SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Das kann doch nicht wahr sein! – Musikalische Irrtümer (3) Personen – falsch eingeschätzt! Von Nele Freudenberger Sendung: Mittwoch, 01. Mai 2016 Redaktion: Ulla Zierau 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. 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Es begab sich, dass der Weltklassecellist Gregor Piatigorsky und der Weltklassedirigent Wilhelm Furtwängler in Berlin einen Tanzkurs besuchten. Inkognito, wie gesagt. Und kaum dass die ersten Tanzschritte getan waren, sagte die Lehrerin: „das sieht man gleich, dass Sie nicht besonders musikalisch sind!“ Ob die Geschichte sich wirklich so zugetragen hat, vermag ich nicht zu beurteilen, aber gut ist sie allemal und nachzulesen in Piatigorskys Autobiographie „mein Cello und ich und unsere Begegnungen“ jetzt aber Piatigorsky, sein Cello und Artur Rubinstein – leider nicht Furtwängler – mit Musik von Johannes Brahms – zu der kann man ja eh nicht so gut tanzen. Musik 1 Johannes Brahms Sonate Nr. 1 op 38 für Cello und Klavier Allegretto quasi menuetto Gregor Piatigorsky Artur Rubinstein 02213 / Dacapo, 1544553 3201573 001, Take 2 Zeit 5:34 3 Der zweite Satz aus der Sonate Nr. 1 op 38 in e-Moll für Cello und Klavier von Johannes Brahms. Artur Rubinstein begleitete Gregor Piatigorsky, dem von einer Tanzlehrerin angeblich versichert wurde, dass er unheilbar unmusikalisch sei. Wenn das schon unglaublich ist, so übertrifft die nächste Geschichte diese hier noch um Längen! Der größtmögliche Irrtum in puncto Einschätzen von Kompetenz ist dem Komponisten, Kontrapunktisten und Musikpädagogen Johann Georg Albrechtsberger unterlaufen. Der soll nämlich zu dem Wiener Musiker Jan Emanuel Dolezalek gesagt haben: „gehen Sie mir mit dem, der hat nichts gelernt und wird nie etwas Ordentliches machen“ Gemeint hat er übrigens seinen Schüler Ludwig van Beethoven. Ups! Einblendung: erste Takte Eroica (Akkordschläge) Ludwig van Beethoven 1. Satz, Symphony No. 3 op 55 „Eroica“ Philipp Herreweghe, Royal flemish Philharmonic Pentatone, LC12686, PTC 5186312, 827949031267 CD1 Track 5 Zeit: ca. 0.05 Beethoven und Albrechtsberger verband allerdings ohnehin kein besonders herzliches Verhältnis: Beethoven nannte Albrechtsberger dafür einen MusikPedanten. Die wirklich interessante Frage ist allerdings, warum Beethoven überhaupt noch bei dem konservativen Albrechtsberger studiert hat? Längst hatte er einen Namen als Komponist, hatte seine Studien bei Joseph Haydn beendet – auf dessen anraten hat er übrigens auch angefangen, bei Albrechtsberger in die Lehre zu gehen. Dennoch: Haydn war als Lehrer sehr viel angesehener als Albrechtsberger und Beethoven hatte bereits Eingang in die adeligen Salons gefunden. Es wäre also eigentlich nicht nötig gewesen. Seine Karriere lief hervorragend! Außerdem bedeutete ein Studium des Kontrapunkts einen kompositorischen Rückschritt – zurück unter ein Joch voller Regeln, von dem man sich gerade erst befreit hatte! Aber was die Komponisten schon Modernes praktizierten, war beileibe beim adeligen Geschmack noch nicht voll angekommen – wie das bei Neuer Musik eben so ist: damals wie heute! Haydn empfahl Beethoven das Studium bei Albrechtsberger aus unterschiedlichen Gründen: zum einen brachte es Routine beim täglichen Komponieren – und da wusste Haydn schließlich wovon er sprach – außerdem war der Kontrapunkt gerade am Kaiserhofe noch ausgesprochen beliebt! Wenn Beethoven also eine Stelle irgendwo als Hofkomponist haben wollte, dann musste er nachweisen, dass er das Handwerk studiert hatte. 4 Wir nehmen Beethoven immer als Freigeist wahr, was nicht zuletzt an Aussprüchen wie diesem liegt: „Fürst! Was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt, was ich bin, bin ich durch mich; Fürsten hat es und wird es noch tausende geben; Beethoven gibt’s nur einen!“ Trotzdem hat er tatsächlich stets eine Stelle als Hofkomponist angestrebt. Als Sohn eines Hofmusikers war ihm durchaus klar, dass eine solche Stelle die einzige Möglichkeit war, in finanzieller Sicherheit zu leben. Und so war der Schritt bei Albrechtsberger Kontrapunkt zu studieren, nur naheliegend. Und wir können davon ausgehen, dass sich auch Albrechtsbergers großes Fehlurteil über Beethovens Kompositionsfähigkeit lediglich auf den Kontrapunkt bezog. Das wollen wir zumindest zu dessen Ehrenrettung annehmen. Bei seiner vernichtenden Kritik bezog er sich übrigens auf eins von Beethovens Streichquartetten. Wer weiß, vielleicht war es das op. 18 Nr. 4 – zeitlich müsste das passen, denn der Wiener Musiker zeigte Albrechtsberger das Stück um 1800 und dieses Quartett stammt aus dem Jahre 1799 Musik 2 Ludwig van Beethoven op 18,4 Allegro Artemis Quartett M0255222.004 Zeit 4:14 Das Artemisquartett mit dem vierten Satz aus Beethovens Streichquartett op 18,4 – vielleicht das Quartett, das Johann Georg Albrechtsberger zu der größten Fehleinschätzung der Musikgeschichte gebracht hat: nämlich dass von Beethoven nichts zu erwarten sei. Aber man muss von seinen Schülern nicht zwangsläufig das schlechteste annehmen, um falsch zu liegen. Franz Liszt beispielsweise hatte einen Schüler namens Carl Tausig. Schon dass ich ihn vorstellen muss, spricht Bände! Denn hätte sich alles so entwickelt, wie Franz Liszt es vorhergesagt hat, dann wäre Tausig jetzt genauso ein Begriff wie Liszt. In der Autobiographie der Musikschriftstellerin La Mara heißt es nämlich über einen Besuch bei Franz Liszt in Weimar: „Da saß Er am Flügel und neben ihm am zweiten Klavier sein Schüler Tausig, sehr jung an Jahren, von dem der Meister das große Wort gesprochen: „Er wird auf meine Schultern treten““. Liszt also ging davon aus, dass Tausig ihn noch überflügeln würde – oder La Mara hat hier die Formulierung etwas übertrieben, was auch nicht auszuschließen ist. Fakt ist auf jeden Fall, dass Liszt sehr viel von Tausig gehalten haben muss. Schon im Alter von 14 Jahren ging der junge Pole aus Warschau nach Weimar um bei Liszt zu studieren. Vielleicht hat Liszt sich deshalb zu diesen Worten hinreißen 5 lassen, weil er in Tausig ein Wunderkind sah, wie er selbst eines gewesen war – mit ehrgeizigem Vater, der alles an eine gute Ausbildung des Sohnes setzte. Während Tausigs Karriere in Deutschland gut verlief, bekam er in Wien praktisch kein Bein auf den Boden, auch wenn er gemeinsam mit Brahms dessen Sonate für zwei Klaviere dort uraufführte. Ursprünglich war diese Sonate das Klavierquintett op 34 – aber der immer unzufriedene Brahms hat es zu besagter Sonate umgearbeitet. Tausigs Kompositorische Versuche liefen dafür ins Leere. Bemerkenswert sind lediglich einige Bearbeitungen beliebter Orchesterwerke für Zwei Klaviere. Er starb mit nur 29 Jahren – entsprechend klein sein Oeuvre. Hier eine seiner Bearbeitungen, gespielt vom Klavierduo Tal und Groethuysen. 1.52 Musik 3 Richard Wagner/Carl Tausig Die Meistersinger von Nürnberg: Prelude Yaara Tal und Andreas Groethuysen Sony Classical, LC06868, 88875165872, 888751658721 CD 4 Track1 Zeit 8:39 Yaara Tal und Andreas Groethuysen mit dem Prelude aus Richard Wagners Oper: die Meistersinger von Nürnberg in der Fassung für Klavier zu vier Händen von Carl Tausig. Carl Tausig, ein Schüler Liszts, von dem Liszt offenbar überzeugt war und ihm eine große Zukunft prophezeite – zu Unrecht, wie man heute weiß. Ein Komponist, der auch zu viele Vorablorbeeren geerntet hat ist Joseph Martin Kraus. Er erhielt nämlich schon zu Lebzeiten das Prädikat: Odenwälder Mozart. Ein Titel, der falsche Erwartungen weckt. Denn außer den fast identischen Lebensdaten – Kraus wurde ein Jahr älter als Mozart – und dem Umstand, dass beide Komponisten waren, haben die beiden eigentlich nichts gemeinsam. Weder stilistisch noch biographisch. Kraus war kein Wunderkind, er studierte Jura und erst spät entschied er sich, Komponist zu werden. Mit 22 ging er gemeinsam mit einem schwedischen Kommilitonen in dessen Heimat, hielt dort drei Hungerjahre durch, bis er tatsächlich endlich eine Anstellung als Kapellmeister am Hof König Gustav III. von Schweden bekam und Direktor der schwedischen Musikakademie wurde. Im Rahmen dieser finanziellen Sicherheit komponierte er durchaus hörenswerte und originelle Werke – aber ein Mozart war er eben beileibe nicht. 6 Im Gegensatz zu Mozart übrigens war eins seiner ERSTEN Werke ein Requiem – er schrieb es noch in Deutschland, während seines Jurastudiums. Das musste er allerdings 1775 kurzzeitig unterbrechen, weil ein Verleumdungsprozess gegen seinen Vater lief. Er reiste also zurück zu seinen Eltern und nutzte die Zeit zum komponieren. Warum er allerdings als erstes ausgerechnet ein Requiem geschrieben hat und ob es jemandem Bestimmten galt, konnte man bisher nicht herausfinden. Hier also ein Höreindruck von einem sehr frühen Odenwälder Mozart. Musik 4 Joseph Martin Kraus Requiem, Kyrie und dies irae Michael Schneider, La Stagione Frankfurt, Deutscher Kammerchor CPO, LC8492, 777409-2, 761203740925 Track 16 und 17 Zeit: 1:55 und 1:37 Der deutsche Kammerchor und La Stagione Frankfurt unter der Leitung von Michael Schneider mit dem Kyrie und dem dies irae aus dem Requiem von Joseph Martin Kraus auch der Odenwälder Mozart später auch schwedischer Mozart genannt – auch wenn nicht bekannt ist, wer ihm diesen Titel verlieh. Denn außer dem gleichen Geburtsjahr und einem annähernd gleichen Todesjahr – Kraus wurde ein Jahr älter – haben die beiden wirklich nichts gemein. Ein großer Irrtum, der leider aus Mangel an Möglichkeiten nicht häufig genug widerlegt wurde ist der, dass Frauen nicht komponieren könnten. Trotzdem gibt es welche, die schon früh bewiesen haben, dass das natürlich nicht richtig ist. Aber ihre Schicksale sind meist mit einem bitteren Beigeschmack versehen. Berühmteste verkannte Komponistin: Fanny Hensel – Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy. Was in ihrem Fall so besonders bitter ist, ist nicht, dass ihr Talent nicht erkannt und nicht gefördert wurden – im Gegenteil – sondern dass ihr ein Komponistinnenleben, als es eben so weit gewesen wäre, verwehrt wurde. Doch von vorn. Sie war eins von vier Kindern der Bankiersfamilie Mendelssohn, vier Jahre älter als ihr Bruder Felix. Die beiden standen sich besonders nah und die Eltern behandelten sie fast wie Zwillinge. Sie bekamen beide Klavierunterricht, Kompositionsunterricht, Unterricht in Kontrapunkt und waren beide in der Singakademie zu Berlin von Carl Friedrich Zelter. Die Krönung musikalischer Förderung waren aber die sogenannten Sonntagsmusiken, denn Mendelssohns hielten mit ihren talentierten Kindern nicht 7 hinterm Berg! Regelmäßig wurde eine solche Sonntagsmusik veranstaltet, auf der Fanny und Felix Gelegenheit hatten, ihre Arbeiten zu präsentieren. Sei es als Interpreten von Musikstücken oder eben auch als Komponisten: dafür ließ der Vater dann auch schon mal ein ganzes Orchester buchen und in die heimischen vier Wände bringen – oder wenn es kammermusikalische Werke waren die präsentiert werden sollten, eben entsprechend weniger. Hier konnten die Geschwister sich wirklich austoben, inklusive Publikumsreaktion war das Talentförderung par excellence. Abgesehen davon, dass sich hier die geistige Elite der damaligen Zeit traf. Doch etwa als Fanny 15 Jahre alt wurde, wendete sich das Blatt. Die Eltern reagierten empört, als sie erfuhren, dass Fanny ernstlich Komponistin werden wollte! Während Felix weiterhin – auch mit Reisen – gefordert und gefördert wurde so gut es geht, und die finanziellen und gesellschaftlichen Mittel der Mendelssohns waren enorm, bleibt Fanny auf der Strecke, wurde IHRE Förderung praktisch eingestellt – so, als sei sie all die Jahre nur der Sparring-Partner ihres Bruders gewesen. Denn auch diese hochbegabte Musikerin wird Opfer des großen Irrtums: Frauen können keine Komponistinnen sein – zumindest aus gesellschaftlicher Sicht. Musik 5 Fanny Mendelssohn-Hensel Aus meinen Tränen Barbara Bonney, Angelika Kirchschlager, Malcolm Martineau Sony classical, LC6868, 0931332001, 5099709313325 Track 7 Zeit: 1:46 Aus meinen Tränen ein Lied von Fanny Hensel nach einem Gedicht von Heinrich Heine. Gesungen haben Barbara Bonney und Angelika Kirchschlager am Klavier saß Malcolm Martineau. Musik von einer Komponistin, die ab einem gewissen Alter nur noch im Schatten ihres Bruders Felix Mendelssohn stand, weil ihre Eltern und die Gesellschaft die Meinung vertraten, dass es sich nicht schicke, wenn Frauen Musik ernsthaft betrieben. Eine Komponistin der es ähnlich erging war die Französin Mel Bonis. Sie stammte allerdings aus völlig anderen Verhältnissen, konnte von einer so vorbildlichen Förderung, wie sie den Mendelssohn Kindern zukam nur träumen! Sie kam aus einfachsten Verhältnissen. Musiziert wurde nicht, auch wenn es zu Hause ein Klavier gab, das Melanie früh für sich entdeckte. 8 Ein Freund der Eltern hörte sie improvisieren und drängte die streng katholischen Eltern, ihre Tochter ausbilden zu lassen. Nur mit großem Widerwillen gaben sie nach. Ersten Klavierunterricht bekam Melanie mit 12 Jahren, mit 18 Jahren wurde sie auf Initiative eines Freundes der Eltern Cesar Franck vorgestellt. Der schlug sofort vor, sie möge am Conservertoire vorspielen. Noch im selben Jahr wurde sie aufgenommen. Während des Studiums gewann sie immer wieder Preise im Fach Harmonielehre, auch in Klavierbegleitung, zu ihren Kommilitonen zählten Claude Debussy oder Gabriel Pierné und dann wurde ihrer glücklichen musikalischen Zeit ein jähes Ende bereitet: durch einen Heiratsantrag. Der stammte von ihrem Kommilitonen Amedee Hettich und Melanie hätte den Antrag liebend gerne angenommen, aber ihre Eltern fühlten sich nun bestätigt: in der Hochschule geht es zu wie in Sodom und Gomorra. Sofort verboten sie ihrer Tochter das Studium. Besonders bitter, denn gerade sollte sie in die Anwärterklasse für den berühmten und renommierten Prix de Rome aufgenommen werden. Und was ist das Beste, was einer jungen Frau, die auf Abwege geraten ist passieren kann? Genau, eine gute Partie. Die arme Melanie wurde mit einem Industriellen verheiratet, der mehr als doppelt so alt war wie sie und schon 5 Kinder mit in die Ehe brachte. Sie selbst bekam auch noch vier – davon eins von Hettich, aber das ist eine andere Geschichte – sie hatte also vorläufig alle Hände voll zu tun und keine Zeit mehr, zu komponieren. Später fing sie wieder an, ihre Stücke wurden auch prompt verlegt, aber zu größerem Ruhm kam sie nicht. Vermutlich, weil sie selbst großes Lampenfieber hatte und ihre Werke nie selbst in den Salons vorspielte. Und so geriet sie schon kurz nach ihrem Tod in Vergessenheit. Hier ein Werk aus glücklicheren Zeiten, ihrer ersten Schaffensperiode: es stammt aus der Zeit zwischen 1900 und 1905, genau belegen kann man es leider nicht mehr. Hier das Finale aus ihrem Klavierquartett Nr. 1 Musik 6 Mel Bonis Quartett op. 69,1 B-Dur Final. Allegro ma non troppo Mozart Klavier Quartett Zeit: 5:02 M0086651 W01 004 Der vierte Satz aus dem ersten Klavierquartett op. 69 von Mel Bonis, gespielt vom Mozart Klavier Quartett. 9 Mel Bonis eine hervorragende Komponistin – aber eben weiblichen Geschlechts, was ihre Karriere sehr erschwerte. Es wäre übrigens ein Irrtum anzunehmen, dass jede Komponistinnenlaufbahn so bitter verlaufen wäre. Etwa 30 Jahre nach Mel Bonis kam – ebenfalls in Paris – die vielleicht renommierteste Kompositionslehrerin bis heute zur Welt: Nadia Boulanger. Selber Komponistin und Schwester der Komponistin Lili Boulanger hatte sie kaum gegen Vorurteile dieser Art zu kämpfen. Zumindest nicht zu Hause. Die Eltern waren beide Musiker und wussten die talentierten Töchter zu fördern. Schon mit 16 wurde Nadia stellvertretende Organistin für Gabriel Faure, mit 20 gewann sie den zweiten Preis des Prix de Rome. Aber zunehmend entdeckte sie für sich die pädagogische Arbeit, sorgte außerdem dafür, dass die Werke ihrer Schwester Lili aufgeführt wurden. Aber vor allem die pädagogische Arbeit machte sie berühmt. Viele Amerikaner studierten bei ihr: Aaron Copland z.B., Philipp Glass oder Astor Piazolla – Dinu Lipatti studierte bei ihr Klavier! Außerdem wurde ihre Pariser Wohnung zu einer Art Salon – einem Komponistentreff, bei dem man eben auch mit der Gastgeberin auf Augenhöhe reden konnte. Sinnigerweise wurde ihr Wohnzimmer Boulangerie – also Bäckerei – genannt. Aber auch das war ihr noch nicht genug: dass sie eine sehr gute Pianistin und Organistin war – ok, hat es vorher auch schon gegeben. Dass sie eine sehr gute Komponistin war – nun, ungewöhnlich, aber soll es ja geben. Dass Männer kamen, um von ihr Komponieren zu lernen, ganz neu. Aber dass sie es wagte in eine echte Männerdomäne einzutauchen, das wird von fast verstörender Wirkung gewesen sein. Ihr Dirigierdebüt gab sie am 17. April 1912 mit dem Orchester von La Roche-sur-Yon. Offenbar erfolgreich, denn ein Jahr später dirigierte sie das Blüthner-Orchester in Berlin – auf dem Programm standen ausschließlich Werke von Komponistinnen. In den dreißiger Jahren dirigierte sie regelmäßig. Ihre Konzerte wurden ebenso regelmäßig von Radio France übertragen. 1934 war dann das Orchestre Philharmonique de Paris dran. Dann London, dann gab es eine erste Schallplattenaufnahme, dann gab es eine erfolgreiche Amerika Tournee. Natürlich war sie als Dirigentin eine Sensation! Darauf von einem Journalisten angesprochen antwortete sie: „Dirigieren ist ein Beruf wie jeder andere, ich glaube nicht, dass das Geschlecht dabei eine große Rolle spielt. Vergessen wir, dass ich eine Frau bin und sprechen wir über Musik.“ Standing ovations für eine Frau, die auch schon zur Zeit des fin de siècle nicht bereit war anzunehmen, dass Frauen in der Musik nichts zu suchen hätten. 10 Musik 7 Nadia Boulanger Vers la vie nouvelle für Klavier Angela Gassenhuber TrubaDisc, LC6206, Tro-CD 01407, 4014432014074 Track 6 Zeit: 5:05 Angela Gassenhuber mit dem Vers la vie nouvelle für Klavier. Musik von Nadia Boulanger, der großen Kompositionslehrerin der Jahrhundertwende und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine Musikerin, die aus einer Musikerfamilie stammte und da sind wir auch schon bei der Musikerfamilie Nr.1 der Geschichte: den Bachs. Ich finde es gerade bei dieser Anhäufung von Genies die wir bei den Bachs finden besonders erfreulich, wenn man feststellen muss, dass es eben doch auch nur Menschen waren. Und Johann Sebastian Bach hat sich – will man Friedrich Rochlitz Glauben schenken – mit der Einschätzung des Talents seiner Söhne gründlich vertan. Er hielt nämlich den älteren, Friedemann für das große Talent, auf das man setzen sollte und fand sich damit ab, dass Carl Philipp Emanuel nicht musikalisch war, da „sein Emanuel die Kunst ja nur als Liebhaber treiben würde“ Sollte dieses Zitat wirklich stimmen, dann hätte sich Vater Bach aber wirklich gründlich geirrt. Denn es war Carl Philipp Emanuel, der die musikalische Welt veränderte, ohne den es die Wiener Klassik so nicht geben würde, der Haydn, Mozart, Beethoven in gleichem Maße leuchtendes Vorbild war. Friedemann hingegen – nun ja… Vielleicht muss man es auch mal von der anderen Warte sehen: während auf Friedemann ein ungeheurer Erwartungsdruck lastete, konnte sich Carl entspannt in seinem Windschatten entwickeln. Er war Linkshänder, weswegen ihm das Geigenspiel nicht so leicht fiel wie seinem Bruder. Vielleicht war das einer der Punkte, an denen Vater Bach mangelndes Talent im Vergleich zum großen Bruder witterte. Rückblickend lässt sich allerdings immer leichter ein Urteil fällen und das sieht folgendermaßen aus: ohne Carl Philipp Emanuel Bach hätte sich die Musikgeschichte anders entwickelt, Friedemanns Fehlen wäre wohl nicht weiter aufgefallen. Hier das Finale aus Carl Philipp Emanuel Bachs Sinfonia in Es-Dur. Reinhard Goebel leitet die Berliner Barock Solisten 11 Musik 8 Carl Philipp Emanuel Bach Sinfonia für zwei Oboen, zwei Hörner, Streicher und basso contionuo in Es-Dur Presto Reinhard Goebel, Berliner Barocksolisten Deutsche harmonia mundi, LC00761, 88875083972, 888750839725 Track 12 Zeit: 4:05 Das Finale aus der Sinfonia in Es-Dur von Carl Philipp Emanuel Bach, Reinhard Goebel dirigierte die Berliner Barocksolisten. Morgen geht es in der SWR2 Musikstunde um die historisch informierte Aufführungspraxis – die hat nämlich mit so manchem Irrtum aufgeräumt und passt deshalb gut in unsere Woche über musikalische Irrtümer! Mein Name ist Nele Freudenberger, ich sage Tschüss und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!
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