Vanda Vitti. (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989: Eine Ethnografie in zwei slowakischen Städten. Bielefeld: transcript, 2015. 427 S. Reviewed by Silke Meyer Published on H-Soz-u-Kult (June, 2016) V. Vitti: (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 Mit ihrer Dissertation, mit der sie am Münchner Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie promoviert wurde, legt Vanda Vitti eine Studie zu jüdischen Lebenswelten in den post-sozialistischen slowakischen Städten Košice und Lučenec vor. Die Struktur der Arbeit orientiert sich am Feldforschungszugang und beginnt mit dem Erkenntnisinteresse und einem eher knapp gehaltenen Forschungsstand zu jüdischem Leben, Postsozialismus und Erinnerungskultur, gefolgt von theoretischen Zugängen zu Erinnerung, Gedächtnis und Identität, Methodik der Feldforschung, dann die quellenkritische Kontextualisierung des jüdischen Lebens zwischen Erinnern und Vergessen, schließlich die individuelle Perspektive von zehn Interviewten. Ethnografisch untersucht Vitti also, ob und wie persönliche und familiäre Schicksale ” nach Holocaust und Staatssozialismus in die Gegenwart transformiert‘ und lebbar‘ gemacht werden“ (S. 18). Die ’ ’ biografische Perspektive verschränkt sie mit einer Analyse öffentlicher Ausdrucksformen jüdischen Lebens und deren Transformationen. kenntnisreich durch intensive Reflexion ihrer Rolle, Anleihen bei der Ethnopsychoanalyse und durch Supervision. Es wirkt fast wie ein distanzierend-selbsttherapeutischer Zug in der Choreografie des Buches, dass auf die Darstellung der schwierigen Gefühlslagen im Feld zwei umfangreiche Kapitel über Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens und Kulturerbes in den erforschten Städten folgen. Beide Kapitel bieten viel Kontext zum Gemeindeleben, zu Vereinen, städtischen Gedächtnislandschaften und jüdischem Kulturerbe nach 1989. Es ist ein bewegendes Leseerlebnis, quasi an Vittis Seite durch die Städte zu streifen, marode Fassaden und prächtige Synagogen zu besichtigen und an der Wand einer Synagoge die mit Bleistift verfasste herzzerreißende Nachrichten einer Mutter und ihres Sohnes zu entziffern: Ich bin hier, ” ich weiß nicht, wohin sie mich bringen. 21.IV.1944. Lily.“ (S. 205) Beide starben in Auschwitz. Im Unterschied zur Zeit des Sozialismus wächst gegenwärtig das Interesse an jüdischem Erbe in der Stadtlandschaft, dies Einleitend beschreibt Vitti ihre schwierige Rolle als zeigt sich im Tourismus beispielsweise an der Nachfrajunge deutsche, nicht-jüdische Forscherin in den Begeg- ge nach jüdischen Stadtführungen, zugleich sucht die nungen mit ihrem Feld in der Slowakei. Sie geht mit der Gemeinde Lučenec dringend nach Investoren, die den erlebten Ablehnung, den lauten und den stummen Vor- Verfall ihrer neologischen Synagoge aufhalten können. würfen, Schuldgefühlen und Tränen offen um und er- Auf den Internetseiten des Jewish Heritage Europe wurreicht so einen höchst reflektierten Umgang mit dem for- de am 08.07.2015 eine Restauration durch EU-Gelder in schenden Selbst. Diese Überlegungen finden mehr Raum Höhe von 2,3 Millionen angekündigt. Vgl. Restoration im Methodenkapitel, in dem Vitti ihre Feldaufenthal- under way at Lučenec, Slovakia synagogue, <http: te, Begegnungen mit Experten und Expertinnen aus Ar- //www.jewish-heritage-europe.eu/2015/07/08/ chiven und Behörden sowie die Interviews genauer be- restoration-under-way-at-lucenec-slovakiaschreibt. Dabei muss sie sich mit Abgrenzungsmechanis- synagogue/%E2%80%9D> (14.05.2016). men gegenüber Minderheiten, zum Beispiel Roma, ausDiese Ambivalenz im Umgang mit jüdischem Beeinandersetzen und entscheiden, wer wirklich jüdisch“ ” wusstsein zeigt sich auch in den über 70 geführten Inter(S. 84) ist. Die Autorin löst das Feldforschungsdilemma views. Vitti verweist programmatisch auf einen Tagungs1 H-Net Reviews band zu neuen jüdischen Identitäten, in dem die Herausgeber konstatieren, dass das Jüdisch-Sein nach dem Sozialismus weniger eine kollektive als vielmehr eine individuelle Frage geworden wäre. Zvi Gitelman / Barry Kosmin / András Kovács (Hrsg.), New Jewish Identities: Contemporary Europe and Beyond, Budapest 2003. Aus jüdischen Traditionen würden generationenspezifisch einzelne Aspekte ausgewählt und praktiziert, entsprechend geringer wäre auch das gemeindliche Engagement. Auch Vittis Fallbeispiele sind in drei Generationen aufgeteilt: Die Generation der Holocaust-Überlebenden war von der Emigration sowie vom Antisemitismus der Nachkriegszeit und des sozialistischen Regimes geprägt und führte kein jüdisches Leben (mehr). Ihre Kinder lernten entsprechend kaum jüdisches Gemeindeleben kennen und assoziierten die jüdische Herkunft überwiegend negativ mit dem Trauma des Holocaust. Erst nach 1989 gingen die jüdisch-stämmigen Bewohner/innen von Košice und Lučenec offen mit ihrem familiären Hintergrund um. Gerade weil jüdische Vereine aufgelöst worden waren und Gemeinden kaum noch Mitglieder hatten, gestaltete diese Generation den Umgang mit ihrer jüdischen Identität individuell und eigeninitiativ, zum Beispiel durch kulturelle Veranstaltungen und in sozialen Netzwerken. Insofern wäre der These der neuen und individuellen jüdischen Identität durchaus zuzustimmen. Vitti ist jedoch weit davon entfernt, eine gerade Linie der Transformation zu ziehen oder mit dem Datum 1989 einen plötzlichen Umschwung aufzuzeigen. Vielmehr argumentiert sie eng am Material, dass die Befragten eine Vielzahl von Identitätsstrategien nutzen. Kulturelle Muster stellen dabei Holocaust-Geschichten dar, ob persönlich erlebt oder in der familiären Erinnerung tradiert, aber auch Subversion im Umgang mit dem repressiven sozialistischen Regime. te, wie Vitti richtig feststellt. Der Grund des Erfolges liegt im Mut des Erzählers, sich Handlungsmacht angesichts des übermächtigen Traumas zu bewahren und sich dem Sport“ der russischen Soldaten mit den Juden – so Henry ” (S. 249) – zu widersetzen: mit seiner Weigerung, die Uhr herzugeben, negiert er seine jüdische Identität und bleibt als handelndes Individuum wirkmächtig. Über diesen Erzählinhalt hinaus könnte man mit einer formalen Analyse des Erzählten auch Muster narrativer Agentivierungsstrategien feststellen, zum Beispiel in der Situierung des Wirkzentrums der Handlung oder in der Wahl der Prädikatsformen. Auch die epistemische Modalisierung hätte sich eingängiger untersuchen lassen: die Rückkehr seiner Frau aus dem Konzentrationslager Ravensbrück bezeichnet Henry nämlich als Glück“ und als Wun” ” der“ (im Konzentrationslager sind ihr alle Möglichkeiten zur Selbstwirksamkeit genommen worden, S. 250). Weiterhin wären formalsprachliche Mittel der Sinnstiftung, zum Beispiel der Wechsel zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, Strategien der Kohärenzbildung und des Emplotments durchaus näher zu beleuchten gewesen. Damit wäre das Sprechen als soziale Praxis in den Vordergrund gerückt und hätte als solches Selbstpositionierungen und Aushandlungsprozesse jüdischer Identität auch in einem funktional-pragmatischen Verständnis plastischer gemacht. Die Nachkriegsgeneration wird in ihrem Jüdisch-Sein zum einen durch Schweigen der Eltern über die Familienbiografien und zum anderen durch die repressive Politik des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei verhindert. Folgerichtig bestimmen Erinnerungslücken, Leerstellen und Schweigemuster die Erzählungen, die Interviewpartner/innen erinnern sich nur vereinzelt an jüdische Feiertage oder an religiöse TraditioVitti interpretiert die Selbst-Erzählungen aus den In- nen. Aufgewachsen im Schatten der Shoah fühlen sich terviews als narrative Identitätskonstruktion, in einer die Interviewpartner/innen ihrer Identität beraubt, empdezidiert erzähltheoretisch ausgerichteten Auswertung finden sich als zwischen den Stühlen“ (S. 293), gar als ” hätte jedoch noch mehr Potential gelegen. Zwar zieht schizophren“ (S. 328). ” die Verfasserin in ihrer theoretischen Rahmung narratiFür die junge Generation der Befragten war die politiver Identitätskonstruktion einschlägige Autor/innen wie sche Wende von der kommunistischen Diktatur hin zu eiHeiner Keupp, Jürgen Straub und Gabriele Rosenthal ner Demokratie auch ein Türöffner dafür, jüdisch sein zu heran, auch Arbeiten zur kulturwissenschaftlichen Bekönnen. Die neuen Möglichkeiten der politischen Teilhawusstseinsanalyse, etwa von Albrecht Lehmann, fehlen be, Meinungs- und Bewegungsfreiheit bewirken kolleknicht. Mit einer stringenteren narratologischen Feinanativ eine neue Erinnerungskultur und individuell die Auslyse hätten die Musterhaftigkeit der Selbsterzählung und ihre Funktion klarer herausgearbeitet werden können. einandersetzung mit jüdischen Familienwurzeln (diese Wenn Interviewpartner Henry, Vertreter der ersten Ge- Naturmetaphorik verwenden die Interviewpartner/innen neration, sich geistesgegenwärtig weigert, einem ukrai- selbst). Diese (Wieder-)Annäherung erfolgte behutsam, nischen Soldaten seine Uhr zu verkaufen und sich so schrittweise und leise, wie bei Leon, oder offen, selbstverständlich und als soziale Aktivität, wie bei Ella und Liselbst das Leben rettet, dann ist das eine Erfolgsgeschichsa. Mit den nach 1989 etablierten kommunikativen Räu2 H-Net Reviews men der Erinnerungskultur bietet sich neuer Spielraum für Identitätsarbeit. Vor allem die Jüngeren nutzen uneingeschränkt das, was ihren Eltern und Großeltern gefehlt hat: virtuelle und reale Netzwerke jüdischer Gemeinden. Identitätsarbeit ist Patchwork, bei der Familienbiografien, städtische Kulturerbe-Institutionen und individuelle Präferenzen zusammenkommen. Dominic sucht über den jüdischen Glauben einen Weg zu seinem Vater und isst koscher, aber nicht aus religiösen Gründen, sondern weil es ihm gesundheitlich besser erscheint. Er übt Kritik an den Lebensbedingungen in der post-sozialistischen Slowakei und plant, nach England auszuwandern, weil er dort mehr Geld verdienen kann. In England will er aktiver am jüdischen Gemeindeleben teilnehmen. Wie seine befragten Altersgenossinnen nutzt er sein Jüdisch-Sein als Ressource und Sinnstiftungsperspektive in die Vergangenheit und in die Zukunft. schen mit jüdischer Abstammung in den untersuchten Städten sind von zahlreichen Brüchen gekennzeichnet. Die städtischen Gedächtnislandschaften erweisen sich in ihrem Umgang mit immateriellem und materiellem jüdischem Erbe ebenfalls als fragmentiert und konfliktbeladen. Vor diesem Hintergrund ist die generationenspezifische, allmähliche und vorsichtige Annäherung an das Jüdisch-Sein wenig überraschend. Die Lektüre von Vittis vielschichtiger Dissertation ist dennoch erhellend, bereichernd, überraschend und berührend, vor allem, weil sich die Autorin als einfühlsame Ethnografin erweist, die die Tonarten in den Interviews, paraverbale Äußerungen, Stottern und Schweigen zu interpretieren weiß. Sie arbeitet die Heterogenität der Argumentationen heraus und führt die Antworten ihrer Gesprächspartner/innen zu analytischen Mustern zusammen. So gelingt ihr ein gut strukturiertes und facettenreiches Bild jüdischer Lebenswelten und Identitätspolitik in der Gegenwart. Die Lebenswelten und Identitätsstrategien der Men- If there is additional discussion of this review, you may access it through the network, at: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ Citation: Silke Meyer. Review of Vitti, Vanda, (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989: Eine Ethnografie in zwei slowakischen Städten. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. June, 2016. URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=47064 Copyright © 2016 by H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact [email protected]. 3
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