. 45; Green, IsrYBHR 6 (1976),
312.
Stationierung der russischen Streitkräfte auf der Krim als eine
zulässige, bewaffnete Intervention „auf Einladung der Regierung“ zu qualifizieren sein.15
a) Einladung
Es müsste zunächst eine Einladung zur Stationierung der
russischen Streitkräfte auf der Halbinsel Krim vorgelegen
haben. Expressis verbis hat J nicht um die Stationierung der
russischen Truppen auf der Halbinsel Krim gebeten. Sein
Gesuch um „militärische Unterstützung“ kann jedoch (nur) so
verstanden werden, dass sämtliche von der russischen Regierung als zweckdienlich erachteten (militärischen) Mittel zur
Herstellung des status quo ante in der Ukraine seine Zustimmung finden. Die Stationierung der russischen Soldaten ist
folglich von dem allgemeineren Gesuch des J um militärische
Unterstützung erfasst. Eine Einladung liegt mithin vor.
b) Außenvertretungskompetenz des J
Zum Zeitpunkt als J die Einladung gegenüber der russischen
Regierung aussprach, müsste er gegenüber der Ukraine zur
Außenvertretung berechtigt gewesen sein. Grundsätzlich ist
in Anlehnung an Art. 7 Abs. 2 WVK der Präsident als Staatsoberhaupt zur Vertretung eines Staates im internationalen
Verkehr berechtigt. Die Außenvertretungskompetenz wird
hierbei unter dem Gesichtspunkt der Effektivität beurteilt.16
Danach fehlt es an der effektiven Außenvertretungskompetenz, wenn das handelnde Organ innerhalb des Staates faktisch nicht mehr handlungsfähig ist.17 J wurde abgesetzt. Eine
neue Interimsregierung wurde eingesetzt. Es muss davon ausgegangen werden, dass J im Exil seine Funktionen als Staatsoberhaupt innerhalb der Ukraine faktisch nicht mehr ausüben
kann. Es fehlt ihm somit auch an effektiver Außenvertretungskompetenz.18
15
Der Geltungsgrund dieses Rechtfertigungsgrundes liegt
darin, dass die Vornahme bewaffneter Handlungen auf fremden Staatsgebiet keine verbotene Gewaltanwendung darstellt,
wenn eine Zustimmung der betroffenen Regierung dafür vorliegt (volenti non fit injuria). IGH, Urt. v. 19.12.2005 (Democratic Republic of the Congo v. Uganda [Case Concerning
Armed Activities on the territory of the Congo]) = ICJ Rep.
2005, 198.
16
Marxen, ZaöRV 74 (2014), 367 (378).
17
Hiroshi Taki, Effectiveness, in: Max Planck Encyclopedia
of Public International Law, Rn. 5.
18
Insbesondere ist es für die Einladungsberechtigung des J
unerheblich, ob die Einladungsberechtigung der neuen (Interims-) Regierung wegen der Vorfälle auf der Halbinsel Krim
im Hinblick auf eine dafür erforderliche hinreichende effektive Regierungsgewalt ebenfalls bezweifelt werden könnte. Die
fehlende Effektivität des J kann auch nicht durch Legitimitätsbewertungen geheilt werden. Zwar können nach einer
Ansicht Regierungen, die aus freien und fairen Wahlen hervorgegangen sind, auch dann noch als einladungsberechtigt
angesehen werden, wenn diese ihre effektive Kontrolle verloren haben. Diese Ansicht stützt sich hierbei auf die Praxis des
UN-Sicherheitsrates in den Fällen Haiti (1991-1994), Sierra
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ZJS 3/2016
356
Schwerpunktbereichsklausur: Das Krim-Märchen und der Krieg
c) Zwischenergebnis
Der Verstoß gegen das Gewaltverbot in Art. 2 Abs. 4 UNCharta kann nicht auf den Rechtfertigungsgrund der Intervention auf Einladung gestützt werden.
3. Humanitäre Intervention
Fraglich ist, ob sich Russland auf den ungeschriebenen
Rechtfertigungsgrund der humanitären Intervention berufen
könnte. Danach soll ein Verstoß gegen das Gewaltverbot in
Art. 2 Abs. 4 UN-Charta ausnahmsweise dann zulässig sein,
wenn dieser mit dem Zweck erfolgt, schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen Einhalt zu gebieten. Die
humanitäre Intervention findet jedoch keine Entsprechung im
positiven Völkerrecht. Insbesondere fehlt für dessen gewohnheitsrechtliche Geltung eine dahingehende allgemeine Staatenpraxis begleitet von einer entsprechenden Rechtsüberzeugung (opinio iuris).19 Darüber hinaus sind die Tatbestandsvoraussetzungen der humanitären Intervention nicht erfüllt.20
Leone (1997) und im Falle der Elfenbeinküste (2010), in
denen dieser die Interventionen auf Grundlage von Einladungen trotz fehlender Effektivität der einladenden Regierung
gebilligt hatte. In Anlehnung an Art. 46 WVK setzt dies jedoch eine offenkundige, offensichtlich gegen demokratische
Verhaltensweisen verstoßende Amtsenthebung der einladenden Regierung voraus. So betreffen die Fälle, in denen auf
die demokratische Legitimation einer faktisch abgesetzten
Regierung abgestellt worden ist, regelmäßig einen Staatsstreich, der durch Einsatz des Militärs herbeigeführt wurde.
Ein solcher ist hier nicht ersichtlich. Eine Heilung der fehlenden Effektivität des J durch Legitimation kommt daher nicht
in Betracht, vgl. hierzu Krieger, Die Friedenswarte 1-2/2014,
125 (136).
19
Vgl. Lowe/Tzanakopoulos, Humanitarian Intervention, in:
Max Planck Encyclopedia of Public International Law,
Rn. 28-32.
20
Der Begriff der schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen ist quantitativ-qualitativ zu verstehen. Zu
den schweren Menschenrechtsverletzungen zählen grundsätzlich solche, für die der Internationale Strafgerichtshof nach
Art. 5, 6, 7 und 8 des Rom-Statuts zuständig ist. Geschützt
werden hiernach jedoch allein die grundlegen Menschenrechte, wie sie etwa in den Art. 3, 4, 5 und 9 der AEMR und in
Art. 6 und 7 des IPbpR niedergelegt sind. Indem der prorussischen Bevölkerung der Zugang zu öffentlichen Ämtern
versperrt und nur Ukrainisch als Amtssprache zugelassen
wird, könnten zwar die Rechte aus Art. 25, 27 IPbpR verletzt
sein. Diese Rechte gehören jedoch nicht zu den grundlegenden Menschenrechten im Sinne des Rom-Statuts. Soweit die
pro-russische Bevölkerung durch die gewalttätigen Übergriffe des pro-europäischen Lagers in ihrem Recht aus Art. 6
IPbpR verletzt ist, handelt es sich nicht um staatliche Übergriffe seitens der ukrainischen Interimsregierung. Darüber
hinaus müssten diese Verletzungen systematisch erfolgen,
was bei bloßen Einzelfällen nicht gegeben ist.
ÖFFENTLICHES RECHT
VI. Zwischenergebnis
Der Verstoß gegen Art. 2 Abs. 4 1. Alt. UN-Charta ist nicht
gerechtfertigt.
VII. Ergebnis zu Frage 1
Die Stationierung der russischen Streitkräfte auf der ukrainischen Halbinsel Krimm verstößt gegen Art. 2 Abs. 4 1. Alt.
UN-Charta.
Frage 2
I. Gebietsverlust
Die Ukraine könnte durch eine Sezession (Abspaltung) einen
Gebietsverlust erlitten haben. Unter einer Sezession versteht
man einen Fall der Staatennachfolge, bei dem ein Teilgebiet
unabhängig wird und der alte Staat – nunmehr mit verkleinertem Staatsgebiet – fortbesteht.21
1. Völkerrechtssubjektivität von Individuen
Grundsätzlich stellt die völkerrechtliche Anerkennung der
Abspaltung der Krim von der Ukraine eine Verletzung deren
territorialer Integrität und Souveränität dar, Art. 2 Abs. 4 UNCharta. Die Ukraine könnte völkerrechtlich jedoch zur Duldung verpflichtet sein. Dies wäre der Fall, wenn der Bevölkerung der Krim ein Recht zur Abspaltung zustünde. Die Abspaltung geht hier von einer Gruppe von Individuen aus.
Grundsätzlich kommt jedoch allein Staaten und Internationalen Organisationen Völkerrechtssubjektivität zu. Individuen
sind hingegen nicht Inhaber von Rechten und Adressaten von
Pflichten, sondern bloßes Objekt des Völkerrechts. Ein Recht
auf Abspaltung könnte sich hier jedoch aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ergeben. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker kann als subjektives Recht auf die beiden
Menschenrechtspakte (IPbpR und IPwskR)22 sowie auf die
o.g. UN-Prinzipienerklärung vom 24.10.1970 gestützt werden.23
2. Die Bevölkerung der Krim als Volk im Sinne des Selbstbestimmungsrechts
Fraglich ist zunächst, ob die Bewohner der Krim ein Volk im
Sinne des Selbstbestimmungsrechts darstellen. Nach einer
21
Ipsen (Fn. 2), S. 352 Rn. 48.
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.
23
Der Rechtscharakter des Selbstbestimmungsrecht ist unstreitig, so spricht die (ebenfalls) authentische französische
Fassung der UN-Charta ausdrücklich vom „droit à disposer
d‘eux-mêmes.“ Darüber hinaus wurde der Rechtscharakter
des Selbstbestimmungsrechts in mehreren Resolutionen der
Generalversammlung bekräftigt, vgl. GA-Res. 1514 (XV) v.
14.10.1960, Nr. 2 des operativen Teils „Alle Völker haben
das Recht auf Selbstbestimmung [...]“ und GV-Res. 2625
(XXV) v. 24.10.1970 (insbesondere fünfter Grundsatz); vgl.
eingehend Oeter, in: Charter of the United Nations, A
Commentary Volume I, 3. Aufl. 2012, S. 316 Fn. 1.
22
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357
ÜBUNGSFÄLLE
David Koppe/Alexander Schwarz
Ansicht ist ein Volk eine Gruppe von Menschen, die durch
nationale, kulturelle, religiöse und sprachliche Gemeinsamkeiten zu einem historischen Schicksal verbunden ist.24 Umstritten ist weiterhin, ob hierfür auf objektive Merkmale wie
Sprache und Religion25 oder auf subjektive Elemente wie
eine gemeinsame Identität26 abzustellen sei. Die Krim wird
ausweislich des Sachverhalts überwiegend von ukrainischen
Staatsangehörigen bewohnt. Daneben gibt es eine große Minderheit von russischen Staatsangehörigen. Die russische Minderheit spricht Russisch, die ukrainischen Staatsangehörigen
Ukrainisch. Sprachliche Gemeinsamkeiten zwischen den
russischen und den ukrainischen Bewohnern der Krim liegen
nicht vor. Darüber hinaus werden die Bräuche und Riten der
russischen Bewohner durch die ukrainische Bevölkerung
„respektiert“. Es ist daher davon auszugehen, dass es kulturelle Unterschiede zwischen den beiden Bevölkerungsteilen
gibt. Eine gemeinsame Identität ist mangels Sachverhaltsangaben ebenfalls nicht anzunehmen. Nach dieser Ansicht läge
ein Volk im Sinne des Völkerrechts nicht vor.
Nach anderer Ansicht muss der kollektive Träger des
Selbstbestimmungsrechts nicht unbedingt ethnisch, sprachlich oder kulturell definiert werden, es genüge, wenn das
Selbstbestimmungsrecht einer Gruppe von Personen zugestanden würde, die auf einem bestimmten Gebiet leben und
die das politische Bestreben eint, eine politische Gemeinschaft mit einer eigenen territorialen Basis zu bilden.27 Die
Bewohner der Krim haben sich in einem Referendum mehrheitlich für eine Loslösung von der Ukraine ausgesprochen.
Es kann daher vermutet werden, dass diese das einheitliche
Bestreben eint, einen von der Ukraine unabhängigen Staat zu
bilden. Nach dieser Ansicht läge in der Krimbevölkerung ein
zulässiger Träger des Selbstbestimmungsrechts. Hierfür
spricht, dass die Staatenpraxis eine Beschränkung des Begriffes „Volk“ auf ethnische Gruppierungen nicht nahelegt. Der
gesamte Dekolonisierungsprozess knüpfte nicht an äußerliche
Merkmale der Gruppenmitglieder, sondern an ihre territoriale
Basis und an den politischen Willen der Gruppenmitglieder
an.28 Die polyethnische Zusammensetzung einer Gruppe steht
der Fähigkeit, Träger des Selbstbestimmungsrechts zu sein,
nicht entgegen.
Die Bevölkerung der Krim ist als Volk im Sinne des Selbstbestimmungsrechts anzusehen.
3. Inhalt des Selbstbestimmungsrechts
Fraglich ist jedoch, ob das Selbstbestimmungsrecht zur Abspaltung berechtigt.
24
Doehring, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker als
Grundsatz des Völkerrechts, Referat und Diskussion der
13. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht in
Heidelberg am 22. Und 23. Juni 1973, DGVR, Berichte, Bd.
14, 1974, S. 7 (21 ff.).
25
Luchterhandt, AVR 31 (1993), 30 (34 ff.).
26
Oeter, ZaöRV 52 (1992), 741 (761).
27
Peters, Osteuropa 5-6/2014, 101 (121).
28
Peters, Osteuropa 5-6/2014, 101 (121).
a) Inneres Selbstbestimmungsrecht
Grundsätzlich wird zwischen dem inneren und dem äußeren
Selbstbestimmungsrecht differenziert. Das innere Selbstbestimmungsrecht soll ein Höchstmaß an identitätsbewahrenden
Umständen innerhalb der bestehenden staatlichen Ordnung
gewährleisten. Die Krimbevölkerung möchte einen unabhängigen Staat gründen und anschließend in das russische Staatsgebilde aufgenommen werden. Die Möglichkeit gleichberechtigter politischer Mitbestimmung innerhalb der Ukraine
soll nicht durchgesetzt werden. Von einer Ausübung des
inneren Selbstbestimmungsrechts kann nicht gesprochen
werden.
b) Äußeres Selbstbestimmungsrecht
Die Abspaltung der Krim von der Ukraine könnte eine Ausübung des äußeren Selbstbestimmungsrechts darstellen. Das
äußere Selbstbestimmungsrecht verwirklicht sich nicht innerhalb einer bestehenden staatlichen Ordnung, sondern richtet
sich gerade gegen diese und bezweckt die Loslösung eines
Volkes von einem bestehenden staatlichen Gebilde. Anders
als das innere Selbstbestimmungsrecht findet das äußere
Selbstbestimmungsrecht keine explizite Grundlage in den
Menschenrechtsverträgen. Auch die Staatenpraxis bietet
keinen Anlass zur Annahme, es habe sich ein als verbindlich
betrachtetes, universelles Recht auf Sezession herausgebildet.29 Möglicherweise ergibt sich, wie P vorträgt, die Geltung
des äußeren Selbstbestimmungsrechts jedoch aus dem IGHGutachten zu den Geschehnissen im Kosovo. Das 2008 von
Serbien veranlasste Gutachten beantwortete lediglich die
Frage, ob die einseitige Unabhängigkeitserklärung der kosovarischen Regierung gegen Völkerrecht verstieß. Auf die
Existenz eines Sezessionsrechts wurde jedoch nicht eingegangen. Darüber hinaus sind nach Art. 59 IGH-Statut allein
die Urteile des IGH und diese auch nur für die jeweiligen
Streitparteien verbindlich. Ein Recht auf Abspaltung kann
dem Gutachten nicht entnommen werden. Ein Recht auf
Abspaltung könnte sich jedoch aus einem Umkehrschluss zu
Abs. 7 des fünften Grundsatzes der UN-Prinzipienerklärung
ergeben. Dort wird ein Sezessionsrecht ausgeschlossen, soweit es gegen das (innere) Selbstbestimmungsrecht achtende
und schützende Staaten angewandt werden soll. Die Sezession könnte folglich nach der UN-Prinzipienerklärung in Betracht kommen, wenn ein Volk massiv diskriminiert wird,
wenn schwere Menschenrechtsverletzungen an den Mitgliedern der Gruppe begangen werden und/oder wenn dem Volk
dauerhaft die Teilnahme an der politischen Herrschaft verweigert wird (sog. abhelfende Sezession).30 Diese Voraussetzungen sind jedoch in Bezug auf die Bevölkerung der Krim
nicht erfüllt.31 Die Abspaltung ist folglich auch unter dem
Gesichtspunkt der abhelfenden Sezession völkerrechtlich
nicht zulässig.
29
Ipsen (Fn. 2), S. 355 Rn. 51.
Peters, Osteuropa 5-6/2014, 101 (120).
31
Siehe Fn. 20 zur humanitären Intervention.
30
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ZJS 3/2016
358
Schwerpunktbereichsklausur: Das Krim-Märchen und der Krieg
II. Ergebnis
Eine Abspaltung der Krim von der Ukraine ist nicht erfolgt.
Frage 3
Voraussetzung für die rechtmäßige Ausübung des Selbstverteidigungsrechts ist das Vorliegen eines bewaffneten Angriffs. Fraglich ist, ob die Einsetzung russischer Streitkräfte
auf dem Territorium der Krim einen „bewaffneten Angriff“
im Sinne von Art. 51 UN-Charta darstellt.
I. Bewaffneter Angriff
Der „bewaffnete Angriff“ ist der Schlüsselbegriff für das
Recht auf Selbstverteidigung aus Art. 51 UN-Charta.32 Dessen ungeachtet existiert für das Tatbestandsmerkmal bis heute
keine allgemein gültige Definition. Zur genaueren Bestimmung des Merkmals werden deshalb verschiedene Rechtserkenntnisquellen herangezogen, etwa die bereits genannte
Aggressionsdefinition (1974)33 sowie die UN-Prinzipienerklärung (1970)34. Erstere stellt als Resolution der Generalversammlung zwar lediglich unverbindliches „soft law“ dar und
bezieht sich zudem auf den Begriff der „Angriffshandlung“
in Art. 39 und nicht auf den des „bewaffneten Angriffs“ in
Art. 51 UN-Charta,35 wird aber von der Lehre und dem IGH36
regelmäßig für die Auslegung des Angriffsbegriffs in Art. 51
UN-Charta herangezogen.37 Gleiches gilt für die UN-Prinzipienerklärung der aufgrund ihrer einstimmigen Annahme
durch die Generalversammlung ein besonderer Rechtscharakter zugesprochen wird und vom IGH zur Bestimmung des
Völkergewohnheitsrechts herangezogen wird.38 Zunächst
müssten die „gewalttätigen Zusammenstöße“ bzw. die Besetzung der Verwaltungsgebäude auf der Krim durch russische
Streitkräfte qualitativ einen bewaffneten Angriff darstellen.
Für einen bewaffneten Angriff muss die erforderliche militä-
32
Randelzhofer/Nolte in: Simma/Kahn/Nolte/Paulus (Hrsg.),
The Charter of the United Nations, Bd. 2, 3. Aufl. 2012,
Art. 2 Abs. 4 Rn. 16.
33
UNGA Res. 3314 v. 14.12.1974.
34
UNGA Res. 2625 v. 24.10.1970.
35
Randelzhofer/Nolte (Fn. 32), Art. 51 Rn. 17.
36
IGH, Urt. v. 27.6.1986 (Nicaragua v. United States of
America [Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua]) = ICJ Rep. 1986, 103.
37
Krajewski, AVR 40 (2002), 183 (188).
38
IGH, Urt. v. 27.6.1986 (Nicaragua v. United States of
America [Case concerning Military and Paramilitary
Activities in and against Nicaragua]) = ICJ Rep. 1986, 99 ff.
Bei einstimmig angenommenen Resolutionen der Generalversammlung wird häufig vertreten, dass diesen ein bindender Rechtscharakter kaum abgesprochen werden könne, vorausgesetzt eine entsprechende opinio iuris existiert, die in
der Generalversammlungsresolution zum Ausdruck kommt;
vgl. Mosler, The International Society as a Legal Community, 1980, S. 90 f; Alvarez, International Organizations as
Law-makers, 2006, S. 591; Ähnlich, wenn auch weniger
eindeutig bereits Frowein, ZaöRV 36 (1976), 147 (166).
ÖFFENTLICHES RECHT
rische Gewalt einen gewissen Intensitätsgrad erreichen.39
Einigkeit herrscht darüber, dass die Intensität der Gewalt
zumindest eine solche des Art. 2 Abs. 4 UN- Charta, also
militärische Waffengewalt, voraussetzt. Aufgrund des unterschiedlichen Wortlauts der beiden Vorschriften wird jedoch
vertreten, dass der „bewaffnete Angriff“ eine Intensität aufweisen muss, die über die der „Gewalt“ in Art. 2 Abs. 4 UNCharta hinausgeht.40 Hieraus ergibt sich, dass es zu Gewaltanwendungen kommen kann, die zwar gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Abs. 4 UN-Charta verstoßen, nicht aber die
erforderliche Intensität eines bewaffneten Angriffs nach
Art. 51 UN-Charta aufweisen um das Selbstverteidigungsrecht auszulösen.41 Der IGH hat im Nicaragua-Fall festgestellt, dass es sich bei der erforderlichen Intensität des Art. 51
UN-Charta sogar um besonders schwere Formen der Gewaltanwendung handeln muss („the most grave forms of the use
of force“), die sich von bloßen Grenzscharmützeln unterscheiden sollen.42 Die gewalttätigen Zusammenstöße zwischen dem pro-russischen Lager und dem pro-ukrainischen
Lager werden vom Sachverhalt als „kleinere“ bezeichnet,
was eher dafür spricht, diese als nicht besonders schwere
Formen der Gewaltanwendung anzusehen. Auch erfolgt die
Besetzung der Verwaltungsgebäude „ohne jeglichen Widerstand“. Entscheidend dürfte ferner sein, dass es vorliegend zu
einem Einsatz von Waffen nicht kommt. Wenn bereits die
geringere Intensitätsschwelle des Art. 2 Abs. 4 UN Charta
zumindest militärische Waffengewalt voraussetzt, kann jedenfalls nicht angenommen werden, dass der gewaltlose
Einsatz russischer Streitkräfte den erforderlichen Intensitätsgrad von Art. 51 UN-Charta erreicht.
II. Ergebnis
Aufgrund des Fehlens eines „bewaffneten Angriffs“ kann
sich die Ukraine wegen der Geschehnisse auf Krim nicht auf
ein Recht auf Selbstverteidigung berufen.
Frage 4
I. Völkerrechtsverletzungen Russlands gegenüber der
Ukraine
1. Zurechenbarer Normverstoß
a) Angriff von Separatisten auf ukrainische Stellung als Verstoß Art. 2 Abs. 4 UN-Charta
Der Angriff auf ukrainische Stellungen durch pro-russische
Separatisten könnte gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Abs. 4
UN-Charta verstoßen. Neben seiner völkergewohnheitsrecht-
39
Bothe (Fn. 7), S. 588 Rn. 19.
Randelzhofer/Nolte (Fn. 32), Art. 51 Rn. 20.
41
IGH, Urt. v. 6.11.2003 (Iran v. United States of America
[Case concerning Oil Platforms]) = ICJ Rep. 2003, 186.
42
IGH, Urt. v. 27.6.1986 (Nicaragua v. United States of
America [Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua]) = ICJ Rep. 1986, 103; IGH,
Urt. v. 6.11.2003 (Iran v. United States of America [Case
concerning Oil Platforms]) = ICJ Rep. 2003, 187.
40
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ÜBUNGSFÄLLE
David Koppe/Alexander Schwarz
lichen Anerkennung43 gehört das Gewaltverbot auch zu den
zwingenden Normen des Völkerrechts (ius cogens).44 Der
Gewaltbegriff im Sinne von Art. 2 Abs. 4 UN-Charta wird
durch die Charta selbst nicht definiert und ist in seiner genauen Reichweite zum Teil umstritten. Unstreitig ist, dass zwar
nicht jede Gebietsverletzung dem Gewaltverbot unterliegt,
zumindest aber militärische Waffengewalt vom Gewaltverbot
erfasst ist.45 Damit wären die hier von „schwerbewaffneten
Separatisten“ vorgenommenen militärischen Angriffe gegen
ukrainische Stellungen unproblematisch als Anwendung von
Gewalt im Sinne von Art. 2 Abs. 4 UN-Charta anzusehen.
b) Internationaler Sachverhalt: Zurechenbarkeit der „Angriffe auf ukrainische Stellungen“ zu einem Staat
Schließlich ergibt sich aus dem Tatbestandsmerkmal „in
ihren internationalen Beziehungen“, dass die Gewaltausübung durch einen Staat gegenüber einem anderen Staat, also
zwischenstaatlich, stattfinden muss.46 Private Gewalt, die
einem Staat nicht zurechenbar ist, wird vom Gewaltverbot
nicht erfasst.47 Hier ging die Gewalt auf dem Hoheitsgebiet
des Staates Russland von Separatisten aus, „die teilweise
vom Territorium des Staates Russland aus agieren“. An dem
zumindest teilweise grenzüberschreitenden Charakter dieser
Gewaltanwendung bestehen demnach keine Zweifel. Die
Angriffe auf ukrainische Stellungen durch die Separatisten
müssten allerdings dem Staat Russland auch zurechenbar
sein. Die Zurechenbarkeit richtet sich hier nach den bereits
genannten Regeln zur Staatenverantwortlichkeit (im Folgenden: StaV).48
Aus dem Sachverhalt ergeben sich keine Anhaltspunkte
dafür, dass die Separatisten Organeigenschaft im Sinne der
Staatenverantwortlichkeit zukommt, sodass deren Angriffe
nicht nach Art. 4 StaV zurechenbar sind. Ebenso wenig ist
davon auszugehen, dass die Separatisten für den Staat Russland hoheitlich gehandelt haben, weshalb eine Zurechnung
nach Art. 5 StAV ebenfalls ausscheidet.
43
IGH, Urt. v. 27.6.1986 (Nicaragua v. United States of
America [Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua], Merits) = ICJ Rep. 1986, 99.
44
IGH, Urt. v. 27.6.1986 (Nicaragua v. United States of
America [Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua], Merits) = ICJ Rep. 1986, 100;
Dinstein (Fn. 2), S. 87.
45
Randelzhofer/Dörr, in: Simma/Khan/Nolte/Paulus (Hrsg.),
The Charter of the United Nations, 3. Aufl. 2012, Art. 2 Abs.
4 Rn. 16; Bothe (Fn. 7), S. 582 f. Rn. 10.
46
Kempen/Hillgruber, Völkerrecht, 2. Aufl. 2012, S. 228
Rn. 86; v. Arnauld, Völkerrecht, 2. Aufl. 2014, Rn. 1018.
47
Bothe (Fn. 7), S. 583 Rn. 11.
48
GA/Res/56/83 (2001); Dieser Entwurf ist, wie alle Resolutionen der UN-Generalversammlung, völkerrechtlich nicht
verbindlich, spiegelt aber weitestgehend Völkergewohnheitsrecht wider; Cassese, International Law, 2. Aufl. 2005,
S. 244. Siehe auch: Articles on the Responsibility of States
for Internationally Wrongful Acts (2001), abrufbar unter
http://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries
/9_6_2001.pdf [21.5.2016].
In Betracht kommt allerdings eine Zurechnung nach Art. 8
StaV. Danach sind auch nicht-staatliche Handlungen einer
Person oder Personengruppe einem Staat zurechenbar, wenn
diese auf Anweisung, unter der Leitung oder der Kontrolle
eines Staates handelt (indirekte Gewalt). Im Nicaragua-Fall
entschied der IGH unter Bezugnahme auf Art. 3 lit. g der
Aggressionsdefinition,49 dass eine solche Kontrolle durch
einen Staat allerdings nur dann vorliege, wenn der Staat die
„effektive Kontrolle“ (effective control) über das Handeln der
Privatpersonen ausübe, indem er etwa spezifische Instruktionen für konkrete Handlungen erteile.50 Reine Unterstützungshandlungen, wie die Finanzierung, Ausrüstung und Ausbildung reichten hierfür nicht aus.51 Vorliegend werden die
Separatisten zwar „von der russischen Regierung durch Waffenlieferungen unterstützt“. Eine konkrete Verstrickung des
Staates Russland in die nicht-staatliche Gewalt, etwa durch
Ausübung von Befehlsgewalt oder militärischer Führung, besteht jedoch ausdrücklich nicht. Selbst wenn man die weniger
strenge Interpretation des Kontrollbegriffs aus der TadicRechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs für das
ehemalige Jugoslawien (ICTY) zugrunde legt, wonach eine
„allumfassende“ Kontrolle (overall control) genüge,52 ist eine
Zurechnung nach Art. 8 ILC-Entwurf hier nicht möglich53.
Der Sachverhalt bietet keine ausreichenden Anhaltspunkte
dafür, dass die erfolgten Anschläge der Separatisten unter der
Leitung oder Kontrolle staatlicher Stellen Russlands standen.
aa) Safe-haven-Doktrin
Schließlich käme eine Zurechnung durch die Gewährung
eines sicheren Zufluchtsorts nach der sog. „safe-havenDoktrin“ in Betracht.54 Als Reaktion auf die Anschläge vom
49
Art. 3 der Aggressionsdefinition: „Any of the following
acts, regardless of a declaration of war, shall, subject to and
in accordance with the provisions of article 2, qualify as an
act of aggression: […] (g) The sending by or on behalf of a
State of armed bands, groups, irregulars, mercenaries, which
carry out acts of armed force against another State of such
gravity as to amount to the acts listed above, or its substantial
involvement therein.“
50
IGH, Urt. v. 27.6.1986 (Nicaragua v. United States of
America [Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua], Merits) = ICJ Rep. 1986, 60 f.,
66, 101, 103.
51
IGH, Urt. v. 27.6.1986 (Nicaragua v. United States of
America [Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua], Merits) = ICJ Rep. 1986, 103.
52
ICTY (Berufungskammer), Urt. v. 15.7.1999 – IT-94-1-A
(Tadic), Rn. 115, 145.
53
Der IGH lehnt den „overall control“-Test ab, weil dieser
für strafrechtliche Zwecke entwickelt wurde und nicht auf die
Frage der Staatenverantwortlichkeit übertragen werden könne, vgl. IGH, Urt. v. 26.2.2007 (Bosnia and Herzegovina v.
Serbia and Montenegro [Application of the Convention on
the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide]) =
ICJ Rep. 2007, 210.
54
Ausführlich zur Safe-haven-Doktrin Krajewski, AVR 40
(2002), 183 (193); Stein/v. Buttlar, Völkerrecht, 13. Aufl.
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ZJS 3/2016
360
Schwerpunktbereichsklausur: Das Krim-Märchen und der Krieg
11.9.2001 wurde diese Konstruktion vereinzelt zum Gegenstand der völkerrechtlichen Debatte und eine Unterschlupfgewährung für terroristische Aktivitäten zum ungeschriebenen Zurechnungstatbestand eines „bewaffneten Angriffs“
(Art. 51 UN-Charta) erhoben.55 Fraglich ist, ob diese Zurechnungskonstruktion auch auf Art. 2 Abs. 4 UN-Charta übertragbar ist. Danach müsste der Aufenthaltsstaat den nichtstaatlichen Akteuren willentlich ein sicheres Rückzugsgebiet
gewähren und deren Angriffe auf fremde Staaten von seinem
eigenen Staatsgebiet aus bewusst dulden.56 Im vorliegenden
Fall agierten die Separatisten zwar unter anderem vom Territorium Russlands aus. Hinweise darauf, dass der Staat Russland die Aktivitäten der Terroristen schützte oder ihnen gar
wissentlich einen sicheren Unterschlupf gewährte, sind jedoch nicht ersichtlich. Unabhängig von der zweifelhaften Anerkennung der safe-haven-Doktrin als neue völkerrechtliche
Zurechnungskonstellation,57 bestehen demnach keine ausreichenden Hinweise dafür, dass der Staat Russland den Separatisten bewusst ein sicheres Rückzugsgebiet gewährte. Eine
Zurechnung kommt damit nicht in Betracht.
bb) Verstoß gegen Gewaltverbot ohne Zurechnung zu einem
Staat
Fraglich ist, ob Anschläge von Privaten auch ohne Zurechnung zu einem Staat einen Verstoß gegen das Gewaltverbot
auslösen können. Der Wortlaut des Gewaltverbots in Art. 2
Abs. 4 UN-Charta bezieht sich ausdrücklich auf zwischenstaatliche Gewaltanwendungen („in ihren internationalen
Beziehungen“). In den letzten Jahren wurde jedoch vermehrt
die Ansicht vertreten, man müsse sich von der klassischen
zwischenstaatlichen Perspektive lösen und das Gewaltverbot,58 auch unabhängig von der Zurechnung zu einem Staat,
auf Angriffe durch nicht-staatliche Akteure erweitern.59 Diese
Konstruktion sei erforderlich, weil das Völkerrecht Antworten auf die neuen Bedrohungen finden müsse und die Anschläge des transnationalen Terrorismus ein Ausmaß angenommen hätten, das zwischenstaatlichen Militäroperationen
in nichts nach stehe. Voraussetzung sei jedoch die Vergleichbarkeit der Intensität der terroristischen Angriffe mit zwischenstaatlichen Militärschlägen.60 Befürworter dieser Auffassung berufen sich auf die neuere Entscheidungspraxis
des UN-Sicherheitsrats. Seit den Terroranschlägen vom
11.9.2001 hat dieser wiederholt festgestellt, dass Akte des
Terrorismus eine Bedrohung des Friedens (nach Kapitel VII,
2012, Rn. 846; Kapaun, Völkerrechtliche Bewertung gezielter Tötungen nicht-staatlicher Akteure, 2014, S. 73 ff.
55
Bruha, AVR 40 (2002), 383 (406).
56
Tietje/Nowrot, NZWehrR 44 (2002), 1 (11).
57
Dagegen v. Arnauld (Fn. 46), Rn. 1092.
58
Meist wird hierbei eher auf das in der Praxis relevantere
Konzept der Selbstverteidigung in Art. 51 UN-Charta abgestellt.
59
Vgl. etwa Bruha/Bortfeld, Vereinte Nationen 49 (2001),
161 (165); Tomuschat, EuGRZ 2001, 535 (543).
60
Tomuschat, EuGRZ 2001, 535 (541); So auch Murphy,
HarvILJ 43 (2002), 41 (45).
ÖFFENTLICHES RECHT
Art. 39 UN-Charta) darstellen.61 Damit, so die Befürworter,
habe der UN-Sicherheitsrat auf sein bisheriges Erfordernis
der Verwicklung eines Staates oder eines de-facto Regimes in
terroristische Aktionen bewusst verzichtet und seine Resolutionspraxis in Bezug auf terroristische Aktionen weiterentwickelt.62 Dem wird zu Recht entgegen gehalten, dass zwischen
den Begriffen der „Friedensbedrohung“ (Art. 39 UN-Charta)
und einem Verstoß gegen das Gewaltverbot oder gar dem
„bewaffneten Angriff“ (Art. 51 UN-Charta) weder eine Vergleichbarkeit im Sinne des Wortlauts noch im qualitativen
Sinne bestehe.63 Die Tatsache, dass der Sicherheitsrat eine
extensive Interpretation der Friedensbedrohung befürworte,
lässt jedenfalls nicht automatisch darauf schließen, dass diese
Ansicht auch auf das Gewaltverbot übertragen werden könnte.64
Es bleibt deshalb im Ergebnis dabei, dass trotz der im
Völkerrecht geführten Diskussionen, nicht-staatliche Gewalt
erst dadurch zu einer Verletzung des Gewaltverbots wird,
wenn diese einem Staat zurechenbar ist.65
2. Zwischenergebnis
Mangels Zurechnung der Gewaltanwendungen der Separatisten zum Staat Russland liegt vorliegend kein Verstoß gegen
das Gewaltverbot vor.
II. Verstöße des Staates Ukraine gegen Humanitäres Völkerrecht
Die Ukraine könnte durch den Phosphorbombenangriff, bei
dem ein Krankenhaus zerstört wurde und zwölf Ärzte sowie
zehn Patienten getötet wurden, gegen Vorschriften des Humanitären Völkerrechts (HuV) verstoßen haben.
1. Anwendbarkeit des Humanitären Völkerrechts
Dies setzt zunächst voraus, dass das HuV überhaupt Anwendung findet. Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Regeln des HuV ist das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts.
Das humanitäre Völkerrecht unterscheidet zwischen internationalen und nicht-internationalen Konflikten. Nach Art. 2
der vier Genfer Konventionen von 1949 (GK) und Art. 1
Abs. 3 des Ersten Zusatzprotokolls aus dem Jahre 1977
(ZP I) finden im internationalen Konflikt die Regeln der vier
GK sowie das ZP I Anwendung. Im nicht-internationalen
Konflikt hingegen werden die Beteiligten nur durch die Mindeststandards des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen, das ZP II sowie die im Gewohnheitsrecht verankerte
Gebote geschützt. Die beteiligten Staaten sind laut Bearbeitervermerk den hier relevanten humanitär-völkerrechtlichen
Verträgen beigetreten.
61
UNSC Res 1368 v. 12.9.2001; UNSC Res. 1373 v.
28.9.2001; UNSC Res. 1438 v. 14.10.2002; UNSC Res. 1450
v. 13.12.2002.
62
So Bruha/Bortfeld, Vereinte Nationen 49 (2001), 161
(163).
63
Schmidt-Radefeldt, HuV-I 2005, 245 (247).
64
Bothe (Fn. 7), S. 584 Rn. 11.
65
Bothe (Fn. 7), S. 584 Rn. 11.
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361
ÜBUNGSFÄLLE
David Koppe/Alexander Schwarz
2. Internationaler oder nicht-internationaler Konflikt
a) Internationaler Konflikt zwischen den Staaten Ukraine und
Russland?
Aus dem gemeinsamen Art. 2 der vier Genfer Konventionen
(1949) ergibt sich, dass ein internationaler bewaffneter Konflikt vorliegt, wenn ein Staat in zurechenbarer Weise Waffengewalt gegen den völkerrechtlich geschützten Bereich
eines anderen Staates einsetzt.66 Ein Konflikt gilt dann als
„bewaffnet“, wenn bei den Feindseligkeiten militärische
Waffen zum Einsatz kommen.67 Im internationalen Konflikt
reicht hierfür bereits die bloße Anwendung militärischer
Waffengewalt aus.68
Der hier erfolgte Phosphorbombenangriff der Ukraine
fand lediglich auf ukrainischem Territorium statt und weist
keinen grenzüberschreitenden Charakter auf. Nimmt man
zudem an, dass keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür
vorliegen, dass die Aktivitäten der Separatisten staatlich
kontrolliert und damit dem Staat Russland zurechenbar waren, fehlt es am zwischenstaatlichen Charakter der Auseinandersetzung mit der Folge, dass zumindest kein internationaler
Konflikt vorliegt.
b) Nicht-internationaler Konflikt zwischen der Ukraine und
Separatisten?
Der Begriff des nicht-internationalen Konflikts wird von den
Genfer Konventionen und seinen Zusatzprotokollen nicht
genau definiert.69 Aus Art. 1 Abs. 2 ZP II ergibt sich, dass ein
nicht-internationaler Konflikt vorliegt, wenn es innerhalb
eines Staatsgebiets zu Waffengewalt zwischen staatlichen
bzw. abtrünnigen Streitkräften und (nicht-staatlichen) „organisierten bewaffneten Gruppen“ kommt und die Kampfhandlungen eine gewisse Gewaltschwelle überschreiten.70 Im
Gegensatz zum internationalen bewaffneten Konflikt, verlangt der nicht-internationale bewaffnete Konflikt demnach
eine gewisse Intensität der Kampfhandlungen, damit ein
Aufstand oder Unruhen die Schwelle zum bewaffneten Kon-
flikt überschreiten.71 Des Weiteren verlangt er einen bestimmten Organisationsgrad der bewaffneten Gruppen.72
aa) Intensität der Kampfhandlungen
Die Kampfhandlungen im Osten des Landes müssten die
erforderliche Gewaltschwelle überschreiten. Laut Sachverhalt
gehen die Separatisten dort mit „massiver Waffengewalt“
vor. Hinzu kommt, dass die massiven Gewalthandlungen der
„schwer bewaffneten“ Separatisten über einen längeren Zeitraum hinweg erfolgen, weshalb davon auszugehen ist, dass es
sich nicht nur um sporadisches Handeln Einzelner oder Tumulte handelt. Die für einen nicht-internationalen Konflikt
erforderliche Gewaltschwelle ist damit erreicht.
bb) Organisationsgrad der Separatisten
Gemäß Art. 1 Abs. 1 ZP II wird im Rahmen eines nichtinternationalen Konflikts für die Merkmale einer „organisierten bewaffneten Gruppe“ verlangt, dass diese „unter einer
verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen
Teil des Hoheitsgebiets […] ausüben, dass sie anhaltende,
koordinierte Kampfhandlungen durchzuführen und dieses
Protokoll anzuwenden vermögen“. Danach setzt ein nichtinternationaler Konflikt voraus, dass die agierenden Gruppen
über eine organisierte Kommandostruktur verfügen, in der
Lage sind teilweise Gebietskontrolle auszuüben und groß
angelegte militärische Operationen durchzuführen.73
Laut Sachverhalt sind die Separatisten „schwer bewaffnet“, verfügen über eine „armeeähnliche Kommandostruktur“
und üben im Osten Ukraine teilweise Gebietskontrolle aus.
Entsprechend der Voraussetzungen in Art. 1 ZP II, sind die
Separatisten demnach als „organisierte bewaffnete Gruppe“
und mithin als Konfliktpartei eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts einzuordnen.
Insgesamt lässt sich die Situation im Osten des Landes
demnach als nicht-internationaler Konflikt einordnen. Die
betreffenden Regeln des HuV sind folglich anwendbar.
Hinweis: Auf die anwendbaren Normen haben die unterschiedlichen Ergebnisse nur wenig Auswirkung, weil die
im Folgenden zu prüfenden Rechtsverstöße gegen HuV in
beiden Konfliktarten völkergewohnheitsrechtlich anerkannt sind. Seit dem Tadic-Urteil des ICTY wird die
66
Ipsen (Fn. 2), S. 1191 Rn. 9, S. 1199 Rn. 5.
Kempen/Hillgruber (Fn. 46), S. 256; Ipsen (Fn. 2), S. 1198
Rn. 4.
68
Ipsen (Fn. 2), S. 1198-1199; Kleffner, in: Fleck (Hrsg.),
The Handbook of International Humanitarian Law, 3. Aufl.
2013, Rn. 202.
69
Der gemeinsame Art. 3 der Genfer Konventionen enthält
lediglich eine Negativdefinition („der keinen internationalen
Charakter hat“). Art. 1 ZP II stellt konkretere Anforderungen
auf, wonach solche Konflikte erfasst werden, die „im Hoheitsgebiet einer Hohen Vertragspartei zwischen deren Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil
des Hoheitsgebiets der Hohen Vertragspartei ausüben, dass
sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchzuführen und dieses Protokoll anzuwenden vermögen.“
70
Kleffner (Fn. 68), Rn. 209; v. Arnauld (Fn. 46), Rn. 1175.
67
71
Gemäß Art. 1 Abs. 2 ZP II findet das Protokoll keine Anwendung „auf Fälle innerer Unruhen und Spannungen wie
Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen“. Nach einer anerkannten Definition des
ICTY aus dem Tadic-Fall, ist ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt zumindest dann gegeben, wenn „langanhaltende bewaffnete Gewalt“ vorliegt, ICTY (Berufungskammer), Beschl. v. 2.10.1995 – IT-94-1-A (Decision on the
Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction,
Tadic), Rn. 70.
72
Ausführlich zum Organisationsgrad siehe Schwarz, in:
Frau (Hrsg.), Drohnen und das Recht, 2014, S. 262.
73
Ambos/Alkatout, JZ 2011, 758 (759); Schmalenbach, JöR
2012, 251 (260).
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ZJS 3/2016
362
Schwerpunktbereichsklausur: Das Krim-Märchen und der Krieg
Trennung der anwendbaren Normen im HuV auch zunehmend aufgegeben (sog. „assimilation thesis“).74 Im
Folgenden werden deshalb die ursprünglich nur für den
internationalen bewaffneten Konflikt anwendbaren Normen des ZP I auch für den nicht-internationalen bewaffneten Konflikt angewendet.75
3. Normverstöße
Ukraine könnte bei dem Phosphorbombenangriff auf das
Krankenhaus, bei dem zwölf Ärzte und zehn Patienten starben sowie das Krankenhaus zerstört wurde, gegen Normen
des HuV verstoßen haben.
a) Verstoß gegen das Unterscheidungsgebot
Das Unterscheidungsgebot verlangt gemäß Art. 48 ZP I (in
internationalen bewaffneten Konflikten) zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten sowie zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen zu unterscheiden. Nach
Art. 43 Abs. 1, 2 ZP I sind Kombattanten die Angehörigen
der Streitkräfte einer am Konflikt beteiligten Partei. Sie sind
berechtigt, unmittelbar an Feindseligkeiten teilzunehmen und
dürfen zum Ziel militärischer Schädigungshandlungen werden. Gemäß Art. 50 ZP I sind Personen ohne Kombattantenstatus als Zivilpersonen anzusehen. Zivilpersonen dürfen
gemäß Art. 51 Abs. 3 ZP I nur dann bekämpft werden, wenn
sie unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen. Zwar wird
nicht definiert, was unter einer „unmittelbaren Teilnahme“ an
Kampfhandlungen zu verstehen ist.76 Allerdings sollen nach
Ansicht des IKRK77 nur solche Personen darunter zu fassen
sein, deren direkte Handlungen unmittelbar kausal für Personen- und Sachschäden beim Gegner sind.78
74
ICTY (Berufungskammer), Urt. v. 15.7.1999 – IT-94-1-A
(Tadic), Rn. 38 ff; v. Arnauld merkt zutreffend an, dass die
Unterscheidung aus humanitärer Sicht nicht überzeugt, vgl.
v. Arnauld (Fn. 46), Rn. 1162; Ebenso unterscheidet auch das
deutsche VStGB nicht mehr zwischen den beiden Konflikttypen. Zur Annäherung der beiden Rechtsmaterien siehe
Schwarz, War Crimes, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Rn. 29, 39, 42.
75
Die Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung im internationalen Konflikt sind kraft Gewohnheitsrecht entsprechend
anwendbar,
siehe
Henckaertes/Doswald-Beck,
in:
Henckaertes/Doswald-Beck (Hrsg.), Customary International
Humanitarian Law, Bd. 1, 2005, Regeln 11 ff.; v. Arnauld
(Fn. 46), Rn. 1218.
76
Dazu v. Arnauld (Fn. 46), Rn. 1191 f.
77
Die Auslegungshilfen des IKRK sind zwar nicht rechtsverbindlich, allerdings kann angenommen werden, dass diese die
opinio iuris der Staatengemeinschaft widerspiegeln, so
Martini/Neumann/Spörer, Jura 2012, 409; siehe auch
v. Arnauld (Fn. 46), Rn. 1191.
78
IKRK, Interpretive Guidance on the Notion of Direct Participation in Hostilities under International Humanitarian
Law, 2009, S. 32, 53, 65 ff.
ÖFFENTLICHES RECHT
aa) Angriff auf Zivilisten: Tötung der Ärzte und Patienten
Die Ärzte gehörten keinen regulären staatlichen Streitkräften
einer am bewaffneten Konflikt beteiligten Partei an. Als
Kombattanten können die Ärzte demnach nicht klassifiziert
werden. Ebenso wenig ist anzunehmen, dass diese unmittelbar an Feindseligkeiten teilgenommen haben.
Nach Art. 51 ZP I ist der Schutz der Zivilbevölkerung unter allen Umständen zu beachten. Die bei dem Phosphorbombenangriff zu Tode gekommenen Ärzte und Patienten gehörten weder regulären noch irregulären Streitkräften an, waren
zum Zeitpunkt des Angriffes also Zivilisten. Auf ihre Tötung
war der Angriff aber nicht gerichtet, so dass kein Verstoß
gegen das Unterscheidungsgebot vorliegt. Das HuV nimmt
zwar grundsätzlich in Kauf, dass im Rahmen eines zulässigen
Angriffs auf militärische Ziele auch Zivilisten und zivile
Objekte in Mitleidenschaft geraten können (sog. Kollateralschäden), verbietet aber unterschiedslose Angriffe. Angriffe
sind nach Art. 51 Abs. 5 lit. b ZP I dann unterschiedslos,
wenn voraussehbar war, dass Verluste an Menschenleben
unter der Zivilbevölkerung in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.79 Darüber hinaus müssen, sofern möglich, Aufklärungsmaßnahmen ergriffen werden, um fehlerhafte und willkürliche Angriffe auf Zivilisten zu verhindern.80 Ein konkret zu
erwartender militärischer Vorteil könnte hier darin bestehen,
dass, die Richtigkeit der Angaben des ukrainischen Geheimdienstes unterstellt, der Führungsstab der Separatisten ausgeschaltet wird. Allerdings wird nicht deutlich, inwiefern zum
Zeitpunkt des Angriffs eine unmittelbare Gefahr für die Ukraine von dem mutmaßlich anwesenden Führungsstab ausging. Selbst wenn man unterstellt, dass der Angriff auf den
Führungsstab zulässig war, sind die hier entstandenen übermäßigen Kollateralschäden als Verstoß gegen das Verbot
unterschiedsloser Angriffe zu werten. Die Tötung der Ärzte
und Patienten verstößt damit gegen das Verbot unterschiedsloser Angriffe, gem. Art. 51 Abs. 5 lit. b ZP I.
bb) Angriff auf zivile Objekte
Nach Art. 52 Abs. 1 ZP I dürfen zivile Objekte nicht angegriffen werden. Laut Sachverhalt handelte es sich bei dem
Krankenhaus um ein zivil genutztes Gebäude. Anhaltspunkte,
die für eine militärische Nutzung oder dessen Umwidmung
zu einem militärischen Objekt (Art. 52 Abs. 2 ZP I) sprechen,
sind nicht ersichtlich. Nach Art. 52 Abs. 3 ZP I hätten Zweifel an dem genauen Status des Objekts auch zu einer Vermutung des zivilen Status führen müssen. Die Zerstörung des
Krankenhauses verstößt damit gegen Art. 52 ZP I i.V.m.
Art. 48 ZP I.
b) Unzulässige Methoden und Mittel der Kriegsführung,
Art. 35 Abs. 2 ZP I
Nach Art. 35 Abs. 2 ZP I ist es verboten, Mittel und Methoden der Kriegsführung zu verwenden, die geeignet sind, über79
Das Unterscheidungsgebot ist Ausprägung des humanitärvölkerrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
80
IKRK (Fn. 78), S. 76.
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363
ÜBUNGSFÄLLE
David Koppe/Alexander Schwarz
flüssige Verletzungen und unnötige Leiden zu verursachen.
Chemische Waffen, wie phosphorhaltige Bomben, verursachen „schmerzvolle Verbrennungen mit unsicherer Heilungstendenz“ (siehe Bearbeitervermerk). Sie sind damit geeignet,
unnötige Leiden zu verursachen und gelten deshalb gem.
Art. 35 Abs. 2 ZP I als humanitär-völkerrechtlich geächtet.
Ein Verstoß gegen Art. 35 Abs. 2 ZP I liegt demnach vor.
c) Verhältnismäßigkeit des Angriffs insgesamt
Der auch im HuV geltende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
verlangt nach Art. 51 Abs. 5 lit. b und Art. 57 Abs. 2 lit. a
Nr. 3 ZP I, dass die durch Kampfhandlungen verursachten
Schäden und Leiden nicht außer Verhältnis zum erwartbaren
militärischen Vorteil stehen dürfen.81 Die militärische Notwendigkeit (military necessity) eines Angriffs muss mit dessen Verhältnismäßigkeit (proportionality) in Einklang stehen.82 Nur wenn der erwartbare militärische Vorteil von solcher taktischen und strategischen Bedeutung ist, dass er die
kollateralen Schäden überwiegt, ist der Angriff unter Art. 51
ZP I gerechtfertigt.83
Aus der Verwendung des Begriffs „erwartbar“ ergibt sich,
dass die Abwägung aus einer Ex-ante-Perspektive zu erfolgen
hat, die sich an den konkreten Umständen des Einzelfalls84
und der subjektiven Einschätzung des die Kampfhandlung
befehligenden Soldaten orientiert.85 Aus Sicht der ukrainischen Regierung hatte die Tötung des Führungsstabs der
Separatisten sicherlich eine gewisse Bedeutung. Allerdings
bestehen keine Anhaltpunkte für eine unmittelbare Beteiligung des Führungsstabs an einem konkreten Anschlag. Ein
konkreter militärischer Vorteil durch dessen Tötung für die
Ukraine ist damit eher fraglich. Gegen die Verhältnismäßigkeit der gezielten Tötung sprechen hier insbesondere die
hohen zivilen Schäden. Neben zwölf Ärzten sind auch zehn
Patienten zu Tode gekommen, das Krankenhaus wurde zerstört. Bei Kenntnis der Sachlage waren aus Ex-ante-Sicht
eines vernünftigen Befehlshabers bei der hier getroffenen
Zielauswahl hohe zivile Kollateralschäden zu erwarten. Ein
taktisch strategischer Vorteil, der darin bestand, den Führungsstab ausgerechnet während seines Aufenthaltes im
Krankenhaus zu töten, ist laut Sachverhalt nicht ersichtlich,
sodass der Staat Ukraine durch den Bombenangriff auch
gegen das Verhältnismäßigkeitsgebot verstoßen hat.
III. Ergebnis
Die Ukraine hat gegen das Verbot unterschiedsloser Angriffe
(Art. 51 Abs. 5 lit. b ZP I), das Verbots des Angriffs auf
zivile Ziele (Art. 52 ZP I i.V.m. Art. 48 ZP I), das Verbot
unzulässiger Mittel der Kriegsführung (Art. 35 Abs. 2 ZP I)
sowie das humanitär-völkerrechtliche Verhältnismäßigkeitsgebot (Art. 51 Abs. 5 lit. b, Art. 57 Abs. 2 lit. a Nr. 3 ZP I)
verstoßen.
81
Henckaertes/Doswald-Beck (Fn. 75), S. 46 f.
Oeter, in: Fleck (Fn. 68), Rn. 459.
83
Oeter (Fn. 83), Rn. 459.
84
Melzer, YIHL 9 (2006), 87 (113).
85
John-Hopkins, IRRC 2010, 469 (481).
82
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364
Schwerpunktbereichsklausur: Internationales und Europäisches Strafverfahrensrecht
Von Prof. Dr. Martin Böse, Bonn
Die Klausur wurde im Wintersemester 2015/2016 als Abschlussklausur zu der Vorlesung „Internationales und Europäisches Strafrecht II (Verfahrensrecht)“ im Rahmen des
Schwerpunktbereichs 9 (Kriminalwissenschaften) an der
Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität gestellt (Bearbeitungszeit 120 Minuten).
Sachverhalt und Aufgabenstellung
A erhält aus Italien einen Bußgeldbescheid über 300 € wegen
eines in Italien begangenen Geschwindigkeitsverstoßes. Aus
dem Bescheid geht hervor, dass nach italienischem Recht der
Fahrzeughalter für den Verstoß einstehen muss, es sei denn,
er weist nach, dass das Fahrzeug gegen seinen Willen von
einer anderen Person gefahren wurde.
I. A meint, ein Bußgeld dürfe gegen ihn nur dann verhängt werden, wenn ihm als Fahrer ein Verstoß nachgewiesen werden könne. Das italienische Recht verstoße gegen die
EMRK. Sein italienischer Freund F meint, das gelte möglicherweise für Freiheitsstrafen, aber nicht für Bußgelder.
Prüfen Sie, ob die Verhängung des Bußgeldes mit der EMRK
vereinbar ist!
II. A möchte den Bescheid gerichtlich anfechten. Auf telefonische Anfrage erläutert ihm der zuständige Beamte in
Italien auf Englisch, dass ein Rechtsbehelf nur in italienischer
Sprache eingelegt werden könne; ggf. könne A seine Einwendungen auch persönlich mit Hilfe eines Dolmetschers
vorbringen. Eine Übersetzung des von A eingelegten Rechtsbehelfs ins Italienische sei jedoch nicht möglich, darum müsse sich A erforderlichenfalls selbst kümmern. Prüfen Sie, ob
A aufgrund der einschlägigen EU-Richtlinie (siehe Anhang)
einen Anspruch auf Übersetzung seines Rechtsbehelfs hat!
Gehen Sie dabei davon aus, dass die Richtlinie auf das italienische Bußgeldverfahren anwendbar und dass die Frist für
die Umsetzung in das innerstaatliche Recht abgelaufen ist.
III. Nachdem der von A eingelegte Rechtsbehelf unter
Verweis auf die nach italienischem Recht bestehende Verantwortlichkeit des Halters zurückgewiesen und der Bußgeldbescheid rechtskräftig geworden ist, geschieht zunächst
nichts. Erst nach vier Jahren ersucht die zuständige italienische Behörde die Bundesrepublik Deutschland um Vollstreckung des Bescheides. A meint, das sei zu spät (vgl. §§ 31 ff
OWiG); außerdem dürfe Deutschland sich nicht das Ergebnis
eines „rechtsstaatswidrigen Verfahrens“ (s.o. I.) zu eigen
machen. Treffen diese Einwände zu?
IV. Abwandlung zu III.: A räumt ein, den Geschwindigkeitsverstoß selbst begangen und dabei sogar einen Unfall
verursacht zu haben. Durch den Unfall wurde ein aus Belgien
stammender Mitfahrer verletzt. Auf dessen Anzeige hin wurde gegen A in Belgien ein Strafverfahren eingeleitet, dieses
aber von der dortigen Staatsanwaltschaft gegen Zahlung einer
Geldauflage eingestellt; infolge der Zahlung ist in Belgien
eine erneute Strafverfolgung ausgeschlossen. A meint, der
Bußgeldbescheid aus Italien habe sich damit ebenfalls erle-
digt. Jedenfalls dürfe dieser nicht mehr in Deutschland vollstreckt werden. Zu Recht?
Anhang: Richtlinie 2010/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das
Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in
Strafverfahren (ABl. EU 2010 Nr. L 280/1)
Art. 2 – Recht auf Dolmetschleistungen
(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtigen oder
beschuldigten Personen, die die Sprache des betreffenden
Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, unverzüglich
Dolmetschleistungen während der Strafverfahren bei Ermittlungs- und Justizbehörden, einschließlich während polizeilicher Vernehmungen, sämtlicher Gerichtsverhandlungen sowie aller erforderlicher Zwischenverhandlungen, zur Verfügung gestellt werden.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Dolmetschleistungen für die Verständigung zwischen verdächtigen oder
beschuldigten Personen und ihrem Rechtsbeistand in unmittelbarem Zusammenhang mit jedweden Vernehmungen und
Verhandlungen während des Verfahrens oder bei der Einlegung von Rechtsmitteln oder anderen verfahrensrechtlichen
Anträgen zur Verfügung stehen, wenn dies notwendig ist, um
ein faires Verfahren zu gewährleisten.
Art. 3 – Recht auf Übersetzung wesentlicher Unterlagen
(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtige oder
beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens
nicht verstehen, innerhalb einer angemessenen Frist eine
schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind,
ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires
Verfahren zu gewährleisten.
(2) Zu den wesentlichen Unterlagen gehören jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil.
(3) Die zuständigen Behörden entscheiden im konkreten
Fall darüber, ob weitere Dokumente wesentlich sind. Verdächtige oder beschuldige Personen oder ihr Rechtsbeistand
können einen entsprechenden begründeten Antrag stellen.
(4) Es ist nicht erforderlich, Passagen wesentlicher Dokumente, die nicht dafür maßgeblich sind, dass die verdächtigen oder beschuldigten Personen wissen, was ihnen zur Last
gelegt wird, zu übersetzen. […]
(7) Als Ausnahme zu den allgemeinen Regeln […] kann
eine mündliche Übersetzung oder eine mündliche Zusammenfassung der wesentlichen Unterlagen anstelle einer
schriftlichen Übersetzung unter der Bedingung zur Verfügung gestellt werden, dass eine solche mündliche Übersetzung oder mündliche Zusammenfassung einem fairen Verfahren nicht entgegensteht.
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365
ÜBUNGSFÄLLE
Martin Böse
Lösung
I. Die Vereinbarkeit der Halterhaftung mit der EMRK
Dass A als Halter für den mit seinem Fahrzeug begangenen
Geschwindigkeitsverstoß verantwortlich gemacht wird, indem gegen ihn ein Bußgeld verhängt wird, könnte gegen die
Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) verstoßen.
1. Dies setzt zunächst voraus, dass die Unschuldsvermutung auf das Bußgeldverfahren in Italien Anwendung findet.
Der sachliche Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 2 EMRK
ist auf Strafverfahren („einer Straftat angeklagt“) beschränkt;
dies könnte so auszulegen sein, dass die Verhängung von
Bußgeldern (d.h. keinen Kriminalstrafen) nicht erfasst wird
(siehe den entsprechenden Einwand des F).
Der Begriff der „strafrechtlichen Anklage“1 ist allerdings
nicht durch den Rückgriff auf das nationale Recht, sondern
im Wege der autonomen Auslegung der EMRK zu bestimmen; anderenfalls wäre es den Vertragsstaaten möglich, die
Reichweite der in Art 6 EMRK enthaltenen Verfahrensgarantien durch eine entsprechende Ausgestaltung des Verfahrensrechts einzuschränken.2 Neben der formalen Zuordnung der
jeweiligen Sanktion zum Kriminalstrafrecht sind daher auch
materielle Kriterien (Natur des Vergehens, abschreckende
und ahndende Funktion sowie Art und Schwere der Sanktion)
in einer Gesamtschau zu berücksichtigen.3
Das gegen A verhängte Bußgeld von 300 € ist zwar im
Vergleich zu freiheitsentziehenden Sanktionen weniger
schwerwiegend, allerdings handelt es sich auch dabei bereits
um eine empfindliche Buße. Zudem ist zu berücksichtigen,
dass die strafprozessualen Garantien in Art. 6 EMRK nicht
notwendig eine Tat von bestimmter Schwere voraussetzen,
sondern gerade auch auf Straftaten, die geringeres Unrecht
verwirklichten (Vergehen, Übertretungen), anwendbar sind.4
Für eine Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung spricht vor
allem die repressive Funktion des Bußgeldes, das der Ahndung eines Verkehrsverstoßes und damit zugleich der Abschreckung anderer Verkehrsteilnehmer dienen soll; dies
bestätigt auch die Natur des Vergehens, da das zu Grunde
liegende Verbot nicht (wie bei einem Disziplinarverfahren)
an einen eingeschränkten Personenkreis, sondern an die All-
gemeinheit gerichtet ist.5 Aus diesen Gründen liegt eine strafrechtliche Anklage im Sinne des Art. 6 Abs. 2 EMRK vor.6
2. Die Verhängung des Bußgeldes könnte gegen die Unschuldsvermutung verstoßen, da dem A nicht nachgewiesen
wurde, dass er den festgestellten Geschwindigkeitsverstoß
entweder selbst begangen oder sich auf andere Weise daran
beteiligt hat, sondern dies aufgrund seiner Stellung als Fahrzeughalter vermutet wurde, wenn es ihm nicht gelingt nachzuweisen, dass sein Fahrzeug gegen seinen Willen von einer
anderen Person gefahren wurde.7 Nach der Rechtsprechung
des EGMR ist eine solche Umkehr der Beweislast auf der
Grundlage einer gesetzlichen Vermutungsregelung jedoch zulässig, sofern sie in einem angemessen Verhältnis zur Bedeutung der Sache steht, eine Würdigung der erhobenen Beweise
zulässt und die Rechte der Verteidigung gewahrt sind.8
Das Ziel der gesetzlichen Regelung besteht darin, eine
Verfolgung und Ahndung von Verkehrsverstößen auch in den
Fällen zu ermöglichen, in denen der Fahrer aufgrund des
damit verbundenen Ermittlungsaufwands nicht festgestellt
werden kann. Mit Blick auf das Ziel, die Sicherheit des Straßenverkehrs zu gewährleisten, hat der EGMR auch die Haftung des Fahrzeughalters auf der Grundlage einer solchen
Vermutungsregelung als verhältnismäßig angesehen, soweit
sich diese auf vergleichsweise geringfügige Verstöße beschränkt und die Verteidigungsrechte des Halters dadurch gewahrt bleiben, dass er Einwendungen erheben und auf diese
Weise die gesetzliche Vermutung widerlegen kann.9 Diesen
Anforderungen genügt auch die italienische Regelung, ein
Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK ist daher nach der Rechtsprechung des EGMR zu verneinen.
Hinweis: A.A. vertretbar. So lässt der Wortlaut des Art. 6
Abs. 2 EMRK auch eine Auslegung zu, die gesetzliche
Schuldvermutungen ausnahmslos verbietet.10 Auch der
EGMR stellte in einer nachfolgenden Entscheidung eine
Verletzung der Unschuldsvermutung fest, nachdem eine
Ordnungsbehörde gegen den Fahrzeughalter eine Geldbuße wegen eines Straßenverkehrsdeliktes verhängt hatte
5
1
Siehe auch die authentischen englischen („charged with a
criminal offence“) und französischen („accusé d’une infraction“) Sprachfassungen (vgl. insoweit die Schlussformel nach
Art. 59 EMRK).
2
EGMR, Urt. v. 21.2.1984 – 8544/79 (Öztürk/Deutschland)
= EuGRZ 1985, 62 (66 Rn. 49).
3
EGMR, Urt. v. 8.6.1976 – 5100/71, 5101/71, 5102/71,
5354/72, 5370/72 (Engel u.a./Niederlande) = EuGRZ 1976,
221 (232 Rn. 82 ff.); EGMR EuGRZ 1985, 62 (67 Rn. 50 ff.
[Öztürk/Deutschland]); zusammenfassend Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 7. Aufl. 2016, § 11
Rn. 59.
4
EGMR EuGRZ 1985, 62 (67 f. Rn. 53 [Öztürk/Deutschland]).
EGMR EuGRZ 1985, 62 (67 f. Rn. 53 [Öztürk/Deutschland]).
6
Siehe zum deutschen Ordnungswidrigkeitenverfahren
EGMR EuGRZ 1985, 62 (67 f. Rn. 53 [Öztürk/Deutschland]).
7
Die italienische StVO (D.Lgs. n. 285/1992, Codice della
strada) sieht ausdrücklich im Art. 196 Abs. 1 vor, dass der
Fahrzeughalter mit dem Täter gesamtschuldnerisch für die
Geldbuße haftet (principio di solidarietà).
8
EGMR, Urt. v. 25.9.1992 – 13191/87 (Pham Hoang/Frankreich) = EuGRZ 1992, 472 Rn. 33 und 36; zusammenfassend
Meyer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Kommentar,
2012, Art. 6 Rn. 161.
9
Siehe zur niederländischen Regelung EGMR, Beschl. v.
19.10.2004 – 66273/01 (Falk/Niederlande) = HRRS 2005
Nr. 209.
10
In diesem Sinne Paeffgen, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung, Bd. X – EMRK,
4. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 190.
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ZJS 3/2016
366
Schwerpunktbereichsklausur: Internationales und Europäisches Strafverfahrensrecht
und dabei ohne weitere Begründung und Auseinandersetzung mit der schriftlichen Einlassung des Betroffenen davon ausgegangen war, dass dieser den Verstoß selbst begangen habe.11 In diesem Urteil wird allerdings ausdrücklich auf die Entscheidung zur niederländischen Halterhaftung verwiesen; nach Ansicht des EGMR besteht ein
maßgeblicher Unterschied darin, dass das niederländische
Recht ausdrücklich eine entsprechende gesetzliche Einschränkung der Unschuldsvermutung vorsieht.12
II. Anspruch auf Übersetzung des Rechtsbehelfs
A könnte einen Anspruch auf Übersetzung seines Rechtsbehelfs aus der Richtlinie ableiten, wenn er sich unmittelbar auf
diese Richtlinie berufen kann und die Richtlinie einen solchen Anspruch vorsieht. Nach dem Bearbeitervermerk ist
davon auszugehen, dass das Verfahren in Italien in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie fällt (vgl. insoweit
Art. 1 Abs. 1, 3 der Richtlinie).
1. Grundsätzlich sind Richtlinien an die Mitgliedstaaten
gerichtet (Art. 288 Abs. 3 AEUV), so dass erst mit der Umsetzung in das nationale Recht Pflichten und Rechte des Einzelnen begründet werden. Ausnahmsweise kann sich der Bürger jedoch unmittelbar auf die Bestimmungen einer Richtlinie
berufen, wenn der betreffende Mitgliedstaat die Richtlinie
nicht oder nicht richtig umgesetzt hat, die Umsetzungsfrist
abgelaufen ist und sich aus der Richtlinie eine klare und eindeutige Verpflichtung des Mitgliedstaates ergibt, die diesem
keinen Umsetzungsspielraum belässt.13
Ob sich der Richtlinie ein klarer und eindeutiger Anspruch auf Übersetzung entnehmen lässt, wird unter 2. zu
prüfen sein. Falls diese Frage zu bejahen ist, ist nach der
Auskunft des italienischen Beamten davon auszugehen, dass
das italienische Recht keinen derartigen Anspruch vorsieht
und damit – trotz Ablaufs der Umsetzungsfrist (siehe den Bearbeitervermerk) – nicht richtig in das italienische Recht umgesetzt worden ist; insoweit liegen die Voraussetzungen für
eine unmittelbare Wirkung also vor.
2. Damit stellt sich die Frage, ob sich aus der Richtlinie
ein Anspruch auf Übersetzung von Rechtsbehelfen ergibt.
Die Richtlinie unterscheidet insoweit zwischen Dolmetschleistungen, d.h. mündlichen Übersetzungen (Art. 2), und der
(schriftlichen) Übersetzung wesentlicher Unterlagen (Art. 3).
Ein Anspruch auf Übersetzung von Rechtsbehelfen könnte
sich daher aus der letztgenannten Vorschrift ergeben. Wie
sich aus der beispielhaften Aufzählung derartiger Dokumente
(Art. 3 Abs. 2: Haftbefehl, Anklageschrift, Urteil) und aus der
Funktion der Übersetzung (Information des Beschuldigten
über den gegen ihn erhobenen Vorwurf, Art. 3 Abs. 4) ergibt,
bezieht sich Art 3 der Richtlinie indes allein auf behördliche
bzw. gerichtliche Dokumente, nicht aber auf Rechtsbehelfe
11
EGMR, Urt. v. 18.3.2010 – 13201/05 (Krumpholz/Österreich) = NJW 2011, 201 (202 Rn. 40 f.).
12
EGMR, Urt. v. 18.3.2010 – 13201/05 (Krumpholz/Österreich) = NJW 2011, 201 Rn. 37 f.
13
EuGH, Urt. v. 4.12.1974 – 41/74 (van Duyn) = Slg. 1974,
1337 Rn. 12; Biervert, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar,
3. Aufl. 2012, Art. 288 AEUV Rn. 29.
STRAFRECHT
oder schriftliche Einlassungen des Beschuldigten.14 Die
Richtlinie stellt es den Mitgliedstaaten zwar frei, insoweit
über die Anforderungen der Richtlinie hinauszugehen (vgl.
Art. 3 Abs. 3 zu weiteren wesentlichen Dokumenten).15 Ein
klares und unbedingtes (d.h. von der Ausfüllung eines Umsetzungsspielraums unabhängiges, s.o. 1.) Recht auf Übersetzung von Rechtsbehelfen lässt sich indes nicht aus Art. 3 der
Richtlinie ableiten.
Damit stellt sich die Frage, ob sich ein solches Recht aus
Art. 2 der Richtlinie ergibt. Dort ist allerdings nur ein Anspruch auf einen Dolmetscher vorgesehen, soweit der Beschuldigte mündlich Einspruch gegen den Strafbefehl einlegt
(Art. 2 Abs. 1) oder einen Rechtsbeistand hinzuzieht, um
diesen einen schriftlichen Einspruch einlegen zu lassen
(Art. 2 Abs. 2).16 Wie sich aus diesen Regelungen und im
Umkehrschluss aus Art. 3 der Richtlinie ergibt, regelt Art. 2
die mündliche Übersetzung, während das Recht auf schriftliche Übersetzung (ausschließlich) in Art. 3 geregelt ist.17 Ein
Anspruch auf Übersetzung könnte daher auch nicht aus Art. 2
der Richtlinie abgeleitet werden.
Demgegenüber spricht der Sinn und Zweck des Art. 2 der
Richtlinie für eine weite Auslegung, die auch einen Anspruch
auf Übersetzung des Einspruchs bzw. ein Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs in der eigenen Sprache umfasst.18
Der Sinn und Zweck des Anspruchs auf einen Dolmetscher
besteht nämlich darin, eine effektive Wahrnehmung der Verteidigungsrechte zu ermöglichen, und die Reichweite dieser
Unterstützung kann nicht davon abhängen, ob der Angeklagte
sich mündlich oder schriftlich verteidigt oder ob er hierzu
einen Verteidiger (und für dieses Gespräch einen Dolmetscher erhält) hinzuzieht oder nicht.19 Zwar ist einzuräumen,
dass die Richtlinie insoweit deutlich zwischen mündlicher
(Art. 2) und schriftlicher (Art. 3) Übersetzung unterscheidet;
wie die Regelungen über mündliche Zusammenfassung von
Schriftstücken zeigt, überschneiden sich die Anwendungsbereiche.20 Die Systematik der Vorschriften steht daher einer
weiten (teleologischen) Auslegung des Art. 2 nicht entgegen.
Bei dieser Auslegung verbleibt den Mitgliedstaaten für die
Umsetzung des Art. 2 der Richtlinie kein Umsetzungsspielraum mehr, so dass auch die Voraussetzungen einer unmittelbaren Wirkung vorliegen. A hat daher einen Anspruch auf
Übersetzung seines Rechtsbehelfs.
Hinweis: A.A. vertretbar. So kann ein Anspruch auf Übersetzung mit dem EuGH verneint oder – ebenfalls auf der
14
EuGH, Urt. v. 15.10.2015 – C-216/14 (Covaci) = NJW
2016, 303 (305 Rn. 44 ff.)
15
EuGH, Urt. v. 15.10.2015 – C-216/14 (Covaci) = NJW
2016, 303 (305 Rn. 48 ff.)
16
EuGH, Urt. v. 15.10.2015 – C-216/14 (Covaci) = NJW
2016, 303 (304 f. Rn. 32, 42).
17
Siehe auch EuGH, Urt. v. 15.10.2015 – C-216/14 (Covaci)
= NJW 2016, 303 (305 Rn. 42, 43).
18
In diesem Sinne die Schlussanträge von Generalanwalt
Yves Bot v. 7.5.2015, C-216/14 (Covaci), Rn. 81.
19
Generalanwalt Bot, C-216/14 (Covaci), Rn. 67, 78.
20
Siehe auch Generalanwalt Bot, C-216/14 (Covaci), Rn. 79.
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ÜBUNGSFÄLLE
Martin Böse
Grundlage einer teleologischen Auslegung auch auf Art. 3
der Richtlinie gestützt werden.21 In diesem Fall wird allerdings ebenfalls eine Auseinandersetzung mit der Binnensystematik des Art. 3 der Richtlinie erwartet.
III. Vollstreckung des Bußgeldbescheids in Deutschland
Die Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen, die in
einem anderen Mitgliedstaat verhängt worden sind, richtet
sich nach den §§ 87 ff. IRG, die den allgemeinen Vorschriften über die vertragslose Vollstreckungshilfe (§§ 48 ff. IRG)
vorgehen (§ 87 Abs. 1 S. 2 IRG). Nach dem Sachverhalt ist
davon auszugehen, dass die allgemeinen Voraussetzungen
der Vollstreckungshilfe vorliegen, insbesondere liegt ein
italienisches Ersuchen vor (§ 87a IRG).22
1. Die Vollstreckung des italienischen Bescheids könnte
jedoch nach § 87b Abs. 3 Nr. 6 IRG unzulässig sein, weil die
Vollstreckung nach deutschem Recht verjährt ist. Nach deutschem Recht beträgt die Verjährungsfrist für die Vollstreckung eines in Deutschland ergangenen Bußgeldbescheides
über 300 € drei Jahre (§ 34 Abs. 2 Nr. 2 OWiG). Diese Frist
wäre im vorliegenden Fall abgelaufen, da nach Eintritt der
Rechtskraft (vgl. § 34 Abs. 3 OWiG) bereits vier Jahre verstrichen sind. Allerdings setzt das Vollstreckungshindernis
nach § 87b Abs. 3 Nr. 6 IRG – anders als § 49 Abs. 1 Nr. 5
IRG – voraus, dass für die zu Grunde liegende Tat auch die
deutsche Gerichtsbarkeit begründet ist. Da es sich um eine
Auslandstat handelt, ist diese Voraussetzung zu verneinen
(§ 5 OWiG).23 Die Vollstreckung ist daher nicht nach § 87b
Abs. 3 Nr. 6 IRG unzulässig.
2. Eine Vollstreckung könnte allerdings mit Blick auf die
im italienischen Recht vorgesehene Halterhaftung unzulässig
sein. Eine Berufung auf den ordre-public-Vorbehalt scheidet
insoweit aus, da für den Vollstreckungshilfeverkehr mit anderen EU-Mitgliedstaaten der europäische ordre public maßgeblich ist (§ 73 S. 2 IRG i.V.m. Art. 6 EUV). Die Halterhaftung ist mit Art. 6 Abs. 2 EMRK vereinbar (vgl. Art. 6 Abs. 3
EUV, siehe insoweit oben zu Aufgabe I.), und dieses Verständnis der Unschuldsvermutung liegt auch Art. 48 Abs. 1
EU-GRC zugrunde (siehe insoweit Art. 6 Abs. 1 EUV).24
21
In diesem Sinne A. Schneider, in: Grützner/Pötz/Kreß
(Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen,
37. Lfg., Stand: Dezember 2014, III D 17 Vorbemerkungen
zu Richtlinie 2010/64/EU Rn. 27.
22
Manche Bearbeiter haben insoweit auch das Erfordernis
der beiderseitigen Sanktionierbarkeit (§ 87b Abs. 1 S. 1 IRG)
geprüft; insoweit ist jedoch zu beachten, dass dieses Vollstreckungshindernis bei Verstößen gegen Straßenverkehrsvorschriften nicht zu prüfen ist (§ 87b Abs. 1 S. 2 i.V.m. Art. 5
Abs. 1 Spiegelstrich 33 Rahmenbeschluss 2005/214/JI v.
24.2.2005). Da der einschlägige Rahmenbeschluss den Bearbeitern nicht vorlag, wurden derartige Ausführungen nicht
erwartet.
23
OLG Jena NZV 2014, 422 (423).
24
Siehe zur Unschuldsvermutung im Unionsrecht und der
Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR EuGH, Urt.
v. 23.12.2009 – C-45/08 (Spector Photo Group) = Slg. 2009,
I-12073 Rn. 40 ff.
Allerdings könnte § 87b Abs. 3 Nr. 9 IRG einer Vollstreckung des italienischen Bußgeldbescheides entgegenstehen.
Danach ist die Vollstreckung unzulässig, wenn die betroffene
Person in dem ausländischen Verfahren keine Gelegenheit
hatte, einzuwenden, für die mit der Geldsanktion geahndete
Tat nicht verantwortlich zu sein, und sie dies gegenüber der
Bewilligungsbehörde geltend macht. Der Bußgeldbescheid ist
gegen A erlassen worden, ohne dass ihm Gelegenheit gegeben wurde, sich gegen den erhobenen Vorwurf zu verteidigen. Zwar konnte A mit seinem Rechtsbehelf Einwände gegen seine Verantwortlichkeit erheben, aber in der Sache wurde ihm durch die italienische Regelung der Einwand abgeschnitten, nicht selbst gefahren zu sein und deshalb nicht für
den Geschwindigkeitsverstoß verantwortlich zu sein. Gerade
um die Vollstreckung von Geldsanktionen zu vermeiden, die
auf einer verschuldensunabhängigen Haftung beruhen und
diesem den Einwand abschneiden, nicht für die Tat verantwortlich zu sein, hat der Gesetzgeber das Vollstreckungshindernis nach § 87b Abs. 3 Nr. 9 IRG eingeführt.25 Da auch die
gerichtliche Verwerfung des von A eingelegten Rechtsbehelfes auf die Halterhaftung gestützt wurde und A sich mit dem
Verweis auf das „rechtsstaatswidrige Verfahren“ auf diesen
Umstand beruft, liegen die Voraussetzungen des § 87b Abs. 3
Nr. 9 IRG vor. Die Vollstreckung des italienischen Bußgeldbescheides ist daher unzulässig.
IV. Vollstreckungshilfe und Strafklageverbrauch
Die Zulässigkeit der Vollstreckungshilfe richtet sich auch in
der Abwandlung nach den §§ 87 ff. IRG (s.o. III.). Die Vollstreckung des italienischen Bußgeldbescheides könnte wegen
der in Belgien ergangenen Einstellungsentscheidung und den
dadurch (in Belgien) eingetretenen Strafklageverbrauch ausgeschlossen sein. Als Vollstreckungshindernis kommt insoweit § 87b Abs. 3 Nr. 5 Alt. 2 IRG in Betracht. Danach ist
eine Vollstreckung unzulässig, wenn wegen derselben Tat in
einem anderen als dem ersuchenden und dem ersuchten Mitgliedstaat eine Entscheidung ergangen und vollstreckt worden ist. Soweit es sich bei diesem Staat – wie im vorliegenden Fall – um einen Mitgliedstaat der Europäischen Union
handelt (Belgien), beruht das Vollstreckungshindernis auf
dem grenzüberschreitenden Strafklageverbrauch nach Art. 54
SDÜ bzw. Art. 50 EU-GRC.26
Der grenzüberschreitende Strafklageverbrauch nach
Art. 54 SDÜ setzt eine rechtskräftige Aburteilung voraus.
Zwar legt der Wortlaut eine enge Auslegung nahe, die nur
gerichtliche Entscheidungen (Urteile) erfasst.27 Der EuGH
hat gleichwohl auch Einstellungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft als rechtskräftige Aburteilungen angesehen,
soweit das Strafverfahren damit endgültig abgeschlossen und
25
Siehe BT-Drs. 17/1288, S. 28 (Regierungsentwurf); BTDrs. 17/2458, S. 4 (Bericht des Rechtsausschusses); OLG
Braunschweig NZV 2013, 148 (149); Johnson, in: Grützner/
Pötz/Kreß (Fn. 21), § 87b IRG Rn. 18.
26
Trautmann, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012, § 87b
IRG Rn. 35 f.
27
Vgl. insoweit BGH NStZ 1998, 149 (151 f.).
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368
Schwerpunktbereichsklausur: Internationales und Europäisches Strafverfahrensrecht
STRAFRECHT
die Tat mit Zahlung der Geldauflage geahndet wird.28 Der
Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, welcher in Art 54
SDÜ seinen Ausdruck finde, gebiete es daher, dass die anderen Mitgliedstaaten auch nicht-richterliche Entscheidungen
als Verfolgungshindernis anerkennen.29 Schließlich sei eine
solche Auslegung auch in Hinblick auf das Freizügigkeitsrecht (Art . 21 AEUV) geboten, da ein Unionsbürger, dessen
Strafverfahren auf die beschriebene Weise abgeschlossen
wurde, ansonsten befürchten muss, in einem anderen Mitgliedstaat erneut verfolgt zu werden.30 Bei einer teleologischen Auslegung darf indessen nicht allein auf die individualschützende Funktion des Art. 54 SDÜ, insbesondere in
Hinblick auf das Freizügigkeitsrecht, abgestellt werden.
Vielmehr ist auch danach zu fragen, ob der Strafklageverbrauch auch der objektiven Funktion des Art. 54 SDÜ, der
Effektivität der transnationalen Strafrechtspflege, entspricht.
Dafür ist zu fordern, dass die verfahrensabschließende Entscheidung gewisse Mindestanforderungen erfüllt, welche die
Richtigkeit dieser Entscheidung gewährleisten und damit
dem öffentlichen Strafverfolgungsinteresse der anderen Mitgliedstaaten ausreichend Rechnung tragen. Eine staatsanwaltliche Einstellungsverfügung bleibt in dieser Hinsicht (Umfang der Aufklärungspflicht, mündliche Verhandlung, Begründungspflicht) deutlich hinter einer gerichtlichen Entscheidung („Urteil“) zurück.31 Dem öffentlichen Interesse an
der Möglichkeit, die verfahrensabschließende Entscheidung
bei schweren Verfahrensfehlern noch korrigieren zu können,
kann jedoch durch eine Wiederaufnahme des Verfahrens im
Urteilsstaat entsprochen werden. Eine rechtskräftige Aburteilung liegt damit auch bei einer staatsanwaltschaftlichen Einstellung vor, die nach dem innerstaatlichen Recht einen (zumindest eingeschränkten) Strafklageverbrauch begründet.
Selbst wenn man einer engeren Auslegung des Art. 54 SDÜ
folgen wollte, wäre im Rahmen des § 87b Abs. 3 Nr. 5 IRG
zu berücksichtigen, dass der Begriff der „Entscheidung“ dort
in einem weiten Sinne verstanden wird, der insbesondere
auch behördliche Entscheidungen einschließt (§ 87 Abs. 2
Nr. 2 und 3 IRG).32
Der in Italien ergangene Bußgeldbescheid und die verfahrensabschließende Entscheidung der Staatsanwaltschaft in
Belgien müssten dieselbe Tat betreffen. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist im Rahmen des Art. 54 SDÜ von
einem unionsrechtlichen Tatbegriff auszugehen, wonach die
Tat durch einen einheitlichen Komplex unlösbar verbundener
Tatsachen bestimmt wird.33 Zwar erstreckte sich der Gegen-
stand des in Belgien geführten Ermittlungsverfahrens auch
auf die Verletzung des belgischen Opfers; diese beruhte jedoch auf einer Handlung, die zugleich Gegenstand des in
Italien geführten Bußgeldverfahrens war. Damit liegt ein
Komplex unlösbar verbundener Tatsachen, mithin eine einheitliche Tat vor.
§ 87b Abs. 3 Nr. 5 Alt. 2 IRG setzt schließlich voraus,
dass die Entscheidung bereits vollstreckt worden ist (siehe
auch Art. 54 SDÜ).34 Auch diese Voraussetzung ist erfüllt, da
A die Geldauflage bereits gezahlt hat (s.o.).35 Selbst wenn
man in der Geldauflage keine vollstreckbare Sanktion sieht36,
ergibt sich nichts anderes, da das Vollstreckungselement in
diesem Fall (d.h. bei fehlender Verhängung einer Sanktion)
keine Anwendung findet (Art. 54 SDÜ: „im Fall einer Verurteilung“).37
Die Vollstreckung des italienischen Bußgeldbescheids ist
daher nach § 87b Abs. 3 Nr. 5 Alt. 2 IRG unzulässig.
28
§ 13 Rn. 56. Da entsprechende Angaben zum belgischen
Strafverfahrensrecht im Sachverhalt fehlten, wurde eine Auseinandersetzung mit dieser Ansicht nicht erwartet.
34
Anders als in Art. 54 SDÜ reicht es also nicht aus, dass die
Sanktion gerade vollstreckt wird, siehe Trautmann (Fn. 26),
§ 87b IRG Rn. 35.
35
So auch Hecker (Fn. 33), § 13 Rn. 42.
36
Siehe zum fehlenden Strafcharakter der Auflagen und
Weisungen nach § 153a StPO BGHSt 28, 174 (176).
37
Auf die Frage, ob das Vollstreckungselement mit Art. 50
EU-GRC vereinbar ist, kommt es daher nicht an, siehe dazu
Hecker (Fn. 33), § 13 Rn. 38 f.
EuGH, Urt. v. 11.2.2003 – verb. Rs. C-187/01 und C365/01 (Gözütok und Brügge) = Slg. 2003, I-1345 Rn. 28 ff.
29
EuGH, Urt. v. 11.2.2003 – verb. Rs. C-187/01 und C365/01 (Gözütok und Brügge) = Slg. 2003, I-1345 Rn. 32 f.
30
EuGH, Urt. v. 11.2.2003 – verb. Rs. C-187/01 und C365/01 (Gözütok und Brügge) = Slg. 2003, I-1345 Rn. 40.
31
Radtke/Busch, EuGRZ 2000, 421 (427 ff.).
32
Trautmann (Fn. 26), § 87b IRG Rn. 35.
33
EuGH, Urt. v. 9.3.2006 – C-436/04 = Slg 2006 I-2333 (van
Esbroeck), Rn. 35 f. Im Schrifttum wird zum Teil angenommen, dass insoweit der Tatbegriff des Urteilsstaates maßgeblich ist, siehe Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. 2015,
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369
Übungsfall: Die Sandviper
Von Prof. Dr. Georg Steinberg, stud. iur. Melanie Epe, Potsdam*
Diese Aufgabe hat der Erstautor im Frühlingstrimester 2013
in der Kleinen Übung Strafrecht (zweites Fachtrimester) an
der EBS Universität für Wirtschaft und Recht Wiesbaden
gestellt; die Bearbeitungszeit betrug 120 Minuten. Abgeprüft
werden der Umgang mit Rechtfertigungsgründen, vor allem
mit dem notstandsrechtlichen Gefahrbegriff, der Umgang mit
dem Erlaubnistatumstandsirrtum in einer Fallkonstellation,
in der alle vertretenen Theorien zum selben Endergebnis gelangen, des Weiteren der Umgang mit mittelbarer und mit
Unterlassungstäterschaft. Gefordert nach dieser Aufgabenstellung wird weniger die Stellungnahme zu klassischen dogmatischen Streitständen als eine sorgsame Analyse des Sachverhalts (etwa: Herausarbeiten beider [!] Handlungen des A)
und seine präzise Begutachtung im Rahmen anspruchsvoller
dogmatischer Strukturen; unterschätzen sollten Studienanfänger/-innen – das lehrt die Erfahrung – diese Form der
Aufgabenstellung nicht.
Sachverhalt
Die Freunde Anton (A) und Bertram (B) hatten eine Wohngemeinschaft gebildet. A studierte Anglistik, B Biologie.
Dabei interessierte sich B ganz besonders für das Verhalten
von Schlangen und hatte zu Beobachtungszwecken eine
Sandviper erworben, die sich frei in der Wohnung bewegte
und die er Viola nannte.
Sandvipern sind Giftschlangen, deren Gift tödlich sein
kann. Häufig bewirkt ein Biss starke Blutungen an Unterhautgeweben und inneren Organen. Dazu treten Herzklopfen,
Kopfschmerz, Schwäche- und Schwindelgefühl, Erbrechen
und Bauchkoliken auf, nicht selten auch Kreislaufzusammenbrüche.
B hatte daher Violas Giftdrüse und die Beißzähne entfernt, so dass Viola ganz ungefährlich war. Das wusste A,
aber als er eines Abends seine Kommilitonin Karin (K) zu
sich einlud, erzählte er ihr zuvor, dass sein Mitbewohner eine
aggressive Giftschlange in einem geschlossenen Terrarium
halte. Er wollte der K nämlich – spaßeshalber – einen kleinen
Schrecken einjagen: Sie sollte glauben, dass die Schlange
gefährlich und aus dem Terrarium entwischt sei. A ging davon aus, dass K bei Violas Anblick in Panik erstarren oder
flüchten würde.
Es kam jedoch ganz anders. Als K in das Zimmer des A
ging, lag Viola auf ihrem Lieblingsplatz, nämlich einer nahe
der Tür befindlichen Kommode, und funkelte die K drohend
an. K konnte nicht zurückweichen, weil der hinter ihr ins
Zimmer tretende A im Wege stand. Daher ergriff sie, um sich
zu schützen, beherzt einen schweren Kerzenhalter aus Messing und erschlug Viola mit den Worten: „Diese Sandviper
* Prof. Dr. Georg Steinberg ist Inhaber eines Lehrstuhls für
Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Potsdam;
Melanie Epe war stud. Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht,
Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Steuerstraftrecht an der
EBS Universität für Wirtschaft und Recht Wiesbaden.
ist gefährlich! Ihr hättet sie nicht aus dem Terrarium entwischen lassen dürfen!“
A hatte in dem Moment, in dem K den Kerzenständer ergriff, erkannt, was sie vorhatte. Er hätte, wie er erkannte,
durch einen raschen aufklärenden Ruf verhindern können,
dass K Viola tötete. Das tat er aber nicht, weil er allzu neugierig war, was nun passieren werde.
Bearbeitervermerk
Prüfen Sie die Strafbarkeit von A und K nach § 303 StGB.
Gehen Sie dabei davon aus, dass gegebenenfalls erforderliche
Strafanträge gestellt sind.
Lösungsvorschlag
I. Strafbarkeit der K nach § 303 Abs. 1 StGB wegen des
Schlags mit dem Kerzenhalter
K könnte sich, indem sie die Schlange mit dem Kerzenhalter
erschlug, nach § 303 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben.
Hinweis: Man kann auch präziser zitieren: § 303 Abs. 1
Alt. 2 StGB. Das ist hier aber – anders als bei strukturell
deutlich voneinander abweichenden Tathandlungsvarianten, vgl. z.B. § 267 Abs. 1 StGB – wegen der Ähnlichkeit
der genannten Erfolge („Zerstören“ als gesteigertes „Beschädigen“) nicht notwendig.
1. Objektiver Tatbestand
Zunächst müsste die Schlange ein taugliches Tatobjekt, also
eine fremde Sache sein. Sachen sind körperliche Gegenstände; der strafrechtliche Sachbegriff ist vom zivilrechtlichen
unabhängig und schließt – im Gegensatz zu Letzterem, vgl.
§§ 90, 90a BGB – Tiere ein,1 so dass die Schlange eine Sache
ist.
Hinweis: Dass Tiere strafrechtlich Sachen sind, ist weitestgehend Konsens, daher nicht ausführlich zu begründen. Der in studentischen Gutachten allgemein zum strafrechtlichen Sachbegriff oft zu lesende Verweis auf § 90
BGB ist, eben wegen der Unabhängigkeit des strafrechtlichen Begriffs, u.E. verfehlt.
Die Sache müsste der K auch fremd gewesen sein, müsste
also zumindest auch im Eigentum eines anderen gestanden
haben.2 B war, als Erwerber, Alleineigentümer, weswegen
die Schlange der K fremd war, also taugliches Tatobjekt.
K müsste die Schlange zerstört, das heißt mittels körperlicher Einwirkung vernichtet oder für den bestimmungsgemäßen Gebrauch ganz untauglich gemacht haben.3 Nach der
1
Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,
63. Aufl. 2016, § 242 Rn. 3.
2
Vgl. Fischer (Fn. 1), § 242 Rn. 5.
3
Vgl. Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 17. Aufl.
2015, § 24 Rn. 7.
_____________________________________________________________________________________
ZJS 3/2016
370
Übungsfall: Die Sandviper
Tötung konnte B die Schlange nicht mehr als biologisches
Versuchsobjekt nutzen, die Sache war also zerstört. Dies
erfolgte kausal und objektiv zurechenbar durch den Schlag
der K mit dem Kerzenhalter. K verwirklichte also den objektiven Tatbestand.
Hinweis: Kausalität und objektive Zurechenbarkeit können kurz definiert und subsumiert werden; notwendig ist
das hier aber, wegen Evidenz, nicht.
2. Subjektiver Tatbestand
K erfüllte, indem sie vorsätzlich, das heißt wissentlich und
willentlich bezogen auf die Verwirklichung des objektiven
Tatbestands handelte,4 auch den subjektiven Tatbestand.
3. Rechtswidrigkeit
Der Rechtswidrigkeit könnten Rechtfertigungsgründe entgegenstehen.
a) Rechtfertigung nach § 32 StGB
Eine Rechtfertigung könnte aus § 32 StGB folgen. Dafür
müsste objektiv eine Notwehrlage, also ein gegenwärtiger
rechtswidriger Angriff (§ 32 Abs. 2 StGB) bestanden haben.
Ein Angriff ist die Gefährdung notwehrrechtlich geschützter
Güter durch menschliches Verhalten.5 Zwar kann sich auch
die Attacke eines Tieres als menschliches Verhalten darstellen, etwa bei Aufhetzen des Tieres oder bei Vernachlässigung
einer Garantenpflicht des Tierhalters;6 indes gefährdete die
ganz harmlose Schlange kein Rechtsgut der K, weswegen es
schon deswegen an einer Notwehrlage, also auch an einer
Rechtfertigung nach § 32 StGB fehlt.
b) Rechtfertigung nach § 228 S. 1 BGB
Eine Rechtfertigung wegen Notstands nach § 228 S. 1 BGB
ist nur möglich mit Bezug auf die Beschädigung einer fremden Sache. Zivilrechtlich ist eine Schlange zwar keine Sache,
aber die Analoganwendung betreffender Vorschriften auf
Tiere ist angeordnet, § 90a S. 1 und 3 BGB. Von dieser
Schlange, die K zerstörte, müsste eine Gefahr ausgegangen
sein, also ein Zustand, der den Eintritt eines Schadens wahrscheinlich machte.7
Hinweis: Die strafrechtliche Diskussion zum notstandsrechtlichen Gefahrbegriff wird mit Bezug auf § 34 StGB
geführt; für § 228 S. 1 BGB gilt aber kein anderer Gefahrbegriff.8
4
Vgl. Fischer (Fn. 1), § 15 Rn. 3.
Fischer (Fn. 1), § 32 Rn. 5.
6
Fischer (Fn. 1), § 32 Rn. 6.
7
Vgl. Fischer (Fn. 1), § 34 Rn. 4.
8
Keine Hinweise hierauf bei Roxin, Strafrecht, Allgemeiner
Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 111-114; Kühl, Strafrecht,
Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 9 Rn. 14-16; Deppenkemper, in: Prütting/Wegen/Weinreich (Hrsg.), Bürgerliches
Gesetzbuch, Kommentar, 10. Aufl. 2015, § 228 Rn. 2;
5
STRAFRECHT
Nach einer subjektiven ex ante-Sicht, also bei Orientierung
daran, was der Täter glaubte, würde hier, da K die Schlange
für gefährlich hielt, eine Gefahr vorliegen. Diese Sichtweise
führt aber zu einer unsachgemäßen Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 34 StGB,9 weswegen stattdessen ein
objektiver Blickwinkel zu wählen ist. Mit Blick auf den
Prognosecharakter des Gefahrbegriffs wird herrschend vertreten, dass eine (objektive) ex ante-Sicht einzunehmen ist.
Wählt man hier als Maßstabsperson einen verständigen Beobachter aus dem Verkehrskreis des Handelnden10 oder einen
besonders sachkundigen Beobachter,11 so wussten diese –
fiktiv – nichts vom vorhergehenden operativen Eingriff des
B, also auch nichts von der Unschädlichkeit der Schlange, so
dass eine Gefahr anzunehmen wäre. Dieser Relativierung des
objektiven Zugriffs ist aber nicht zu folgen, da sie das Notwehrrecht des Eigentümers der vermeintlich gefährlichen
Sache allzu sehr einschränkt und angesichts der Irrtumsregeln
auch nicht notwendig im Sinne der Sachgerechtigkeit ist.
Vielmehr ist auf eine Maßstabsperson abzustellen, die alles
menschlich verfügbare ex ante-Wissen hat;12 diese wusste
von der Unschädlichkeit der Schlange, so dass die Gefahr
entfällt. Zum selben Ergebnis gelangt man (erst recht), wenn
man für die Feststellung der Gefahr den Blickwinkel objektiv
ex post wählt. Daher entfällt § 228 S. 1 BGB.
Hinweis: Selbstverständlich kann man hier auch anders
entscheiden. Dann ist § 228 S. 1 BGB objektiv erfüllt, so
dass die Erörterung zum Erlaubnistatumstandsirrtum entfällt.
c) Rechtfertigung nach § 34 StGB
Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB scheitert ebenfalls objektiv mangels Gefahr.
Hinweis: § 228 S. 1 BGB ist zwar spezieller, daher vor
§ 34 StGB zu prüfen, verdrängt letztere Norm aber nicht,
weswegen diese zu prüfen bleibt.
4. Erlaubnistatumstandsirrtum
K könnte aber wegen eines Erlaubnistatumstandsirrtums
straflos bleiben.
Hinweis: Von der systematisch-dogmatischen Einordnung
des Erlaubnistatumstandsirrtums hängt der Standort in der
Ellenberger, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, Kommentar, 75. Aufl. 2016, § 228 Rn. 4.
9
Kühl (Fn. 8), § 8 Rn. 44.
10
Schaffstein, in: Frisch/Schmid (Hrsg.), Festschrift für
Hans-Jürgen Bruns zum 70. Geburtstag, 1978, S. 89 (106);
Dornseifer, JuS 1982, 761 (763 f.).
11
Kühl (Fn. 8), § 8 Rn. 52; Roxin (Fn. 8), § 16 Rn. 18;
Zieschang, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 2,
12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 29; Kretschmer, Jura 2005, 662
(664 f.).
12
Fischer (Fn. 1), § 34 Rn. 4.
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371
ÜBUNGSFÄLLE
Georg Steinberg/Melanie Epe
Prüfung ab. Einen eigenen Prüfungspunkt zwischen
Rechtswidrigkeit und Schuld zu bilden – wie hier – hat
den Vorteil, dass man nicht implizit zum Theorienstreit
Stellung nimmt beziehungsweise das Ergebnis des Theorienstreits vorwegnimmt. Wer den Streit entscheidet und
der strengen oder der rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten Schuldtheorie folgt, kann den Irrtum auch im
Rahmen des Prüfungspunktes Schuld erörtern.13
a) Voraussetzungen
Hierzu müsste sich K in einem Erlaubnistatumstandsirrtum
befunden haben.
Hinweis: Es ist ein in studentischen Gutachten häufig anzutreffender und zugleich gravierender Fehler, in die Diskussion um die Rechtsfolgen des Erlaubnistatumstandsirrtums einzusteigen, bevor – sorgfältig und umfassend – erörtert wurde, ob er überhaupt vorliegt.14
K müsste sich also eine Situation vorgestellt haben, nach der
ihre Handlung (objektiv) gerechtfertigt gewesen wäre. Als
vorgestellter Rechtfertigungsgrund kommt § 228 S. 1 BGB in
Betracht. K müsste sich demnach vorgestellt haben, dass von
der Schlange, als dann zerstörtem fremden Tier, eine Gefahr
ausging, also ein Zustand, der den Eintritt eines Schadens
wahrscheinlich macht. K ging davon aus, dass die Schlange
sie, die K, in ihrem Leben oder zumindest ihrer körperlichen
Integrität als notstandsrechtlich geschützten Rechtsgütern
beeinträchtigen würde, nahm also eine Gefahr an. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr fordert § 228 S. 1 BGB nicht.15
Die Zerstörung der Schlange müsste nach dem von K angenommenen Sachverhalt auch zur Gefahrabwendung erforderlich gewesen sein, es dürfte danach also kein milderes
Mittel – etwa auch Flucht16 – gegeben haben, die Gefahr
ebenso sicher abzuwenden.17 K ging davon aus, dass die
Schlange, die sich auf der Kommode vor ihr befand, unmittelbar zur Attacke – etwa gegen den Oberkörper der K –
übergehen konnte, und dass sie, K, wegen ihrer eingekeilten
Lage nicht ausweichen konnte. Ein Schlag mit der bloßen
Hand oder ein weniger heftiger Schlag mit dem Kerzenhalter
oder ein anderes Mittel konnten aus ihrer Sicht nicht mit
derselben Aussicht auf Erfolg und derselben Sicherheit die
mutmaßlich bevorstehende Attacke der Schlange abwenden,
so dass die Zerstörung – subjektiv – zur Gefahrabwendung
erforderlich war.
Der Schaden dürfte des Weiteren – die von K vorgestellte
Situation zugrundegelegt – nicht außer Verhältnis zur Gefahr
13
Vgl. Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2015,
§ 30 Rn. 9.
14
Vgl. auch Kühl (Fn. 8), § 13 Rn. 64; Gasa, JuS 2005, 890
(893 f.)
15
Vgl. nur Ellenberger (Fn. 8), § 228 Rn. 4; in der Sache
macht das wegen der Weite des Gegenwärtigkeitsbegriffs und
mit Blick auf das Erforderlichkeitserfordernis kaum Unterschiede.
16
Ellenberger (Fn. 8), § 228 Rn. 7.
17
Vgl. Fischer (Fn. 1), § 34 Rn. 9.
gestanden haben. Gefährdet war (vermeintlich) das dem dann
beschädigten Rechtsgut Eigentum deutlich vorrangige
Rechtsgut der körperlichen Integrität,18 und zwar in massiver
Weise mit Blick auf die – wahrscheinlichen – Folgen des –
als wahrscheinlich – drohenden Schlangenbisses (starke Blutungen an Unterhautgeweben und inneren Organen u.a.);
sogar das Leben der K als ihr höchstes Rechtsgut war angesichts der möglichen tödlichen Wirkung eines Schlangenbisses vermeintlich in Gefahr; die Tötung der Schlange stand
demnach nicht außer Verhältnis. K unterlag demzufolge
einem Erlaubnistatumstandsirrtum.
b) Rechtsfolge
Umstritten ist die Rechtsfolge des Erlaubnistatumstandsirrtums.19
Hinweis: Zwingend zu diskutieren sind die Rechtsfolgen
des Erlaubnistatumstandsirrtums, wenn man im konkreten
Fall zu einem unterschiedlichen Ergebnis hinsichtlich der
Strafbarkeit gelangt. Das ist erstens der Fall, wenn der Irrtum vermeidbar war: Bei (direkter oder analoger) Anwendung des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB entfällt die Strafbarkeit bezüglich des Vorsatzdelikts, bei Anwendung des
§ 17 StGB bleibt sie erhalten (mit der Milderungsmöglichkeit des § 17 S. 2 StGB). Zweitens ist es auch für die
Teilnahmefähigkeit der Tat des Irrenden relevant, ob sie
vorsätzlich und rechtswidrig erfolgte (vgl. §§ 26, 27
StGB).
Keine der Varianten ist hier gegeben, auch die zweite
nicht, denn A war mittelbarer Täter, was den §§ 26, 27
StGB ohnehin vorgeht. U.E. ist es daher hier überflüssig,
sich zum Theorienstreit zu positionieren;20 es reicht aus,
die Theorien darzustellen und jeweils zu subsumieren.
Akzeptiert wurde es aber auch, wenn Bearbeiter/-innen im
Theorienstreit Stellung bezogen, denn man kann argumentieren, dass ein strafrechtliches Gutachten nicht nur
die Straflosigkeit festzustellen, sondern auch zu präzisieren hat, auf welcher Deliktsstufe die Strafbarkeit entfällt.
Folgt man der Vorsatztheorie oder der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, die die Rechtfertigungsgründe
als solche interpretiert, so entfällt wegen direkter Anwendung
des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB bereits der Vorsatz, wonach K also
unvorsätzlich gehandelt hätte. Zum Entfall des Vorsatzunrechts gelangt, mittels Analoganwendung des § 16 Abs. 1
S. 1 StGB, die vorsatzunrechtsverneinende eingeschränkte
Schuldtheorie. Nach der vorsatzschuldverneinenden eingeschränkten Schuldtheorie entfällt, ebenfalls durch Analoganwendung des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB, also unabhängig von der
Irrtumsvermeidbarkeit, die Vorsatzschuld, wonach K also
nicht schuldhaft gehandelt hätte.
18
Vgl. etwa OLG Hamm, NJW-RR 2001, 237 (238).
Umfassend und lehrreich mit Nachweisen Roxin (Fn. 8),
§ 13 Rn. 52-78; mit Hinweisen auf weitere Übungsfälle Kühl
(Fn. 8), § 13 Rn. 70-77.
20
Vgl. auch Kühl (Fn. 8), § 13 Rn. 66.
19
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ZJS 3/2016
372
Übungsfall: Die Sandviper
Nach der strengen Schuldtheorie ist der Erlaubnistatumstandsirrtum ein Unterfall des Verbotsirrtums, der nur bei
Unvermeidbarkeit die Schuld entfallen lässt (§ 17 S. 1 StGB).
K konnte in der akuten Situation und vor dem Hintergrund
der Fehlinformationen des A nicht erkennen, dass die Schlange harmlos war, weswegen ihr Irrtum unvermeidbar war, sie
also auch hiernach schuldlos handelte. K handelte also nach
allen Ansichten jedenfalls schuldlos.
5. Ergebnis
K ist nicht strafbar gemäß § 303 Abs. 1 StGB.
Hinweis: Entfällt die Strafbarkeit bezogen auf die Vorsatztat wegen Erlaubnistatumstandsirrtums, so ist prinzipiell an die Möglichkeit der Bestrafung bezogen auf eine
Fahrlässigkeitstat zu denken (falls man § 16 StGB direkt
oder analog anwendet, vgl. § 16 Abs. 1 S. 2 StGB!). Das
scheitert hier aber schon daran, dass die (einfache) fahrlässige Sachbeschädigung nicht strafbar ist; überdies war
der Irrtum der K auch unvermeidbar, also keine Sorgfaltspflichtverletzung.
II. Strafbarkeit des A nach §§ 303 Abs. 1, 25 Abs. 1 Alt. 2
StGB wegen des Berichts von der Gefährlichkeit der
Schlange und wegen seines Betretens des Zimmers hinter
der K
A könnte sich strafbar gemacht haben nach §§ 303 Abs. 1, 25
Abs. 1 Alt. 2 StGB, indem er der K gegenüber behauptete, in
der Wohnung befinde sich eine gefährliche Schlange, und
indem er gleich hinter ihr sein Zimmer betrat.
Hinweis: Die beiden Handlungen des A gehören funktional zusammen und begründen im Zusammenspiel die
kausale Herbeiführung der Handlung der K, weswegen sie
beide hier genannt werden sollten.
1. Objektiver Tatbestand
A führte die Sachzerstörung nicht unmittelbar durch die genannten Handlungen herbei. In Betracht kommt aber eine
mittelbare Tatbestandsverwirklichung, wenn nämlich der
Schlag der K, als Tatmittlerin, als erfolgskausale und zurechnungsbegründende Handlung (s.o. I. 1.) dem A zuzurechnen
ist.
Dazu müsste A den Schlag der K zunächst kausal durch
die genannten Handlungen herbeigeführt haben, die Handlungen dürften also nicht hinwegzudenken sein, ohne dass die
Handlung der K entfiele.21 Hätte A nicht der K suggeriert, die
Schlange sei gefährlich, und hätte er nicht sogleich nach ihr
sein Zimmer betreten und dadurch den Ausgang versperrt, so
hätte er sie nicht in eine Situation gebracht, in der sie sich nur
durch einen Schlag gegen die Schlange effektiv schützen zu
können glaubte. Nur wegen der irrigen Vorstellung von dieser Zwangslage schlug K aber zu, weswegen die geforderte
Kausalität besteht.
21
Vgl. Kühl (Fn. 8), § 4 Rn. 9.
STRAFRECHT
Das des Weiteren erforderliche Strafbarkeitsdefizit der K
besteht darin, dass sie bezogen auf ihr Zuschlagen wegen
Erlaubnistatumstandsirrtums straflos bleibt (s.o. I. 4.).
Schließlich müsste A eine mit dem genannten Strafbarkeitsdefizit korrelierende Tatherrschaft innegehabt haben, wobei
hier eine Steuerung des Geschehens durch planvoll lenkende
Wissensherrschaft in Betracht kommt.22 A wusste, dass die
Schlange ungefährlich war; im Gegensatz zu K konnte er also
den sozialen Sinngehalt der Situation erfassen, hatte also Tatherrschaft als mittelbarer Täter inne, erfüllte also den objektiven Tatbestand.
2. Subjektiver Tatbestand
A müsste vorsätzlich, das heißt wissentlich und willentlich
gehandelt haben. Im Zeitpunkt der genannten Handlungen
war A aber nicht davon ausgegangen, dass K die Schlange
erschlagen würde (sondern er glaubte, K würde zurückweichen oder erstarren). In diesem Zeitpunkt hatte er also keinen
Vorsatz bezogen auf den Tatbestandserfolg, erfüllte also den
subjektiven Tatbestand nicht.
3. Ergebnis
A hat sich nicht nach §§ 303 Abs. 1, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB
strafbar gemacht.
III. Strafbarkeit des A nach §§ 303 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB
wegen der Nichtaufklärung der K hinsichtlich der Ungefährlichkeit der Schlange
A könnte sich nach §§ 303 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB strafbar
gemacht haben, indem er die K, als sie zum Schlag ausholte,
nicht über die Ungefährlichkeit der Situation aufklärte.
1. Objektiver Tatbestand
A müsste zunächst durch sein Unterlassen den Tatbestandserfolg quasikausal herbeigeführt haben. Bei Hinzudenken der
ihm abgeforderten Handlung müsste also der Erfolg mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfallen.23 Hätte
A die K rasch über die Ungefährlichkeit der Schlange, also
der Gesamtsituation, aufgeklärt, hätte K, davon kann ausgegangen werden, nicht zugeschlagen, weswegen das Unterlassen des A quasikausal war.
Der Erfolg müsste auch dem A objektiv zurechenbar sein,
müsste sich also als Realisierung des von ihm gesetzten
rechtlich missbilligten Risikos darstellen.24 Hieran könnte
man zweifeln angesichts dessen, dass der Tötungserfolg kausal aus der vorsätzlichen Handlung der K resultierte, wodurch
die Zurechenbarkeit zulasten des A unterbrochen sein könnte.
Annehmen könnte man insofern, dass A allenfalls als mittelbarer Täter, also indem man ihm die Handlung der K nach
§ 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB zurechnet, tatbestandsmäßig handelte. Dieser – in ihrer Existenz umstrittenen – Konstruktion
bedarf es aber nicht, da der handlungspflichtige Unterlas22
Vgl. Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
45. Aufl. 2015, Rn. 776.
23
Vgl. Kühl (Fn. 8), § 18 Rn. 35 f.
24
Vgl. Rengier (Fn. 13), § 49 Rn. 24.
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373
ÜBUNGSFÄLLE
Georg Steinberg/Melanie Epe
sungstäter bereits durch sein Unterlassen selbst vorwerfbar
den Erfolg nicht verhindert. Mit anderen Worten besteht
seine Handlungspflicht gerade darin, dass er – selbst – die
von Dritten initiierten erfolgsverwirklichenden Kausalverläufe unterbricht. Dass K es war, die den Tatbestandserfolg
durch aktives Tun vorsätzlich herbeiführte, hindert also nicht
die objektive Zurechnung zulasten des A im Sinne unmittelbarer Unterlassungstäterschaft. Vielmehr realisierte sich die
Gefahr, die A durch sein Unterlassen setzte, dass nämlich K
aufgrund der fälschlich angenommenen Gefährlichkeit der
Schlange diese erschlagen würde, in diesem Kausalverlauf
und tatbestandsmäßigen Erfolg. Letzterer ist dem A also zurechenbar; er erfüllte den objektiven Tatbestand.
rantenstellungsbegründenden Tatumstände bewusst. A handelte demnach vorsätzlich, also subjektiv tatbestandsmäßig.
Hinweis: Siehe zu der Frage, ob in einer solchen Konstellation – der Garant unterlässt es pflichtwidrig, die vorsätzliche erfolgsverwirklichende Handlung eines anderen zu
verhindern – der Garant unmittelbarer oder mittelbarer
Unterlassungstäter ist, insbesondere Kühl (Fn. 8), § 20
Rn. 267 m.w.N. Selbstverständlich kann man auch die
Gegenauffassung vertreten, also den komplizierteren Weg
der mittelbaren Täterschaft durch Unterlassen gehen –
ohne dass dies in der Sache viel ändert. Honoriert wurde
es jedenfalls, wenn Bearbeiter/-innen Sensibilität in dieser
(Zurechnungs-)Frage zeigten.
IV. Endergebnis
K bleibt straflos; A ist strafbar nach §§ 303 Abs. 1, 13 Abs. 1
StGB.
3. Rechtswidrigkeit und Schuld
A handelte rechtswidrig und schuldhaft.
4. Strafantrag
Ein Strafantrag (vgl. § 303c StGB) ist gestellt.
5. Ergebnis
A hat sich nach §§ 303 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
Fraglich ist, ob A auch eine aus einer Garantenstellung folgende Handlungspflicht zur Erfolgsabwendung hatte. Dass A
und B gemeinsam in einer Wohnung lebten, begründete für
sich genommen noch keine Garantenstellung mit Blick auf
das in der Wohnung befindliche Eigentum des jeweils anderen.25 Eine Garantenstellung konnte sich indes aus Ingerenz,
also aus vorwerfbarem gefahrschaffenden Vorverhalten ergeben.26 Indem A nämlich der K die Gefährlichkeit der Schlange vorspiegelte und sie dann in eine räumliche Situation
brachte, in der sie sich für zur Gefahrenabwehr berechtigt
hielt, setzte er vorwerfbar die Gefahr, dass K die Schlange
töten würde. Hieraus resultierte seine Pflicht der Gefahrabwendung. Dieses pflichtwidrige Unterlassen ist auch einem
aktiven Tun gleichzustellen im Sinne von § 13 Abs. 1 (a.E.)
StGB. A verwirklichte den objektiven Tatbestand.
2. Subjektiver Tatbestand
A müsste vorsätzlich, also wissentlich und willentlich gehandelt haben. Der hier ausreichende Eventualvorsatz ist gegeben, wenn A die Tatbestandsherbeiführung in Kauf nahm,
nämlich als mögliches Resultat ernstnahm bzw. billigte.27 A
nahm – wegen seiner Neugier, was nun passieren werde –
hin, dass K die Schlange mit dem Kerzenständer attackieren
und womöglich töten würde. Auch erkannte A, dass er die K
am Zuschlagen hindern konnte, und ihm waren auch die ga-
25
Vgl. Fischer (Fn. 1), § 13 Rn. 46.
Stree/Bosch, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 13 Rn. 32; Fischer (Fn. 1), § 13
Rn. 47, 50; etwa auch Sowada, Jura 2003, 236 (237).
27
Fischer (Fn. 1), § 15 Rn. 9a-9e.
26
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ZJS 3/2016
374
BGH, Beschl. v. 18.6.2014 – III ZR 537/13
Strobel
_____________________________________________________________________________________
Entscheidungsbesprechung
Ansprüche der tatsächlichen Erben gegen einen vom
Scheinerben beauftragten Erbenermittler
Die tatsächlichen Erben können im Wege der Direktkondiktion von dem ihrerseits nicht beauftragten Erbenermittler den von diesem einbehaltenen Teil der Erbschaft
herausverlangen.
(Leitsatz des Verf.)
BGB §§ 683, 816 Abs. 1 S. 2
BGH, Beschl. v. 18.6.2014 – III ZR 537/13 (OLG Karlsruhe,
LG Baden-Baden)1
I. Einleitung
Der Beschluss des BGH, der die Beschwerde gegen die
Nichtzulassung der Revision durch das OLG Karlsruhe2
zurückweist, enthält inhaltlich nichts eigentlich Neues. Er
bestätigt jedoch die Rechtsprechung zu etwaigen Ansprüchen
sogenannter Erbenermittler gegenüber den tatsächlichen Erben. Diese Ansprüche beschäftigen nicht nur die Praxis immer wieder, sondern bieten sich auch für juristische Prüfungsarbeiten, namentlich die Fortgeschrittenenübung und
das Erste Staatsexamen, an, weil sie vom Studenten einen
Überblick über verschiedene Rechtsgebiete verlangen.
II. Sachverhalt
Die Erben des 1994 verstorbenen Erblassers waren zunächst
nicht bekannt, weshalb das Nachlassgericht eine öffentliche
Aufforderung im Bundesanzeiger erließ. Der Beklagte, ein
Erbenermittler, wurde daraufhin aus eigenem Antrieb tätig
und ermittelte zwei Personen als Erben (die Scheinerben).
Diese beiden Scheinerben vereinbarten mit dem Beklagten
ein Honorar von 25 Prozent des Wertes des etwaigen jeweiligen Erbteils, wobei galt: „[...] sofern keine Vermögenswerte
zur Auszahlung gelangen bzw. auch keine Vermögenswerte
übernommen werden, entfällt jeglicher Anspruch auf Vergütung und Auslagenersatz.“ Den Scheinerben wurde 2010 ein
Erbschein erteilt. Der Beklagte übernahm treuhänderisch die
Abwicklung des Erbfalles, legte den Scheinerben gegenüber
Rechnung und kehrte im April 2011 unter einverständlichem
Einbehalt seiner 25 Prozent (entsprechend 66.119,53 €) den
übrigen Wert der Erbschaft an die Scheinerben aus. Im Juni
2011 zog das Nachlassgericht den Erbschein wegen offensichtlicher Unrichtigkeit ein, weil die Klägerinnen als die
wahren Erben ermittelt worden waren.
Die Klägerinnen verlangten vom Beklagten die Zahlung
von 66.119,53 €.
Nachdem das Landgericht3 der Klage stattgegeben hatte,
wies das OLG Karlsruhe die Berufung des Beklagten zurück
und ließ die Revision nicht zu. Der Beklagte versuchte nun
sein Glück mit der Nichtzulassungsbeschwerde vor dem
BGH (§ 544 ZPO), die dieser – zu Recht - zurückwies, weil
die Sache weder grundsätzliche Bedeutung hatte noch die
Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts
erforderte (§ 543 Abs. 2 S. 1 ZPO). Damit war das Urteil
rechtskräftig, § 544 Abs. 5 S. 2 ZPO.
III. Die Entscheidung
Entsprechend dem prozessualen Rahmen (Beschluss über die
Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde) sind die
Ausführungen des BGH knapp, so dass immer auch ein Blick
auf das Berufungsurteil angebracht ist:
Das Berufungsgericht wendet sich sogleich § 816 Abs. 1
S. 2 BGB in entsprechender Anwendung zu und bejaht dessen Voraussetzungen: Die Scheinerben sind als Nichterben
Nichtberechtigte. Ihre Verfügung ist gegenüber den Klägerinnen wirksam: Die Verfügung als solche liege darin, dass
die Scheinerben im April 2011 gegenüber dem Erbenermittler
auf die Auszahlung der 66.119,53 € verzichteten; die Wirksamkeit der Verfügung folge aufgrund des den Scheinerben
im April 2011 noch ausgehändigten Erbscheins aus § 2366
BGB, überdies liege regelmäßig in der uneingeschränkten
Klageerhebung des Berechtigten auf Herausgabe des durch
die Verfügung Erlangten die Genehmigung, sofern der Genehmigende die Unwirksamkeit des Geschäfts gekannt oder
zumindest mit einer solchen Möglichkeit gerechnet hat.4
Sodann5 begründet das OLG Karlsruhe, warum es § 816
Abs. 1 S. 2 BGB entsprechend heranzieht: Die Verfügung der
nichtberechtigten Scheinerben gegenüber dem Beklagten sei
rechtsgrundlos erfolgt und dieser Fall stehe hier der Unentgeltlichkeit des § 816 Abs. 1 S. 2 BGB gleich: Zunächst
werden die zwei denkbaren Möglichkeiten dargestellt: erstens
die sogenannte Direktkondiktion der Erbinnen gegen den
beklagten Erbenermittler, zweitens die sogenannte Doppelkondiktion, bei welcher die Klägerinnen (nach § 816 Abs. 1
S. 1 BGB) lediglich bei den Scheinerben kondizieren können
und Gegenstand dieser Kondiktion wiederum der Bereicherungsanspruch der Scheinerben gegen den Erbenermittler ist.
Die Lösung für den vorliegenden Fall sieht das OLG Karlsruhe in Parallele zu einer BGH-Entscheidung aus dem Jahre
19626 in der erstgenannten Direktkondiktion und zieht hierfür
ohne weitere dogmatische Erläuterung § 816 Abs. 1 S. 2
BGB entsprechend heran.
Anschließend wird ausgeführt, dass im vorliegenden Fall
die Zahlung des Honorars durch die Scheinerben an den
Beklagten rechtsgrundlos geschah: Entgegen der Argumentation des Beklagten, nach dem Wortlaut seiner Vereinbarung
mit den Scheinerben genüge bereits die zunächst erfolgte
1
Die Entscheidung ist abrufbar unter
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/docu
ment.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=68279&pos=0&anz=1
(23.5.2016).
2
OLG Karlsruhe, Urt. v. 5.7.2013 - 15 U 174/12 = BeckRS
2014, 14364.
3
LG Baden-Baden, Urt. v. 19.11.2012 - 4 O 55/12.
Hier bezieht sich das OLG Karlsruhe auf die st. Rspr. des
BGH, vgl. zuletzt BGH NJW-RR 2009, 705.
5
BeckRS 2014, 14364 unter II. 1. c).
6
BGHZ 37, 363 = NJW 1962, 1671.
4
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BGH, Beschl. v. 18.6.2014 – III ZR 537/13
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Auszahlung von Vermögen aus der Erbschaft an die Scheinerben ohne Rücksicht auf deren Dauerhaftigkeit, um seinen
Vergütungsanspruch auszulösen, sei interessengerecht einzig
eine Vereinbarung, die eine Vergütung nur bei tatsächlicher
Erbenstellung der Scheinerben vorsieht.7
Abschließend8 geht das OLG Karlsruhe in losem Anschluss auf mögliche Gegenansprüche des Beklagten gegen
die Klägerinnen ein und verneint diese: Mangels vertraglicher
Ansprüche zwischen Beklagtem und den Klägerinnen kämen
einzig Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag in Betracht, die aber nicht gegeben seien: Nach st. Rspr. des BGH9
seien die Vorschriften der §§ 677 ff. BGB nach der Risikozuordnung des Privatrechts auf derartige Fallgestaltungen von
vornherein nicht anwendbar.
Der BGH akzeptiert diese Argumentation als rechtsfehlerfrei.10
IV. Würdigung
Den Entscheidungen des OLG Karlsruhe und des BGH ist im
Ergebnis zuzustimmen. Einzig über die analoge Anwendung
des § 816 Abs. 1 S. 2 BGB kann man streiten; denkbar und
vorzugswürdig ist nämlich, dasselbe Ergebnis über § 812
Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB (Nichtleistungskondiktion in Form
der Generalklausel der Eingriffskondiktion) zu erreichen.
1. Relevanz für die Ausbildung
Für die Klausur ist zunächst festzuhalten, dass die prozessuale Einkleidung in eine Nichtzulassungsbeschwerde im Studium wohl nicht zu erwarten ist. Reizvoll ist indes die vorliegende Konstellation in materiell-rechtlicher Hinsicht: Man
kann nämlich, statt wie üblich die Frage eines Anspruchs
eines Erbenermittlers gegen den tatsächlichen Erben zu prüfen, eine „verschachtelte“ Prüfung verlangen: Der Erbenermittler hält einen Teil des Wertes der Erbschaft zurück und es
sind nun Ansprüche der tatsächlichen Erben gegen den Erbenermittler zu prüfen. In der Sache stellen sich in beiden
Fällen dieselben Probleme, bei der zweitgenannte Fragestellung muss man aber etwas mehr „um die Ecke denken“.
2. Arbeitsweise des Erbenermittlers
Zum besseren Verständnis sei kurz die Vorgehensweise sogenannter Erbenermittler erläutert: Bei diesen handelt es sich
um Privatpersonen, die in Fällen, in denen der Erbe zunächst
unbekannt ist, eigenständig den Erben ermitteln. Sie treten
sodann an den so ermittelten Erben heran und überraschen
ihn mit der schlichten Nachricht, dass er geerbt habe. Erblasser und genauere Umstände werden indes nur bei Abschluss
7
OLG Karlsruhe, BeckRS 2014, 14364 unter II. 1. c) bb),
ebenso der BGH, Beschl. v. 18.6.2014 – III ZR 537/13,
Rn. 5. Das sollte sich eigentlich von selbst verstehen, aus
Sicht des Beklagtenanwalts ist die gegenteilige Argumentation indes nachvollziehbar.
8
OLG Karlsruhe, BeckRS 2014, 14364 unter II. 2.
9
Grundlegend BGH NJW 2000, 72; ferner BGH NJW-RR
2006, 656.
10
BGH, Beschl. v. 18.6.2014 – III ZR 537/13, Rn. 3-5.
einer Honorarvereinbarung (die regelmäßig zwischen 10 und
40 Prozent des Wertes des Erbteils umfasst) offenbart. Es
gibt nun immer wieder Fälle, in denen die Erben den Abschluss dieser Vereinbarung verweigern und stattdessen auf
eigene Faust (oder mit anderweitiger Unterstützung) den
Erblasser ermitteln. In solchen Fällen stellt sich die Frage, ob
die Erbenermittler dennoch ein Honorar vom Erben verlangen können.
3. Ansprüche eines Erbenermittlers
In Betracht kommen mangels vertraglicher Vereinbarung nur
Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag und Bereicherungsrecht. Bei den Ansprüchen aus Geschäftsführung ohne
Auftrag (d.h.: §§ 670, 683 S. 1, 677 BGB oder §§ 684 S. 1,
812 BGB), hängt alles davon ab, ob man diese Normen überhaupt als anwendbar betrachtet beziehungsweise ob gegebenenfalls der sogenannte Fremdgeschäftsführungswille vorliegt. Denn man darf nie aus den Augen lassen, dass die
§§ 677 ff. BGB eine grundsätzlich eng zu verstehende Notordnung für altruistisches Handeln darstellen.
Der BGH, der die §§ 677 ff. BGB sonst systemwidrig
weit ausdehnt,11 verneint in den Erbensucherfällen in st. Rspr.
– anders als etwa Gerichte in anderen europäischen Ländern
– jegliche Ansprüche, mit der knappen – und richtigen –
Begründung, die §§ 677 ff. BGB und die §§ 812 ff. BGB
seien von vornherein nicht anwendbar:12 Dies gebiete die in
der Privatautonomie wurzelnde Risikoverteilung, wonach
Aufwendungen im Vorfeld eines Vertragsschlusses unvergütet bleiben; diese Wertung dürfe nicht durch Aufwendungsersatzansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag oder durch
Ansprüche aus Bereicherungsrecht unterlaufen werden. Die
Literatur folgt dem im Wesentlichen,13 zum Teil wird als
Begründung der Fremdgeschäftsführungswille verneint.14 Der
Ansicht des BGH ist zuzustimmen: Denn wenngleich dies für
den Erbensucher, der zugegebenermaßen mitunter eine sozial
wünschenswerte Funktion erfüllen kann, eine Härte darstellen
kann, so darf doch der tatsächliche Erbe nicht in eine Vergütungspflicht hineingedrängt werden; zudem drohten diesem
im Extremfall Ansprüche mehrerer Erbensucher.
11
Man denke namentlich an die Rückabwicklung nichtiger
Verträge, auf die der BGH unter starker Kritik der Literatur
weiter die §§ 677 ff. BGB anwendet, vgl. nur Sprau, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 73. Aufl. 2014, § 677 Rn. 11.
12
Diese Lösung des BGH ist radikal; sie versteht sich am
besten vor dem prozessualen Hintergrund: Hätte der BGH die
Anwendbarkeit der §§ 677 ff. BGB bejaht, so hätte nach
seiner Rechtsprechung bei dem sodann in Betracht kommenden sogenannten auch-fremden Geschäft die Darlegungs- und
Beweislast beim Erben dafür gelegen, dass der Erbenermittler
ausschließlich für sich selbst (und nicht für den Erben) handeln wollte. Das darzulegen und zu beweisen wäre fast ein
Ding der Unmöglichkeit!
13
Zum Beispiel Seiler, in: Münchener Kommentar zum
BGB, 6. Aufl. 2012, § 677 Rn. 12; Bergmann, in: Staudinger,
Kommentar zum BGB, 2006, Vorbemerkungen zu §§ 677 ff.
Rn. 205.
14
So wohl Schulze, JZ 2000, 523 (524).
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Für die Klausur empfiehlt es sich, dem BGH zu folgen;
die gegenteilige Ansicht15, die die §§ 677 ff. BGB anwenden
und den Fremdgeschäftsführungswillen bejahen möchte,
dürfte jedoch nicht unvertretbar sein, sie erfordert allerdings
eine vertiefte Auseinandersetzung mit soeben skizzierten
überwiegenden Meinung.
Bereicherungsrechtliche Ansprüche werden vom BGH
mit derselben Begründung abgelehnt.
4. Die gutachterliche Lösung des Sachverhalts
Mit diesem Hintergrundwissen ist das Ergebnis für den vorliegenden Fall klar: Die tatsächlichen Erben müssen letztlich
den vom Erbensucher einbehaltenen Wert zurückerhalten.
Nicht selbstverständlich ist jedoch, von wem, d.h.: vom beklagten Erbenermittler oder doch von den Scheinerben? Folglich muss man bei dem materiell-rechtlichen Gutachten sorgfältig vorgehen.
Sind - wie hier - die Ansprüche der tatsächlichen Erbinnen gegen den Erbenermittler gefragt, so ist zunächst kurz
festzuhalten, dass vertragliche Ansprüche ausgeschlossen
sind, weil zwischen den tatsächlichen Erben und dem Erbenermittler keinerlei vertragliche Beziehung besteht; der Vertrag ist ja nur zwischen dem Erbenermittler und den Scheinerben geschlossen. Damit verbleiben nur noch vertragsähnliche und gesetzliche Ansprüche.
Bei den vertragsähnlichen Ansprüchen kann man ganz
kurz festhalten, dass ein Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311
Abs. 2 Nrn. 1-3 BGB nicht in Betracht kommt: Es fehlt an
jeglichem relevanten Vorverhalten der tatsächlichen Erbinnen.
Ansprüche aus §§ 667, 681 S. 1, 677 BGB beziehungsweise §§ 667, 681 S. 2, 687 Abs. 2 S. 1 BGB kommen schon
deshalb nicht in Betracht, weil eben die Vorschriften der
Geschäftsführung ohne Auftrag schon gar nicht anwendbar
sind; hierzu ist das soeben unter 3. Gesagte auszuführen,
wonach die vorvertragliche Risikoverteilung des BGB nicht
durch die Anwendung der §§ 677 ff. BGB unterlaufen werden darf.
Anschließend gelangt man zum Schwerpunkt der Prüfung: zu den bereicherungsrechtlichen Ansprüchen: Zunächst
gilt es kurz, die Leistungskondiktion des § 812 Abs. 1 S. 1
Alt. 1 BGB zu verneinen: es fehlt an jeglicher Leistung im
Sinne bewusster und zweckgerichteter Vermehrung fremden
Vermögens16 von Seiten der tatsächlichen Erbinnen gegenüber dem beklagten Erbenermittler.
Damit kommt man zu den Nichtleistungskondiktionen,
bei denen § 816 BGB grundsätzlich § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2
BGB vorgeht: Hier empfiehlt es sich, zunächst festzustellen,
dass § 816 Abs. 1 S. 1 BGB nicht einschlägig ist, weil vorliegend Ansprüche der tatsächlichen Erbinnen gegen den Er15
Hoppe/Spoerr/Niewerth, StAZ 1998, 65 (69 ff.) und
Dornis, JZ 2013, 592.
16
Diese Standarddefinition des herrschenden zweigliedrigen
Leistungsbegriffs muss jedem geläufig sein; es wird nachhaltig empfohlen, diese Definition jeder bereicherungsrechtlichen Klausur zugrunde zu legen. Siehe dazu nur Medicus/
Lorenz, Schuldrecht II, 16. Aufl. 2012, S. 406.
benermittler (und nicht gegen die Scheinerben) geprüft werden. Dann gilt es klarzustellen, dass § 816 Abs. 1 S. 2 BGB
nicht direkt anwendbar ist: Es fehlt jedenfalls an der Unentgeltlichkeit der Verfügung der Scheinerben gegenüber dem
beklagten Erbenermittler.
Nun stellt sich die Frage, ob man in solchen Fällen wie
der BGH § 816 Abs. 1 S. 2 BGB analog anwendet, indem
man den rechtsgrundlosen dem unentgeltlichen Erwerb
gleichstellt, oder stattdessen auf § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB
und damit auf die Generalklausel der Nichtleistungskondiktionen rekurriert. Im Ergebnis hat das regelmäßig keine Auswirkungen, dogmatisch vorzugswürdig ist jedoch Zweiteres,
wonach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB heranzuziehen ist:
Denn eine analoge Anwendung wie hier die des § 816 Abs. 1
S. 2 BGB setzt immer eine planwidrige Regelungslücke voraus; an dieser aber fehlt es in Fällen wie dem vorliegenden,
weil eben mit § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB eine Vorschrift
existiert. Die Analogie ist damit unnötig.
Prüft man nun die Voraussetzungen des § 812 Abs. 1 S. 1
Alt. 2 BGB, so ergibt sich: Erlangt hat der beklagte Erbenermittler mit der eigenen Kontogutschrift in Höhe von
66.119,53 € „etwas“ im Sinne des § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2
BGB. Das müsste weiter „in sonstiger Weise auf Kosten“ der
Klägerinnen geschehen sein. An dieser Stelle gilt es nun
besonders genau zu arbeiten, denn nun entscheidet sich, ob
die Klägerinnen direkt gegen den beklagten Erbenermittler
vorgehen können oder vielmehr den Umweg über eine Kondiktion bei den Scheinerben gehen müssen. Hier empfiehlt es
sich, in einem ersten Schritt das Merkmal „in sonstiger Weise“ dahingehend zu definieren, dass grundsätzlich das Erlangte etwas nicht Gegenstand einer vorrangigen Leistung
(gleich von wem) gewesen sein darf.17 Das wäre hier an sich
der Fall: Der beklagte Erbenermittler erhielt die 66.119,53 €
leistungsweise von den Scheinerben; Folge wäre an sich, dass
die Rückabwicklung „übers Eck“ erfolgte, indem die tatsächlichen Erbinnen lediglich bei den Scheinerben gemäß § 816
Abs. 1 S. 1 BGB kondizieren und sich damit nur deren Bereicherungsanspruch18 gegen den Erbenermittler abtreten lassen
könnten (sog. Doppelkondiktion).
Jedoch - und das ist der zweite Schritt - ist in solchen
Dreiecksfällen anerkannt, dass der Vorrang der Leistungskondiktion kein starres Schema darstellt (in den Worten des
BGH: „entzieht sich jeder schematischen Betrachtung“19),
sondern im Einzelfall überwunden werden kann. Mit anderen
Worten: In manchen Fällen ist es sachgerecht, eine Direktkondiktion (sog. Einheitskondiktion) zuzulassen. Die Kriterien sind im Allgemeinen nicht vollständig klar, was daran
17
Man spricht insoweit auch vom Vorrangs- oder Subsidiaritätsprinzip. Dieses Prinzip gilt freilich nur im Zweipersonenverhältnis ohne Einschränkung, im Mehrpersonenverhältnis
ist es nicht zwingend geboten. Gleichwohl ist die Wertung
grundsätzlich auch auf Mehrpersonenverhältnisse übertragbar; gegebenenfalls ist diese Wertung allerdings zu korrigieren (siehe sogleich im Text). Vgl. zum Ganzen Medicus/
Petersen, Bürgerliches Recht, 22. Aufl. 2009, Rn. 727.
18
Aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB.
19
BGH, Beschl. v. 18.6.2014 – III ZR 537/13, Rn. 4.
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BGH, Beschl. v. 18.6.2014 – III ZR 537/13
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liegt, dass die Entscheidung weitgehend vom Einzelfall abhängt. Relevant sind, in den Worten des BGH, „Vertrauensschutz und [...] Risikoverteilung“20 oder als Faustregel in den
Worten Canaris’: „Den Parteien des fehlerhaften Kausalverhältnisses sollen möglichst ihre Einwendungen und Einreden
gegen den anderen Teil erhalten bleiben; umgekehrt sollen
die Parteien vor Einwendungen aus dem Verhältnis ihres
Vertragspartners zu einem Dritten [...] bewahrt werden; jede
Partei soll das und nur das Konkursrisiko hinsichtlich ihres
Partners in dem fehlerhaften Kausalverhältnis tragen.“21 Im
vorliegenden Fall ist die Entscheidung einigermaßen einfach:
Der beklagte Erbenermittler steht durch die Direktkondiktion
von Seiten der klagenden tatsächlichen Erbinnen nicht
schlechter, als er bei einer Kondiktion von Seiten der Scheinerben stünde: Denn auch gegenüber der Kondiktion der
Scheinerben könnte er nichts einwenden, weil er gegen die
Scheinerben keinerlei Anspruch hat, weder aus Vertrag22
noch sonstiger Art. Folglich ist die Direktkondiktion der tatsächlichen Erbinnen gegen den beklagten Erbenermittler hier
der Einfachheit halber zulässig.
Auch die sonstigen Voraussetzungen des § 812 Abs. 1
S. 1 Alt. 2 BGB sind gegeben: Die Bereicherung des Erbenermittlers geschah auf Kosten der tatsächlichen Erbinnen,
weil im Widerspruch zum wirtschaftlichen Zuweisungsgehalt
der Position der Erbinnen.23 Ein Rechtsgrund zum Behaltendürfen liegt nicht vor, denn nach dem oben Gesagten besteht
insbesondere kein Anspruch aus Vertrag oder Geschäftsführung ohne Auftrag. Damit muss der Erbenermittler als
Rechtsfolge (§ 818 Abs. 2 BGB) einen dem von ihm zurückbehaltenen Wert entsprechenden Geldbetrag an die tatsächlichen Erbinnen zahlen, d.h. 66.119,53 €.
V. Fazit
Der Entscheidung des BGH, der hier seine Rechtsprechung
zu den Erbenermittlern konsequent fortsetzt, ist zuzustimmen. Allerdings ist als Rechtsgrundlage für die Rückforderung im Wege der Direktkondiktion richtigerweise § 812
Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB heranzuziehen.
Akad. Rat a.Z. Dr. iur. Benedikt Strobel, München
20
BGH, Beschl. v. 18.6.2014 – III ZR 537/13, Rn. 4.
Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II/2, 13. Aufl.
1994, S. 247.
22
Insbesondere ist nach dem oben Gesagten (III.) die Vergütungsvoraussetzung mangels tatsächlicher Erbenstellung der
Scheinerben nicht erfüllt.
23
Zu dieser sogenannten Zuweisungslehre siehe nur Medicus/
Petersen (Fn. 17), Rn. 704 ff.
21
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BGH, Urt. v. 18.12.2015 – V ZR 160/14
Giesen
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Entscheidungsbesprechung
Anspruch auf Unterlassen gegen den Fahrzeughalter als
Zustandsstörer aus verbotener Eigenmacht
1. Bei einem Vertrag über die kurzzeitige Nutzung eines
jedermann zugänglichen privaten Parkplatzes ist eine unbedingte Besitzverschaffung durch den Parkplatzbetreiber nicht geschuldet. Macht er das Parken von der Zahlung der Parkgebühr und dem Auslegen des Parkscheins
abhängig, begeht derjenige verbotene Eigenmacht, der
sein Fahrzeug abstellt, ohne sich daran zu halten.
2. Hat ein Fahrzeughalter sein Fahrzeug einer anderen
Person überlassen, kann er als Zustandsstörer unter dem
Gesichtspunkt der Erstbegehungsgefahr auf Unterlassung
in Anspruch genommen werden, wenn er auf die Aufforderung des Parkplatzbetreibers, den für eine Besitzstörung verantwortlichen Fahrer zu benennen, schweigt.
3. Dem Parkplatzbetreiber steht gegen den als Zustandsstörer auf Unterlassung in Anspruch genommenen Fahrzeughalter kein Anspruch auf Erstattung der Kosten der
Halteranfrage zu (insoweit Aufgabe von Senat, Urteil vom
21. September 2012 – V ZR 230/11, NJW 2012, 3781
Rn. 13).
(Amtliche Leitsätze)
BGB § 858 Abs. 1
BGH, Urt. v. 18.12.2015 – V ZR 160/14 (LG Regensburg, AG
Regensburg)1
I. Einleitung
In der vorliegenden Entscheidung setzt der BGH seine bisherige Rspr. hinsichtlich der Wertung von „Falschparken“ als
verbotene Eigenmacht fort.2 Auch die Inanspruchnahme des
Fahrzeughalters als Zustandsstörer ist nicht neu; eher ungewöhnlich ist hingegen, dass die Klägerin den Beklagten nicht
auf Ersatz entstandener Abschleppkosten, sondern auf künftiges Unterlassen gem. § 862 Abs. 1 S. 2 BGB in Anspruch
nimmt. Abweichend von seiner bisherigen Ansicht3 verwehrt
der BGH der Klägerin den Ersatz der Kosten für die Halterfeststellung.
II. Sachverhalt
Die Klägerin betreibt einen privaten Parkplatz, auf welchem
durch Beschilderung auf die Vertragsbedingungen hingewiesen wird. Ausweislich dieser ist jeder Nutzer verpflichtet,
einen Parkschein zu erwerben und diesen gut sichtbar hinter
der Windschutzscheibe seines Wagens anzubringen. Sofern
diesem nicht folgegeleistet oder die erlaubte Parkzeit um
1
Die Entscheidung ist abrufbar unter
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/docu
ment.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=3c350a70c433bbd70ad4
2411a4029b62&nr=73509&pos=0&anz=1 (21.5.2016).
2
Vgl. bereits BGH NJW 2014, 3727 m.w.N.
3
BGH NJW 2012, 3781 (3782 Rn. 13).
mehr als 15 Minuten überschritten wird, wird ein erhöhtes
Entgelt i.H.v. 20 € fällig.
Der Beklagte ist Halter eines Pkw, welcher auf dem Parkplatz der Klägerin ohne Anbringung eines gültigen Parkscheines abgestellt wurde. Auf eine durch die Klägerin am
Fahrzeug angebrachte Aufforderung zur Zahlung von 20 €
wurde nicht geleistet. Die Klägerin ermittelte den Halter und
forderte ihn vergeblich zur Nennung des Fahrers oder Zahlung der 20 € zzgl. der Kosten zur Halterermittlung auf. Nach
weiterhin erfolgloser Aufforderung zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung erhob die Klägerin Klage
und beantragte, den Beklagten zu verurteilen, es unter Meidung eines Ordnungsgeldes i.H.v. 600 € zu unterlassen, seinen Wagen unberechtigt auf ihrem Parkplatz abzustellen oder
abstellen zu lassen. Zudem verlangt sie Ersatz der Halterermittlungskosten i.H.v. 5,65 €.
III. Inhalt der Entscheidung und kritische Würdigung
Damit die Klägerin einen Anspruch aus § 862 Abs. 1 S. 2
BGB geltend machen kann, müsste der Beklagte verbotene
Eigenmacht im Sinne von § 858 Abs. 1 BGB begangen haben
und eine Wiederholungsgefahr gegeben sein. Zunächst ist
hierbei zu erörtern, dass der zwischen Klägerin und dem
Fahrzeugführer bestehende Mietvertrag nicht die verbotene
Eigenmacht ausschließt.
1. Mietvertrag und verbotene Eigenmacht
Verbotene Eigenmacht begeht derjenige, der dem Besitzer
den Besitz entzieht oder ihn in diesem stört, ohne hierzu
berechtigt zu sein (§ 858 Abs. 1 BGB). Eine solche Berechtigung kann sich aus dem Einverständnis des Besitzers oder
aber aus Gesetz ergeben.
Vorliegend besteht zwischen der Klägerin und dem Fahrzeugführer ein Mietvertrag, zustande gekommen durch das
Bereitstellen des Parkplatzes als Realofferte und der konkludenten Annahme im Sinne von § 151 S. 1 BGB durch das
Abstellen des Wagens. Im Rahmen eines Mietvertrages
schuldet der Vermieter die unbedingte Besitzeinräumung
gegenüber dem Mieter (§ 535 Abs. 1 S. 1 BGB), welcher zur
Entgeltentrichtung verpflichtet ist (§ 535 Abs. 2 BGB). Von
Vermieterseite liegt folglich eine (unbedingte) Einwilligung
in die Inbesitznahme durch den Mieter vor. Die Nichtzahlung
des Mietzinses durch den Mieter stellt somit zwar einen Verstoß gegen seine schuldrechtlichen Pflichten, nicht aber verbotene Eigenmacht dar.
Bezüglich der Vermieterpflichten muss jedoch bei Kurzzeitparkflächen eine Einschränkung gemacht werden. Üblicherweise sucht sich der Vermieter den Mieter aus, bevor er
diesem den Besitz überlässt. Da es bei der Parkplatzüberlassung als anonymem Massengeschäft hierzu nicht kommt,
muss dem Vermieter eine anderweitige Möglichkeit gegeben
werden, seinen Anspruch auf Mietzinszahlung abzusichern.
Durch das Bereitstellen des Parkplatzes erfüllt die Klägerin
ihre (schuldrechtliche) Pflicht zur Besitzverschaffung, die
Einwilligung zur (dinglichen) Besitzüberlassung steht jedoch
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BGH, Urt. v. 18.12.2015 – V ZR 160/14
Giesen
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unter der Bedingung4 der Entgeltentrichtung. Soweit also der
Fahrzeugführer das Entgelt nicht zahlt, besteht keine Einwilligung im Sinne von § 858 Abs. 1 BGB, sodass er verbotene
Eigenmacht begeht.
2. Fahrzeughalter als Zustandsstörer
Die Klägerin nimmt den Beklagten – welcher die verbotene
Eigenmacht weder selbst noch mittelbar begangen hat, somit
also kein Handlungsstörer ist – als Zustandsstörer in Anspruch. Dies setzt voraus, dass „die Störung von einer Störungsquelle […] ausgeht, die er beherrscht, so daß [sic] der
störende Zustand mittelbar auf seinen Willen zurückzuführen
ist“5 und ihm die Beeinträchtigung zuzurechnen ist. Dieser
Wille ist nach wertender Betrachtung im Einzelfall zu ermitteln, wobei es darauf ankommt, „ob es Sachgründe dafür gibt,
dem Eigentümer oder Nutzer der störenden Sache die Verantwortung für ein Geschehen aufzuerlegen“6.
Der BGH sieht eben diese Zurechnung darin, dass der
Beklagte als Halter alleinig über die Nutzung des Fahrzeugs
bestimmen darf7 und dieses dem Falschparker (wohl freiwillig) zum Gebrauch überlassen hat.8 Bereits zuvor wurde vom
BGH argumentiert, das Falschparken sei „kein außergewöhnliches Verhalten eines Verkehrsteilnehmers […], mit dem der
Halter nicht zu rechnen [habe]“9, sodass ihm ein derartiges
Verhalten zuzurechnen sei.
Diese Auffassung muss auf Kritik stoßen. Unproblematisch ist es zwar, den Halter als Beherrscher seines Wagens
als Störungsquelle anzusehen; die Zurechnung von Verkehrsverstößen lässt sich jedoch nicht überzeugend begründen.
Derjenige, welcher einem anderen eine Sache zum Gebrauch
überlässt, wird – soweit sich nicht wenigstens aus dem Kontext etwas anderes ergibt – davon ausgehen, dass dieser mit
der Sache ordnungsgemäß verfährt. Hierzu zählt bei einem
Kfz, dass der Fahrer dieses nur in erlaubter Weise abstellt.10
Soweit der Halter keinerlei Anzeichen für einen Verstoß
sehen muss, etwa ein zuvor erfolgtes Falschparken oder die
generelle Unzuverlässigkeit des Entleihers, braucht er sich
das Verhalten des Handlungsstörers nicht zurechnen zu lassen.
3. Wiederholungsgefahr
Soweit eine Störung beseitigt ist, kann ein Anspruch auf
Unterlassung nur statthaft sein, wenn es wahrscheinlich ist,
dass diese erneut auftreten wird (Wiederholungsgefahr). In
hiesiger Entscheidung sieht der BGH bereits in dem erstmaligen unberechtigten Abstellen ein Indiz für eine solche Ge4
Die rechtliche Einordnung ist str. aber unerheblich, vgl.
Gutzeit, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2012, § 585
Rn. 20 m.w.N.
5
Gutzeit (Fn. 4), § 862 Rn. 9.
6
BGH, Urt. v. 18.12.2015 – V ZR 160/14, Rn. 21.
7
Nicht wie der BGH meint „bestimmen kann“!
8
Vgl. bereits BGH NJW 2012, 3781 m.w.N.
9
BGH NJW 2012, 3781; anders aber LG München I DAR
2009, 591.
10
So auch Woitkewitsch, MDR 2005, 1023 (1026); a.A.
Schwarz/Ernst, NJW 1997, 2550 (2551 m.w.N.).
fahr.11 Dies kann zwar nicht unmittelbar für den Halter gelten, da dieser selbst die Störung nicht begangen hat; ein
Unterlassungsanspruch ist jedoch auch dann möglich, wenn
künftige Besitzstörungen aufgrund wertender Betrachtung als
wahrscheinlich anzusehen sind.12 Anhaltspunkt hierfür kann
insbesondere sein, dass (wie hier) der Halter dem Verlangen
des Parkplatzinhabers nicht nachkommt, den Handlungsstörer
zu benennen.
Dem steht auch nicht entgegen, dass der Parkverstoß als
geringfügig einzustufen ist. Der BGH erblickt hierin vielmehr
ein Argument für das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr,
da ein solch geringfügiger Parkverstoß nicht unüblich sei.
Diesem letzten Argument muss entgegengehalten werden,
dass die Bezeichnung als „gering“ zweifelhaft scheint. Dies
wäre möglicherweise dann der Fall, wenn der Fahrer die erlaubte Parkzeit unwesentlich – also nur um wenige Minuten –
überschritten hätte; vorliegend hat er jedoch gar kein Parkticket gelöst.
Im Übrigen kann an das oben Gesagte angeschlossen
werden: allein aus der Tatsache, dass ein Parkverstoß kein
außergewöhnliches Verhalten im Straßenverkehr darstellt,
kann kein Rückschluss auf den Einzelfall gezogen werden.
Mit ebendieser Argumentation könnte man einen Unterlassungsanspruch gegen den Halter eines jeden Fahrzeuges begründen.
Die Wiederholungsgefahr kann somit allein auf die Weigerung des Halters, den Fahrer zu nennen, gestützt werden.
4. Ersatz der Halterermittlungskosten
Da für die Klägerin zur Ermittlung des Beklagten eine Halterabfrage notwendig war, verlangt sie den Ersatz der hieraus
entstandenen Kosten i.H.v. 5,10 € gem. Nr. 141.3 Anl. zu § 1
GebOSt zzgl. Porto.
Vertragliche Ansprüche scheiden aus, da der Mietvertrag
nicht zwischen der Klägerin und dem Beklagten, sondern mit
dem Fahrer zustande gekommen ist.
In einer früheren Entscheidung hatte der BGH dem Begehren nach der Erstattung der Kosten für die Halterermittlung noch gestützt auf §§ 683, 677, 670 BGB – jedoch ohne
Begründung – stattgegeben.13 Ein derartiger Erstattungsanspruch setzt voraus, dass die Übernahme der Geschäftsführung dem Interesse und dem tatsächlichen oder mutmaßlichen
Willen des Geschäftsherrn entspricht. Dies hatte der BGH
zuvor, gestützt auf die Argumentation des I. Senats14, darin
gesehen, dass die Kosten zur Vorbereitung der Unterlassungsaufforderung erforderlich waren und dies auch dem
Willen des Halters entspreche.
Das Problem hierbei liegt darin, dass der I. Senat in einem
Fall wettbewerblicher Abmahnung geurteilt hatte. Hierbei
kann die Ermittlung des „Störers“ dessen Interesse und mutmaßlichen Willen entsprechen, da er hierdurch die Möglichkeit erhält, die Beeinträchtigung zu beseitigen und so einen
11
BGH, Urt. v. 18.12.2015 – V ZR 160/14, Rn. 25 m.w.N.
Joost, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013,
§ 862 Rn. 3.
13
BGH NJW 2012, 3781 (3782 Rn. 13).
14
BGH GRUR 2012, 759.
12
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BGH, Urt. v. 18.12.2015 – V ZR 160/14
Giesen
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kostenaufwendigen Rechtsstreit zu umgehen. Gerade dies ist
jedoch – so nun der V. Senat15 – bei der Ermittlung des Fahrzeughalters nicht der Fall. Es entspreche nicht seinem Interesse, auf Unterlassen in Anspruch genommen zu werden;
dies könne allenfalls dann der Fall sein, wenn das Abschleppen seines Wagens drohe. Dies ist auch mangels öffentlichen
Interesses nicht nach § 679 BGB unbeachtlich.
Auch hier lässt die Entscheidung die nötige Präzision
missen. Die Klägerin hat dem Beklagten vor Klageerhebung
die Möglichkeit gegeben, eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abzugeben und so den Prozess abzuwenden. Insoweit gebietet sich also auch hier ein Vergleich mit dem Wettbewerbsrecht. Dies kann freilich nur dann der Fall sein, wenn
dem Halter zuvor die Möglichkeit der Abgabe einer derartigen Erklärung eingeräumt wird, nicht aber, wenn auf die
Halterabfrage unmittelbar die Klageerhebung folgt.
Da die Offenlegung der Identität des Fahrzeughalters jedenfalls als auch-fremdes-Geschäft anzusehen ist und hierbei
nach h.M. der Fremdgeschäftsführungswille vermutet wird,16
wäre folgerichtig diesem Anspruch stattzugeben gewesen.
Für einen Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB bzw. § 823
Abs. 2 i.V.m. § 858 Abs. 1 BGB mangelt es jedenfalls am
Verschulden.
Wenn der BGH sich jedoch auf den Standpunkt stellt, der
Halter habe damit rechnen müssen, dass sich der Entleiher
verkehrswidrig verhält und den Wagen unberechtigt abstellt
(oben III. 2.), dann müsste hieraus stringent der Schluss gezogen werden, dass es fahrlässig ist, sein Kfz zu verleihen
und das Verschulden im Rahmen von § 823 Abs. 2 i.V.m.
§ 858 Abs. 1 BGB bejaht werden. Dies verdeutlicht noch
einmal, dass dieser Standpunkt abzulehnen ist.
Cand. iur. Lennart Giesen, Bielefeld
15
BGH, Urt. v. 18.12.2015 – V ZR 160/14, Rn. 32.
Bergmann, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2015,
Vorb. zu §§ 677 ff., Rn. 168 m.w.N.
16
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OLG München, Urt. v. 15.1.2015 – U 1110/14 Kart.
Adinolfi/Rübben
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Entscheidungsanmerkung
Der Fall Pechstein und die Zukunft der Sportgerichtsbarkeit
1. Das Verlangen einer Schiedsvereinbarung durch den
Ausrichter internationaler Sportwettkämpfe stellt nicht
schlechthin einen Missbrauch von Marktmacht dar.
2. Ein Missbrauch von Marktmacht liegt jedoch vor,
wenn ein marktbeherrschender Sportverband die Zulassung zu einem von ihm ausgerichteten Wettkampf von
der Zustimmung zu einer Schiedsvereinbarung zugunsten
des CAS abhängig macht, weil die Vorgaben für die Besetzung des für eine konkrete Streitigkeit zwischen Verbänden und Athleten zuständigen CAS-Kollegiums ein
strukturelles Übergewicht der Verbände begründen, das
die Neutralität des CAS grundlegend in Frage stellt.
3. Verletzt eine Schiedsvereinbarung zugunsten des CAS
das kartellrechtliche Missbrauchsverbot, so ist ein gleichwohl ergangener Spruch des CAS nicht anerkennungsfähig, weil dadurch der Missbrauch in einer der öffentlichen Ordnung widersprechenden Weise perpetuiert würde.
(Amtliche Leitsätze)
BGB § 134
GWB §§ 19 Abs. 1, 19 Abs. 4 Nr. 2 a.F.
EGBGB Art. 34
OLG München, Urt. v. 15.1.2015 – U 1110/14 Kart. (LG
München)1
I. Einleitung
Mit einem wahren Paukenschlag hat das OLG München vor
gut einem Jahr am 15.1.2015 den Dopingfall der Eisschnellläuferin Claudia Pechstein entschieden (Az.: U 1110/14
Kart). Der BGH wird über die anhängige Revision am
7.6.2016 entscheiden. Anlass genug für die Verf., die Bedeutung dieses Urteils unter Berücksichtigung des zwischenzeitlich verabschiedeten Anti-Doping-Gesetzes2 zu beleuchten.
II. Der Fall Pechstein
Claudia Pechstein unterzeichnete am 2.1.2009 für die Teilnahme an den Eisschnelllauf-Weltmeisterschaften in Hamar/
Norwegen am 7. und 8.2.2009 eine vom internationalen
Fachverband für Eisschnelllauf (ISU) vorformulierte Wettkampfmeldung. Ohne Unterzeichnung dieser Meldung wäre
sie nicht zu dem Wettkampf zugelassen worden. Ziffer I der
Wettkampfmeldung legte sinngemäß fest, dass die Athletin
sich für den Erlass von endgültigen und bindenden Schiedssprüchen dem Court of Arbitration for Sports (CAS) in Lau1
Die Entscheidung ist abrufbar unter
http://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/Y-300-Z-B
ECKRS-B-2015-N-02086?hl=true (23.5.2016).
2
In Kraft getreten zum 1.1.2016, abrufbar unter
http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanze
iger_BGBl&jumpTo=bgbl115s2210.pdf (23.5.2016).
sanne, unter vollständigem Ausschluss der ordentlichen Gerichtsbarkeit, unterwirft.
Nach Art. 25 Abs. 6 der Satzung des ISU sind die
Schiedssprüche des CAS endgültig: „Die Entscheidungen des
CAS sind abschließend und bindend unter Ausschluss der
ordentlichen Gerichtsbarkeit“.
In einer Blutprobe, die Pechstein, anlässlich der Eisschnelllauf-Weltmeisterschaften in Hamar, entnommen wurde, wurde ein erhöhter Wert an sog. Retikulozyten festgestellt. Diese dienen dazu Sauerstoff zu den Muskeln zu transportieren und stellen grundsätzlich eine ganz natürliche Vorstufe von roten, ausgewachsenen Blutkörperchen dar. Ein
derart vermeintlich erhöhter Wert von Retikulozyten, wie er
bei Pechstein ermittelt wurde, stellt ein Indiz für einen Dopingverstoß dar. Gleichwohl konnte ihr eine Bluttransfusion
oder die Einnahme des Stoffes EPO keinesfalls nachgewiesen
werden. Diesbezüglich stellt der Fall Claudia Pechstein einen
Präzedenzfall dar.3
Die ISU reichte daraufhin bei ihrer Disziplinarkommission eine Anklage wegen Verletzung von Anti-Doping Regeln
gegen Pechstein ein. Die Disziplinarkommission entschied
Mitte 2009, Pechstein rückwirkend zum 7.2.2009 wegen
unerlaubten Blutdopings für zwei Jahre zu sperren, die in den
Wettkämpfen am 7.2.2009 erzielten Ergebnisse zu annullieren und gleichzeitig ihre Punkte, Medaillen und Preise abzuerkennen. Die hiergegen eingelegten Rechtsmittel vor dem
CAS als auch vor dem schweizerischen Bundesgericht wurden zurückgewiesen.
Daraufhin verklagte sie die ISU vor dem LG München4
auf Aufhebung der verhängten Dopingsperre sowie Schadensersatz in Höhe von ca. 3,5 Mio. Euro zzgl. Schmerzensgeld. Nachdem dort ihre Klage vollumfänglich abgewiesen
wurde, entschied das OLG München5 größtenteils zu ihren
Gunsten.
III. Die bisherige Zuständigkeit im Rahmen des Sportrechts
Grundsätzlich bemisst sich die Zuständigkeit bei Rechtsstreitigkeiten mit sportlichem Bezug nach den allgemeinen
Grundsätzen der §§ 12 ff. ZPO. Schließlich handelt es sich
um Streitigkeiten zwischen Verbänden und Individuen, sodass derart gelagerten Fällen keinerlei prozessuale Besonderheiten zugrunde liegen.
Jedoch stellt es im Bereich des professionellen Leistungssports eine gängige Praxis dar, dass monopolistisch organisierte Verbände den Athleten schiedsgerichtliche Streitbeilegungsmöglichkeiten unter Ausschluss ordentlicher Gerichtsbarkeit „anbieten“.6
3
Grünberg, in: Asmuth (Hrsg.), Was ist Doping, Fakten und
Probleme der aktuellen Diskussion, 2010, S. 75 (80).
4
LG München I, Urt. v. 26.2.2014 – 37 O 28331/12.
5
OLG München, Urt. v. 15.1.2015 – U 1110/14 Kart.
6
Neben dem erwähnten Eisschnellaufverband bspw. der
„World Boxing Council“ unter 5.3 seiner „Rules and Regulations“ oder der Deutsche Olympische Sportbund in § 34
seiner Satzung; Scherrer/Muresan/Ludwig, SchiedsVZ 2015,
161 (162 m.w.N.).
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Die Wirksamkeit solchen Klauseln unterstellt, führt dies
zur Unzulässigkeit einer vor einem deutschen Gericht eingereichten Klage in selbiger Sache, vgl. § 1032 ZPO.
Der Rechtsweg sieht schließlich so aus, dass zunächst ein
eigenes – nationales – Schiedsgericht angerufen wird. Ein
etwaiges Rechtmittel hiergegen muss jedoch vor dem CAS
eingelegt werden.
§ 34 Abs. 5 der DOSB Satzung stellt ferner klar, dass
Streitigkeiten mit einem Athleten, der zu den Olympischen
Spielen nominiert wurde, oder mit einem olympischen Spitzenverband, die während der Olympischen Spiele entstehen
oder sich aus Veranstaltungen der Olympischen Spiele oder
ihrer Vorbereitung oder Abwicklung ergeben oder diese betreffen, ausschließlich der Schiedsgerichtsbarkeit des CAS
unterliegen.
Es besteht ein naheliegendes und auch sachgerechtes Interesse daran, Streitigkeiten zwischen Athleten und Sportverbänden im Zusammenhang mit internationalen Wettkämpfen
nicht den verschiedenen in Betracht kommenden staatlichen
Gerichten zu unterwerfen, sondern einem einheitlichen Sportgericht zuzuweisen. Insbesondere kann auf diese Weise durch
eine einheitliche Zuständigkeit und Verfahrensgestaltung verhindert werden, dass in gleichgelagerten Fällen divergierende
Entscheidungen getroffen werden7, was der Gewährleistung
der Chancengleichheit der Athleten bei der Wettkampfteilnahme dient.8
IV. Das Urteil des OLG München
Nach Auffassung der Richter verstößt die in Rede stehende
Schiedsklausel gegen zwingendes Kartellrecht und ist somit
gemäß § 134 BGB, § 19 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 2 GWB a.F. nichtig.
1. Grundsätzlich sind Schiedsklauseln rechtlich zulässig
Das Verlangen einer Schiedsvereinbarung durch den Ausrichter von internationalen Sportwettkämpfen stelle nicht
schlechthin einen Missbrauch von Marktmacht dar.
Neben o.g. Gründen, die für eine Anerkennung der Wirksamkeit solcher Klauseln sprechen, fehle es nicht an einer
freien Willensbildung der Athleten bei der Unterzeichnung.
Der BGH hatte einmal judiziert, dass die Unterwerfung unter
eine Schiedsgerichtsklausel und der damit verbundene Verzicht auf die Entscheidung eines staatlichen Rechtsprechungsorgans grundsätzlich auf dem freien Willen des Betroffenen beruhen müsse.9
Jedoch sei im Fall Pechstein kein solch fehlender Wille
erkennbar. „Die bloße Verknüpfung der Bereitschaft, ein
Wirtschaftsgut anzubieten, mit dem Verlangen einer Schiedsvereinbarung stelle keinen Zwang dar, der den freien Willen
desjenigen, der das Wirtschaftsgut beziehen möchte, ausschließen würde.“10
2. Verstoß im konkreten Fall
Die ISU sei als Monopolistin für die Austragung von Eisschnelllauf-Weltmeisterschaften gleichzeitig auch als marktbeherrschend im Sinne von § 19 GWB anzusehen.
Als solche sei es ihr gem. § 19 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 2 a.F.
GWB verboten gewesen, von Pechstein die Zustimmung zu
der Schiedsvereinbarung für ein Verfahren vor dem CAS zu
verlangen. Dies sei nämlich als Missbrauch von Marktmacht
zu werten. Der Missbrauch liege konkret darin, dass die beteiligten Verbände – wie z.B. die ISU – bei der Ausgestaltung
der Schiedsrichterbestellung des jeweiligen Schiedsgerichts
einen bestimmenden Einfluss hätten. Zum Zeitpunkt der
Schiedsvereinbarung hätten die den CAS anrufenden Parteien
die Schiedsrichter nur aus einer vom Internationalen Rat
(ICAS) für die Sportgerichtsbarkeit aufgestellten Liste wählen können. Die Tatsache, dass alleine zwölf von zwanzig
Mitgliedern dieses Rats von internationalen Verbänden gestellt würden, die ihrerseits vier Mitglieder „mit Blick auf die
Wahrung der Interessen der Athleten“ wählten, bewirke ein
nicht gerechtfertigtes Verbandsübergewicht bei der Schiedsrichterbesetzung.11
Die Folge sei, dass die durch eine einfache Mehrheit zu
treffenden Entscheidungen nicht unabhängig ergingen. Dieser
überproportionale Einfluss begründe die Annahme, dass die
Personen aus den Schiedsrichterlisten sich in der Regel den
Verbänden verpflichtet fühlen und die Interessen der Athleten
außen vor blieben; auch hinsichtlich der Schiedsrichter, die
nicht auf Vorschlag der Verbände, sondern mit Blick auf die
Wahrung der Interessen der Athleten oder als Unabhängige
ausgewählt werden, steht es im Ermessen der verbandsnahen
Mehrheit der ICAS-Mitglieder, ob diese Kriterien als gegeben angesehen werden. Ein ausgewogener Einfluss der beteiligten Parteien auf die Zusammensetzung des Schiedsgerichts, der eigentlich dessen Überparteilichkeit garantieren
soll, sei damit nicht gegeben. Darin sei ein struktureller Mangel zu sehen, der einem neutralen Schiedsgericht entgegenstünde. Dieser strukturelle Mangel bestehe auch unabhängig
davon, ob die konkreten Personen eine Parteilichkeit aufweisen. Auf den konkreten Einzelfall komme es also gar nicht
an.12
Die Folge sei, dass die durch einfache Mehrheit zu treffenden Entscheidungen nicht unabhängig ergingen. Dieses
Einflussübergewicht begründe die Gefahr, dass die in die
Schiedsrichterlisten aufgenommenen Personen mehrheitlich
oder sogar vollständig den Verbänden näher stünden als den
Athleten; auch hinsichtlich der Schiedsrichter, die nicht auf
Vorschlag der Verbände, sondern mit Blick auf die Wahrung
der Interessen der Athleten oder als Unabhängige ausgewählt
10
7
Duve/Rösch, SchiedsVZ 2014, 216.
8
Zu weiteren Vorzügen der Sportgerichtsbarkeit und sich
gegen ein entsprechendes Verbot aussprechend Scherrer/
Muresan/Ludwig, SchiedsVZ 2015, 161 (163).
9
BGH NJW 2000, 1713.
OLG München, Urt. v. 15.1.2015 – U 1110/14 Kart.,
Rn. 73.
11
OLG München, Urt. v. 15.1.2015 – U 1110/14 Kart.,
Rn. 79 und 83.
12
Vgl. OLG München, Urt. v. 15.1.2015 – U 1110/14 Kart.,
Rn. 83 und 95.
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OLG München, Urt. v. 15.1.2015 – U 1110/14 Kart.
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würden, liege es lediglich in der Beurteilung der verbandsnahen Mehrheit der ICAS-Mitglieder, ob diese Kriterien erfüllt
seien. Ein paritätischer Einfluss der Streitbeteiligten auf die
Besetzung des Schiedsgerichts, der dessen Überparteilichkeit
sicherte, sei damit nicht gegeben. Dieser strukturelle Mangel
beeinträchtige die Neutralität des Schiedsgerichts unabhängig
davon, ob die konkret in die Liste aufgenommenen Personen
einem Verband in einer Weise nahe stünden.
Für das Gericht stand ferner fest, dass der Grund dafür,
dass sich Athleten für Streitigkeiten mit einem Verband einem Schiedsgericht unterwerfen, dessen Besetzung überwiegend durch Verbände bestimmt wird, allein in der Monopolstellung des Verbands liege. Könnte der Athlet seine Zulassung zu einer Weltmeisterschaft auch unter Vereinbarung
eines strukturell neutralen Schiedsgericht erreichen, so sei
davon auszugehen, dass nur derartige Schiedsvereinbarungen
geschlossen würden, nicht dagegen solche, die ein einseitig
zugunsten der Verbände strukturiertes Schiedsgericht vorsähen.13
Der somit gegebene Verstoß führe damit gem. § 1061
Abs. 1 ZPO i.V.m. Art. V Abs. 2 lit. b des Übereinkommens
über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer
Schiedssprüche vom 10.6.1958 (UNÜ) dazu, dass der
Schiedsspruch des CAS nicht anerkennungsfähig sei.14
V. Folgen des Urteils
Eines ist unabhängig vom Ausgang des Verfahrens bereits
jetzt zu konstatieren: Das Urteil des Münchener Senats hat zu
einer breiten öffentlichen Wahrnehmung des CAS und seiner
bis dato eher unbekannten und intransparenten Strukturen
beigetragen.15
Juristisch gesehen ist das Urteil höchst brisant, da es – im
Falle der Aufrechterhaltung durch den BGH – Sportlern in
Zukunft erlaubt, bei Dopingstreitigkeiten die ordentliche Gerichtsbarkeit anzurufen, ohne Rücksicht auf etwaige Schiedsklauseln nehmen zu müssen. Die strukturellen Mängel der
CAS-Statute gehen auf eine Zeit zurück, in der Verbände
alleine weitgehend unkontrolliert den Sport bestimmten.
Zwischenzeitlich hat jedoch das staatliche Recht mit seinen
rechtstaatlichen Grundsätzen Einzug in den Sport gehalten.
Somit wird das CAS seine Satzung notgedrungen reformieren
müssen, um konform mit geltendem Recht zu sein. Das Ende
der Sportgerichtsbarkeit ist damit also keineswegs eingeläu13
OLG München, Urt. v. 15.1.2015 – U 1110/14 Kart.,
Rn. 91.
14
OLG München, Urt. v. 15.1.2015 – U 1110/14 Kart.,
Rn. 109.
15
http://www.sueddeutsche.de/sport/entscheidung-am-olg-m
uenchen-pechstein-erschuettert-den-sport-1.2305262
(23.5.2016); vgl. Heermann, FAZ v. 15.1.2015, unter
http://www.faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/gastbeitrag-zumsportrecht-bremst-der-gesetzgeber-pechstein-noch-aus-13371
260-p3.html?printPagedArticle=true#pageIndex_4
(23.5.2016) abrufbar;
http://www.spiegel.de/sport/wintersport/kommentar-zum-cla
udia-pechstein-urteil-raus-aus-der-unmuendigkeit-a-1013073.
html (23.5.2016).
tet. Das Urteil ist vielmehr als Anstoß zu Reformen zu verstehen.
Eine solche Reform ist auch eminent wichtig, da die
Schiedsgerichtsbarkeit im Sport ein wichtiges Instrument zur
Wahrung der Einheitlichkeit des Sportrechts darstellt. Man
kann sich ausmalen, wie es zuginge, wenn alle Staaten nach
eigener ordentlicher Gerichtsbarkeit Dopingverstöße ahnden
würden. Dieses Interesse erkennt das OLG in seinem Urteil
auch an (siehe oben). Nur muss das Lausanner System geändert und der Einfluss der Verbände verringert werden, während gleichzeitig der Einfluss der Athleten zunehmen muss.
Das CAS hat transparente und rechtstaatliche Verfahren zu
schaffen.
VI. Reaktion des deutschen Gesetzgebers
Das am 18.12.2015 verabschiedete und zum 1.1.2016 in
Kraft getretene Anti-Doping-Gesetz (AntiDopG) offenbart in
§ 11, wie sich der Gesetzgeber das Verhältnis von Schiedsgerichtsbarkeit und ordentlicher Gerichtsbarkeit im Sport vorstellt. Dort heißt es:
„Sportverbände und Sportlerinnen und Sportler können
als Voraussetzung der Teilnahme von Sportlerinnen und
Sportlern an der organisierten Sportausübung Schiedsvereinbarungen über die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten mit
Bezug auf diese Teilnahme schließen, wenn die Schiedsvereinbarungen die Sportverbände und Sportlerinnen und Sportler in die nationalen oder internationalen Sportorganisationen
einbinden und die organisierte Sportausübung insgesamt ermöglichen, fördern oder sichern. Das ist insbesondere der
Fall, wenn mit den Schiedsvereinbarungen die Vorgaben des
Welt Anti-Doping Codes der Welt Anti-Doping Agentur umgesetzt werden sollen.“
Dem Wortlaut der Norm lässt sich die Kernaussage extrahieren, dass es den Sportverbänden möglich ist, Schiedsvereinbarungen mit Sportlern zu vereinbaren um auf diese Weise
sportsbezogene Auseinandersetzungen beizulegen.
Zunächst stellt sich die Frage, welche Art von Streitigkeiten von dem Anwendungsbereich erfasst werden. Lediglich
jene Prozesse mit unmittelbarem Dopingbezug, oder auch
jene, die beispielsweise Nominierungen etc. zum Gegenstand
haben. Diesbezüglich Aufschluss gibt § 1 AntiDopG. Danach
ist der Zweck des Gesetzes in dem Schutz der Gesundheit der
Sportler sowie der Fairness und Chancengleichheit zu sehen.
Dies legt die Annahme nahe, dass ausschließlich Dopingstreitigkeiten unter § 11 fallen sollen. Gleichwohl bleibt es ungewiss, wie die Gerichte diese Norm auslegen werden.16
Des Weiteren stellt sich die Frage nach dem Umfang des
Regelungszwecks. § 11 AntiDopG bietet hierfür auf den
ersten Blick zwei verschiedene Auslegungsvarianten. Einerseits kann man die Norm so lesen, dass ganz generell die
Möglichkeit einer Schiedsvereinbarung ermöglicht werden
soll. Zum anderen könnte sie aber auch so gelesen werden,
16
Vgl. Heermann, FAZ v. 15.1.2015, abrufbar unter
http://www.faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/gastbeitrag-zumsportrecht-bremst-der-gesetzgeber-pechstein-noch-aus-13371
260-p3.html?printPagedArticle=true#pageIndex_4
(23.5.2016).
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dass damit die konkret vereinbarten Schiedsvereinbarungen
als wirksam erachtet werden. Die Norm also nicht nur ganz
abstrakt die Möglichkeit einer Schiedsvereinbarung ermöglicht, sondern auch die konkreten Verfahren der Praxis billigt.
Das Gesetz selbst beantwortet diese Frage zwar nicht,
gleichwohl ergibt sich der Regelungszweck aus der Gesetzesbegründung zu § 1117, wo wie folgt formuliert wird:
„Allerdings wird in letzter Zeit vereinzelt die Unwirksamkeit solcher Schiedsvereinbarungen vorgebracht, weil die
Sportlerinnen und Sportler sich den Verbänden gegenüber in
einer unterlegenen Stellung befänden und weil ihnen die
schiedsrichterliche Streitbeilegung ,aufgezwungen‘ werde.
[…] Die Klarstellung in der Vorschrift dient dazu, die
Zweifel an der Wirksamkeit von Schiedsvereinbarungen
zwischen Sportlerinnen und Sportlern mit den Verbänden
auszuräumen.“18
Des Weiteren geht der Gesetzgeber nicht von weiteren
Konfliktherden mit anderen Normen aus: „Der Abschluss
solcher Vereinbarungen als Voraussetzung für die Teilnahme
am organisierten Sport hält jedoch in der Regel einer rechtlichen Prüfung am Maßstab des § 138 des BGB auch unter
Berücksichtigung der Grundrechte und der Konvention zum
Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vor dem
Hintergrund der besonderen Umstände des Leistungssports
stand.“19
Auch wenn der Gesetzgeber keinen Anhaltspunkt für eine
Unwirksamkeit am Maßstab o.g. Regelungen erkennen kann,
lässt er durch die Formulierung „in der Regel“ einen gewissen Spielraum bestehen. Des Weiteren ist zu sehen, dass der
Richter eines staatlichen Gerichts – wie zuletzt der Kartellsenat am OLG München –, aber auch eines Sportschiedsgerichts, keineswegs daran gehindert ist, bei Vorliegen der
Voraussetzungen im konkreten Fall eine Unwirksamkeit
einer dem Athleten oktroyierten Schiedsvereinbarung aus
kartellrechtlichen Vorschriften abzuleiten. Zur Wirksamkeit
solcher Schiedsvereinbarungen im Lichte des Kartellrechts
spricht sich die Begründung zum Referentenentwurf nicht
aus.20
Letztendlich hatte der Gesetzgeber eine Entscheidung
hinsichtlich der Frage der Verbandsautonomie und der Frage
des Justizgewährleistungsanspruches (Art. 101 Abs. 1 S. 2
GG) zu treffen. Die Entscheidung fiel – wenn auch nicht
ausdrücklich – zugunsten der Verbandsautonomie aus.
Die gleichzeitig damit einhergehenden Nachteile wie beispielsweise erhebliche demokratische Einschränkungen in
Verbindung mit nichtöffentlichen Verfahren, fehlenden Möglichkeiten der Prozesskostenhilfe, vom deutschen Gesetz
abweichende Kostentragungsregelungen und eine Beschneidung der Möglichkeit dem EuGH eine Rechtsfrage vorzulegen werden im Zuge dessen in Kauf genommen.
VII. Fazit
Wie der BGH den Fall Pechstein entscheiden wird, ist nicht
vorherzusagen. Auch ein Vergleich, dem Pechstein stets
offen gegenüberstand, ist noch möglich. Sollte der BGH die
Entscheidung des OLG aufrechterhalten, müsste das CAS
jedenfalls sein System entsprechend erneuern.
Ob § 11 AntiDopG Pechstein noch in die Quere kommen
kann, darf bezweifelt werden. Der Verstoß einer kartellrechtlichen Norm, welcher über § 134 BGB die Nichtigkeit der
Klausel zur Folge hätte, ist nach dem Wortlaut und der Begründung jedenfalls nicht erfasst. Pechstein würde am Ende
des Tages also nicht nur Recht bekommen, sondern zudem
auch Rechtsgeschichte schreiben.
Ref. iur. Fabio Adinolfi, Köln, Mag. iur. Tillmann
Rübben, Berlin
17
BT-Drs. 18/4898, S. 38.
BT-Drs. 18/4898, S. 38.
19
BT-Drs. 18/4898, S. 38 f.; Muresan/Korff, CaS 2014, 199
(203 f.).
20
BT-Drs. 18/4898, S. 38 ff.
18
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BGH, Beschl. v. 4.8.2015 – 3 StR 112/15
Brüning
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Entscheidungsanmerkung
Zur sog. Nacheile beim räuberischen Diebstahl
1. Es genügt, dass die Nötigungshandlung Folge des
Betroffenseins ist, mithin zu diesem in Bezug steht. Ein
solcher ist auch gegeben, wenn das Nötigungsmittel im
Rahmen der sogenannten Nacheile angewendet wird, also
während der sich unmittelbar an das Betreffen auf frischer Tat anschließenden Verfolgung.
2. Auf einen engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zwischen Vortat und Gewaltanwendung kommt es
nicht an, solange die Verfolgung ohne Zäsur durchgeführt wird.
(Leitsätze der Verf.)
oder Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder
Leben anwendet, um sich im Besitz des gestohlenen Gutes zu
erhalten, ist gleich einem Räuber zu bestrafen.“
Ebenso wie der Raub setzt sich der räuberische Diebstahl
nach § 252 StGB aus Elementen des Diebstahls und der (qualifizierten) Nötigung zusammen. Während das Nötigungsmittel aber beim Raub der Ermöglichung der Wegnahme und
damit der Erlangung des Gewahrsams dient, bezweckt das
Nötigungsmittel beim räuberischen Diebstahl die Erhaltung
des bereits begründeten Gewahrsams.2 Der Täter des § 252
StGB ist „gleich einem Räuber“ zu bestrafen, d.h. aus dem in
§ 249 StGB normierten Strafrahmen.
§ 252 StGB wird wie folgt geprüft:
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) Vortat: Vollendeter Diebstahl oder Raub
b) Bei einem Diebstahl (oder Raub) auf frischer
Tat betroffen
aa) Betroffensein
bb) Tatfrische
c) Einsatz eines qualifizierten Nötigungsmittels
2. Subjektiver Tatbestand
a) Vorsatz
b) Besitzerhaltungsabsicht
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
StGB § 252
BGH, Beschl. v. 4.8.2015 – 3 StR 112/15 (LG Trier)1
I. Sachverhalt
T dringt mit seinen „Komplizen“ B und C in eine Bankfiliale
ein. Der weitere Beteiligte D wartet zur Absicherung vor dem
Bankgebäude. T, B und C öffnen mit Hilfe von Werkzeugen
den Geldautomaten und entnehmen 74.850 €, die sie im Kofferraum eines ihrer Fluchtwagen verstauen. Sodann entfernen
sich die vier Täter zunächst mit drei, dann mit zwei Fahrzeugen. T ist Beifahrer desjenigen Fahrzeugs, in dessen Kofferraum die Beute geladen wurde.
Die gesamte Tat wird von Beamten des LKA observiert,
die auch die Verfolgung von T, B, C und D aufnehmen. Nach
einer etwa 30-minütigen Fahrt und ca. 35 km vom Tatort
entfernt stoppen Beamte des MEK, die an der Observation
nicht beteiligt waren, die Fluchtwagen mit ihren Einsatzfahrzeugen. T und der in dessen Wagen als Fahrer agierende B
kommen durch Gesten überein, auf einen der Beamten, den
sie aufgrund des Aufdrucks „Polizei“ als solchen erkannt
haben, zuzufahren, um so zu fliehen, um sich den Besitz der
Beute zu erhalten. Der Polizist erleidet bei dem Zusammenstoß mit dem Fahrzeug eine schmerzhafte Knieprellung, was
T und B in Kauf nehmen. T und B gelingt zunächst die
Flucht, zweieinhalb Stunden später können sie jedoch festgenommen werden.
Der BGH hatte hier nur zu entscheiden, ob T zu Recht
aufgrund seines Verhaltens auf der Flucht wegen eines besonders schweren räuberischen Diebstahls nach §§ 252, 250
Abs. 2 Nr. 1, 25 Abs. 2 StGB verurteilt worden ist.
II. Einführung in die Problematik
Die Entscheidung des BGH betrifft zentrale Probleme des
§ 252 StGB. Die Vorschrift lautet: „Wer, bei einem Diebstahl
auf frischer Tat betroffen, gegen eine Person Gewalt verübt
1
Die Entscheidung ist in StV 2016, 284 veröffentlicht und im
Internet abrufbar unter
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/docu
ment.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=2015-8-4&nr=72239
&pos=4&anz=20 (30.5.2016).
§ 252 StGB setzt einen vollendeten Diebstahl gem. § 242
StGB als Vortat voraus.3 Unter Diebstahl ist dabei jede Form
der Wegnahme zu verstehen, mit der Folge, dass als Vortat
eines räuberischen Diebstahls auch ein Raub gem. § 249
StGB in Betracht kommt.4 Täter des räuberischen Diebstahls
kann demnach nur sein, wer auch (Mit-)Täter der Vortat
war.5 Weder Unbeteiligte noch bloße Teilnehmer an der
Vortat können taugliche Täter des § 252 StGB sein, und zwar
auch dann nicht, wenn sie Gewahrsam an der Beute haben.6
Der Tatbestand des § 252 StGB verlangt weiterhin, dass
der Dieb bzw. Räuber auf frischer Tat betroffen ist.
Der Täter muss zu einem Zeitpunkt betroffen sein, zu
dem die Tat noch „frisch“ ist. Es bietet sich daher an, zunächst das Betroffensein zu prüfen, um dann in einem zwei2
Zöller, JuS 1997, L 89.
Eser/Bosch, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 252 Rn. 3; Rengier, Strafrecht,
Besonderen Teil, Bd. 1, 18. Aufl. 2016, § 10 Rn. 4; vgl. zur
Kritik Küper, Jura 2001, 21 (23 ff.).
4
Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.),
Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 4. Aufl. 2013, § 252
Rn. 6; Wittig, in: von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher
Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, Stand: 1.3.2016, § 252
Rn. 3.
5
Vogel, in: Laufhütte/Rissig-van Saan/Tiedemann (Hrsg.),
Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 8, 12. Aufl.
2010, § 252 Rn. 14.
6
Kindhäuser (Fn. 4), § 252 Rn. 24.
3
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ten Schritt festzustellen, ob die Tat zu diesem Zeitpunkt auch
noch „frisch“ war.
Unter welchen Umständen der Täter betroffen ist, ist
höchst streitig.7 Es stellt sich die Frage, ob der Täter überhaupt wahrgenommen werden muss, und wenn ja, muss er
nur als Person oder sogar als Tatverdächtiger wahrgenommen
werden? Dazu später mehr.
Durch das Merkmal der Tatfrische wird der räuberische
Diebstahl in zeitlicher und personeller Hinsicht konkretisiert.
Wurde mit dem Kriterium der vollendeten Diebstahlsvortat
bereits festgestellt, ab welchem Zeitpunkt § 252 StGB einschlägig ist, so bestimmt das Merkmal der Tatfrische bis zu
welchem Zeitpunkt § 252 StGB eingreift. Die Tatfrische betrifft damit die raumzeitliche Eingrenzung der Tat.8 Hier ist
vieles streitig. Grundsätzlich endet der zeitliche Anwendungsbereich mit der Beendigung der Tat. Ein weites Verständnis der Tatfrische erachtet das Ende der Beendigungsphase zwar als Indiz für das Ende der Tatfrische, aber nicht
als zwingende Folge. Unter Umständen kann die Vortat ihre
Tatfrische aber auch schon vor Ablauf der Beendigungsphase
verlieren.9 Der Umstand, dass der Täter „bei“ einem Diebstahl „auf frischer Tat“ betroffen sein muss, spricht dafür,
dass die Beendigung der Tat die äußerste Grenze des räuberischen Diebstahls markiert.
Problematisch ist weiter – und für diesen Fall von hoher
Relevanz –, ob sich die „Frische“ der Vortat nur auf das
„Betroffensein“ bezieht oder aber zugleich auf den Einsatz
des qualifizierten Nötigungsmittels, womit das letzte objektive Tatbestandsmerkmal – das qualifizierte Nötigungsmittel –
genannt ist. § 252 StGB verlangt demnach, dass sich der
Täter gegen den bevorstehenden Gewahrsamsverlust mit
Gewalt gegen eine Person oder durch Drohung mit einer
gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben, also mit Raubmitteln, wehren muss.10 Das Nötigungsmittel kann dabei
gegen jede schutzbereite dritte Person gerichtet werden. Weder ist eine Personenidentität zwischen demjenigen erforderlich, der den Täter betrifft und demjenigen, gegen den das
Nötigungsmittel eingesetzt wird,11 noch muss der Adressat
der Nötigung der frühere Eigentümer oder Gewahrsamsinhaber sein.12
Der subjektive Tatbestand verlangt neben dem Vorsatz
eine sog. Besitzerhaltungsabsicht. Diese setzt den Willen des
Täters voraus, sich im Besitz des gestohlenen Gutes zu erhalten. Die Absicht einem Dritten den Besitz der Beute zu wahren, reicht hingegen nicht aus.13 Aufgrund dieser Beschränkung auf die „Selbsterhaltungsabsicht“ ist es etwa problematisch, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen
ein Vortatmittäter in Selbstbesitzerhaltungsabsicht handelt,
wenn er die qualifizierten Nötigungsmittel zur Verteidigung
des alleinigen Gewahrsams eines anderen Vortatmittäters
einsetzt.14
Die Besitzerhaltungsabsicht wird ganz überwiegend als
Fortführung der für den Diebstahl erforderlichen Zueignungsabsicht verstanden.15 Sie fehlt demnach, wenn der Täter ausschließlich handelt, um die Sache zu zerstören oder sich der
Strafverfolgung zu entziehen. Die Besitzerhaltungsabsicht
muss aber nicht das einzige Ziel sein. Das Vorliegen eines
Motivbündels schließt die Beutesicherungsabsicht folglich
nicht aus. Gleichwohl darf diese nicht vollkommen in den
Hintergrund gedrängt werden.16
III. Die Entscheidung
Der BGH geht davon aus, dass die Vorinstanz rechtsfehlerfrei
eine Verurteilung wegen besonders schweren räuberischen
Diebstahls nach §§ 252, 250 Abs. 2 Nr. 1, 25 Abs. 2 StGB
angenommen hat.
Das Gericht meint, dass T und die übrigen Beteiligten
durch das Mobile Einsatzkommando bei dem von ihnen begangenen Diebstahl des Geldes auf frischer Tat betroffen
wurden. Der BGH stellt zwar klar, dass „die Tat zwar im
Moment des Zugriffs durch die Beamten des Mobilen Einsatzkommandos nicht mehr ,frisch‘“17 war. Dagegen sei die
Tat aber zum Zeitpunkt der Wahrnehmung durch die Observationskräfte „frisch“ gewesen. „Dabei steht dem Betreffen
nicht entgegen, dass [die Observationskräfte] die Tat nicht
erst nach ihrer Vollendung entdeckten, sondern sie bereits
von Anfang an beobachteten.“18 Weiter führt das Gericht aus:
„Gemäß dem eindeutigen Wortlaut des § 252 StGB kommt es
für die Tatbestandsverwirklichung ferner nicht darauf an,
dass sich die in dem Anfahren auf den Polizeibeamten liegende, dem Angekl. gemäß § 25 Abs. 2 StGB zuzurechnende
Gewaltanwendung nicht gegen einen der Polizeibeamten
richtete, der die Täter auf frischer Tat angetroffen hatte. Es
genügt, dass die Nötigungshandlung Folge des Betroffenseins
ist, mithin zu diesem in Bezug steht. Ein solcher ist auch
gegeben, wenn das Nötigungsmittel im Rahmen der sogenannten Nacheile angewendet wird, also während der sich
unmittelbar an das Betreffen auf frischer Tat anschließenden
Verfolgung. Liegen diese Voraussetzungen vor, kommt es
auf einen engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang
zwischen Vortat und Gewaltanwendung nicht an, solange die
Verfolgung – wie vorliegend – ohne Zäsur durchgeführt
wird.“19
Schließlich gelangt der BGH zu der Überzeugung, dass T
vorsätzlich handelte. „Dazu ist zwar erforderlich, dass sich
der Vorsatz des Täters auch auf sein eigenes Betroffensein
bezieht. Da dieser Vorsatz jedoch gemäß § 16 Abs. 1 S. 1
14
7
Vgl. dazu ausführlich Schwarzer, ZJS 2008, 266.
8
Wittig (Fn. 4), § 252 Rn. 5.
9
Vgl. dazu Wittig (Fn. 4), § 252 Rn. 6.
10
Duttge, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Handkommentar, Gesamtes Strafrecht, 3. Aufl. 2013, § 252 Rn 17.
11
Eisele, JuS 2015, 1043 (1044).
12
Duttge (Fn. 10), § 252 Rn 17.
13
Duttge (Fn. 10), § 252 Rn. 21.
Vgl. dazu Dehne-Niemann, NStZ 2015, 251.
Küper/Zopfs, Strafrecht, Besonderer Teil, 9. Aufl. 2015,
Rn. 139.
16
Zur Frage, anhand welcher Kriterien die erforderliche Besitzerhaltungsabsicht festgestellt werden kann, vgl. OLG
Brandenburg NStZ-RR 2008, 201 (202 f.).
17
BGH StV 2016, 284 (285 Rn. 5).
18
BGH StV 2016, 284 (285 Rn. 5).
19
BGH StV 2016, 284 (285 Rn. 6).
15
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StGB erst bei Begehung der Tat, also bei Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung vorliegen muss, reicht es in der
vorliegenden Konstellation aus, wenn der Angekl. in dem
Moment des Gewahrwerdens der Polizeikräfte und der Entscheidung, auf einen von ihnen zuzufahren, jedenfalls erkannte und billigend in Kauf nahm, dass er möglicherweise
bereits in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe zum
Diebstahl bemerkt worden war und dies zu der Polizeiaktion
führte.“
IV. Bewertung der Entscheidung
Liest man den Beschluss des BGH, so wird deutlich, dass die
vorliegende Entscheidung Fragen hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals „auf frischer Tat betroffen“ aufwirft. Zum
einen stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen
der Täter „betroffen“ ist. Und zum anderen ist zu klären, ob
sich die „Tatfrische“ nur auf das „Betroffensein“ beziehen
muss oder aber auch auf die Tathandlung, also den Einsatz
des qualifizierten Nötigungsmittels.
1. Das „Betroffensein“
Besonderes Streitpotenzial verbirgt sich beim Merkmal des
„Betroffenseins“. Zunächst unstreitig ist jedoch, dass als Betreffende neben dem Eigentümer bzw. dem Gewahrsamsinhaber auch jede unbeteiligte dritte Person in Betracht
kommt.20
Welche Voraussetzungen an das Betreffen konkret zu
stellen sind, ist jedoch höchst streitig.
Mindestvoraussetzung ist das raumzeitliche Zusammentreffen einer Person mit dem Dieb.21 Streit herrscht jedoch
über die Frage, ob neben dieser Mindestanforderung noch
weitere Kriterien vorliegen müssen. Besonders virulent wurde dieser Streit bislang, wenn der Täter seinem
Bemerktwerden etwa durch eine schnelle Gewaltanwendung
zuvorkommt.
Die Rechtsprechung und ein Teil der Lehre legen das
Merkmal „betroffen“ weit aus und lehnen weitere einschränkende Kriterien ab, die mehr als ein raumzeitliches Zusammentreffen verlangen.22 Danach ist auch betroffen, wer seiner
Entdeckung zuvorkommt. Demgegenüber steht eine enge
Auslegung des Begriffs „betroffen“, die verlangt, dass nur
derjenige auf frischer Tat betroffen ist, der von einem Dritten
tatsächlich als Täter entdeckt wurde.23 Überwiegend wird
eine vermittelnde Ansicht vertreten, die zwar keine Verdachtsbildung und damit keine Wahrnehmung als Täter erfordert, aber voraussetzt, dass der Täter zumindest als Person
wahrgenommen wurde. Die beiden letztgenannten Ansichten
haben gemein, dass ein „Betroffensein“ jedenfalls dann abzu-
lehnen ist, wenn der Täter seiner Wahrnehmung durch einen
ahnungslosen Dritten zuvorkommt.
Wendet man diese Ansichten auf den vorliegenden Fall
an, so entsteht der Eindruck, als läge das Merkmal des
„Betroffenseins“ unproblematisch vor. Denn selbst nach der
engsten Ansicht, die verlangt, dass der Täter als solcher entdeckt wurde, ist ein „Betroffensein“ zu bejahen. Die Polizisten haben die Tat observiert und T damit sogar als Täter
wahrgenommen.
Die Besonderheit der vorliegenden Konstellation besteht
nun aber darin, dass der Täter zum Zeitpunkt der „Tatfrische“
nicht bemerkt, dass er bei der Begehung der Vortat beobachtet wird.24 Fraglich ist, ob dies erforderlich ist.
Dies leitet über zu der Frage, wie das „Betroffensein“
auszulegen ist.
Der Wortlaut „betroffen“ ist offen. Betreffen kann man
als „Antreffen“ oder „Begegnen“ verstehen. Der Begriff setzt
damit nicht zwingend ein „Wahrnehmen“ oder gar „Ertappen“ voraus.
Jedoch dürfen Tatbestandsmerkmale auch innerhalb ihres
möglichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt werden, dass sie
vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen „aufgehen“
und damit gleichsam verschleift werden (sog. Verschleifungsverbot).25 Verstünde man das Tatbestandsmerkmal
„betroffen“ als bloßes raumzeitliches Zusammentreffen, so
wäre das Merkmal schlicht überflüssig. Denn Gewalt und
Drohung auf frischer Tat sind ohne ein raumzeitliches Zusammentreffen nicht denkbar.26
Damit stellt sich die Frage, ob der Täter auch bei einer
nur „personenbezogenen“ Wahrnehmung betroffen ist oder
ob hierfür eine „verdachtsbildende“ Wahrnehmung erforderlich ist. Eine unterschiedliche rechtliche Behandlung beider
Konstellationen ließe sich aber nur begründen, wenn der
Unrechtsgehalt differieren würde. Die Verletzung des durch
§ 252 StGB geschützten Rechtsguts Willensfreiheit ist jedoch
unabhängig davon, ob der Täter personenbezogen oder verdachtsbildend wahrgenommen wurde.27 Verlangt man, dass
der den Täter Betreffende einen Straftatverdacht hegt, so ist
die Strafbarkeit nach § 252 StGB letztlich abhängig von der
Auffassungsfähigkeit des Opfers und damit von Zufälligkeiten. Ein intellektuell schwerfälliges Opfer „verarbeitet“ die
Verdachtsmomente in Bezug auf den Diebstahl als Vortrat
womöglich langsamer oder gar nicht.28 Eine Strafbarkeit, die
an Zufälligkeiten anknüpft, ist jedoch wenig sachgerecht.
Damit reicht für das „Betroffensein“ grundsätzlich eine personenbezogene Wahrnehmung des Täters aus.
Damit stellt sich die Frage, ob ein einseitiger Wahrnehmungsakt durch das Opfer bzw. Dritte ausreicht oder ob es
auch entscheidend auf die Tätervorstellung ankommt. Muss
sich der Täter für das Vorliegen des objektiven Tatbestands-
20
Kindhäuser (Fn. 4), § 252 Rn. 8.
BGH NJW 1975, 1176 (1177); Kindhäuser (Fn. 4), § 252
Rn. 8.
22
Eser/Bosch (Fn. 3), § 252 Rn. 4.
23
Sander, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2014, § 252 Rn. 11;
Joecks, Strafegesetzbuch, Studienkommentar, 11. Aufl. 2014,
§ 252 Rn. 7.
21
24
Becker, NStZ 2015, 701.
BVerfG NJW 2010, 3209 (3211 Rn. 79).
26
Vogel (Fn. 5), § 252 Rn. 28; Schwarzer, ZJS 2008, 265
(267); Sander (Fn. 23), § 252 Rn. 11; Wittig (Fn. 4), § 252
Rn. 8.
27
Schwarzer, ZJS 2008, 265 (269).
28
Schwarzer, ZJS 2008, 265 (270).
25
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merkmals „betroffen“ darüber im Klaren sein, dass er wahrgenommen wurde?
Es wäre zu einfach, die Frage allein deshalb mit „Nein“
zu beantworten, weil das Merkmal „betroffen“ als objektives
Tatbestandsmerkmal im Wege dieser Auslegung versubjektiviert würde.29 Es ist nicht ungewöhnlich, dass objektive
Tatbestandsmerkmale durch subjektive Kriterien begrenzt
werden.30
Hier liefert die systematische Auslegung einen wichtigen
Anhaltspunkt zu Klärung der Frage. Der „räuberische Dieb“
wird gleich einem „Räuber“ bestraft. Der sich aufdrängende
systematische Zusammenhang zu § 249 StGB gebietet „beide
Tatbestände so gleich wie möglich auszulegen“31. Kennzeichnend für den Raub ist die funktionale Verbindung der
Gewaltanwendung zur Wegnahme.32 Die Strafrahmenexplosion des § 252 StGB im Vergleich zu Diebstahl und Nötigung
bzw. Körperverletzung lässt sich also nur dann erklären,
wenn ebenfalls ein funktionaler Zusammenhang zwischen der
Wegnahme (der Vortat) und dem sich daran anschließenden
Einsatz des Nötigungsmittels besteht. Charakteristisch für die
Tatsituation des § 252 StGB ist, dass Dieb und Opfer des
Nötigungseinsatzes in einem engen zeitlichen und räumlichen
Kontakt stehen. Daraus resultiert für den Täter eine Drucksituation, die zu einer Nötigungshandlung führt, um die Beute
zu behalten. Die Nötigungshandlung ist dann folglich keine
bloße kausale Folge des Betroffenseins. Sie nimmt ihren
Ursprung vielmehr in einer Konfliktsituation, die einen Bezug zur „tatfrischen“ Vortat aufweist und mit ihr daher in
einem funktionalen Zusammenhang steht. Eine solche Konfliktsituation besteht für den Täter indes nur dann, wenn er
sich zum Zeitpunkt der Tatfrische im Klaren darüber ist, dass
er entdeckt wurde oder zumindest mit einer baldigen Entdeckung rechnet. Anders als der BGH meint, reicht es also nicht
aus, wenn der Täter erst später erkennt, dass er möglicherweise bereits im Zusammenhang mit dem Diebstahl beobachtet wurde. Unter diesen Umständen besteht keine ausreichende funktionale Verbindung zwischen Vortat und Gewaltanwendung. Die subjektive Komponente des „Gewahrseins der
Wahrnehmung“ ist damit ein originärer Bestandteil des objektiven Tatbestandsmerkmals „betroffen“.
Zwar geht der BGH zur Recht davon aus, dass im Moment der Wahrnehmung im vorliegenden Fall ein enger,
sowohl örtlicher als auch zeitlicher Zusammenhang mit der
Vortat besteht. Das Gericht verkennt allerdings, dass dies für
ein „Betroffensein“ zum Zeitpunkt der Tatfrische jedenfalls
dann nicht ausreicht, wenn sich der Täter über die Umstände
nicht gewahr ist, die diesen Wahrnehmungsakt begründeten.
2. Das Verhältnis der Tatfrische zur Tathandlung
Darüber hinaus gibt der Beschluss Anlass, über das Verhältnis der Tatfrische zur Tathandlung nachzudenken.
Im vorliegenden Fall hat T die Gewalt 30 Minuten nach
der Tat und 35 km entfernt vom Tatort angewendet. Es drängt
sich daher die Frage auf, ob es genügt, wenn der Täter das
Nötigungsmittel einsetzt, nachdem die Tat ihre „Frische“
bereits „eingebüßt“ hat.
Ganz überwiegend wird angenommen, dass der Einsatz
des Nötigungsmittels nicht am Tatort erfolgen müsse. Vielmehr reiche es aus, dass der am Tatort wahrgenommene Dieb
die Nötigung bei der Verfolgung ausübt.33 Damit sollen vor
allem die Fälle einer sog. Nacheile erfasst werden. Eine Kongruenz zwischen Tatfrische und Gewaltanwendung wird
damit nicht vorausgesetzt.34
Dem ist vor allem Küper kritisch entgegengetreten. Er
meint, dass eine Gleichwertigkeit zwischen räuberischem
Diebstahl und Raub verlange, dass das Merkmal „Frische“
nicht nur auf das „Betroffensein“ bezogen werden müsse,
sondern auch auf die Nötigungshandlung.35
Der systematische Vergleich zu § 249 StGB führt indes
nicht zwingend zu dieser Annahme. Beim Raub muss der
Einsatz des Nötigungsmittels auf die unmittelbar nachfolgende Erlangung der zu entwendenden Sache abzielen. Eine
zeitliche Differenz zwischen dem Einsatz von Gewalt oder
Drohung einerseits und der Wegnahme andererseits steht der
erforderlichen Unmittelbarkeit dabei nicht zwingend entgegen.36 Will man das Unrecht des räuberischen Diebstahl dem
des Raubes angleichen, so muss auch ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Vortat und der Nötigungshandlung für § 252 StGB ausreichen, wobei davon auszugehen ist,
dass ein solcher unmittelbarer Zusammenhang im Falle einer
Nacheile grundsätzlich gegeben ist.
Dem BGH ist in seinem Ausgangspunkt also durchaus
beizupflichten, wenn er annimmt, dass das Nötigungsmittel
auch im Rahmen einer sog. Nacheile angewendet werden
darf.
Das Gericht verkennt aber, dass eine Nacheile in dem hier
gemeinten Sinne nur dann vorliegt, wenn der flüchtende
Täter die Umstände kennt, die sein „Betroffensein“ begründen.37 Auch eine Nacheile muss ihren Ursprung in einer Konfliktsituation nehmen, die einen Bezug zur „tatfrischen“ Vortat aufweist. Dies ist nicht möglich, wenn sich der Täter
mangels Kenntnis zum Zeitpunkt der Tatfrische in keiner auf
die Vortat bezugnehmenden Konfliktsituation befand.
33
29
So aber Schwarzer, ZJS 2008, 265 (268).
So ist etwa für die Heimtücke das „bewusste“ Ausnutzen
der Arglosigkeit für die Wehrlosigkeit erforderlich. Auch die
Finalität ist ein rein subjektives Merkmal, dass im objektiven
Tatbestand verortet wird.
31
Vogel (Fn. 5), § 252 Rn. 7 und 28.
32
Sander (Fn. 23), § 249 Rn. 24.
30
Kindhäuser (Fn. 4), § 252 Rn. 18; Eser/Bosch (Fn. 3),
§ 252 Rn. 5/6.
34
Küper/Zopfs merken zu Recht an, dass sich die Phase der
Nacheile in den meisten Fällen wohl auch mit dem Stadium
der Tatfrische deckt, vgl. Küper/Zopfs (Fn. 15), Rn. 150.
35
Küper, StV 2016, 285 (286); vgl. auch Küper/Zopfs
(Fn. 15), Rn. 150. So auch Becker, NStZ 2015, 701 (702).
36
Sander (Fn. 23), § 249 Rn. 27.
37
I.E. auch Becker, NStZ 2015, 701 (702).
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BGH, Beschl. v. 4.8.2015 – 3 StR 112/15
Brüning
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IV. Fazit und Ausblick
Für die Ausbildung bleibt festzuhalten, dass die Diskussion
über Umfang und Grenzen der Tatbestandsmerkmale des
§ 252 StGB „spannend“ bleibt. Dass sich der Rechtsanwender – wie Vogel meint – im „Gestrüpp des § 252“38 leicht
verirren kann, macht die Entscheidung deutlich. Auch der
BGH ist davor nicht gefeit.
Die Entscheidung eignet sich bestens als Grundlage für
eine Klausur. Bei der Bearbeitung müssen die Studierenden –
neben den hier ausführlich besprochenen Problemen – im
Blick haben, dass das Tatfahrzeug als gefährliches Werkzeug
gem. § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB verwendet wurde. Das Zufahren auf den Polizisten ist ferner Anknüpfungspunkt, um eine
Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung gem.
§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 (ggf. Nr. 4) StGB zu prüfen.
Schließlich kommt eine Strafbarkeit wegen Widerstands
gegen Vollstreckungsbeamte gem. § 113 Abs. 1 StGB sowie
wegen eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr
gem. § 315b Abs. 1 StGB in Betracht.39
Privatdozentin Dr. Janique Brüning, Hamburg
38
39
Vogel (Fn. 5), § 252 Rn. 2 m.w.N.
Vgl auch Eisele, JuS 2015, 1043 (1044).
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ZJS 3/2016
390
LG Neubrandenburg, Urt. v. 5.2.2016 – 90 Ns 75/15
Putzke
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Entscheidungsanmerkung
Grenzen der Meinungsfreiheit beim Schutz der persönlichen Ehre
1. Steht in einem Zeitungsartikel die Diffamierung der
Person und nicht die Auseinandersetzung mit der Sache
im Vordergrund, handelt es sich bei der darin verwendeten Bezeichnung „Rabauken-Jäger“ nicht nur um einen
„Sprachwitz“, sondern um eine ehrverletzende Kundgabe
der Missachtung, selbst wenn der so bezeichnete Jäger
zur Beseitigung eines Rehkadavers diesen mit einem Seil
an seinem Auto befestigt und ihn in Schrittgeschwindigkeit ca. 100 Meter eine Straße entlang geschleift hat.
2. Wer als Journalist in einem Text eine in den sozialen
Netzwerken gefundene Formalbeleidigung („Drecksjäger“) als Zitat wiedergibt, muss sich diese Bezeichnung
zurechnen lassen, wenn er sie in den eigenen Gedankengang einfügt und er es an einer eigenen und ernsthaften
Distanzierung fehlen lässt.
(Leitsätze des Verf.)
GG Art. 5 Abs. 1 S. 1
StGB §§ 193, 185 Alt. 1
LG Neubrandenburg, Urt. v. 5.2.2016 – 90 Ns 75/151
I. Einleitung
§ 185 StGB stellt die „Beleidigung“ unter Strafe, was umformuliert nichts anderes bedeutet als „Wer einen anderen
beleidigt…“. Das BVerfG will in dieser Beschreibung des
tatbestandsmäßigen Verhaltens keinen Verstoß gegen den
Bestimmtheitsgrundsatz erkennen. Art. 103 Abs. 2 GG sei
deshalb nicht verletzt, weil „der Begriff der Beleidigung
jedenfalls durch die über hundertjährige und im wesentlichen
einhellige Rechtsprechung einen hinreichend klaren Inhalt
erlangt [hat], der den Gerichten ausreichende Vorgaben für
die Anwendung an die Hand gibt, und den Normadressaten
deutlich macht, wann sie mit einer Bestrafung wegen Beleidigung zu rechnen haben“2. Das ist ein alter Trick: Das Gericht behauptet einfach, was gerade zu beweisen wäre. Gegen
die Richtigkeit einer solchen Behauptung sprechen allein
zahlreiche, von sich gekränkt fühlenden Bürgern initiierte
Beleidigungsverfahren, deren Ausgang am Anfang in vielen
Fällen unkalkulierbar ist. Jeder versteht etwas anderes unter
einer Beleidigung – insoweit erscheint selbst der Fahrlässigkeitsbegriff bestimmter.3 Bei kaum einer anderen Norm „verformt sich das, was objektiv gelten soll, im interpretativen
1
Die Entscheidung ist zu finden in NJ 2016, 213 und
BeckRS 2016, 05680.
2
BVerfGE 93, 266 (292) = NJW 1995, 3303 („Soldaten sind
Mörder“) unter Verweis auf BVerfGE 71, 108 (114 ff.).
3
Speziell zur Verfassungswidrigkeit der Norm siehe Findeisen/Hoepner/Zünkler, ZRP 1991, 245; zur Abschaffung des
strafrechtlichen Ehrschutzes siehe Marfels, Von der Ehre zur
Anerkennung?, Die Bedeutung sozialphilosophischer Anerkennungstheorien für den strafrechtlichen Ehrbegriff, 2011.
Zugriff zu subjektiv Beliebigem“4 so sehr wie bei § 185
StGB.
Die „Schlüsselaufgabe“5 besteht darin, die jeweilige Äußerung kontextbezogen auszulegen, was einigen Begründungsaufwand erfordert. Deshalb ist der Erkenntnisgewinn
gering, wenn man aufzählt, welche Bezeichnungen Gerichte
für straflos erklärt haben, etwa „Dummschwätzer“6, „Trottel“7, „linke Bazille“8, „durchgeknallter Staatsanwalt“9, „Wegelagerer“10 (gemünzt auf einen Polizisten) oder „Rechtsbrecher“11 (bezogen auf einen Oberstaatsanwalt, über den jemand wegen einer Wohnungsdurchsuchung verärgert war).
Die Straflosigkeit in den konkreten Fällen ist mitnichten ein
genereller Freibrief für diese Ausdrücke – mir nichts, dir
nichts darf man so niemanden betiteln. Alles hängt von den
Umständen des Einzelfalls ab.
Nicht zuletzt deshalb dürfte es in der Praxis erhebliche
Anwendungsschwierigkeiten geben. Einerseits besteht oftmals Unklarheit darüber, was als bloße Unhöflichkeit und
Taktlosigkeit noch erlaubt und was davon tatbestandlich
schon eine Beleidigung ist, andererseits ist kaum vorhersehbar, was sich über § 193 StGB bzw. über das Grundrecht auf
Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG letztlich doch
als straflos darstellt. Angesichts solcher Unsicherheiten und
wegen des geringen Gewichts der angezeigten Kränkungen
werden die meisten Fälle ohnehin eingestellt und auf den
Privatklageweg verwiesen (§ 170 Abs. 2 S. 1 StPO i.V.m.
§§ 374 Abs. 1 Nr. 2, 376 StPO).
II. Sachverhalt
1. Auch die Staatsanwaltschaft Neubrandenburg hatte zunächst das Verfahren eingestellt, um dessen Sachverhalt es
hier geht und über den schließlich eine Berufungskammer
beim LG Neubrandenburg zu entscheiden hatte.12 Bei dem
zugrunde liegenden Fall hatte ein Journalist einer Tageszeitung einen Jäger in einer Artikelüberschrift als „RabaukenJäger“ bezeichnet. Die Staatsanwaltschaft erkannte darin zunächst nichts Verfolgungswürdiges und stellte das Verfahren
ein. Daraufhin legte der Jäger, ein Parteifreund der mecklenburg-vorpommerschen Justizministerin Uta-Maria Kuder, die
demselben CDU-Kreisverband wie der Jagdgenosse angehört, Beschwerde ein, woraufhin die Generalstaatsanwaltschaft die Staatsanwaltschaft Neubrandenburg anwies, das
Verfahren fortzuführen. Nach nochmaliger Einstellung erging
eine erneute Anweisung, gerichtet darauf, das Verfahren
weiter zu betreiben. Schließlich beantragte die Staatsanwalt4
Hillgruber, JA 2016, I (Editorial).
Rahmlow, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar StGB, 2. Aufl. 2015, § 185 Rn. 7.
6
BVerfG NJW 2009, 749.
7
EGMR NJW 1999, 1321.
8
OLG Saarbrücken NJW-RR 1996, 1048.
9
BVerfG NJW 2009, 3016.
10
OLG Düsseldorf NStZ-RR 2003, 295; BayObLG NJW
2005, 1291; anders aber AG Gießen, Urt. v. 22.1.1993 – 54
CS 14 JS 22689 2/91 = ADAJUR Dok. Nr. 16601 (Ls.).
11
OLG Naumburg, Beschl. v. 10.11.2011 – 2 Ss 156/11.
12
Ausführlich zur Chronologie Zenthöfer, myops 2015, 4.
5
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LG Neubrandenburg, Urt. v. 5.2.2016 – 90 Ns 75/15
Putzke
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schaft Neubrandenburg einen Strafbefehl, den das AG Pasewalk sodann erließ. Dem Einspruch des Journalisten folgte
seine Verurteilung zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen.13
Die dagegen von ihm eingelegte Berufung verwarf das LG
Neubrandenburg als unbegründet.
2. Dieses Verfahren hat bundesweit Aufsehen erregt: Die
BILD-Zeitung druckte aus Solidarität mit dem Verurteilten
den kompletten Artikel samt Überschrift ab.14 Andere große
Tageszeitungen widmeten dem Verfahren ausführliche Beiträge.15 Das mag zwar auch an den merkwürdigen Aktivitäten
des Generalstaatsanwalts Helmut Trost gelegen haben;16 hier
soll es jedoch nur um die Verurteilung wegen Beleidigung
nach § 185 StGB gehen.
3. Aus Sicht des später verurteilten Journalisten stellte
sich der Sachverhalt zum Zeitpunkt, als der Redakteur den
Artikel schrieb und veröffentlichte, wie folgt dar: Ein Autofahrer hatte einen Jäger fotografiert, der ein totes Reh mit
einem Seil an der Anhängerkupplung seines Autos befestigt
hatte und den Tierkadaver eine Straße entlang schleifte. Das
Foto stellte der Fotograf ins Internet. Dort entstand schon
bald eine lebhafte Diskussion um dieses Verhalten, woraufhin ein anderer Journalist in der „Haff-Zeitung“ über den
Vorfall berichtete. Dies nahm der Lokalchef zum Anlass, den
später verurteilten Redakteur zu beauftragen, sich der Sache
anzunehmen. Mehrfach versuchte dieser erfolglos, den inzwischen identifizierten Jäger vor der Veröffentlichung des Artikels zu erreichen und fuhr sogar zu dessen Wohnanschrift.
Zudem erkundigte der Journalist sich u.a. beim zuständigen
Landkreis und zitiert dessen Vertreter in dem Artikel wie
folgt: „Inwieweit der Mann gegen das Tierschutzgesetz verstoßen hat, wird derzeit geprüft. Es war aber ein Verstoß
gegen die Straßenverkehrsordnung, so darf man nicht fahren.
Er wird irgendeine Buße aufgebrummt bekommen.“ Berichtet
wird in dem Artikel auch über die Diskussion in den sozialen
Netzwerken: „Der Fall des Rabaukenjägers sorgte auch am
Montag in der Region für Diskussionen, gar heftig ging es in
den sozialen Netzwerken zu. Dort wird der Mann unter anderem als ‚Drecksjäger‘ beschimpft, dem sofort die Jagdlizenz
entzogen gehört.“ Schließlich finden sich Angaben dazu, was
der Jäger früher einmal gemacht und wo er gearbeitet hat –
sein Name wird nicht genannt.
Aus Sicht des Jägers und ex post lief alles so ab: An einem Samstag befand sich der Jäger mit seinem Auto auf dem
Weg in den Urlaub in Richtung Ostsee. Als er einen Anruf
von einem Kollegen erhielt, dass in seinem Jagdrevier ein
13
AG Pasewalk BeckRS 2015, 11085.
Zugriff unter
http://www.bild.de/news/inland/geldstrafen/beleidigungs-urte
il-gegen-reporter-41119988.bild.html (24.5.2016).
15
Siehe nur Zenthöfer, FAZ v. 11.6.2015, S. 15; Hahn, Süddeutsche Zeitung v. 2.7.2015,
http://www.sueddeutsche.de/medien/lokaljournalismus-unterrabauken-1.2547657 (24.5.2016); Hanfeld, FAZ v. 9.2.2016,
http://www.faz.net/-gqz-8dc10
(24.5.2016);
Pergande,
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 3.4.2016, Politik,
S. 2.
16
Dazu Zenthöfer, myops 2015, 4.
14
Tierkadaver auf der Bundesstraße liege, begab der Jäger sich
zu diesem Ort, obwohl er weder mit einem Anhänger noch
einer Plane zur Bergung des Tierkadavers ausgerüstet war.
Weil er das Tier weder auf der Straße noch auf der angrenzenden Grasfläche liegenlassen wollte, weil dies möglicherweise Füchse oder Vögel angelockt hätte und die Gefahr für
vorbeifahrende Autofahrer damit nicht gebannt gewesen
wäre, „entschloss [er] sich kurzerhand,“ wie es wörtlich im
Urteil des LG Neubrandenburg heißt, „das tote Reh mit einem Seil an der Anhängerkupplung seines Fahrzeuges zu
befestigen und in Schrittgeschwindigkeit und eingeschalteter
Warnblinkanlage am rechten Fahrbahnrand bis zum nächstgelegenen Feldwegabzweig in einer Entfernung von ca. 100
Meter [sic!] zu ziehen.“ Am nächstgelegenen Feldweg bog
der Jäger ab, wo er das tote Tier vergrub.
4. Angesichts der beiden vorstehenden Sachverhaltsdarstellungen, die sich im Kernbereich nicht unterscheiden, tritt
der springende Punkt deutlich zutage: Während dem Sachverhalt, so wie er sich ex ante für einen Außenstehenden darstellte, durchaus Empörungspotential innewohnt, relativiert
sich alles etwas, wenn man die ganze Geschichte kennt. Ex
post betrachtet kann man für das Verhalten des Jägers durchaus Verständnis haben: Denn wer zur Beseitigung einer Gefahrenquelle mangels erkannter Alternativen ein totes Reh
über eine kurze Strecke im Schritttempo bis zur nächsten
Einmündung über eine Straße schleift, verhält sich möglicherweise nicht waidgerecht, er ist aber nicht zwangsläufig
für jedermann ein Rabauke.17 Man darf das Verhalten aber
durchaus auch kritisch sehen: Das Stehenbleiben mit Warnblinkanlage und das für den Jäger leicht mögliche Herbeitelefonieren eines Räumdienstes wäre nur unbedeutend riskanter gewesen als das sehr langsame Fahren, aber allemal
waidgerecht. Und mehr Zeit hätte es wahrscheinlich auch
nicht gekostet.
Die entscheidende Frage ist also: Ausgehend von welcher
Informationsbasis durfte der Journalist sich eine Meinung zu
der Sache bilden und sie in einem Artikel „zu Papier“ bringen? Oder anders ausgedrückt: Wie intensiv muss ein Journalist sich um die Wahrheit bemühen?
III. Prüfschema zu § 185 StGB
§ 185 StGB enthält zwei Tatbestandsalternativen, die verbale
und die tätliche Beleidigung. Bei der verbalen sind drei unterschiedliche Kommunikationssituationen zu unterscheiden:
Kundgabe eines ehrmissachtenden Werturteils gegenüber
dem Betroffenen, Kundgabe eines ehrmissachtenden Werturteils gegenüber einem Dritten sowie die Kundgabe einer
ehrenrührigen Tatsache gegenüber dem Betroffenen (gegenüber Dritten greifen die §§ 186, 187 StGB)18. Daraus ergibt
sich folgendes Aufbauschema:
17
Siehe dazu schon Putzke, Nordkurier v. 6./7.2.2016, S. 2.
Umstritten ist, ob dann schon der Tatbestand des § 185
StGB zu verneinen ist oder ob § 185 StGB erst auf der Konkurrenzebene hinter § 186 StGB zurücktritt (Kindhäuser,
Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxiskommentar, 6. Aufl. 2015,
Vor §§ 185-200 Rn. 15; näher zum Streitstand Lenckner/
18
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I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) 1. Hs.: Beleidigung ist die Kundgabe eigener
Miss- oder Nichtachtung
aa) Kundgabe eines (ehrmissachtenden) Werturteils (gegenüber dem Betroffenen oder über
den Betroffenen gegenüber einem Dritten)
Werturteile sind geprägt durch Elemente der
subjektiven Stellungnahme, des Dafürhaltens
oder Meinens, sodass sie – anders als Tatsachen – weder wahr noch unwahr (d.h. nicht
dem Beweis zugänglich), sondern entsprechend der persönlichen Überzeugung lediglich falsch oder richtig sein können.
bb) [oder] Kundgabe einer (ehrenrührigen)
Tatsache19
Tatsachen sind vergangene und gegenwärtige
Geschehnisse und Zustände der Außenwelt
und des menschlichen Innenlebens, die dem
Beweis zugänglich sind.
cc) Ehrverletzender Charakter der Äußerung
(Miss- oder Nichtachtung)
Liegt vor, wenn dem Betroffenen durch die
Äußerung der sittliche, personale oder soziale
Geltungswert ganz oder teilweise abgesprochen wird, indem ihm bestimmte Mängel an
Ehre zugeschrieben werden und dadurch sein
Achtungsanspruch gemindert wird.20
dd) Kenntnisnahme der Äußerung durch den
Betroffenen oder einen Dritten21
Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar,
29. Aufl. 2014, § 185 Rn. 21 m.w.N.).
19
Die Unwahrheit der Tatsache ist bei § 185 StGB (anders
als bei § 186 StGB: objektive Bedingung der Strafbarkeit)
nach h.M. ein objektives Tatbestandsmerkmal (vgl. nur
Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 17. Aufl. 2016,
§ 29 Rn. 30 f.), sodass der Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt
(siehe BayObLG NJW 1959, 57; Hilgendorf, in: Arzt/Weber/
Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht, Besonderer Teil, 4. Aufl.
2015, § 7 Rn. 27; Lenckner/Eisele [Fn. 18], § 185 Rn. 6
m.w.N.; Wessels/Hettinger, Strafrecht, Besonderer Teil,
Bd. 1, 39. Aufl. 2015, Rn. 513). Beachte aber § 192 StGB:
Beim Beweis der Wahrheit kann eine Formalbeleidigung vorliegen (dabei ergibt sich die Kränkung bereits aus der Form
der Äußerung oder aus den Umständen, aus welchen sie geschah).
20
Was stets zu bejahen ist bei einer Formalbeleidigung (dabei
ergibt sich die Kränkung bereits aus der Form der Äußerung
oder aus den Umständen, aus welchen sie geschah,) einer
Schmähkritik (im Vordergrund steht nicht die Auseinandersetzung mit der Sache, sondern die Diffamierung der Person)
oder bei einer Verletzung der Menschenwürde.
21
Nach h.M. muss der Betroffene bzw. der Dritte zusätzlich
den ehrenrührigen Sinn der Äußerung erfassen.
b) 2. Hs. (Qualifikation): Beleidigung mittels einer Tätlichkeit
Ist eine unmittelbar auf den Körper des Opfers
einwirkende Handlung, durch die der Täter zugleich seine Nicht- oder Missachtung zum Ausdruck bringt.
2. Subjektiver Tatbestand: (Eventual-)Vorsatz (§ 15
StGB)
II. Rechtswidrigkeit
In Betracht kommen insbesondere § 193 StGB (nach
h.M. ein besonderer Rechtfertigungsgrund),22 Art. 5
Abs. 1 S. 1 GG (verstanden teilweise als Rechtfertigungsgrund, teilweise als Kollisionsregel im Rahmen
von § 193 StGB) und/oder eine Einwilligung.
III. Schuld
IV. Strafantrag (§ 194 StGB)
IV. Tatbestand des § 185 Alt. 1 StGB
1. Kundgabe eigener Miss- oder Nichtachtung
a) Bei der Beurteilung, ob es sich bei einer Äußerung um eine
Ehrverletzung handelt, ist der Äußerungsinhalt unter Berücksichtigung der Begleitumstände zu ermitteln. Abzustellen ist
dabei auf einen durchschnittlichen Erklärungsempfänger.23
Bei alledem gilt ein normativer Ehrbegriff:24 Weder kommt
es dabei auf einen bloßen Beleidigungswillen des Äußernden
an noch darauf, ob der Empfänger die Äußerung subjektiv als
Kränkung empfindet. Die Bedeutung der Äußerung ist vielmehr objektiv zu würdigen.
Zu den schon auf der Ebene des Tatbestandes zu würdigenden Begleitumständen zählen etwa das Verhältnis der
Beteiligten zueinander, regionale und kulturelle Gepflogenheiten der Kommunikation sowie Alter und Bildungsgrad des
Täters.25 Während etwa ein „Haubentaucher“ in Mecklenburg-Vorpommern und anderswo vor allem ein Wasservogel
ist, handelt es sich dabei in einigen bayerischen Gebieten
durchaus um eine dezente Beleidigung (und steht synonym
für einen Versager). Und jedenfalls im schwäbischen Sprachraum wird, glaubt man dem AG Ehingen, „Leck mich am
Arsch“ alltäglich verwendet, weshalb das dortige Strafgericht
entschied, dass es sich zwar um einen „derben Ausspruch“
handele, damit aber noch keine Herabwertung der Ehre des
22
Da es sich bei § 193 StGB um einen Anwendungsfall der
Interessenabwägung handelt, müssen die beleidigenden Äußerungen zur Durchsetzung der verfolgten Interessen geeignet, erforderlich und bei Abwägung der widerstreitenden
Interessen angemessen sein (was zu verneinen ist bei einer
Formalbeleidigung, einer Schmähkritik oder einer Verletzung
der Menschenwürde, siehe dazu schon oben Fn. 20).
23
Vgl. Eisele, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 3. Aufl.
2014, Rn. 575.
24
Zum geschützten Rechtsgut der Ehre siehe Heinrich, in:
Krey/Hellmann/Heinrich (Hrsg.), Strafrecht, Besonderer Teil,
Bd. 1, 16. Aufl. 2015, Rn. 458 ff.
25
Vgl. Schneider, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Handkommentar, Gesamtes Strafrecht, 3. Aufl. 2013, § 185
Rn. 18.
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Gesprächspartners verbunden sei.26 Auch unterfällt nicht jede
flapsige oder spöttische Bemerkung dem Beleidigungstatbestand, worauf das AG Berlin-Tiergarten in einer lesenswerten
Entscheidung zutreffend hinwies, als es die einem mit einer
Verkehrskontrolle beschäftigten Polizisten im Vorbeigehen
zugerufene Bemerkung „Herr Oberförster, zum Wald geht es
da lang!“ als nicht beleidigend einstufte.
Zu beachten sind auch die Wertungen der Rechtsordnung.
So ergibt sich etwa aus dem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG), dass die „sexuelle Identität“, wovon die sexuelle
Ausrichtung erfasst ist, rechtlich keinen nachteiligen Umstand darstellt. Deshalb ist die Behauptung, jemand sei „homosexuell“ oder „schwul“, keine Herabsetzung seiner Person
und also keine Ehrminderung, weil durch Einnahme der gegenteiligen Position gerade eine Diskriminierung zum Ausdruck käme.27
b) Bei „Formalbeleidigungen“ sieht das anders aus. Dabei
ergibt sich die Kränkung bereits aus der Form der Äußerung
ohne Rücksicht auf ihren Inhalt.28 Das ist zum Beispiel der
Fall bei der Klassifizierung eines behinderten Menschen als
„Krüppel“29 oder bei Ausdrücken der Fäkalsprache (Beispiele
erspare ich dem Leser). Insofern enthält § 192 StGB eine
Besonderheit: Ergibt sich eine Ehrverletzung „aus der Form
der Behauptung oder Verbreitung oder aus den Umständen,
unter welchen sie geschah“, liegt eine tatbestandliche Beleidigung selbst dann vor, wenn dem Betroffenen wahre Tatsachen vorgehalten werden. Beispiele sind etwa die sachwidrige Reaktualisierung einer lange zurückliegenden ehrenrührigen Begebenheit oder die Verbreitung einer Tatsache in unangemessener öffentlicher Form („Publikationsexzess“).30
Voraussetzung dafür ist, dass zu der ohnehin schon mit der
ehrenrührigen Tatsache verbundenen Herabsetzung des Betroffenen eine weitere Ehrverletzung tritt, die sich aus der
Form oder den Umständen ergibt.31 Jenseits solcher Fälle
verbieten die §§ 185 ff. StGB die Verbreitung wahrer Tatsachen nicht.
Auch bei einer „Schmähung“ ist § 185 StGB tatbestandlich gegeben. Anzunehmen ist sie weder bei einer überzogenen noch ausfälligen Kritik. Das BVerfG sieht es wie folgt:
„Eine herabsetzende Äußerung nimmt vielmehr erst dann den
Charakter der Schmähung an, wenn in ihr nicht mehr die
Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung
der Person im Vordergrund steht. Sie muß jenseits auch po26
AG Ehingen NStZ-RR 2010, 143.
LG Tübingen NStZ-RR 2013, 10; dahingehend schon KG
NStZ 1992, 385 (386); kritisch Rahmlow (Fn. 5), § 185
Rn. 25. Anders liegt die Sache etwa bei den Bezeichnungen
„dreckiger Schwanzlutscher“ oder „Schwuchtel“ (LG Tübingen a.a.O.).
28
BVerfG NJW 1994, 2413.
29
Dazu BVerfG NJW 1992, 2073 (2074).
30
Vgl. Eisele (Fn. 23), Rn. 634 f.; Valerius, in: von
Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar,
Strafgesetzbuch, Stand: 1.12.2015, § 192 Rn. 4 m.w.N.
31
Zaczyk, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos
Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 192
Rn. 5.
27
lemischer und überspitzter Kritik in der Herabsetzung der
Person bestehen.“32 Bejaht hat dies das BVerfG etwa in einem Fall, bei dem anlässlich einer Neuausgabe der Werke
des (damals schon verstorbenen) Schriftstellers Heinrich Böll
dieser in einer Rezension als „steindumm, kenntnislos und
talentfrei” bezeichnet wurde.33
Nichts zu diskutieren gibt es auch bei der dritten Variante:
Wer die Ehre einer Person dadurch verletzt, dass er ihre Menschenwürde verletzt, erfüllt den Beleidigungstatbestand, was
das BVerfG etwa bejaht hat bei der karikaturistischen Darstellung des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten
Franz Josef Strauß als kopulierendes Schwein.34
c) Ehre muss man sich allerdings verdienen. Wer etwa
nach einem Besuch des Weihnachtsmarkes mit exzessivem
Glühweinkonsum an den Passauer Dom uriniert, ist ein „Pisser“, wer in einem Bordell arbeitet, ist eine „Prostituierte“,
wer wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes verurteilt
wurde, ist ein „Kinderschänder“35, wer jemanden ausraubt, ist
ein „Verbrecher“. Jenseits solcher Bezeichnungen ist eine
zusätzliche Herabwürdigung jedoch nicht erlaubt. Erreicht ist
die Grenze des Zulässigen jedenfalls dann, wenn die in § 192
StGB markierte Grenze überschritten wird, was bei den vorstehend aufgeführten Begriffen wohl noch nicht erreicht ist.
Das gilt auch für die Bezeichnung „Wildschleifer“, wie der
Jäger, um dessen Verhalten es hier geht, in einem anderen
Artikel genannt wurde. Denn wer mit seinem Auto ein totes
Reh an einem Seil über die Straße schleift, ist im wahrsten
Sinne des Wortes genau das: ein Wildschleifer.
d) Oftmals verschwimmen die Grenzen zwischen einem
Werturteil und einer Tatsachenbehauptung, weil eine Äußerung neben wertenden auch dem Beweis zugängliche Bestandteile enthalten kann. Das BVerfG sieht es wie folgt:
„Bei der Frage, ob eine Äußerung ihrem Schwerpunkt nach
als Meinungsäußerung oder als Tatsachenbehauptung anzusehen ist, kommt es entscheidend auf den Gesamtkontext der
fraglichen Äußerung an. Die isolierte Betrachtung eines umstrittenen Äußerungsteils wird den An-forderungen an eine
zuverlässige Sinnermittlung regelmäßig nicht gerecht“36. Die
Unterscheidung ist deshalb von Bedeutung, weil bei Werturteilen, vor allem im öffentlichen Meinungskampf, und der
dann nötigen Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und
Ehrenschutz eine Vermutung zugunsten der freien Rede gilt,
was bei Tatsachenbehauptungen nicht in der gleichen Weise
der Fall ist – das Behaupten von bewusst oder erwiesen unwahren Tatsachenbehauptungen umfasst der Schutz der Meinungsfreiheit nicht.37 Um eine Verkürzung des Grundrechtsschutzes zu verhindern gilt: Im Zweifel ist von einer subjektiven Beziehung des Äußernden zum Inhalt seiner Aussage
auszugehen, sprich von einem Werturteil und also einer Meinungsäußerung.
32
BVerfG NJW 1994, 2413 (2414).
BVerfG NJW 1993, 1462.
34
BVerfGE 75, 369.
35
Dazu Ostendorf/Frahm/Doege, NStZ 2012, 529 (533 ff.).
36
BVerfG ZUM 2013, 793 Rn. 18.
37
BVerfG NJW 1994, 1779.
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2. LG Neubrandenburg
Dem Journalisten der mecklenburg-vorpommerschen Tageszeitung warf die Staatsanwaltschaft vor, die Ehre des Jägers
durch die Verwendung der Bezeichnungen „Drecksjäger“
und „Rabauken-Jäger“ verletzt zu haben.
a) „Drecksjäger“
Die Bezeichnung „Drecksjäger“ stammt aus der in den sozialen Netzwerken geführten Diskussion zu dem dort ebenfalls
veröffentlichten Foto. Der Journalist hat diesen Begriff in
Anführungszeichen gesetzt und auf die heftige Diskussion im
Internet verwiesen. Anders als das AG Pasewalk hat das LG
die Wiedergabe der Äußerung als ein Zueigenmachen gewertet, weil es „an einer eigenen und ernsthaften Distanzierung“
gefehlt und der Journalist den Begriff in seinen eigenen Gedankengang eingefügt habe. Schon wegen der verwendeten
Anführungszeichen ist das nicht überzeugend.38 Zudem hat
der EGMR eine klare Position zu der Frage, inwieweit bei der
Wiedergabe von Drittäußerungen in Presseartikeln eine eigene Distanzierung nötig ist: „Es [ist] nicht mit der Aufgabe der
Presse vereinbar, über Tatsachen oder Meinungen und Ideen
zu informieren, die zu einer bestimmten Zeit im Umlauf
sind“, und gleichzeitig „von ihr allgemein zu verlangen, sich
systematisch und formell vom Inhalt eines Zitats zu distanzieren, das Dritte beleidigen, provozieren oder in ihrer Ehre
beeinträchtigen könnte.“39 Damit distanziert der EGMR sich
von jeglicher Distanzierungsnotwendigkeit. Der Hinweis des
Journalisten, der Begriff stamme aus den sozialen Netzwerken, und die Kenntlichmachung durch Anführungszeichen
genügt, um eine Billigung der wiedergegebenen Fremdäußerung und damit die Kundgabe einer „eigenen“ Nichtachtung
zu verneinen. Insoweit kann das Urteil des LG Neubrandenburg keinen Bestand haben.
b) „Rabauken-Jäger“
Bei der Frage, ob die Bezeichnung „Rabauken-Jäger“ den
Beleidigungstatbestand erfüllt, verweist das Gericht auf den
allgemeinen Sprachgebrauch und erteilt alternativen Deutungen eine Absage. Unter einem „Rabauken“ sei üblicherweise
ein rücksichtsloser, ungehobelter Mensch zu verstehen, der
gewalttätig vorgeht. Aber das ist nur die halbe Wahrheit:
Schon ein Blick in das Bedeutungswörterbuch des Dudenverlags hätte gezeigt, dass es sich bei dem Wort „Rabauke“
keineswegs um eine abwertende, sondern um eine allgemein
gebräuchliche Bezeichnung für ein rüpelhaftes Benehmen
handelt. Denn während die dort als Alternative angebotenen
Begriffe „Flegel“ oder „Rüpel“ mit dem Klammerzusatz
„abwertend“ versehen sind, ist eine solche Klassifizierung bei
dem Wort „Rabauke“ gerade nicht zu finden.40 Dort steht
allein die Abkürzung „ugs.“ für „umgangssprachlich“.
38
Siehe dazu BVerfG NJW 2004, 590 (591).
Siehe nur EGMR BeckRS 2009, 18509, Rn. 71; EGMR
BeckRS 2006, 00587, Rn. 77.
40
Siehe Duden, Bd. 10 – Das Bedeutungswörterbuch,
4. Aufl. 2010, S. 740 (Stichwort: Rabauke) sowie S. 382
(Stichwort: Flegel).
39
Das LG versucht seine Deutung durch zwei Argumente
zu stützen. Erstens stehe der Begriff „Rabauken-Jäger“ mit
dem Wort „Drecksjäger“ in einem unmittelbaren textlichen
Zusammenhang. Daraus lässt sich – wenn überhaupt – freilich nur dann etwas herleiten, wenn der Journalist sich die
Formalbeleidigung „Drecksjäger“ zurechnen lassen müsste,
was gerade nicht der Fall ist. Zweitens habe der Journalist
den Eindruck vermittelt, „dass es sich bei dem Jäger um
einen Gesetzesbrecher handelt, dessen Verstoß jetzt schon
feststeht und der, wie der Vorspann des Artikel wiedergibt,
mit einer Strafe zu rechnen hat“41. Darin erblickt das LG
„eine vorverurteilende Bewertung, welche dem Begriff ‚Rabauken-Jäger‘ eine zusätzliche ehrverletzende Gewichtung
verleiht“. Freilich ist auch das nicht überzeugend. Denn das
Wort „rechnen“ lässt sich durchaus so verstehen, dass „etwas
droht“. Und gedroht hat dem Jäger immerhin der Entzug
seines Jagdscheins, den er nur behalten durfte nach Abschluss
eines Vergleichs und der Zahlung von 500 Euro zugunsten
des Landesjagdverbandes. Außerdem greift der Vorspann nur
auf, was der Sprecher des Landkreises umgangssprachlich so
formuliert hat: „Er wird irgendeine Buße aufgebrummt bekommen.“ Falls darin eine Vorverurteilung zu sehen ist, muss
sie der Journalist sich nicht zurechnen lassen. Zudem ignoriert das LG – trotz des im Urteil abgedruckten Originalartikels – die Bildunterschrift: „Was der Jagd-Pächter tat, hat
wohl Konsequenzen, zumindest laut Straßenverkehrsordnung.“ Ist jemand schon feststehend ein Gesetzesbrecher,
wenn er „wohl“ der Täter ist? Vermutlich nicht.
Alles in allem trägt die Argumentation des LG nicht: Weder ist dem Journalisten der Begriff „Drecksjäger“ zuzurechnen (weshalb der vom Gericht konstruierte textliche Zusammenhang entfällt) noch ist dem Artikel auch nur ansatzweise
eine Vorverurteilung zu entnehmen (weshalb sich daraus für
den Begriff „Rabauken-Jäger“ auch keine „zusätzlich ehrverletzende Gewichtung“ herleiten lässt). Damit lässt sich gut
vertreten, dass die Bezeichnung „Rabauken-Jäger“ schon tatbestandlich keine Beleidigung darstellt.42 Denn wer ein totes
Reh an einem Seil hinter seinem Auto herzieht, verhält sich
nun einmal nicht waidgerecht. Wer so etwas tut, kann sich
über die Bezeichnung „Rabauken-Jäger“ wahrlich nicht beschweren.
V. Rechtfertigung
1. § 193 StGB bzw. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG
Neben den allgemeinen Rechtfertigungsgründen kommt bei
den Beleidigungsdelikten als besonderer Rechtfertigungsgrund § 193 StGB in Betracht. Er beruht auf dem Prinzip der
Güter- und Interessenabwägung.43 Zunächst ist festzustellen,
ob überhaupt ein „berechtigtes“ Interesse vorliegt. Insoweit
enthält § 193 StGB eine beispielhafte („und ähnliche Fälle“)
Aufzählung. Da es sich um einen Anwendungsfall der Inte41
Hervorhebung im Original mittels Unterstreichung.
Zur dogmatischen Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung des Tatbestandes siehe Schmidt/Priebe,
Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 14. Aufl. 2015, Rn. 944 f.,
992.
43
Rengier (Fn. 19), § 29 Rn. 37.
42
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ressenabwägung handelt, müssen die beleidigenden Äußerungen zur Durchsetzung der verfolgten Interessen geeignet,
erforderlich und bei Abwägung der widerstreitenden Interessen angemessen sein. Bei der Abwägung sind das Grundrecht
auf Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG und auf Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG zu berücksichtigen. Manche sehen in § 193 StGB nur eine „besondere
Ausprägung des in Art. 5 GG normierten Grundrechts der
freien Meinungsäußerung“44, andere interpretieren die Norm
als eine Regelung zur Lösung einer Kollision zwischen Art. 5
Abs. 1 GG und dem Recht der Ehre.45 Letzteres ist überzeugender, nicht zuletzt weil sich aus einem Freiheitsgrundrecht
des einen nicht zugleich ein Eingriffsrecht in ein Rechtsgut
eines anderen ableiten lässt.46
Eine Abwägung findet allerdings in der Regel dann nicht
statt, wenn es sich um eine Formalbeleidigung, eine Schmähkritik oder um einen Fall der Verletzung der Menschenwürde
handelt.47
2. LG Neubrandenburg
a) „Rabauken-Jäger“ als Schmähkritik
Das LG Neubrandenburg ist bezüglich der Bezeichnung
„Rabauken-Jäger“ von einer „Schmähkritik“ ausgegangen,
weil in dem Artikel nahezu ausschließlich die Diffamierung
des Jägers im Vordergrund stehe. Allerdings behandeln zwei
Drittel des Artikels gar keine personenbezogenen Aspekte,
vielmehr sind dort eine Schilderung des Geschehens zu finden, Ausführungen zur Reaktion in den sozialen Netzwerken,
Angaben zum Standpunkt des Landkreises und zu der Meinung eines anderen Jägers. Der Hauptteil des Artikels bildet
die öffentliche Kritik ab und setzt sich mit dem nicht waidgerechten Verhalten des Jägers auseinander.48 Schon gar nicht
ist die Annahme einer reinen Schmähung haltbar mit Blick
auf die Rechtsprechung des BVerfG, das in st. Rspr. einen
restriktiven Anwendungsbereich der „Schmähkritik“ betont.49
Es kann überhaupt keine Rede davon sein, dass „die persönliche Kränkung das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund [ge]drängt“50 hat.
b) Abwägung der widerstreitenden Interessen
Wohl ahnend, dass die Einstufung als Schmähkritik nicht
haltbar ist, hat das LG Neubrandenburg hilfsweise begründet,
44
BGH NJW 1959, 636.
Zaczyk (Fn. 31), § 193 Rn. 6.
46
Zutreffend Zaczyk (Fn. 31), § 193 Rn. 6; siehe dazu ferner
Merkel/Putzke, Journal of Medical Ethics 2013, 444 (446);
differenzierend (unter Verweis auf die „Wechselwirkungslehre“) Sinn, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.),
Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 193 Rn. 23.
47
Vgl. BVerfG NJW 1995, 3303 (3304); BVerfG NJW 1994,
1779; OLG Oldenburg NStZ-RR 2008, 201; Eisele (Fn. 23),
Rn. 648.
48
Ausführlich dazu Putzke, NJ 2016, 177 (197).
49
Siehe nur BVerfG ZUM 2013, 793 (795); BVerfG NJW
1995, 3303 (3304).
50
BVerfG NJW 2009, 3016.
45
warum bei der Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und
dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht letzteres vorgehe. Es
handele sich bei dem von dem Journalisten aufgegriffenen
Thema nicht um eine „die Allgemeinheit bzw. Öffentlichkeit
wesentlich berührende Frage“, ebenso wenig sei der Jäger
eine „öffentliche Person“, weshalb kein „überwiegendes Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit an einer Individualisierung und persönlichen Herabsetzung“ des Jägers bestehe.
Zudem sei der Sachverhalt verfälscht worden, weil er suggeriere, der Jäger habe das Reh nicht nur gejagt und erlegt,
sondern auch mit einem Seil bis zum endgültigen Bestimmungsort gezogen. Schließlich gebe es eine Vorverurteilung.
Bei dieser oberflächlichen und floskelhaften Begründung
übersieht die Berufungskammer eine ganze Menge: Erstens
ist es zweifelhaft, ob das LG die Relevanz der Berichterstattung korrekt erfasst hat. Mit einem Satz wischt es eine im
Internet zügellos geführte Debatte vom Tisch, was sich nur so
erklären lässt, dass das Gericht mit diesem Medium wohl nur
unzureichend vertraut ist. Im Urteil des AG heißt es dazu,
dass es in den „sozialen Netzwerken zu einem Furor“ gekommen sei. Die vielen Kommentare im Netz zeigen eben
das: eine große Entrüstung über das Verhalten des Jägers.
Allein deshalb lässt sich von einer „gesellschaftlich relevanten Frage“51 sprechen. Das gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass nicht irgendwer ein totes Tier transportiert hat,
sondern ein Jäger, der wissen sollte, was waidgerecht ist und
was nicht. Jedenfalls im Zusammenhang mit Jagdgeschehen,
wozu die Tierbeseitigung im Jagdgebiet zählt, sind Jäger per
se Personen, die mehr als andere in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, nicht zuletzt weil sie im öffentlichen
Raum ausnahmsweise Waffen tragen und benutzen dürfen.
Zudem hat eine Vorverurteilung – wie oben gezeigt – in
dem Artikel gar nicht stattgefunden. Auch dieser Aspekt
verfängt daher nicht. Was bleibt, ist allein der Verweis darauf, dass der Sachverhalt scheinbar verfälscht dargestellt
wurde. Aber wurde er das tatsächlich?
An dieser Stelle setzt die Hauptkritik an. Das LG hat sich
mit keinem Wort der Frage gewidmet, ob der Redakteur die
journalistische Sorgfalt eingehalten hat.52 Doch genau das ist
der springende Punkt. Immer wieder ist in dem Urteil zu
lesen, dass der in dem Artikel dargestellte Lebenssachverhalt
sich tatsächlich ganz anders abgespielt habe. Das allerdings
ist gerade nicht der entscheidende Punkt, dies ist vielmehr der
eigentliche Rechtsfehler des Urteils. Zu klären gewesen wäre,
ob der Journalist sich objektiv sorgfaltswidrig verhalten hat.53
Dass dabei eine Ex-post-Betrachtung falsch wäre, liegt auf
der Hand. So ein Maßstab würde von der Meinungs- und
Pressefreiheit kaum etwas übrig lassen. Es geht bei Presseberichten mitnichten um eine wahrheitsgemäße Darstellung,
sondern um das Bemühen darum.54 Nicht ohne Grund spricht
etwa § 5 des Landespressegesetzes für das Land Mecklen51
Zu diesem Maßstab siehe BVerfG NJW 1995, 3303 (3304).
Ausführlich dazu Putzke, NJ 2016, 177 (179 ff.).
53
Siehe dazu – allerdings bezogen auf Behauptungen tatsächlicher Art – Rengier (Fn. 19), § 29 Rn. 45; Wessels/Hettinger
(Fn. 19), Rn. 518.
54
Zutreffend Peters, NJW 1997, 1334 (1335).
52
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ZJS 3/2016
396
LG Neubrandenburg, Urt. v. 5.2.2016 – 90 Ns 75/15
Putzke
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burg-Vorpommern (LPrG M-V) von einer „nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Wahrheit“.
Abzustellen ist dabei auf die konkrete Situation und die
Sorgfalt eines objektiven Durchschnittsdritten des Verkehrskreises, dem der Handelnde angehört.55 Konkret ist zu fragen,
wie ein besonnener und gewissenhafter Journalist sich in der
Situation des Redakteurs verhalten hätte. Dazu gehört eine
ordnungsgemäße Recherche. Insoweit ist erwähnenswert,
dass der Deutsche Presserat bei einer Beschwerde gegen die
Berichterstattung die einschlägige Ziffer 2 des Pressekodex
nicht für verletzt erklärte.56 Zu Recht! Denn der Redakteur
hat eine situationsgerechte Beurteilung getroffen: Er hat sich
um die Wahrheit bemüht (wiederholte Kontaktversuche zum
Jäger, nicht nur telefonisch), er hat die ihm bekannten Tatsachen vollständig berichtet und nichts weggelassen, keine
erwiesen oder bewusst unwahren Tatsachenbehauptungen
aufgestellt sowie sich bei staatlichen Institutionen informiert
(dem Pressesprecher des Landkreises) und unbeteiligte Dritte
befragt (z.B. Landesjagdverband, ehemaliger Arbeitskollege).
Zwar fehlt in dem Artikel in der Tat der Hinweis, dass es
tatsächlich um die Beseitigung einer Gefahrenquelle statt um
das Wegschaffen eines eben erst erlegten Tieres ging. Doch
hat der Journalist diesbezüglich nichts Falsches behauptet –
er konnte von diesem Teil des Sachverhalts schlicht nichts
wissen. Und nicht zuletzt enthält der Artikel auch den Hinweis, dass der betroffene Jäger trotz mehrerer Versuche nicht
zu erreichen war. Für jeden Leser war damit klar erkennbar,
dass die Darstellung möglicherweise einseitig ist.
Alles in allem hat der Journalist genau den „Mindestbestand an Beweistatsachen“57 zusammengetragen, den er nach
Erschöpfung aller Informationsmöglichkeiten in der Kürze
der Zeit erhalten konnte, und damit die „nach den Umständen
gebotene Sorgfalt“ walten lassen, weshalb insbesondere keine
Verletzung von § 5 LPrG M-V gegeben ist.
Man kann die Sache aber auch ganz anders sehen: Wie
wäre der Sachverhalt denn zu beurteilen, wenn der Journalist
noch ein paar Tage gewartet, die Urlaubsrückkehr und Stellungnahme des Jägers abgewartet und den Sachverhalt aus
seiner Sicht, also ex post geschildert hätte, sich aber nichtsdestoweniger angesichts des dann immer noch nicht waidgerechten Wildschleifens exakt für die gleiche Überschrift und
damit für den „Rabauken-Jäger“ entschieden hätte? Soll es
tatsächlich bei Strafe verboten sein, jemanden so zu bezeichnen, der ein totes Tier – warum auch immer – eine Straße
entlang geschleift hat? Selbst wenn man von einer abwertenden Bezeichnung ausgeht, hat der Jäger durch sein nicht
waidgerechtes Verhalten dazu Anlass gegeben. Dann aber
muss er, in Anwendung von § 193 StGB und unter Berücksichtigung der Ausstrahlungswirkung des Grundrechts auf
freie Meinungsäußerung, eine solche Bewertung seines Verhaltens hinnehmen, selbst wenn dies geeignet ist, sein Ansehen als Jäger zu mindern.
55
Zur Kritik an dieser Maßstabsfigur siehe etwa Hardtung/
Putzke, Examinatorium Strafrecht AT, 2016, Rn. 267 f.
56
Deutscher Presserat (Beschwerdeausschuss 2), Beschl. v.
2.12.2014 – Beschwerdesache 0853/14/2-BA.
57
BGH NJW 1977, 1288 (1289).
VI. Fazit
Oft wird darüber geklagt, dass das BVerfG die Meinungsfreiheit zur „Narrenfreiheit“58 oder gar „Beschimpfungsfreiheit“59 umgedeutet habe.60 Dabei wird jedoch die Bedeutung
dieses Grundrechts verkannt, das für eine Demokratie
schlechterdings konstitutiv ist. Wenn aus Furcht vor einer
Sanktion ein abschreckender Effekt für den Gebrauch des
Grundrechts auf freie Meinungsäußerung ausgeht, droht eine
übermäßige Einengung der Meinungsfreiheit, was dazu führen kann, dass auch zulässige Kritik unterbleibt (sog. chilling
effect, Entmutigungseffekt).61 Das gilt gerade und vor allem
für Äußerungen der Presse.
Damit werden Betroffene mitnichten schutzlos gestellt:
Denn strafloses Verhalten kann gleichwohl eine rechtswidrige Persönlichkeitsverletzung darstellen. Selbst wenn die
Bezeichnung als „Rabauken-Jäger“ keine Strafbarkeit nach
§ 185 StGB zu begründen vermag, so kann zumindest62 die
Individualisierbarkeit63 des Jägers, falls man sie (presserechtlich) für unzulässig hält, durchaus zivilrechtliche Folgen
haben. Diese Frage ist hier aber nicht zu klären.
Prof. Dr. Holm Putzke, LL.M. (Krakau), Passau
58
Hilgendorf (Fn. 19), § 7 Rn. 25 m.w.N.
Foth, JR 1996, 252 (254).
60
Dazu Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 63. Aufl. 2016, § 193 Rn. 25 f.
61
Dazu BVerfG NJW 1995, 3303 f.; siehe dazu auch Jahn,
JuS 2016, 468 (469).
62
Offen gelassen wird hier, inwieweit auch insgesamt, unabhängig von der Individualisierbarkeit, eine zwar straflose,
zivil- oder presserechtlich aber gleichwohl rechtswidrige Ehrverletzung in Betracht kommt.
63
Zur Notwendigkeit der Individualisierbarkeit für eine
Beleidigungsstrafbarkeit siehe Kindhäuser (Fn. 18), Vor
§§ 185-200 Rn. 6.
59
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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com
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Kett-Straub/Streng, Strafvollzugsrecht
Wick
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B uc hre ze ns io n
Gabriele Kett-Straub/Franz Streng, Strafvollzugsrecht, Verlag C.H.Beck, München 2016, 185 S., € 9,90.
Die Grundzüge des Strafvollzugrechts auf weniger als 200
Seiten darzustellen, ist ein ambitioniertes Ziel, das, um das
Beurteilungsergebnis vorwegzunehmen, den beiden Autoren
Kett-Straub und Streng durchaus gelungen ist. Ausweislich
des Vorwortes soll das Lehrbuch, welches in der Reihe JuraKompakt erschienen ist, „nicht bloßes Strafvollzugsrecht,
sondern Strafvollzugskunde“ vermitteln. Dabei liegt der
Schwerpunkt auf der Rechtsstellung des Gefangenen, daneben werden Themen wie die Vollzugsziele, die Vollzugsaufgabe und der Vollzugsablauf erläutert.
Untergliedert ist das Buch in vier Abschnitte unterschiedlicher Größe. Der erste Abschnitt vermittelt auf rund 60 Seiten die Grundlagen des Strafvollzugrechts mit Untergliederungspunkten etwa hinsichtlich der Abgrenzung von Strafvollzugsrecht und Strafvollstreckung, mit dem System und
dem organisatorischen Ablauf des Strafvollzuges sowie den
möglichen Rechtsbehelfen und dem gerichtlichen Verfahren.
Durch die Darstellung der Rechtsgrundlagen werden diese
zunächst in tabellarischer Form aufgezählt, bevor im Anschluss daran auf die Föderalismusreform des Jahres 2006
eingegangen wird. Die Autoren erläutern, dass die Regelungen des Strafvollzugs seitdem nicht mehr Gegenstand der
konkurrierenden Gesetzgebung sind, sondern nunmehr in den
Zuständigkeitsbereich des Landesgesetzgebers fallen (Art. 70
Abs. 1 GG). Es wird ferner darauf hingewiesen, dass bis dato
fast alle Bundesländer mit Ausnahmen von Berlin, SachsenAnhalt und Schleswig-Holstein eigene Landesstrafvollzugsgesetze erlassen haben. Außerdem wird erläutert, dass trotz
der neuen Kompetenz der Länder hinsichtlich des Strafvollzugs die Gesetzgebungskompetenz für das gerichtliche Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG beim Bundesgesetzgeber
verbleibt (Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung
nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG). Bewertet wird diese Novellierung durch die Verf. als eine überflüssige Rechtszersplitterung mit der Folge der Unübersichtlichkeit der Regelungen.
Auch wenn die Autoren in ihrem Vorwort darauf hinweisen,
dass in diesem Lehrbuch ausschließlich die landesrechtlichen
Regelungen des bayrischen Gesetzgebers berücksichtigt werden, wäre es – gerade für diejenigen Studierenden an den
übrigen Hochschulen außerhalb Bayerns – wünschenswert
gewesen, dass in der tabellarischen Übersicht die Rechtsgrundlagen aller Landesgesetzgeber aufgeführt werden.
Im selbigen Kapitel wird als primäres Vollzugsziel über
die Dauer der Gefangenschaft hinaus von den Autoren die
Resozialisierung des Gefangenen hervorgehoben, wobei mit
dem Wortlaut des § 2 StVollzG argumentiert wird, wonach
der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten durch
den Gefangenen eine der Resozialisierung nachgeordnete
Aufgabe darstellt. Sodann werden die damit nicht im Einklang stehenden Unterschiede in Art. 2 BayStVollzG aufgezeigt, da dort der Auftrag des Gesetzgebers zur Behandlung
des Gefangenen im Wortlaut der Norm hinter dem Schutz der
Allgemeinheit normiert wird. Die Verf. verdeutlichen jedoch,
dass trotz der Umkehrung des Wortlautes in der bayrischen
Landesregelung der verfassungsrechtlich geregelte Resozialisierungsauftrag des Strafvollzugs nicht relativiert wird. Interessant wäre auch an dieser Stelle ein – zumindest in einer
Fußnote erfasster – Vergleich mit den übrigen landesrechtlichen Normen gewesen.
Rechtspolitisch und gesellschaftlich von hoher Relevanz
ist der Exkurs zu „Muslime im Strafvollzug“, in dessen Rahmen auf Radikalisierungstendenzen durch Islamisten und der
Subkultur der Extremisten eingegangen wird.
Im zweiten Abschnitt mit dem Titel „Der Prozess des
Vollzugs“ werden das Aufnahmeverfahren, die Hauptphase
des Strafvollzugs sowie die Entlassung aus dem Strafvollzug
mit ihren verschiedenen Vorbereitungsmaßnahmen dargestellt. Im Rahmen der Erläuterungen des Vollstreckungsplans
werden die sog. Selbststeller beschrieben, also diejenigen
Strafgefangenen, die freiwillig zum Strafantritt erschienen
sind. In diesem Kontext zeigen die Autoren erstmalig eine
Differenzierung des BayStVollzG im Vergleich zu anderen
Landesregelungen in der Gestalt auf, dass es in Bayern für
die Selbststeller, anders als etwa in Nordrhein-Westfalen mit
seinen Einweisungsanstalten, keine Spezialbehandlungen
gibt. Anschließend werden beispielsweise die Vor- und
Nachteile des Einweisungsverfahrens dargelegt, bevor ausführlicher auf die Besonderheiten des Aufnahmeverfahrens
eingegangen wird. Im Unterkapitel „Hauptphase des Vollzugs“ werden exkursartig interessante Praxisbeispiele und
Statistiken wie etwa „Tiere im Vollzug“, „Selbstmord im
Vollzug“, „Stromkostenpauschale“ oder „Knasttattoos“ beschrieben, die die Lektüre des Lehrbuches merklich auflockern und ein gutes Hintergrundwissen vermitteln.
Der dritte Abschnitt beschreibt schließlich aktuelle Probleme des Strafvollzugs, wie fehlende Arbeitsangebote, Drogen, den hohen Ausländer- und Migrantenanteil oder die
Gewalt unter Gefangenen. Im Anschluss werden im vierten
Abschnitt kompakt auf rund 15 Seiten die besonderen Arten
des Vollzugs wie etwa der Jugendstrafvollzug oder der Maßregelvollzug erläutert, bevor ein Exkurs zur Untersuchungshaft, welche nicht unter den Begriff des Strafvollzugs fällt,
die Darstellungen abrundet. Das am Ende des Buches befindliche Stichwortverzeichnis ermöglicht eine gezielte Suche in
dem an sich sehr übersichtlich gestalteten Aufbau.
Das Fazit der Lektüre des Lehrbuches fällt, wie bereits
einleitend vorweggenommen, positiv aus. Das Lehrbuch von
Kett-Straub und Streng passt vom Konzept sowie vom inhaltlichen Aufbau gut in die Reihe der JuraKompakt-Bücher, die
sich insbesondere für den Einstieg in ein Rechtsgebiet aber
auch zur gezielten Prüfungsvorbereitung für Examens- oder
Schwerpunktklausuren gut eignen und sich aufgrund ihrer
Kürze bei Studierenden zunehmender Beliebtheit erfreuen.
Vor diesem Hintergrund ist auch die hier besprochene Neuerscheinung zum Strafvollzugsrecht nicht nur für die gezielte
Prüfungsvorbereitung (vorzugsweise an bayerischen Universitäten) definitiv zu empfehlen, sondern insbesondere auch
für Interessierte außerhalb der Universität, die sich einen
Überblick über das Rechtsgebiet des Strafvollzugs verschaffen wollen.
Wiss. Mitarbeiterin Katrin Wick, Frankfurt am Main
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ZJS 3/2016
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