SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde „Gut gebrüllt, Löwe!“ – William Shakespeare zum 400. Todestag William Shakespeare und seine Zeit (4) Von Jasmin Bachmann Sendung: Freitag, 27. Mai 2016 Redaktion: Ulla Zierau 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 SWR2 Musikstunde mit Jasmin Bachmann „Gut gebrüllt, Löwe!“ – William Shakespeare zum 400. Todestag William Shakespeare und seine Zeit (4) Die Sprache von Liebe, Verrat und Mystik Jingle „Ein guter Kopf weiß alles zu benutzen“ (Heinrich IV) und so ist es „nicht genug, dass man rede; man muss auch richtig reden“ (Ein Sommernachtstraum). Nach all dem Visuellen kommen wir heute zum Auditiven: „’s ist Redens Zeit.“ (Richard III) in der vierten und letzten Shakespeare-Musikstunde von und mit Jasmin Bachmann. Musik-Intro Fällt der Name William Shakespeare, so werden meist sofort sämtliche Werke aufgezählt: Romeo und Julia, Viel Lärm um nichts, Hamlet, Was ihr wollt (eben)– aber eigentlich waren die Stücke nicht Shakespeares großer Clou. Durch sie bewies er nur seine genialen Fähigkeiten als Bearbeiter, denn die Hauptgeschichten, die gab es schon. Der englische Literaturprofessor Geoffrey Bullough dokumentierte in einer achtbändigen Ausgabe alle Quellen zu Shakespeares Stücken. Er kommt auf 70 wahrscheinliche und 30 mögliche Textvorlagen; die meisten aus dem Englischen, wie z.B. von Chaucer, Marlow, Spencer, oder Arthur Brookes „The Tragical History of Romeus and Juliet“; dann acht Erzählungen aus dem Lateinischen u.a. von Plautus und Ovid, vier aus dem Italienischen, Boccaccio und Fiorentino kann man hier nennen, und einmal steht die Novellensammlung des Franzosen Belleforest Pate, nämlich bei „Hamlet“ und „Was ihr wollt“. Weiß man um diese Vorgeschichten, so versteht man auch, warum Shakespeare manchmal grobe inhaltliche Schnitzer unterliefen. Er hat die Fehler einfach mitübernommen und so spielt sein Drama „Troilus und Cressida“ im Trojanischen Krieg und es ist die Rede von Aristoteles und Plato, die aber erst rund 1000 Jahre später in Erscheinung treten werden. Zu den Ausnahmen dieser „Copy und Paste“-Praxis gehört, neben zwei-drei anderen Werken, der „Sommernachtstraum. Hier berief sich Shakespeare nur auf Motive, wie die Sagenwelt der Elfen und Kobolde oder Ovids „Pyramus und Thisbe“, setzt sie dann aber zu einem neuen Story-Plot zusammen. Das Fazit des Ganzen: Shakespeares Verdienst ist nicht die Erfindung der Werke, sondern ihre sprachliche Verpackung. 3 „Shakespeare ist es gelungen, die Gesamtheit menschlicher Empfindung und Handlung in eine summa mundi, eine poetische Sprache zu gießen.“, so der Philologe Georg Steiner. Und der Autor der monumentalen „Herr der Ringe“-Trilogie J.R.R. Tolkien bemerkte bewundernswert: „... mir wurde noch stärker als bei allem, was ich je gesehen habe, deutlich, was es für ein Wahnsinn ist, Shakespeare zu lesen.“ Henry Purcell “If music be the food of love”, Lied für Singstimme und Basso continuo, Z 379 Meredith Hall, Sopran Musicians of the Globe, Mitglieder Dirigent: Philip Pickett M0311874 / 012 (3:59) „Wenn Musik der Liebe Nahrung ist, dann spielt weiter“ heißt es in „Was ihr wollt“. Henry Purcell hat diese wunderbaren Verse vertont. Es sang Meredith Hall und es spielten Mitglieder der Musicians of the Globe unter Philip Pickett. Auch unser nächstes Zitat zergeht auf der Zunge: „Lyrik ist wie ein Harz, das dem entquillt, Aus dem sich’s nährt.“ (Timon von Athen). Und die Sprache des 16. Jahrhunderts nährte sich aus der Renaissance, aus dem Bestreben nach Individualität und aus dem Reformationsgedanken, aus dem Streben nach Selbstständigkeit. Die Entwicklung der englischen Sprache gab dem Land seine Identität. Darum war auch kaum ein anderes Zeitalter so von Sprache besessen. Sprache, das Mittel, um die Welt zu begreifen, sie in all ihren Facetten zu erfassen. Und man wollte es nicht in den üblichen und verfeindeten Sprachen wie Französisch oder Italienisch tun, oder in der Sprache des Klerus, auf Latein, nein man wollte seinem Nationalstolz eine eigene Ausdrucksweise geben. Die wirtschaftliche und kulturelle Blüte verlangte nach einer sprachlichen und literarischen Sensibilisierung. Der englische Altphilologe John Cheke brachte es so auf den Punkt: „Ich bin der Ansicht, dass unsere Sprache sauber und reingeschrieben werden sollte, nicht vermischt und verwässert mit Leihgaben aus anderen Sprachen, denn wenn wir nicht beizeiten vorbeugen, sondern immer leihen und nie zahlen, wird unsere Sprache Bankrott anmelden müssen.“ 4 Zunächst aber noch lieh sich die englische Sprache ihre Begriffe aus den verschiedenen Dialekten. Sie war eine Mischsprache. Eine Aussprachenorm, wie das Hochdeutsch, das gab es noch nicht. Aber man tastete sich vor. Nachdem die Gottesdienste vermehrt auf Englisch gehalten wurden, begann man antike Schriftsteller ins Englische zu übersetzen. Und dies löste eine solche Begeisterung für den Umgang mit Sprache aus, dass auch die heimischen Literaten mit ihren Versepen, Theaterstücken oder der Lyrik zu Hochform aufliefen. Sprachkunst, das waren kein Runterbeten von Kommunikationsmodellen, sondern Poetik pur. Selbst Staatsdokumente wurden poetisiert. Während wir uns heute über das umständliche Beamtendeutsch beschweren, hatte der Engländer des 16. und 17. Jahrhunderts Lust an der komplexen Kunst-Sprache. Die Sprachmode war es, einfache Dinge möglichst umständlich auszudrücken. Und die beiden Quellen, die den größten Einfluss auf die Entwicklung der englischen Sprache hatten, das waren die der beiden Williams: die „King James Bibel“ von William Tyndale und die Werke von William Shakespeare. Mein Lieblingsbeispiel für die poetische Umständlichkeit: „Verliebte tanzen auf den Spinnfäden, Die durch die warmen Sommerwinde gleisen, Und fallen nicht. So leicht ist Nichtigkeit.“ (Romeo und Julia) Sergej Prokofjew Romeo und Julia. Ballett in 3 Akten (9 Bildern) und einem Epilog, op. 64 Nr. 19: Balkonszene London Symphony Orchestra Dirigent: Valery Gergiev M0274800 / 019 (3:30‘) Die berühmte Balkonszene von Romeo und Julia aus der berühmten Ballettmusik von Sergej Prokofjew mit dem London Symphony Orchestra, der Dirigent war Valery Gergiev. Vor allem der Klang der Sprache begeisterte die Leute, denn die meisten von ihnen konnten nicht lesen. Und daher standen das Visuelle und vor allem das Auditive im Vordergrund. „Let’s hear a play!“ hieß es, nicht „Schau’n wir uns das Stück an“. Der Theaterbesucher von damals hatte kein Problem, vier Stunden lang einer Hamlet-Aufführung konzentriert beizuwohnen und all die tiefsinnigen Formulierungen und die 30.000 Wörter in sich aufzusaugen. Darunter waren übrigens 600 shakespearische Wort-Neuschöpfungen. 5 Der Shakespeare-Spezialist und –Übersetzer Frank Günther stellt in seinem Buch „Unser Shakespeare“ die Kunstgriffe des Barden in Sachen Wortfindung und Wortneuschöpfung zusammen. Hieraus nun ein paar Beispiele: Shakespeare macht aus dem „bandito“ den „bandit“ und aus dem deutschen „Spucken“ den Begriff „puke“. Seinem Richard II verdanken wir das Adjektiv „obscene“-„obszön“. Weitere brandneu Kreationen waren: „atmosphere, confidence, function, exotic, system, ticket“; die Kombination zweier Wörter z.B. zu „cold-blooded“ / kaltblütig; die durch Vor- oder Nachsilben ergänzten Begriffe wie „eventful“; und die lexikalischen Erweiterungen wie vom Nomen „scratch“/Schramme zum Verb „to scratch“/kratzen. Einmal machte sich Shakespeare auch den Spaß, ein langes Lateinisches Wort zu benutzen, ohne es zu erklären: Honorificabilitudinitatibus. Da wegen Gotteslästerung das Wort „God“ ein Tabu war, umschrieb Shakespeare es einfach mit „Godness“. Für die Shakespeare-Übersetzer stellt sich diesbezüglich nun die Frage: singgemäß oder wörtlich übersetzen? Wird aus „Cesar who at Phillipi the good Brutus ghosted“ sinngemäß: „Cesar, dem der gute Brutus bei Phillipi als Geist erschienen ist.“, oder übersetzt man gemäß den aktuellen Kunstverben wie „gecancelt“ oder „outgesourt“ das Ganze mit „Cäsar wurde in Phillipi vom guten Brutus geghostet“? Miklos Rózsa Julius Caesar: Overture National Philharmonic Orchestra London Dirigent: Charles Gerhardt M0233195 / 016 (4:32‘) Filmmusik zu „Julius Cäsar“ aus der Feder von Miklos Rózsa mit dem National Philharmonic Orchestra London unter der Leitung von Charles Gerhardt. Da die Wunderwelt des Klangs das vermittelnde Element zwischen Inhalt und seinem Adressaten war, nicht das geschrieben Wort, wählte Shakespeare auch die Namen seiner Protagonisten mit Bedacht. Prosperos Tochter, die 12 Jahre ihres Lebens in der Einöde der Insel mit Vater und dessen Dämonen verbracht hat und sich später in das erste menschliche, männliche Wesen verliebt, das ihr über den Weg läuft, trägt den Namen Miranda; eine Anspielung auf das lateinische Wort für Wunder, sich wundern, bewundernswert. Eine, wenn nötig, starke Figur, die für Menschlichkeit steht. Sie ist Hoffnungsträgerin und versöhnt durch ihre Liebe zu Ferdinand schließlich die brüderlichen Kontrahenten. Titanias Elfen-Gehilfinnen tragen im Englischen wie in der deutschen Übertragung zarte Namen, die alle etwas Kleines, Zerbrechliches, Schmuckstückartiges beschreiben und einem auf der Zunge zergehen: Bohnenblüte, Spinnweb, Motte 6 und Senfsamen. Ganz im Gegensatz zu den robusten Handwerkern, deren Namen in beiden Sprachen das reinste Konsonantenfeuerwerk ist. Ihre deutschen Namen: Squenz, Schnock, Zettel, Flaut, Schnauz, Schlucker. Und im englischen Original samt Übersetzung: der Zimmermann trägt den Namen Peter Quince, Quitte; Snug, der Gemütliche ist der Schreiner; Nick Bottom, der Weber Zettel, wir hatten schon von ihm und seinem Namen berichtet: er kann für den Erdboden, den Hintern oder das Schlusslicht stehen; dann der Bälgenflicker Francis Flute, die Flöte; Tom Snout, die Schnauze als Kesselflicker; und der Hungerleider Robin Starveling in der Rolle des Schneiders. Poetischer Nonsense mit Methode. Um die verschiedenen Personenebenen im „Sommernachtstraum“ auch akustisch deutlich zu machen, erhält jede Klientel ihre eigene Sprache. Die adlige Gesellschaft korrespondiert in Blankversen, die Verliebten haben eine Vorliebe zum Reim und die Handwerker unterhalten sich in nüchterner, deftiger Prosa. Bei der berühmten chaotischen Theaterprobe im Wald kommt die Frage auf: „Pyramus muss ein Schwert ziehen, um sich selbst umzubringen, und das können die Damen nicht vertragen. Wie wollt ihr darauf antworten?“ „Potz Kuckuck, ein gefährlicher Punkt!“ „Ich denke wir müssen das Totmachen auslassen.“ „Nicht ein Tüttelchen.“ Usw. In der Traumreminiszenz des Zettel wird seine Sprache auf einmal poetisch und rhythmisiert und spart auch mit Wortspielen nicht: „des Menschen Auge hat’s nicht gehört, des Menschen Ohr hat’s nicht gesehen, des Menschen Hand kann’s nicht schmecken, seine Zunge kann’s nicht begreifen und sein Herz nicht wieder sagen, was mein Traum war. – Ich will Peter Squenz dazu kriegen, mir von diesem Traum eine Ballade zu schreiben; sie soll Zettels Traum heißen, weil sie so seltsam angezettelt ist.“ Und als sich für die handwerklichen Möchtegern-Schauspieler endlich der Vorhang lichtet, da stelzen sie mit einer komisch wirkenden Kunstsprache herum: „Die Spieler sind bereit; wenn Ihr sie werdet sehen, Versteht Ihr alles schon, was Ihr nun wollt verstehen.“ Eine Persiflage auf den Stil älterer englischer Tragödien erlaubte sich Shakespeare hier und lässt es Hippolyta auf den Punkt bringen: „In der Tat, er hat auf seinem Prolog gespielt, wie ein Kind auf der Flöte. Er brachte wohl einen Ton heraus, aber keine Note.“ Felix Mendelssohn Bartholdy „Ein Sommernachtstraum“ Schauspielmusik zur Komödie von Shakespeare, op. 61 Nr. 11: A Dance of Clowns. Allegro di molto Ensemble Orchestral de Paris Dirigent: John Nelson M0266100 / 013 (bis 1:33‘) 7 Der Tanz der Rüpel von Felix Mendelssohn Bartholdy aus der Schauspielmusik zum “Sommernachtstraum”. John Nelson leitete das Ensemble Orchestral de Paris. Neben dem „Sommernachtstraum“ gilt vor allem „Antonius und Cleopatra“ als das sprachgewaltigste Stück. Es ist ein Aufgebot an Metaphern und Bildern. Es ist quasi in zwei Sprachen geschrieben: eine für die lebensfrohe, fruchtbare ägyptische Kultur und eine für das strenge, kühle Römische Reich. Die Sprache wird bei Shakespeare auch zur ausdrucksvollen Machtdemonstration: „Sprache hast mich gelernt, und mein Gewinn Ist, dass ich fluchen kann. An Pest krepier Fürs Lehren deiner Sprache“ So verflucht Caliban seinen Sprachlehrer Prospero. Das Lehren einer Sprache steht hier für Missionierung und Versklavung. Die Sprache als Machtmittel. Die Sprache als Ausdruck für das Böse. „Alle Beleidigungen, gnädigster Herr, kommen vom Herzen.“ (Heinrich V). „Ich kann lächeln und beim Lächeln morden.“ und „Verräterlist bedarf Sophisten nicht.“ (Heinrich VI). Shakespeares Sprache, das ist das Spiel mit Worten. „Besser ein weiser Tor, als ein törichter Weiser.“ (Was ihr wollt). Floskeln wie „mein eigen Fleisch und Blut“, „das Eis brechen“, „um Himmels Willen“ haben die Jahrhunderte überdauert. Und wir zitieren Shakespeare häufiger als die Bibel, ja man möchte sich Oscar Wilde anschließen: „Heutzutage sitzen wir in einer Shakespeare-Aufführung, um Zitate wiederzuerkennen.“ Wenn Sie wissen möchten, mit welchen Shakespeare-Zitaten ich heute um mich werfe, das Skript zur Sendung mit der Werkangabe zum Zitat gibt es zum Nachlesen unter: SWR2/Musikstunde.... Und sollte Sie eine ShakespeareMusikstunde verpasst haben, auch diese gibt es dort noch eine Woche lang zum Nachhören. 8 Roger Quilter 4 Shakespeare-Songs, op. 30 Nr.2 “When daffodils begin to peer Michelle Breedt, Mezzosopran Nina Schumann, Klavier M0290277 / 004 (1:19‘) Aus dem „Wintermärchen“ von William Shakesperae stammten diese Verse, vertont von Roger Quilter. Wir brachten eine Einspielung mit Michelle Breedt, Mezzosopran und Nina Schumann, Klavier. 1593 bricht in London die Pest aus, die Theater werden geschlossen. Diese Zwangspause nutzte der Dramatiker Shakespeare, um sich der Lyrik zuzuwenden. Auch als die Theater wieder geöffnet wurden, blieb er diesem Genre treu und es entstanden im Laufe der Jahre die berühmten und einzigartigen 154 Sonette von William Shakespeare. Das Sonett, das entstand vermutlich am Hof des Stauferkaisers Friedrich II. auf Sizilien um das Jahr 1200. Die äußerliche Reimform war streng geregelt und auch der Inhalt war gesetzt: es geht um die Liebe, genauer gesagt, das männliche Begehren einer unerreichbaren, schönen, keuschen Frau – die Huldigung einer fair Lady. Als Vollender dieser Gattung gilt der Poetenkönig Francesco Petrarca. Seine Sonette bestehen immer aus zwei Quartetten, denen zwei Terzette folgen. Shakespeare wandelt die Form zu drei Quartetten plus Couplet: Im Quartett I legt das lyrisches Ich seine Gefühle dar; in den Quartetten II und III werden die Einzelheiten und Beziehungen zum Gegenüber beschrieben und das Couplet, die Coda kommentiert, ironisiert, fasst zusammen. Während Petrarca seine 351 Sonette aus dem 14. Jahrhundert an die Dame „Laura“ richtet, ist die Adressaten-Frage bei Shakespeare nicht eindeutig. Einen Namen gibt es schon gleich gar nicht. Zunächst lauscht man, wie gewohnt, der Anbetung einer fair Lady. Doch bereits in Sonett Nr.18 sind die Worte nicht einem jungen Mädchen, sondern einem jungen Mann gewidmet. Nils Lindberg “Shall I compare thee to a summer's day” für gemischten Chor a cappella SWR Vokalensemble Stuttgart Dirigent: Morten Schuldt-Jensen M0308842 / 006 (3:07‘) 9 „Soll ich dich einem Sommertag vergleichen? Er ist wie du so lieblich nicht und lind; Nach kurzer Dauer muss sein Glanz erbleichen, Und selbst in Maienknospen tobt der Wind.“ so beginnt William Shakespeare sein Sonett Nr. 18. Sie hörten es in einer Vertonung von Nils Lindberg mit dem SWR Vokalensemble Stuttgart unter Morten Schuldt-Jensen. Später verwandelt sich die fair Lady dann noch in eine sinnlich lockende, verführerische dark Lady. My love is as a fever (Sonnet 147) Barbara Sukowa and The X-Patsys M0248186 / 001 (1:32‘) Barbara Sukowa and The X-Patsys mit dem Sonett Nr.147 von William Shakespeare. Die Sonette waren mit ein Grund, dass die deutschen Romantiker Shakespeare für sich entdeckten. Schlegels Übersetzung rückte Shakespeare in den Rang eines Goethe oder Schillers. Jeder deutsche Literat, der etwas auf sich hielt, machte sich an Shakespeare ran. Ja, man beglückwünschte sich gegenseitig zu den jeweiligen Übersetzungstaten. Die Schlegel-Tieck-Übersetzungen sind auch heute noch klangschöne, wortgewaltige Klassiker – wie mag die Wirkung erst vor 200 Jahren gewesen sein? Johann Wolfgang von Goethe beschrieb sie in seiner überschwänglichen Rede 1771 so: „Zum Shakespeare-Tag stand ich wie ein Blindgeborener, dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblick schenkt. Ich erkannte, ich fühlte aufs Lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert.“ Diese Begeisterung und Leidenschaft führte dazu, dass Shakespeare, seine Werke und deren deutsche Fassungen so selbstverständlich wurden, als seien sie nirgends anders entstanden, als in Deutschland. „Ich bin überzeugt, dass der deutsche Shakespeare jetzt besser als der englische ist.“, so Novalis und August Wilhelm Schlegel an Ludwig Tieck: „Ich hoffe, Sie werden in Ihrer Schrift unter anderem beweisen, Shakespeare sey kein Engländer gewesen. Wie kam er nur unter die frostigen, stupiden Seelen auf dieser brutalen Insel? Freylich müssen sie damals noch mehr menschliches Gefühl und Dichtersinn gehabt haben, als jetzt.“ Die Schlüsselfigur: Hamlet. Er wird zum großen, blonden, blauäugigen nordischen Menschen stilisiert, der zielstrebig, unbeirrt und siegreich durch die Welt wandelt, nur zu Fall gebracht durch Heimtücke und Verrat. 10 Doch wenn Deutschland Hamlet ist, dann sind die Deutschen auch Zauderer, Säumer und Grübler: „Deutschland ist Hamlet! Ernst und stumm In seinen Toren jede Nacht Geht die begrabne Freiheit um,“ So beginnt Ferdinand Freiligraths Gedicht „Hamlet“ aus „Ein Glaubensbekenntnis“ von 1844. Nach: „Er sinnt und träumt und weiß nicht Rat; Kein Mittel, das die Brust ihm stähle! Zu einer frischen, mut'gen Tat Fehlt ihm die frische, mut'ge Seele!... Bis endlich er die Klinge packt, Ernst zu erfüllen seinen Schwur; Doch ach – das ist im letzten Akt, Und streckt ihn selbst zu Boden nur!..“ heißt es dann am Ende des Gedichtes: „Doch – darf ich schelten, alter Träumer? Bin ich ja selbst ein Stück von dir, Du ew'ger Zauderer und Säumer!“ Die stellvertretende Selbstanklage gilt der gescheiterten Revolution von 1848. Doch „unser“ Shakespeare wurde immer populärer, je angespannter die Verhältnisse zwischen Deutschland und England wurden. Der Dramatiker und Shakespeare-Übersetzer Ludwig Fulda forderte 1916 ironisch: für den Fall, dass Deutschland den Weltkrieg gewinne, sollte „in den Friedensvertrag eine Klausel, wonach Shakespeare auch formell an Deutschland abzutreten sei.“ Die 1930er und 40er Jahre trieben das Ganze dann aber vollen Ernstes auf die Spitze. Der Nazi-Autor Hermann Burte schrieb: „Shakespeare ist ein Unserer so gut wie der seiner Engländer, ja, wir kennen und spielen ihn besser als jene und behaupten kühl, dass wir als Deutsche von 1940 dem Geist der elisabethanischen Engländer und ihrem Genius William in Wahrheit näher stehen als die Englischen von heute, hinter deren Thron jener Shylock steckt und herrscht, den Shakespeare erkannte – und verwarf!“ Wer sich eingängig mit der Figur des Shylock, des Kaufmanns von Venedig befasst hat, der weiß, dass es sich hierbei gerade um eine Antifigur zum Antisemitismus handelt. 11 Joseph Goebbels notierte nach einer „Coriolan“ Aufführung in sein Tagebuch: „Dieser Shakespeare ist aktueller und moderner als alle Modernen. Welch ein Riesengenie! Wie turmhoch über Schiller!“ Aber natürlich bewunderte man nur einen bewusst auserlesenen Teil der Shakespeare-Werke. Ab 1941 durften auf Goebbels Befehl die Historien, sowie „Troilus und Cressida“, „Antonius und Cleopatra“ und „Othello“ nicht mehr aufgeführt werden. Auch Hitler war ein Riesenfan des Barden, besaß eine ledergebundene Ausgabe und warf gerne mit Shakespeare-Zitaten um sich. „Ein Hund sein lieber und den Mond anbellen, Als solch ein Römer!“ (Julius Cäsar) kann man da nur sagen. Ein letztes Absurdum noch: 2010 wurde in England eine prächtige, deutsche Ausgabe des Hamlet versteigert, Schätzpreis 5.000 Pfund. Sie war ein Weihnachtsgeschenk mit handschriftlicher Widmung von Hermann Göring an Gustaf Gründgens. Man kann es sich leider nicht aussuchen, mit wem man die Liebe zu Shakespeare teilt. Darum erst einmal wieder „Musik her!“ Zwar nicht „Schlafbeschwörende Musik“ (Ein Sommernachtstraum), dafür kämpferische. Ming Tsao „Die Geisterinsel“ Kammeroper in 1 Akt für Soli, Chor und Orchester Nr.12 „Ich heiße Caliban“ (Caliban I und II, Chor) Hans Kremer, Sprecher Stefan Merki, Sprecher Orpheus Vokalensemble Orchester der Staatsoper Stuttgart Dirigent: Stefan Schreiber M0424039 / 012 (5:10‘ / kann auch früher enden) Aus der Kammeroper „Die Geisterinsel“ von Ming Tsao hörten Sie die Nummer der beiden Calibane mit Hans Kremer, Stefan Merki, dem Orpheus Vokalensemble und Mitgliedern des Staatsorchesters Stuttgart. Die Leitung hatte Stefan Schreiber. Nach all den inhaltlichen Exkursen, über Feen, Hexen, Geister, die Helden, Bösewichter und Komödianten, betrachten wir nun ein letztes Mal den Menschen William Shakespeare. Mit 48 Jahren, 1612 kehrte William Shakespeare in sein Heimatdorf Stratford-upon-Avon zurück. 1596 war er auch kurz dagewesen, um den Tod seines Sohns Hamnet, der mit 11 Jahren starb, zu beklagen. 12 Man vermutet, dass er diesen Schicksalsschlag in seinem 33. Sonett verarbeitet hat. Da ist nämlich die Rede vom Sonnengott und die englischen Worte für Sonne und Sohn klingen identisch. Im gleichen Jahr noch beauftragte Shakespeare in London einen Wappenmeister mit einem Familienwappen für die Shakespeares. Eine Widmung an seinen ca. 65 Jahre alten Vater, der mit seinem Versuch, ein Familienwappen zu erhalten, vor 20 Jahren gescheitert war. Ein Familienwappen, das war damals ein prahlerisches Symbol für Aufstieg und Anerkennung. Kostenpunkt: 30 Pfund; das entsprach 3 Jahresgehältern eines Lehrers. William Shakespeare durfte sich also nun „Gentlemen“ nennen. Das Motiv seines Wappens: ein Speer, ein „Spear“. Und das Motto: „Non sans droit“, „Nicht ohne Recht“. Shakespeares Kritiker, Konkurrent und Bekannter Ben Jonson machte sich daraufhin den Spaß und ließ in einer Posse einen geadelten Clown unter dem Motto „Nicht ohne Senf“ auftreten. Shakespeare hatte es im Theaterbetrieb zu etwas gebracht, war erfolgreicher Intendant und hatte dadurch Geld. Nicht wie man heute annehmen würde durch den Verkauf seiner Werke. Der Buchdruck war teuer und dauerte und es gab kein Urheberrecht. Wer das Stück hatte, konnte es ohne finanzielle und rechtliche Konsequenzen aufführen. Daher kein Druck und die Stücke blieben Eigentum der Schauspieltruppen. Außerdem galt auch damals schon „Time is money“. Es wurden ca. 6 verschiedene Stücke die Woche gespielt, im Jahr an die 20 neue Werke. Zum Verlegen blieb da einfach keine Zeit. William Shakespeare kaufte seiner Familie ein ansehnliches Haus und Anwesen in Stratford. Anfang 1616 erkrankte er und starb am 23. April, an seinem vermutlich 52. Geburtstag. Seine Grabschrift hatte er selbst verfasst: „Um Jesu Willen, guter Freund, lass ab und rühr den Staub nicht an in meinem Grab. Gesegnet seist du, schonst du diesen Stein, und sei verflucht, bewegst du mein Gebein.“ 1616 veröffentlichte auch Ben Jonson in Eigenregie Shakespeares Dramen und sieben Jahre nach Shakespeares Tod, 1623, erschien die erste Gesamtausgabe, The Fist Folio, durch Williams Freunde John Hemings und Henry Condell. 13 „Triumphiere, mein Britannien, denn du hast einen vorzuweisen, dem alle Bühnen Europas Huldigung schulden. Nicht einem Zeitalter gehört er, sondern allen Zeiten.“ Und so wollen wir, getreu Ben Jonsons Worten, den Maestro Shakespeare zurück ins 21. Jahrhundert holen. Wir schreiben den 27.Mai 2016, die Mittsommernacht ist nicht mehr weit. Folgen wir der Prolog-Interpretation des Sprachpoeten Tobias Gralke; holen wir den antiken „Sommernachtstraum“ zu uns nach Hause, um ihn neu zu träumen. Prolog von Tobias Gralke Felix Mendelssohn Bartholdy Ein Sommernachtstraum. Musik zu Shakespeares Komödie, op 61 Finale „Through the house give glimmering light” Kathleen Battle, Sopran Frederica von Stade, Mezzosopran Judy Dench, Sprecherin Tanglewood Festival Chorus Einstudierung: John Oliver Boston Symphony Orchestra Dirigent: Seiji Ozawa M0384237 / 015 (6’00)
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