V. Vitti: (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989

V. Vitti: (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989
Vitti, Vanda: (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989. Eine Ethnografie in zwei
slowakischen Städten. Bielefeld: transcript 2015.
ISBN: 978-3-8376-314-3; 427 S.
Rezensiert von: Silke Meyer, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck
Mit ihrer Dissertation, mit der sie am Münchner Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie promoviert wurde, legt Vanda Vitti eine Studie zu jüdischen Lebenswelten in
den post-sozialistischen slowakischen Städten Košice und Lučenec vor. Die Struktur der
Arbeit orientiert sich am Feldforschungszugang und beginnt mit dem Erkenntnisinteresse und einem eher knapp gehaltenen Forschungsstand zu jüdischem Leben, Postsozialismus und Erinnerungskultur, gefolgt von
theoretischen Zugängen zu Erinnerung, Gedächtnis und Identität, Methodik der Feldforschung, dann die quellenkritische Kontextualisierung des jüdischen Lebens zwischen Erinnern und Vergessen, schließlich die individuelle Perspektive von zehn Interviewten.
Ethnografisch untersucht Vitti also, „ob und
wie persönliche und familiäre Schicksale nach
Holocaust und Staatssozialismus in die Gegenwart ‚transformiert‘ und ‚lebbar‘ gemacht
werden“ (S. 18). Die biografische Perspektive
verschränkt sie mit einer Analyse öffentlicher
Ausdrucksformen jüdischen Lebens und deren Transformationen.
Einleitend beschreibt Vitti ihre schwierige
Rolle als junge deutsche, nicht-jüdische Forscherin in den Begegnungen mit ihrem Feld
in der Slowakei. Sie geht mit der erlebten
Ablehnung, den lauten und den stummen
Vorwürfen, Schuldgefühlen und Tränen offen
um und erreicht so einen höchst reflektierten
Umgang mit dem forschenden Selbst. Diese
Überlegungen finden mehr Raum im Methodenkapitel, in dem Vitti ihre Feldaufenthalte, Begegnungen mit Experten und Expertinnen aus Archiven und Behörden sowie die Interviews genauer beschreibt. Dabei muss sie
sich mit Abgrenzungsmechanismen gegenüber Minderheiten, zum Beispiel Roma, auseinandersetzen und entscheiden, wer „wirklich jüdisch“ (S. 84) ist. Die Autorin löst das
Feldforschungsdilemma kenntnisreich durch
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intensive Reflexion ihrer Rolle, Anleihen bei
der Ethnopsychoanalyse und durch Supervision.
Es wirkt fast wie ein distanzierendselbsttherapeutischer Zug in der Choreografie des Buches, dass auf die Darstellung
der schwierigen Gefühlslagen im Feld zwei
umfangreiche Kapitel über Geschichte und
Gegenwart des jüdischen Lebens und Kulturerbes in den erforschten Städten folgen.
Beide Kapitel bieten viel Kontext zum
Gemeindeleben, zu Vereinen, städtischen
Gedächtnislandschaften und jüdischem Kulturerbe nach 1989. Es ist ein bewegendes
Leseerlebnis, quasi an Vittis Seite durch die
Städte zu streifen, marode Fassaden und
prächtige Synagogen zu besichtigen und an
der Wand einer Synagoge die mit Bleistift
verfasste herzzerreißende Nachrichten einer
Mutter und ihres Sohnes zu entziffern: „Ich
bin hier, ich weiß nicht, wohin sie mich bringen. 21.IV.1944. Lily.“ (S. 205) Beide starben in
Auschwitz. Im Unterschied zur Zeit des Sozialismus wächst gegenwärtig das Interesse an
jüdischem Erbe in der Stadtlandschaft, dies
zeigt sich im Tourismus beispielsweise an der
Nachfrage nach jüdischen Stadtführungen,
zugleich sucht die Gemeinde Lučenec dringend nach Investoren, die den Verfall ihrer
neologischen Synagoge aufhalten können.1
Diese Ambivalenz im Umgang mit jüdischem Bewusstsein zeigt sich auch in den
über 70 geführten Interviews. Vitti verweist
programmatisch auf einen Tagungsband zu
neuen jüdischen Identitäten, in dem die Herausgeber konstatieren, dass das Jüdisch-Sein
nach dem Sozialismus weniger eine kollektive
als vielmehr eine individuelle Frage geworden wäre.2 Aus jüdischen Traditionen würden generationenspezifisch einzelne Aspekte
ausgewählt und praktiziert, entsprechend geringer wäre auch das gemeindliche Engagement. Auch Vittis Fallbeispiele sind in drei
1 Auf
den Internetseiten des Jewish Heritage Europe
wurde am 08.07.2015 eine Restauration durch EUGelder in Höhe von 2,3 Millionen angekündigt. Vgl.
Restoration under way at Lučenec, Slovakia synagogue, <http://www.jewish-heritage-europe.eu/2015
/07/08/restoration-under-way-at-lucenec-slovakiasynagogue/%E2%80%9D> (14.05.2016).
2 Zvi Gitelman / Barry Kosmin / András Kovács (Hrsg.),
New Jewish Identities: Contemporary Europe and Beyond, Budapest 2003.
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Generationen aufgeteilt: Die Generation der
Holocaust-Überlebenden war von der Emigration sowie vom Antisemitismus der Nachkriegszeit und des sozialistischen Regimes geprägt und führte kein jüdisches Leben (mehr).
Ihre Kinder lernten entsprechend kaum jüdisches Gemeindeleben kennen und assoziierten die jüdische Herkunft überwiegend negativ mit dem Trauma des Holocaust. Erst
nach 1989 gingen die jüdisch-stämmigen Bewohner/innen von Košice und Lučenec offen mit ihrem familiären Hintergrund um. Gerade weil jüdische Vereine aufgelöst worden
waren und Gemeinden kaum noch Mitglieder
hatten, gestaltete diese Generation den Umgang mit ihrer jüdischen Identität individuell und eigeninitiativ, zum Beispiel durch kulturelle Veranstaltungen und in sozialen Netzwerken. Insofern wäre der These der neuen
und individuellen jüdischen Identität durchaus zuzustimmen. Vitti ist jedoch weit davon entfernt, eine gerade Linie der Transformation zu ziehen oder mit dem Datum 1989
einen plötzlichen Umschwung aufzuzeigen.
Vielmehr argumentiert sie eng am Material,
dass die Befragten eine Vielzahl von Identitätsstrategien nutzen. Kulturelle Muster stellen dabei Holocaust-Geschichten dar, ob persönlich erlebt oder in der familiären Erinnerung tradiert, aber auch Subversion im Umgang mit dem repressiven sozialistischen Regime.
Vitti interpretiert die Selbst-Erzählungen
aus den Interviews als narrative Identitätskonstruktion, in einer dezidiert erzähltheoretisch ausgerichteten Auswertung hätte jedoch noch mehr Potential gelegen. Zwar zieht
die Verfasserin in ihrer theoretischen Rahmung narrativer Identitätskonstruktion einschlägige Autor/innen wie Heiner Keupp,
Jürgen Straub und Gabriele Rosenthal heran, auch Arbeiten zur kulturwissenschaftlichen Bewusstseinsanalyse, etwa von Albrecht
Lehmann, fehlen nicht. Mit einer stringenteren narratologischen Feinanalyse hätten die
Musterhaftigkeit der Selbsterzählung und ihre Funktion klarer herausgearbeitet werden
können. Wenn Interviewpartner Henry, Vertreter der ersten Generation, sich geistesgegenwärtig weigert, einem ukrainischen Soldaten seine Uhr zu verkaufen und sich so
selbst das Leben rettet, dann ist das eine
Erfolgsgeschichte, wie Vitti richtig feststellt.
Der Grund des Erfolges liegt im Mut des
Erzählers, sich Handlungsmacht angesichts
des übermächtigen Traumas zu bewahren
und sich dem „Sport“ der russischen Soldaten mit den Juden – so Henry (S. 249) –
zu widersetzen: mit seiner Weigerung, die
Uhr herzugeben, negiert er seine jüdische
Identität und bleibt als handelndes Individuum wirkmächtig. Über diesen Erzählinhalt hinaus könnte man mit einer formalen
Analyse des Erzählten auch Muster narrativer Agentivierungsstrategien feststellen, zum
Beispiel in der Situierung des Wirkzentrums
der Handlung oder in der Wahl der Prädikatsformen. Auch die epistemische Modalisierung hätte sich eingängiger untersuchen
lassen: die Rückkehr seiner Frau aus dem
Konzentrationslager Ravensbrück bezeichnet
Henry nämlich als „Glück“ und als „Wunder“ (im Konzentrationslager sind ihr alle
Möglichkeiten zur Selbstwirksamkeit genommen worden, S. 250). Weiterhin wären formalsprachliche Mittel der Sinnstiftung, zum Beispiel der Wechsel zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, Strategien der Kohärenzbildung
und des Emplotments durchaus näher zu beleuchten gewesen. Damit wäre das Sprechen
als soziale Praxis in den Vordergrund gerückt
und hätte als solches Selbstpositionierungen
und Aushandlungsprozesse jüdischer Identität auch in einem funktional-pragmatischen
Verständnis plastischer gemacht.
Die Nachkriegsgeneration wird in ihrem
Jüdisch-Sein zum einen durch Schweigen der
Eltern über die Familienbiografien und zum
anderen durch die repressive Politik des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei verhindert. Folgerichtig bestimmen Erinnerungslücken, Leerstellen und Schweigemuster die Erzählungen, die Interviewpartner/innen erinnern sich nur vereinzelt an jüdische Feiertage oder an religiöse Traditionen.
Aufgewachsen im Schatten der Shoah fühlen
sich die Interviewpartner/innen ihrer Identität beraubt, empfinden sich als „zwischen
den Stühlen“ (S. 293), gar als „schizophren“
(S. 328).
Für die junge Generation der Befragten
war die politische Wende von der kommunistischen Diktatur hin zu einer Demokratie
auch ein Türöffner dafür, jüdisch sein zu kön-
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nen. Die neuen Möglichkeiten der politischen
Teilhabe, Meinungs- und Bewegungsfreiheit
bewirken kollektiv eine neue Erinnerungskultur und individuell die Auseinandersetzung mit jüdischen Familienwurzeln (diese
Naturmetaphorik verwenden die Interviewpartner/innen selbst). Diese (Wieder-)Annäherung erfolgte behutsam, schrittweise und
leise, wie bei Leon, oder offen, selbstverständlich und als soziale Aktivität, wie bei Ella
und Lisa. Mit den nach 1989 etablierten kommunikativen Räumen der Erinnerungskultur
bietet sich neuer Spielraum für Identitätsarbeit. Vor allem die Jüngeren nutzen uneingeschränkt das, was ihren Eltern und Großeltern gefehlt hat: virtuelle und reale Netzwerke jüdischer Gemeinden. Identitätsarbeit ist
Patchwork, bei der Familienbiografien, städtische Kulturerbe-Institutionen und individuelle Präferenzen zusammenkommen. Dominic sucht über den jüdischen Glauben einen Weg zu seinem Vater und isst koscher,
aber nicht aus religiösen Gründen, sondern
weil es ihm gesundheitlich besser erscheint.
Er übt Kritik an den Lebensbedingungen in
der post-sozialistischen Slowakei und plant,
nach England auszuwandern, weil er dort
mehr Geld verdienen kann. In England will
er aktiver am jüdischen Gemeindeleben teilnehmen. Wie seine befragten Altersgenossinnen nutzt er sein Jüdisch-Sein als Ressource
und Sinnstiftungsperspektive in die Vergangenheit und in die Zukunft.
Die Lebenswelten und Identitätsstrategien der Menschen mit jüdischer Abstammung
in den untersuchten Städten sind von zahlreichen Brüchen gekennzeichnet. Die städtischen Gedächtnislandschaften erweisen sich
in ihrem Umgang mit immateriellem und materiellem jüdischem Erbe ebenfalls als fragmentiert und konfliktbeladen. Vor diesem
Hintergrund ist die generationenspezifische,
allmähliche und vorsichtige Annäherung an
das Jüdisch-Sein wenig überraschend. Die
Lektüre von Vittis vielschichtiger Dissertation ist dennoch erhellend, bereichernd, überraschend und berührend, vor allem, weil sich
die Autorin als einfühlsame Ethnografin erweist, die die Tonarten in den Interviews, paraverbale Äußerungen, Stottern und Schweigen zu interpretieren weiß. Sie arbeitet die
Heterogenität der Argumentationen heraus
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und führt die Antworten ihrer Gesprächspartner/innen zu analytischen Mustern zusammen. So gelingt ihr ein gut strukturiertes und
facettenreiches Bild jüdischer Lebenswelten
und Identitätspolitik in der Gegenwart.
HistLit 2016-2-144 / Silke Meyer über Vitti, Vanda: (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989. Eine Ethnografie in zwei slowakischen Städten. Bielefeld 2015, in: H-Soz-Kult
02.06.2016.
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