wissen&forschung thema handel und fmcg Sache machen Gemeinsame Lebensmittel-Industrie und Handel im Zeichen der DIGITALEN TRANSFORMATION Der Autor Jens Krüger ist Managing Director bei TNS Deutschland für den Sektor Consumer & Industry. Er gehört zu den Experten der Ebay-Plattform Zukunft des Handels. [email protected] 26 planung&analyse Sonderheft 1/2016 o früher Marken und Werbungtreibende um die Aufmerksamkeit von Konsumenten buhlten, geht es heute um Vertrauen. Reputation wird zur zentralen Währung. Sie spiegelt das Vertrauen in Marken wider. Vertrauen entsteht über gemeinsame Werte, die Unternehmen und Marken mit ihren Kunden teilen. Jens Krüger, Managing Director von TNS Deutschland, fordert, Industrie und Handel müssten gemeinsame Sache machen, um trotz Paradigmen-Wechsel von der Industrie- zur Netzwerkökonomie das Vertrauen der Kunden zu behalten. Planbarkeit. Transparenz und Vertrauen werden zu entscheidenden Ressourcen. Ebenso die Fähigkeit, sich aufeinander einzulassen – Kollaboration statt Wettbewerb. Diese schöne, neue Welt erfordert von Industrie und Handel ein konsequentes Umdenken und es stellt sich die Frage: Wie werden sich die Geschäftsmodelle in den nächsten fünf bis zehn Jahren aufgrund der neuen technischen und digitalen Möglichkeiten verändern? Derzeit wird fast ausschließlich die technische Seite betrachtet. Viele gehen davon aus, dass alles was heute technisch möglich erscheint, auch so kommen und das Verhalten der Konsumenten nachhaltig beeinflussen wird. Richtig ist sicher, dass die Digitalisierung unser Leben und unser Verhalten ändern kann. Doch die Vergangenheit zeigt, dass sich nicht immer alles durchsetzt, was technisch machbar ist. Mindestens genauso wichtig ist aber die Frage, wie verändern sich Einstellungen und Werte? Wie leben wir in der Zukunft? Wie ist der Kontext, in dem sich der digitale Wandel vollzieht? Dieser Wandel wird ganze Industrie- und Wirtschaftsmechanismen auf den Kopf stellen – wie die Beziehung und das Machtgefüge zwischen Industrie, Handel und Konsument. Neben der Diskussion um die technologische Konnektivität geht es unserer Einschätzung nach vor allem um die Frage der kulturellen Konnektivität, also einmal mehr darum, den Konsumenten und seine Motivlage innerhalb dieses Wandels zu verstehen und entsprechend mit den eigenen Werten abzugleichen. Wohin geht die Reise? Wir haben uns dieser Frage – mehr oder weniger explizit – in unterschiedlichen Forschungsarbeiten gestellt, auf zwei davon wollen wir nachfolgend eingehen: Dem Werteindex 2016 und der Nestlé Zukunftsstudie Wie is(s)t Deutschland 2030? Werteindex analysiert im zweijährigen Turnus Im Werteindex, unserem gemeinsamen Forschungsprojekt von TNS und dem Trendforscher Prof. Peter Wippermann, analysieren wir seit 2009 im zweijährlichen Turnus die Dynamik, mit der sich Werte und ihr Kontext sowie ihre Konnotation verändern. Die Studie basiert auf einer umfangreichen Inhaltsanalyse von Beiträgen von Internet-Nutzern in Foren, Blogs und sozialen Medien. Der aktuelle Werteindex basiert auf der Analyse von knapp 7,5 Millionen Beiträgen im deutschsprachigen Internet von Mitte 2014 bis Mitte 2015. Im Kern belegt die aktuelle Analyse des Werteindex, dass Globalisierung, Terrorangst und die Dauerkrisen dazu führen, dass sich der Einzelne in die Sicherheit des Bekannten und Privaten zurückzieht. Online richtet man sich in einer Welt der Gleichgesinnten ein. Die wichtigsten Werte sind Gesundheit, Freiheit und Erfolg. Gesundheit ist die Basis für individuelle Leistungsfähigkeit und Selbstbestimmung. Freiheit erlangt in der Bedeutung von Unabhängigkeit von übergeordneten Institutionen neue Relevanz. Die Definition von Erfolg wird mehr von Lebensqualität und weniger vom materiellen Status geprägt. Die wichtigsten Aufsteiger-Werte sind Natur und Sicherheit. Natur wird von der Diskussion der Notwendigkeit von Klimaund Umweltschutz getrieben. Bei Sicherheit geht es verstärkt um alltagspraktische Lösungen wie etwa sichere Produkte. Aktuell werden dafür deutlicher als zuvor die Politik und die Wirtschaft in die Pflicht genommen. Dafür, Veränderungen in unserem Gesellschaftssystem herbeizuführen wie für ein ökologisch verträglicheres Wirtschaftswachstum zu sorgen, reicht der Hebel des Einzelnen nicht aus. Hier wird zunehmend ein ganzheitlicher Anspruch an eine fundamentale Systemerneuerung formuliert – gerade wenn es um Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit geht. Zukunft hat nur ein Wirtschaftssystem, das ganzheitlich am Wohle aller Menschen orientiert ist. Diesen Systemwechsel erachten viele als essenziell. Teile der Wirtschaft haben begonnen, diesen Forderungen bereits nachzukommen. Im Kern geht es darum, dass wir alle mehr gemeinsam an einem Strang ziehen, um den Erwartungen der Konsumenten gerecht zu werden Nestlé Zukunftsstudie zeigt Ernährung von morgen Ernährung und Ernährungsverhalten sind keine isoliert zu betrachtenden Phänomene. Auch wie wir heute essen, hängt ganz wesentlich von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und auch technischen Entwicklungen ab. Neben dem demografischen Wandel werden auch die Veränderungen im Bereich der Medizin, Technologie und nicht zuletzt unserer Arbeitswelt Einfluss auf unsere Ernährung haben. Mit der Leitfrage Wie is(s)t Deutschland im Jahr 2030? haben sich kreative Konsumenten – bei uns Supergrouper genannt – während eines zweitägigen Co-CreationWorkshops beschäftigt, versorgt mit umfangreichen Informationen und Prognosen von Experten aus verschiedenen Branchen wie Architekten, Städteplaner, Mediziner, Designer und andere. Ergebnis dieses Konsumenten-Workshops sind detaillierte Zukunftsbilder für die Ernährung von morgen. Die zunehmende Komplexität unserer Gesellschaft und Lebenswelt wird auch eine Individualisierung unserer Ernährungsstile zur Folge haben. Sie wurden zusammengefasst in fünf Zukunftsszenarien, deren Alltags- Im Zeitalter der Industrieökonomie funktionierte die Symbiose und Hierarchie zwischen Markenartikler und Händler noch. Produkte wurden kommunikativ in Werbespots und Anzeigen inszeniert und im Handel platziert. Und der Konsument hat konsumiert, was ihm (an-)geboten wurde. Die zentrale Währung war Aufmerksamkeit und Platzierung. Je größer die Aufmerksamkeit für ein Produkt, desto besser die Platzierung im Handel. Je besser die Platzierung, desto größer der wirtschaftliche Erfolg. In der Netzwerkökonomie mit neuen technischen und medialen Möglichkeiten der Verknüpfung zählt die Qualität von Beziehungen. Sie sorgt für Kontinuität und planung&analyse Sonderheft 1/2016 27 wissen&forschung thema handel und fmcg und Praxistauglichkeit im Rahmen einer Repräsentativbefragung (n=1.024) überprüft wurde. Zukünftig wird die Konnektivität der Informationstechnologie deutlich zunehmen, die Menschen in Deutschland werden sich noch stärker vernetzen. Auch unser Ernährungs- und Einkaufsverhalten wird sich hierdurch verändern: Für knapp 60 Prozent der Bevölkerung wird es künftig selbstverständlich, dass Ernährungs-Apps, die auf das persönliche Gesundheitsprofil ausgerichtet sind, bei der Auswahl der richtigen Lebensmittel unterstützen. Gesundheitsarmbänder werden bei der Kontrolle unserer Körperfunktionen helfen. Zwei gesellschaftliche Veränderungen werden diese Entwicklungen verstärken: Der Erhalt der Gesundheit wird ein zunehmend relevanter gesellschaftlicher Kostenfaktor und dies führt unweigerlich zu präventiven Lebensstilen. Zum anderen gehen die Experten davon aus, dass jeder zukünftig seine Gene analysieren lassen und erfahren kann, wie hoch das persönliche Risiko für unterschiedliche Erkrankungen ist. Die Ideologisierung des Essens Diese Entwicklungen werden den Konsumenten stärker in die (Eigen-)Verantwortung nehmen. Wenn wir uns immer mehr kontrollieren, werden auch neue Produkte und Dienstleistungen entstehen. Denkbar sind personalisierte Produkte, die nicht nur der Gesunderhaltung, sondern der persönlichen Leistungssteigerung dienen. Künftig könnte es eine große Auswahl an personalisierten Lebensmitteln geben, die individuell auf den persönlichen Bedarf abgestimmt sind. Die Lebensmittelhersteller werden bei der Auswahl der richtigen Produkte unterstützen, indem sie diese einfach und deutlich kennzeichnen. Im Handel werden geschulte Mitarbeiter bei der Auswahl der richtigen Lebensmittel beratend zur Seite stehen. Die Hälfte der Befragten hält dies für realistisch. Essen wird immer ideologischer. Überspitzt gesagt, die Festlegung auf einen Ernährungsstil, wie beispielsweise der Verzicht auf Fleisch bis hin zu einer veganen Ernährung, ist in Zukunft vergleichbar mit der Zugehörigkeit zu einer politischen Partei. Diese Differenzierung stellt Lebensmittelhersteller – vor allem aber Gastgeber einer heterogenen Tischgesellschaft – vor eine echte Herausforderung. Künftig wird es nicht reichen, eine Mahlzeit auf den Tisch zu stellen. Stattdessen wird die Herausforderung sein, die verschiedenen ideologisch geprägten Esser mit individuellen Angebo- 28 planung&analyse Sonderheft 1/2016 ten zufriedenzustellen. Die Ideologisierung des Essens ist verbunden mit der Konsequenz, dass Essen zum Sozialprestige beiträgt. Jeder Zweite in Deutschland gibt an, dass die Ernährung künftig zum Statussymbol und Ausdruck des persönlichen Lebensstils wird. Ethischer Konsum und Werteorientierung Damit geraten letztlich auch die Werte von Unternehmen – sowohl bei der Industrie als auch beim Handel – zunehmend in den Fokus der Konsumenten. Käufer interessieren sich nicht mehr nur für das Produkt im Regal, sondern auch für die dahinter stehenden Prozesse. Beispielsweise interessieren sich Verbraucher dafür, wie die Lieferketten aussehen und ob die Produktion ressourcenschonend erfolgt. Die Thematik ist weitaus differenzierter geworden und geht über Bio hinaus. Es geht in weiten Teilen der Bevölkerung um die ethischmoralische Verantwortung gegenüber anderen – auch beim Thema Essen. In Zukunft wird sich dieser Trend verstärken. Jedem Zweiten in Deutschland gefällt diese Vorstellung von einer besseren, ressourcenschonenden Welt und knapp 60 Prozent der Befragten halten diese Zukunftsvision für realistisch. Konsumenten erwarten neue Produkte und Dienste Der Wandel von der Industrie- zur Netzwerkökonomie, den wir derzeit erleben, wird ganze Branchen auf den Kopf stellen. Ausgelöst durch die digitale Revolution und die neuen Möglichkeiten für Konsumenten, sich individuell zu vernetzen, sich technologie-basiert selber zu optimieren, um in einer im Vergleich zu heute deutlich fragmentierten Arbeitswelt leistungsfähig zu sein, wird der Ausgangpunkt für neue Produkte – besser: Lösungen – sein, die einem noch stärker individualisierten Lebensstil gerecht werden. Die Industrie hat heute schon das Know-how, solche neuen Produkte zu entwickeln. Der Handel hat – immer noch – den direkteren Zugang zu den Konsumenten. Und der Konsument – er erwartet, dass ihm Angebote gemacht werden, die zu ihm, seinem Leben, seiner Lebens- und Arbeitssituation passen. Gemeinsam und technikbasiert können Handel und Industrie gemeinsame Sache machen. Der Wettlauf um neue Rollen, wie etwa einen individuellen Gesundheitsmanager, hat begonnen. Wir sind uns sicher – es kann und wird nicht nur ein einziges Unternehmen sein, das diesen Wettlauf gewinnt, sondern das beste Joint Venture, das auch den Kunden mit einbezieht. Aktuell stellt sich der Handel die Frage, wie ein profitables Online- beziehungsweise Multichannel-Angebot aussieht. Also, welche Technik einzusetzen ist. Die Industrie fragt sich, welche Anforderungen neue Produkte für die Zukunft haben müssen. Die eigentliche Frage ist aber, wer es schafft, den Konsumenten ganzheitlich zu verstehen (ethisch, werteorientiert, selbstbewusst, aufgeklärt und kritisch), ihn direkt anzusprechen und ihm die richtigen Angebote macht. Das wird nur gemeinsam gehen. Mit dem Know-how der Industrie und der Nähe zum Kunden beim Handel. Macht was draus, sonst macht es Google. Welche Zukunftsszenarien sind wahrscheinlich Konsumentenwertung in Prozent 52 Ressourcenschonende Ernährung 50 Gemeinschaftliches Essen 35 Reflektierter Genuss 34 Ernährung zur Selbstoptimierung Einfaches Sattwerden Quelle: Wie is(s)t Deutschland 2030? 29 planung&analyse Sonderheft 1/2016
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