SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Das kann doch nicht wahr sein! –
Musikalische Irrtümer (3)
Personen – falsch eingeschätzt!
Von Nele Freudenberger
Sendung:
Mittwoch, 01. Mai 2016
Redaktion:
Ulla Zierau
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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SWR2 Musikstunde mit Nele Freudenberger
Das kann doch nicht wahr sein! – Musikalische Irrtümer (3)
Personen – falsch eingeschätzt!
Signet
Musikalische Irrtümer gibt es beeindruckend viele in der Geschichte und sie sind
von unterschiedlichster Färbung. Ein Irrtum der besonders nahe liegt, ist die
falsche Beurteilung von Musikern – ein Fehler, der sich nicht nur bei Musikkritikern
einschleicht! Darum wollen wir uns in der heutigen Musikstunde kümmern!
Mein Name ist Nele Freudenberger
Titelmusik
Wenn man schon inkognito wo erscheint, dann darf man sich nicht wundern,
wenn es zu großen Missverständnissen kommt – vielleicht sogar von kränkendem
Ausmaß. Die Oper ist voller solcher Geschichten, deshalb hätten die
Protagonisten der folgenden Anekdote es besser wissen müssen.
Es begab sich, dass der Weltklassecellist Gregor Piatigorsky und der
Weltklassedirigent Wilhelm Furtwängler in Berlin einen Tanzkurs besuchten.
Inkognito, wie gesagt. Und kaum dass die ersten Tanzschritte getan waren, sagte
die Lehrerin: „das sieht man gleich, dass Sie nicht besonders musikalisch sind!“
Ob die Geschichte sich wirklich so zugetragen hat, vermag ich nicht zu
beurteilen, aber gut ist sie allemal und nachzulesen in Piatigorskys
Autobiographie „mein Cello und ich und unsere Begegnungen“ jetzt aber
Piatigorsky, sein Cello und Artur Rubinstein – leider nicht Furtwängler – mit Musik
von Johannes Brahms – zu der kann man ja eh nicht so gut tanzen.
Musik 1
Johannes Brahms
Sonate Nr. 1 op 38 für Cello und Klavier
Allegretto quasi menuetto
Gregor Piatigorsky
Artur Rubinstein
02213 / Dacapo, 1544553
3201573 001, Take 2 Zeit 5:34
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Der zweite Satz aus der Sonate Nr. 1 op 38 in e-Moll für Cello und Klavier von
Johannes Brahms. Artur Rubinstein begleitete Gregor Piatigorsky, dem von einer
Tanzlehrerin angeblich versichert wurde, dass er unheilbar unmusikalisch sei.
Wenn das schon unglaublich ist, so übertrifft die nächste Geschichte diese hier
noch um Längen!
Der größtmögliche Irrtum in puncto Einschätzen von Kompetenz ist dem
Komponisten, Kontrapunktisten und Musikpädagogen Johann Georg
Albrechtsberger unterlaufen. Der soll nämlich zu dem Wiener Musiker Jan
Emanuel Dolezalek gesagt haben: „gehen Sie mir mit dem, der hat nichts gelernt
und wird nie etwas Ordentliches machen“
Gemeint hat er übrigens seinen Schüler Ludwig van Beethoven. Ups!
Einblendung: erste Takte Eroica (Akkordschläge)
Ludwig van Beethoven
1. Satz, Symphony No. 3 op 55 „Eroica“
Philipp Herreweghe, Royal flemish Philharmonic
Pentatone, LC12686, PTC 5186312, 827949031267
CD1 Track 5
Zeit: ca. 0.05
Beethoven und Albrechtsberger verband allerdings ohnehin kein besonders
herzliches Verhältnis: Beethoven nannte Albrechtsberger dafür einen MusikPedanten. Die wirklich interessante Frage ist allerdings, warum Beethoven
überhaupt noch bei dem konservativen Albrechtsberger studiert hat?
Längst hatte er einen Namen als Komponist, hatte seine Studien bei Joseph
Haydn beendet – auf dessen anraten hat er übrigens auch angefangen, bei
Albrechtsberger in die Lehre zu gehen.
Dennoch: Haydn war als Lehrer sehr viel angesehener als Albrechtsberger und
Beethoven hatte bereits Eingang in die adeligen Salons gefunden. Es wäre also
eigentlich nicht nötig gewesen. Seine Karriere lief hervorragend! Außerdem
bedeutete ein Studium des Kontrapunkts einen kompositorischen Rückschritt –
zurück unter ein Joch voller Regeln, von dem man sich gerade erst befreit hatte!
Aber was die Komponisten schon Modernes praktizierten, war beileibe beim
adeligen Geschmack noch nicht voll angekommen – wie das bei Neuer Musik
eben so ist: damals wie heute!
Haydn empfahl Beethoven das Studium bei Albrechtsberger aus
unterschiedlichen Gründen: zum einen brachte es Routine beim täglichen
Komponieren – und da wusste Haydn schließlich wovon er sprach – außerdem
war der Kontrapunkt gerade am Kaiserhofe noch ausgesprochen beliebt! Wenn
Beethoven also eine Stelle irgendwo als Hofkomponist haben wollte, dann musste
er nachweisen, dass er das Handwerk studiert hatte.
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Wir nehmen Beethoven immer als Freigeist wahr, was nicht zuletzt an
Aussprüchen wie diesem liegt: „Fürst! Was Sie sind, sind Sie durch Zufall und
Geburt, was ich bin, bin ich durch mich; Fürsten hat es und wird es noch
tausende geben; Beethoven gibt’s nur einen!“
Trotzdem hat er tatsächlich stets eine Stelle als Hofkomponist angestrebt. Als Sohn
eines Hofmusikers war ihm durchaus klar, dass eine solche Stelle die einzige
Möglichkeit war, in finanzieller Sicherheit zu leben.
Und so war der Schritt bei Albrechtsberger Kontrapunkt zu studieren, nur
naheliegend. Und wir können davon ausgehen, dass sich auch Albrechtsbergers
großes Fehlurteil über Beethovens Kompositionsfähigkeit lediglich auf den
Kontrapunkt bezog. Das wollen wir zumindest zu dessen Ehrenrettung annehmen.
Bei seiner vernichtenden Kritik bezog er sich übrigens auf eins von Beethovens
Streichquartetten. Wer weiß, vielleicht war es das op. 18 Nr. 4 – zeitlich müsste das
passen, denn der Wiener Musiker zeigte Albrechtsberger das Stück um 1800 und
dieses Quartett stammt aus dem Jahre 1799
Musik 2
Ludwig van Beethoven op 18,4
Allegro
Artemis Quartett
M0255222.004
Zeit 4:14
Das Artemisquartett mit dem vierten Satz aus Beethovens Streichquartett op 18,4
– vielleicht das Quartett, das Johann Georg Albrechtsberger zu der größten
Fehleinschätzung der Musikgeschichte gebracht hat: nämlich dass von
Beethoven nichts zu erwarten sei.
Aber man muss von seinen Schülern nicht zwangsläufig das schlechteste
annehmen, um falsch zu liegen. Franz Liszt beispielsweise hatte einen Schüler
namens Carl Tausig. Schon dass ich ihn vorstellen muss, spricht Bände! Denn
hätte sich alles so entwickelt, wie Franz Liszt es vorhergesagt hat, dann wäre
Tausig jetzt genauso ein Begriff wie Liszt. In der Autobiographie der
Musikschriftstellerin La Mara heißt es nämlich über einen Besuch bei Franz Liszt in
Weimar: „Da saß Er am Flügel und neben ihm am zweiten Klavier sein Schüler
Tausig, sehr jung an Jahren, von dem der Meister das große Wort gesprochen: „Er
wird auf meine Schultern treten““.
Liszt also ging davon aus, dass Tausig ihn noch überflügeln würde – oder La Mara
hat hier die Formulierung etwas übertrieben, was auch nicht auszuschließen ist.
Fakt ist auf jeden Fall, dass Liszt sehr viel von Tausig gehalten haben muss. Schon
im Alter von 14 Jahren ging der junge Pole aus Warschau nach Weimar um bei
Liszt zu studieren. Vielleicht hat Liszt sich deshalb zu diesen Worten hinreißen
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lassen, weil er in Tausig ein Wunderkind sah, wie er selbst eines gewesen war – mit
ehrgeizigem Vater, der alles an eine gute Ausbildung des Sohnes setzte.
Während Tausigs Karriere in Deutschland gut verlief, bekam er in Wien praktisch
kein Bein auf den Boden, auch wenn er gemeinsam mit Brahms dessen Sonate
für zwei Klaviere dort uraufführte.
Ursprünglich war diese Sonate das Klavierquintett op 34 – aber der immer
unzufriedene Brahms hat es zu besagter Sonate umgearbeitet.
Tausigs Kompositorische Versuche liefen dafür ins Leere. Bemerkenswert sind
lediglich einige Bearbeitungen beliebter Orchesterwerke für Zwei Klaviere.
Er starb mit nur 29 Jahren – entsprechend klein sein Oeuvre.
Hier eine seiner Bearbeitungen, gespielt vom Klavierduo Tal und Groethuysen.
1.52
Musik 3
Richard Wagner/Carl Tausig
Die Meistersinger von Nürnberg: Prelude
Yaara Tal und Andreas Groethuysen
Sony Classical, LC06868, 88875165872, 888751658721
CD 4 Track1
Zeit 8:39
Yaara Tal und Andreas Groethuysen mit dem Prelude aus Richard Wagners Oper:
die Meistersinger von Nürnberg in der Fassung für Klavier zu vier Händen von Carl
Tausig.
Carl Tausig, ein Schüler Liszts, von dem Liszt offenbar überzeugt war und ihm eine
große Zukunft prophezeite – zu Unrecht, wie man heute weiß.
Ein Komponist, der auch zu viele Vorablorbeeren geerntet hat ist Joseph Martin
Kraus.
Er erhielt nämlich schon zu Lebzeiten das Prädikat: Odenwälder Mozart. Ein Titel,
der falsche Erwartungen weckt.
Denn außer den fast identischen Lebensdaten – Kraus wurde ein Jahr älter als
Mozart – und dem Umstand, dass beide Komponisten waren, haben die beiden
eigentlich nichts gemeinsam. Weder stilistisch noch biographisch.
Kraus war kein Wunderkind, er studierte Jura und erst spät entschied er sich,
Komponist zu werden. Mit 22 ging er gemeinsam mit einem schwedischen
Kommilitonen in dessen Heimat, hielt dort drei Hungerjahre durch, bis er
tatsächlich endlich eine Anstellung als Kapellmeister am Hof König Gustav III. von
Schweden bekam und Direktor der schwedischen Musikakademie wurde.
Im Rahmen dieser finanziellen Sicherheit komponierte er durchaus hörenswerte
und originelle Werke – aber ein Mozart war er eben beileibe nicht.
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Im Gegensatz zu Mozart übrigens war eins seiner ERSTEN Werke ein Requiem – er
schrieb es noch in Deutschland, während seines Jurastudiums. Das musste er
allerdings 1775 kurzzeitig unterbrechen, weil ein Verleumdungsprozess gegen
seinen Vater lief. Er reiste also zurück zu seinen Eltern und nutzte die Zeit zum
komponieren. Warum er allerdings als erstes ausgerechnet ein Requiem
geschrieben hat und ob es jemandem Bestimmten galt, konnte man bisher nicht
herausfinden.
Hier also ein Höreindruck von einem sehr frühen Odenwälder Mozart.
Musik 4
Joseph Martin Kraus
Requiem, Kyrie und dies irae
Michael Schneider, La Stagione Frankfurt, Deutscher Kammerchor
CPO, LC8492, 777409-2, 761203740925
Track 16 und 17
Zeit: 1:55 und 1:37
Der deutsche Kammerchor und La Stagione Frankfurt unter der Leitung von
Michael Schneider mit dem Kyrie und dem dies irae aus dem Requiem von
Joseph Martin Kraus auch der Odenwälder Mozart später auch schwedischer
Mozart genannt – auch wenn nicht bekannt ist, wer ihm diesen Titel verlieh. Denn
außer dem gleichen Geburtsjahr und einem annähernd gleichen Todesjahr –
Kraus wurde ein Jahr älter – haben die beiden wirklich nichts gemein.
Ein großer Irrtum, der leider aus Mangel an Möglichkeiten nicht häufig genug
widerlegt wurde ist der, dass Frauen nicht komponieren könnten.
Trotzdem gibt es welche, die schon früh bewiesen haben, dass das natürlich
nicht richtig ist. Aber ihre Schicksale sind meist mit einem bitteren Beigeschmack
versehen.
Berühmteste verkannte Komponistin: Fanny Hensel – Schwester von Felix
Mendelssohn Bartholdy.
Was in ihrem Fall so besonders bitter ist, ist nicht, dass ihr Talent nicht erkannt und
nicht gefördert wurden – im Gegenteil – sondern dass ihr ein
Komponistinnenleben, als es eben so weit gewesen wäre, verwehrt wurde. Doch
von vorn. Sie war eins von vier Kindern der Bankiersfamilie Mendelssohn, vier
Jahre älter als ihr Bruder Felix.
Die beiden standen sich besonders nah und die Eltern behandelten sie fast wie
Zwillinge.
Sie bekamen beide Klavierunterricht, Kompositionsunterricht, Unterricht in
Kontrapunkt und waren beide in der Singakademie zu Berlin von Carl Friedrich
Zelter.
Die Krönung musikalischer Förderung waren aber die sogenannten
Sonntagsmusiken, denn Mendelssohns hielten mit ihren talentierten Kindern nicht
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hinterm Berg! Regelmäßig wurde eine solche Sonntagsmusik veranstaltet, auf der
Fanny und Felix Gelegenheit hatten, ihre Arbeiten zu präsentieren. Sei es als
Interpreten von Musikstücken oder eben auch als Komponisten: dafür ließ der
Vater dann auch schon mal ein ganzes Orchester buchen und in die heimischen
vier Wände bringen – oder wenn es kammermusikalische Werke waren die
präsentiert werden sollten, eben entsprechend weniger.
Hier konnten die Geschwister sich wirklich austoben, inklusive Publikumsreaktion
war das Talentförderung par excellence. Abgesehen davon, dass sich hier die
geistige Elite der damaligen Zeit traf.
Doch etwa als Fanny 15 Jahre alt wurde, wendete sich das Blatt. Die Eltern
reagierten empört, als sie erfuhren, dass Fanny ernstlich Komponistin werden
wollte!
Während Felix weiterhin – auch mit Reisen – gefordert und gefördert wurde so gut
es geht, und die finanziellen und gesellschaftlichen Mittel der Mendelssohns
waren enorm, bleibt Fanny auf der Strecke, wurde IHRE Förderung praktisch
eingestellt – so, als sei sie all die Jahre nur der Sparring-Partner ihres Bruders
gewesen.
Denn auch diese hochbegabte Musikerin wird Opfer des großen Irrtums: Frauen
können keine Komponistinnen sein – zumindest aus gesellschaftlicher Sicht.
Musik 5
Fanny Mendelssohn-Hensel
Aus meinen Tränen
Barbara Bonney, Angelika Kirchschlager, Malcolm Martineau
Sony classical, LC6868, 0931332001, 5099709313325
Track 7
Zeit: 1:46
Aus meinen Tränen ein Lied von Fanny Hensel nach einem Gedicht von Heinrich
Heine.
Gesungen haben Barbara Bonney und Angelika Kirchschlager am Klavier saß
Malcolm Martineau.
Musik von einer Komponistin, die ab einem gewissen Alter nur noch im Schatten
ihres Bruders Felix Mendelssohn stand, weil ihre Eltern und die Gesellschaft die
Meinung vertraten, dass es sich nicht schicke, wenn Frauen Musik ernsthaft
betrieben.
Eine Komponistin der es ähnlich erging war die Französin Mel Bonis. Sie stammte
allerdings aus völlig anderen Verhältnissen, konnte von einer so vorbildlichen
Förderung, wie sie den Mendelssohn Kindern zukam nur träumen! Sie kam aus
einfachsten Verhältnissen. Musiziert wurde nicht, auch wenn es zu Hause ein
Klavier gab, das Melanie früh für sich entdeckte.
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Ein Freund der Eltern hörte sie improvisieren und drängte die streng katholischen
Eltern, ihre Tochter ausbilden zu lassen.
Nur mit großem Widerwillen gaben sie nach. Ersten Klavierunterricht bekam
Melanie mit 12 Jahren, mit 18 Jahren wurde sie auf Initiative eines Freundes der
Eltern Cesar Franck vorgestellt. Der schlug sofort vor, sie möge am Conservertoire
vorspielen. Noch im selben Jahr wurde sie aufgenommen.
Während des Studiums gewann sie immer wieder Preise im Fach Harmonielehre,
auch in Klavierbegleitung, zu ihren Kommilitonen zählten Claude Debussy oder
Gabriel Pierné und dann wurde ihrer glücklichen musikalischen Zeit ein jähes
Ende bereitet: durch einen Heiratsantrag.
Der stammte von ihrem Kommilitonen Amedee Hettich und Melanie hätte den
Antrag liebend gerne angenommen, aber ihre Eltern fühlten sich nun bestätigt: in
der Hochschule geht es zu wie in Sodom und Gomorra.
Sofort verboten sie ihrer Tochter das Studium. Besonders bitter, denn gerade sollte
sie in die Anwärterklasse für den berühmten und renommierten Prix de Rome
aufgenommen werden.
Und was ist das Beste, was einer jungen Frau, die auf Abwege geraten ist
passieren kann? Genau, eine gute Partie. Die arme Melanie wurde mit einem
Industriellen verheiratet, der mehr als doppelt so alt war wie sie und schon 5
Kinder mit in die Ehe brachte. Sie selbst bekam auch noch vier – davon eins von
Hettich, aber das ist eine andere Geschichte – sie hatte also vorläufig alle Hände
voll zu tun und keine Zeit mehr, zu komponieren.
Später fing sie wieder an, ihre Stücke wurden auch prompt verlegt, aber zu
größerem Ruhm kam sie nicht. Vermutlich, weil sie selbst großes Lampenfieber
hatte und ihre Werke nie selbst in den Salons vorspielte.
Und so geriet sie schon kurz nach ihrem Tod in Vergessenheit.
Hier ein Werk aus glücklicheren Zeiten, ihrer ersten Schaffensperiode: es stammt
aus der Zeit zwischen 1900 und 1905, genau belegen kann man es leider nicht
mehr. Hier das Finale aus ihrem Klavierquartett Nr. 1
Musik 6
Mel Bonis
Quartett op. 69,1 B-Dur
Final. Allegro ma non troppo
Mozart Klavier Quartett
Zeit: 5:02
M0086651 W01 004
Der vierte Satz aus dem ersten Klavierquartett op. 69 von Mel Bonis, gespielt vom
Mozart Klavier Quartett.
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Mel Bonis eine hervorragende Komponistin – aber eben weiblichen Geschlechts,
was ihre Karriere sehr erschwerte. Es wäre übrigens ein Irrtum anzunehmen, dass
jede Komponistinnenlaufbahn so bitter verlaufen wäre.
Etwa 30 Jahre nach Mel Bonis kam – ebenfalls in Paris – die vielleicht
renommierteste Kompositionslehrerin bis heute zur Welt: Nadia Boulanger. Selber
Komponistin und Schwester der Komponistin Lili Boulanger hatte sie kaum gegen
Vorurteile dieser Art zu kämpfen. Zumindest nicht zu Hause. Die Eltern waren
beide Musiker und wussten die talentierten Töchter zu fördern.
Schon mit 16 wurde Nadia stellvertretende Organistin für Gabriel Faure, mit 20
gewann sie den zweiten Preis des Prix de Rome.
Aber zunehmend entdeckte sie für sich die pädagogische Arbeit, sorgte
außerdem dafür, dass die Werke ihrer Schwester Lili aufgeführt wurden.
Aber vor allem die pädagogische Arbeit machte sie berühmt. Viele Amerikaner
studierten bei ihr: Aaron Copland z.B., Philipp Glass oder Astor Piazolla – Dinu
Lipatti studierte bei ihr Klavier!
Außerdem wurde ihre Pariser Wohnung zu einer Art Salon – einem
Komponistentreff, bei dem man eben auch mit der Gastgeberin auf Augenhöhe
reden konnte. Sinnigerweise wurde ihr Wohnzimmer Boulangerie – also Bäckerei –
genannt.
Aber auch das war ihr noch nicht genug: dass sie eine sehr gute Pianistin und
Organistin war – ok, hat es vorher auch schon gegeben. Dass sie eine sehr gute
Komponistin war – nun, ungewöhnlich, aber soll es ja geben. Dass Männer
kamen, um von ihr Komponieren zu lernen, ganz neu. Aber dass sie es wagte in
eine echte Männerdomäne einzutauchen, das wird von fast verstörender
Wirkung gewesen sein. Ihr Dirigierdebüt gab sie am 17. April 1912 mit dem
Orchester von La Roche-sur-Yon. Offenbar erfolgreich, denn ein Jahr später
dirigierte sie das Blüthner-Orchester in Berlin – auf dem Programm standen
ausschließlich Werke von Komponistinnen.
In den dreißiger Jahren dirigierte sie regelmäßig. Ihre Konzerte wurden ebenso
regelmäßig von Radio France übertragen. 1934 war dann das Orchestre
Philharmonique de Paris dran. Dann London, dann gab es eine erste
Schallplattenaufnahme, dann gab es eine erfolgreiche Amerika Tournee.
Natürlich war sie als Dirigentin eine Sensation! Darauf von einem Journalisten
angesprochen antwortete sie: „Dirigieren ist ein Beruf wie jeder andere, ich
glaube nicht, dass das Geschlecht dabei eine große Rolle spielt. Vergessen wir,
dass ich eine Frau bin und sprechen wir über Musik.“
Standing ovations für eine Frau, die auch schon zur Zeit des fin de siècle nicht
bereit war anzunehmen, dass Frauen in der Musik nichts zu suchen hätten.
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Musik 7
Nadia Boulanger
Vers la vie nouvelle für Klavier
Angela Gassenhuber
TrubaDisc, LC6206, Tro-CD 01407, 4014432014074
Track 6
Zeit: 5:05
Angela Gassenhuber mit dem Vers la vie nouvelle für Klavier. Musik von Nadia
Boulanger, der großen Kompositionslehrerin der Jahrhundertwende und der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine Musikerin, die aus einer Musikerfamilie
stammte und da sind wir auch schon bei der Musikerfamilie Nr.1 der Geschichte:
den Bachs.
Ich finde es gerade bei dieser Anhäufung von Genies die wir bei den Bachs
finden besonders erfreulich, wenn man feststellen muss, dass es eben doch auch
nur Menschen waren.
Und Johann Sebastian Bach hat sich – will man Friedrich Rochlitz Glauben
schenken – mit der Einschätzung des Talents seiner Söhne gründlich vertan.
Er hielt nämlich den älteren, Friedemann für das große Talent, auf das man setzen
sollte und fand sich damit ab, dass Carl Philipp Emanuel nicht musikalisch war, da
„sein Emanuel die Kunst ja nur als Liebhaber treiben würde“
Sollte dieses Zitat wirklich stimmen, dann hätte sich Vater Bach aber wirklich
gründlich geirrt. Denn es war Carl Philipp Emanuel, der die musikalische Welt
veränderte, ohne den es die Wiener Klassik so nicht geben würde, der Haydn,
Mozart, Beethoven in gleichem Maße leuchtendes Vorbild war.
Friedemann hingegen – nun ja…
Vielleicht muss man es auch mal von der anderen Warte sehen: während auf
Friedemann ein ungeheurer Erwartungsdruck lastete, konnte sich Carl entspannt
in seinem Windschatten entwickeln.
Er war Linkshänder, weswegen ihm das Geigenspiel nicht so leicht fiel wie seinem
Bruder. Vielleicht war das einer der Punkte, an denen Vater Bach mangelndes
Talent im Vergleich zum großen Bruder witterte.
Rückblickend lässt sich allerdings immer leichter ein Urteil fällen und das sieht
folgendermaßen aus: ohne Carl Philipp Emanuel Bach hätte sich die
Musikgeschichte anders entwickelt, Friedemanns Fehlen wäre wohl nicht weiter
aufgefallen.
Hier das Finale aus Carl Philipp Emanuel Bachs Sinfonia in Es-Dur. Reinhard
Goebel leitet die Berliner Barock Solisten
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Musik 8
Carl Philipp Emanuel Bach
Sinfonia für zwei Oboen, zwei Hörner, Streicher und basso contionuo in Es-Dur
Presto
Reinhard Goebel, Berliner Barocksolisten
Deutsche harmonia mundi, LC00761, 88875083972, 888750839725
Track 12
Zeit: 4:05
Das Finale aus der Sinfonia in Es-Dur von Carl Philipp Emanuel Bach, Reinhard
Goebel dirigierte die Berliner Barocksolisten.
Morgen geht es in der SWR2 Musikstunde um die historisch informierte
Aufführungspraxis – die hat nämlich mit so manchem Irrtum aufgeräumt und
passt deshalb gut in unsere Woche über musikalische Irrtümer!
Mein Name ist Nele Freudenberger, ich sage Tschüss und wünsche Ihnen noch
einen schönen Tag!