Brown-Séquard-Syndrom nach Sportunfall

ORIGINALBEITRÄGE
P. Marx
Brown-Séquard-Syndrom
nach Sportunfall
Fallvignette
Unfallereignis und unmittelbare Zeit
danach
Die 18jährige Schülerin stürzte während
des Schulsports nach einem Zusammenprall mit einem Mitschüler, bei dem sie
der von diesem gehaltene Basketball im
Bauchbereich traf. Sie fiel nach hinten,
war kurz bewusstlos, stand dann jedoch
selbst auf, setzte sich auf eine Bank und
fuhr anschließend mit der U-Bahn nach
Hause. Dabei habe sie zunehmend Kopf-,
Nacken-, und Rückenschmerzen sowie
Übelkeit und Schwindel bekommen. Ein
D-Arztbericht vom Unfalltag vermerkt
keine neurologischen Defizite, diagnostiziert wurde eine HWS-Distorsion.
Stationärer Aufenthalt erste Tage danach
Einen Tag nach dem Unfall Aufnahme
in einer neurochirurgischen Universitätsklinik wegen rechtsseitiger Fußkloni. Im
Aufnahmebefund diskrete Hemihypästhesie links am Stamm und an den Extremitäten sowie gesteigerte Muskeleigenreflexe an den Beinen. Keine Paresen oder Pyramidenzeichen. Die wegen
eines Gerätedefekts allerdings nur sagittal durchgeführten MRT-Bilder der HWS
und BWS ergaben keine Auffälligkeiten.
Sonographisch kein Anhalt für eine
Dissektion der hirnversorgenden Arterien. Im Rahmen einer drei Tage nach
dem Unfall erfolgten fachneurologischen
Untersuchung Diagnose einer unklaren
Steigerung der Muskeleigenreflexe am
rechten Bein mit Fußklonus und leichter Spitzfußstellung. Eine Ästhesie- und
Algesieminderung an den Beinen wur-
de ausdrücklich verneint. Der sonstige
neurologische Befund war regelrecht.
Entlassung nach sechstägigem Aufenthalt mit den Diagnosen Commotio spinalis und Commotio cerebri. Darüber hinaus unklare Reflexsteigerung der unteren
Extremität (ICD-10 Z03.3).
Untersuchungen im ersten Jahr danach
Bei einer weiteren neurologischen Untersuchung neun Tage nach dem Unfall
Hypästhesie und Hypalgesie am ganzen
linken Bein. Armeigenreflexe rechts lebhafter als links, Beineigenreflexe rechts
gesteigert mit verbreiterten Reflexzonen
und Kloni. Keine Pyramidenbahnzeichen, Bauchhautreflexe seitengleich auslösbar. Im weiteren Verlauf Angabe einer
„Brown-Séquard-artigen Störung“ ab
Th9 ohne nähere Beschreibung der konkreten Befunde.
Wegen ca. drei Wochen nach dem
Unfall bemerkter Sehstörungen erfolgte
eine stationäre Abklärung in einer neurologischen Klinik, wo mittels MRT (Kopf
und Rückenmark) und Lumbalpunktion eine Multiple Sklerose ausgeschlossen wurde. Weitere später durchgeführte
MRT-Untersuchungen des Schädels und
des Rückenmarkes erbrachten keine Hinweise auf zerebrale oder spinale Läsionen, eine Syringomelie oder Durafistel.
Elektrophysiologisch waren die somatosensorisch evozierten Potentiale (SEP)
nach Stimulation der Beinnerven unauffällig. Die motorisch evozierten Potentiale (MEP) zu den Armen waren allenfalls
leicht gestört, zum rechten Bein jedoch
deutlich verzögert, polyphasisch aufgesplittert und amplitudenerniedrigt.
Neurologisches Gutachten
drei Jahre danach
Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Peter Marx
Terrassenstraße 45
14129 Berlin
Durch den Unfall hervorgerufenes spinales Trauma mit leichtgradiger spastischer
Parese des rechten und sensiblen Defiziten des linken Beines. Die als ausgeprägt
angegebene Sensibilitätsstörung am lin-
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Zusammenfassung
Eine 18jährige Schülerin stürzte im
Schulsport und entwickelte nach zunächst folgenfrei scheinendem Verlauf
in den nächsten Tagen ein partielles
Brown-Séquard-Syndrom. Differenzialdiagnostische Erwägungen umfassen
Contusio spinalis, arterielle Dissektion, Durafistel, traumatische Syringomyelie, fibrokartilaginäre Embolie
und eine traumaunabhängige Multiple
Sklerose. Mangels geeigneter zeitnaher
Bildgebung muss sich die gutachtliche
Einschätzung überwiegend auf Brückensymptome stützen.
Schlüsselwörter Trauma – Sturz
– fibrokartilaginäre Embolie – Begutachtung
ken Bein und Thorax ist anatomisch nicht
erklärbar und entspricht einer psychosomatischen Überlagerung. MdE 20 v.H.
Neurologisches Gutachten
sechs Jahre danach
Befundverschlechterung mit Reflexsteigerung auch am linken Bein und erloschenem Bauchhautreflex links. Der
Sensibilitätsbefund ist weder einer dissoziierten Empfindungsstörung noch einer
einseitig vollständigen Unterbrechung
der Hinterstränge zuzuordnen. Eine
dauerhafte traumatische spinale Läsion
ist nicht nachgewiesen, da ein spinaler
Schock fehlte. Wahrscheinlicher ist eine
unfallunabhängige spastische Spinalparese. MdE 0 v.H.
Neurologisches Gutachten
acht Jahre danach
Begutachtung durch den behandelnden
Arzt. Dabei monopedales Hüpfen rechts
erschwert, Einbeinstand links unsicher,
Muskeleigenreflexe an den unteren Ex­tremitäten sehr lebhaft und rechtsbetont
mit verbreiterten Reflexzonen und Achillessehnenkloni. Sensibel unterhalb des
Bauchnabels ab Th11 Hypalgesie und
Hypästhesie, ab der Leiste Unempfindlichkeit für Schmerz-, Kalt- und Warmreize. Diagnose einer unfallbedingten
Rückenmarksverletzung, eine – offenbar
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und Verlust der Blasen-Mastdarmfunktion. Der Schock kann sich innerhalb von
Minuten oder erst nach Wochen zurückbilden. Die zunächst schlaffe Parese wird
dann erst im weiteren Verlauf spastisch.
Auch Verletzungen mit inkompletten Querschnittsyndromen zeigen üblicherweise initial einen spinalen Schock.
Wie häufig Ausnahmen von dieser Regel
sind, ist nicht bekannt. Eine frühe Rückkehr der Muskeleigenreflexe ist ein starker Hinweis auf eine gute Rückbildungsfähigkeit einer Rückenmarksverletzung
[2]. Die Entwicklung einer Spastik nach
einem akuten Rückenmarkstrauma ohne
vorangehende Lähmung ist jedoch ungewöhnlich. Da sich auch kein Rückenmarsödem im MRT am Tag nach dem
Unfall nachweisen ließ, ist die Annahme
einer Contusio spinalis in hohem Maße
unwahrscheinlich.
versehentlich auf der MRT-Anordnung
in der neurochirurgischen Klinik vermerkte – linksseitige Spastik wurde als
Abschwächung der Muskeleigenreflexe
rechts am Tag nach dem Unfall und als
Ausdruck eines spinalen Schocks gedeutet. Aufgrund dieses Gutachtens Anerkennung einer MdE 20 v.H. durch ein
Sozialgericht.
Neurologisches Gutachten
elf Jahre danach
Die Verunfallte verneint Gehstörungen
und Störungen der Blasen- Darmfunktionen in der Zeit unmittelbar nach dem
Unfall. Eine Temperaturempfindungsstörung am linken Bein sei ihr erst sieben Tage nach dem Unfall beim ersten
Duschen zuhause aufgefallen. Das rechte Bein sei schwach und nicht belastbar
gewesen. Sie habe belastungsabhängig
schlimme Kreuz- und Rückenschmerzen
sowie Kopfschmerzen bekommen und
sei nicht belastbar gewesen. Jetzt fehle
ihr das Gefühl für Schmerz und Temperatur im linken Bein, sie habe auch schon
Verletzungen und Verbrühungen davongetragen. Außerdem ermüde das rechte
Bein schnell.
Neurologisch verplumptes monopedales Hüpfen rechts, jedoch keine Paresen. Muskeleigenreflexe am rechten Bein
klonisch gesteigert, Babinski negativ,
leichte Inversionsstellung des rechten
Fußes in Ruhe. Links ab Th11 Thermhyp- bis anästhesie sowie leichte Berührungsempfindungsstörung bei ungestörtem Lage- und Bewegungsempfinden.
Diskussion
Die Störungen an Rumpf und Beinen
entsprechen einem inkompletten BrownSéquard-Syndrom, d.h. einer halbseitigen Rückenmarksläsion rechts mit ipsilateraler motorischer Störung und kontralateraler „dissoziierter“ Empfindungsstörung für Schmerz und Temperatur
mit Lokalisation entweder im Hals- oder
oberen Brustmark oberhalb Th 11 (vgl.
Abb. 1). Die leichte motorische Störung
am rechten Bein beweist in Zusammenhang mit den gesteigerten Muskeleigenreflexen eine Pyramidenbahnstörung,
auch wenn diese in der Bildgebung nicht
nachgewiesen ist.
Traumatische Durafistel
Abb. 1: Brown-Séquard-Syndrom bei
rechtsseitiger Rückenmarksschädigung
Eine Störung der Temperatur- und
Schmerzempfindung wurde zwar nicht
von allen Untersuchern beschrieben,
jedoch auch nicht detailliert geprüft.
Am zeitlichen Zusammenhang mit dem
Unfallereignis besteht kein relevanter
Zweifel. Als ursächlich für die Rückenmarksläsion sind mehrere Pathomechanismen zu diskutieren:
Rückenmarkskontusion
Gegen diese Annahme spricht der Unfallmechanismus, bei dem eine Contusio spinalis nur bei umschrieben eingeengtem
Wirbelkanal zu erwarten wäre [1]. Eine
derartige Einengung lag nicht vor. Dagegen spricht auch das Fehlen eines spinalen
Schocks unmittelbar nach dem Trauma.
Eine akute Rückenmarkskontusion führt
zumindest bei kompletten Querschnittsyndromen in 80 % zu einem sog. spinalen Schock [5] mit schlaffer Lähmung ab
der Querschnittshöhe, Sensibilitätsverlust
Bei einer mit akuten Symptomen einhergehenden traumatischen Durafistel
wäre im Kernspintomogramm ebenfalls
ein Rückenmarksödem zu erwarten. Diese Erkrankung ist auch dadurch unwahrscheinlich, dass sie im Verlaufe der Zeit
immer wieder neue neurologische Symptome verursacht, was hier nicht der Fall ist.
Traumatische Syringomyelie
Eine solche ist bildmorphologisch ausgeschlossen.
Gefäßdissektion
Eine Dissektion der A. vertebralis als
Ursache eines so diskreten BrownSéquard-Syndroms ohne sonstige Symptome wäre sehr ungewöhnlich und ist
angesichts des dopplersonographischen
Befundes unwahrscheinlich. Auch für
eine Dissektion der Aorta oder einer Spinalarterie gibt es keinen Hinweis.
Fibrokartilaginäre Embolie1
Diese relativ seltene traumatische Ursache von Rückenmarksschädigungen entsteht durch Embolie von Knorpel- und
1
Den Hinweis auf diese Erkrankung verdanke ich
Herrn Prof. Dr. Beuche, Leipzig
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Fazit
Abb. 2: Fibrokartilaginäre Embolie [aus 4].
Der dreieckige Pfeil weist auf die Verletzung
an der Bandscheiben-Wirbelkörpergrenze,
der Doppelpfeil auf den durch eine fibrokartilaginäre Embolie hervorgerufenen Rückenmarksinfarkt.
Bindegewebe aus einer Bandscheibe
bzw. einem Wirbelkörper. Das Krankheitsbild ist seit 1961 [10] bekannt und
histopathologisch mehrfach nachgewiesen [11, 14, 15]. Das Krankheitsbild beginnt charakteristischerweise mit
einem heftigen Schmerz. Neurologische
Ausfälle entwickeln sich meist erst nach
einem freien Intervall von Minuten bis zu
zwei Tagen. Sie sind meist nicht sofort
voll ausgeprägt, sondern entwickeln sich
zunehmend und bilden sich nur schlecht
zurück [14].
Beschreibungen bei Überlebenden beruhen oft auf Verdacht bei Fehlen anderer Ursachen [3, 6, 7, 8, 12, 13].
Als gesichert kann die Diagnose gelten,
wenn begleitende Veränderungen an der
Bandscheibe bzw. ein Spongiosa-Ödem
(Ödem im Wirbelkörper) nachweisbar
sind, was allerdings nur mit speziellen
Kernspintomographie-Sequenzen gelingen kann [9].
Multiple Sklerose
Eine unfallunabhängige Multiple Skle­
rose wurde ausgeschlossen.
Im vorliegenden Fall wurde die Diagnose eines Brown-Séquard-Syndroms erst
relativ spät gestellt, weil offensichtlich
mehrmals eine gezielte Prüfung der kontralateralen Seite auf das Vorliegen einer
Störung der Schmerz- und Temperaturempfindung versäumt wurde.
Wahrscheinlichste
Ursache
der
Symptomatik ist eine fibrokartilaginäre Embolie, an die bei verzögert ablaufenden Rückenmarksschädigungen stets
gedacht werden sollte. Allerdings liegt in
diesem Fall gutachtlich die Problematik
vor, dass zwar die versicherte Situation,
der Unfall und der Folgeschaden (BrownSéquard-Syndrom) im Vollbeweis gesichert sind; für die primäre Gesundheitsschädigung ist dieser Nachweis jedoch
nicht eindeutig erbracht. So gibt es keinen Beweis für eine Bandscheibenoder Spongiosa-Verletzung als Ursache
der Embolie, wobei allerdings spezielle
kernspintomographische Sequenzen zum
Nachweis in der Frühphase versäumt
wurden. Eine Beweisführung ist daher
lediglich anhand der charakteristischen
Brückensymptome und der Tatsache,
dass keine andere Erklärungsmöglichkeit
ersichtlich ist, möglich.
Literatur
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14 Tosi L, Rigoli G, Beltramello A: Fibrocartilaginous embolism of the spinal cord:
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