Volkskrankheit Übergewicht Material zum „European Obesity Day 2016“ Übergewicht als verkanntes Problem Denkansätze im Umgang mit der Krankheit Übergewicht als Massenphänomen Adipositas Zentrum Nord Klinikum Nordfriesland Adipositas Zentrum Nord Aktionstag zur Volkskrankheit „Schweres Übergewicht“ Das Klinikum Nordfriesland hat sich mit seinem Adipositas Zentrum – also den Spezialisten für schweres Übergewicht – an einem europaweiten Aktionstag zur „Epidemie Adipositas“ beteiligt. Zu diesem Tag hatte die „Chirurgische Arbeitsgemeinschaft Adipositas-Therapie“ unter dem Motto „Save a Life Day“ aufgerufen. Die Kampagne hat mehrere sehr bedeutende Ziele. Der wichtigste Aspekt hierbei ist, erfolgreich zu vermitteln, dass Übergewicht eine chronische Erkrankung ist – mit teils gravierenden Begleit- und Folgeerkrankungen, wie z.B. erheblichen Gelenkproblemen, massiven Herz/Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mit weiteren umfangreichen Folgeerscheinungen und nicht zuletzt einer nachgewiesenermaßen erhöhten Gefahr, an Krebs zu erkranken. Chronisch bedeutet, dass diese Erkrankung den Betroffenen ein Leben lang begleiten wird; sie ist zwar therapierbar – aber nicht heilbar. Ebenso wünschen sich die Initiatoren der Kampagne, dass Dr. Steffen Krause ist Leiter des fachübergreifenden Behandlungsteams im Adipositas Zentrum Nord. schwer Übergewichtige nicht darauf reduziert werden, selbst schuld an ihrer Erkrankung zu sein. Dafür sind die Ursachen, Wirkungsketten und Folgen viel zu „multifaktoriell“; d.h. es gibt keine einfachen „Wenn-Dann-Bedingungen“, weder bei der Entstehung noch bei der Behandlung selbst. Bei jedem Betroffenen liegen die Verhältnisse anders. Ebenso können die Patienten aus diesem Grund nicht auf die Formel „Weniger Essen = weniger Gewicht“ reduziert werden. Diese Vielschichtigkeit der Ursachen, Wirkungen und Behandlungsstrategien verbietet es auch, den schwer Übergewichtigen mit Ablehnung und abfälligen Bemerkungen gegenüberzutreten - Verhaltensweisen, die die Betroffenen sehr häufig schon selbst täglich erfahren. Ebenso wie bei allen anderen Bevölkerungsgruppen sollte eine Diskriminierung generell der Vergangenheit angehören. Zumal diese „Hänseleien“ die Betroffenen oft in eine noch größere Isolation drängen, in die sie sich sehr häufig schon selbst begeben haben. Aber gerade diese Isolations-Tendenzen müssen durchbrochen werden, um die Betroffenen zu einer medizinischen Behandlung und zur Integration in die Gesellschaft zu motivieren. Ziel des Aktionstages ist, in der Allgemeinheit mehr Verständnis für die Erkrankung selbst und die Betroffenen zu wecken. Ein weiteres Ziel besteht aber auch darin, von den Krankenkassen und den „Medizinischen Diensten der Krankenkassen (MDK)“ mehr Verständnis und vor allem eine Orientierung an den medizinischen Leitlinien einzufordern: Für die Therapie von schwerübergewichtigen Patienten haben die Fachverbände Leitlinien verfasst. Diese sind anhand von Studien und statistischen Langzeiterhebungen wissenschaftlich abgesichert und geben bei bestimmten Situationen die eigentlich medizinisch notwendigen Verfahren vor, die aber von den Krankenkassen noch viel zu oft abgelehnt werden. Denn im Gegensatz zu vielen anderen chronischen Erkrankungen müssen die Verfahren zur Behandlung der chronischen Krankheit „Adipositas“ immer noch von der jeweiligen Krankenkasse in jedem Einzelfall genehmigt werden. Das Genehmigungsverfahren ist lang und allzu oft immer noch erfolglos. Im Endeffekt werden damit die mitunter sehr teuren Behandlungen der Begleit- und Folgeerkrankungen des schweren Übergewichts ein Leben lang von den Krankenkassen weiter bezahlt – anstatt die Kosten z.B. eines einmaligen chirurgischen Eingriffs zu übernehmen, der dann dauerhaft die gesundheitlichen Probleme, wenn nicht gänzlich löst, so doch aber massiv reduzieren kann. Um auf diese Problematik hinzuweisen, wurde im Klinikum Nordfriesland am Aktionstag – dem 25. Mai 2016 – wie in 40 anderen zertifizierten Adipositas Zentren in Deutschland exemplarisch eine abgelehnte Patientin entsprechend der Leitlinie des Fachverbandes operiert. Die Behandlungskosten werden derzeit von der gesetzlichen Krankenkasse ggf. mit Hilfe eines Sozialgerichtsverfahrens eingefordert. Die im Adipositas Zentrum Nord zur Anwendung kommenden Verfahren sind wissenschaftlich erprobt und sehr wirksam. Wie die Krankheit selbst sind auch die Inhalte des Aktionstages vielschichtig und können hier nur angerissen werden. Eine Vertiefung in Form zweier ergänzender Interviews mit der Betroffenen, Julia Holstein, und dem Leiter des AdipositasZentrums im Klinikum Nordfriesland, Dr. Steffen Krause, finden Sie auf den folgenden Seiten. Die Implantation eines Magenbandes ist eines der Verfahren, die im Adipositas Zentrum Nord erfolgreich durchgeführt werden. Interview mit Julia Holstein, Patientin des Adipositas Zentrums Nord Julia Holstein aus Rendsburg ist 52 Jahre alt und wiegt 132 kg. Aufgrund ihrer Gewichtssituation und den daraus resultierenden Gesundheitsproblemen hatte sie sich auf Anraten ihrer Hausärztin vor einigen Monaten an das Team von Dr. Steffen Krause, dem Leiter des Adipositas Zentrums Nord im Klinikum Nordfriesland, gewandt. Gemeinsam wurde ein Weg aus dieser sehr schwierigen Situation besprochen und die notwendigen Anträge bei der Krankenversicherung für die Übernahme der Kosten für eine Magen-Operation gestellt. Frau Holstein, Sie sind mit Unterarmgehhilfen in Begleitung Ihrer Tochter zu unserem Gespräch gekommen. Das deutet auf akute Gelenkprobleme hin. Welche gesundheitlichen Schwierigkeiten macht Ihnen Ihr Übergewicht? Ich habe neben erheblichen Schmerzen in den Knien und den Hüften auch dauerhafte starke Rückenschmerzen. Zudem leide ich unter hohem Blutdruck und bin zwischenzeitlich an Diabetes, Typ II, erkrankt, den ich derzeit noch mit Tabletten in den Griff bekomme. Ebenso leide ich unter Atemaussetzern während des Schlafes und trage daher nachts eine Maske, mit deren Hilfe ich besser mit Luft versorgt werde. Darf ich fragen, welchen BMI-Wert Sie haben? Dieser liegt bei 53. Patientin Julia Holstein (Mitte) in Begleitung ihrer Tochter Tatjana Weizel im Gespräch mit Dr. Steffen Krause. Seit wann haben Sie diese Gewichtsprobleme? Meine Gewichtszunahme begann in 2002. Ihr Gewicht schränkt Sie sicherlich im täglichen Leben sehr ein. Können Sie mit diesem Krankheitsbild noch arbeiten? Nein, leider nicht. Ich bin inzwischen frühverrentet und habe einen Behindertenausweis. Zuhause bewege ich mich ausschließlich mit Hilfe eines Rollators. Gibt es für Sie greifbare Gründe für diese Gewichtszunahme? Die Probleme begannen nach der dritten Schwangerschaft. Und sicherlich auch an der anderen Ernährungsweise in Deutschland. Wir sind 1996 aus Kasachstan zugewandert. Dort haben wir uns – auch aufgrund der dortigen Verhältnisse – ganz anders ernährt. Sie haben gegen das Übergewicht bestimmt bereits früher Maßnahmen ergriffen?! Welche waren das? Ich habe mehrere Diäten hinter mir. Zudem ein ärztlich begleitetes, strukturiertes Ernährungsprogramm, mit dem ich innerhalb eines Jahres 28 Kilo abgenommen habe. Leider war diesen Maßnahmen offensichtlich kein dauerhafter Erfolg vergönnt. Woran lag das Ihrer Meinung nach? Es trat in unserer Familie überraschend ein Pflegefall ein. Somit konnte ich mich nicht mehr so auf das Programm und auch auf mich selbst konzentrieren. Dabei ist mir mein Gewicht wieder entglitten. Am Ende war ich schwerer als vorher. Gemeinsam mit Dr. Krause haben Sie einen Therapieplan entwickelt, der Ihnen nachhaltig helfen soll. Welcher ist das? Ich soll einen Magenbypass erhalten. Dieser Operation schließt sich noch ein Nachsorge-Programm mit einer Ernährungsschulung und eine psychologische Betreuung an. Herr Dr. Krause, können Sie kurz erläutern, was eine Magenbypass-Operation ist und was sie bewirkt? Bei einem Magenbypass wird ein kleines Stück des Magens hinter dem Speiseröhren-Eingang abgetrennt und – unter Umgehung des „Restmagens“ und des Zwölffingerdarms – direkt mit dem Dünndarm verbunden. Dadurch reduziert sich einerseits die Nahrungsmenge, die aufgenommen werden kann. Andererseits reduziert sich zudem aber auch die Aufnahme von den Nährstoffen, die als „Dickmacher“ gelten. Damit haben wir einen doppelten Effekt. Ist ein solcher Eingriff nicht gefährlich? Wie jeder operative Eingriff – egal welcher Art – birgt er natürlich ein Risiko. Dieses liegt im Falle von Frau Holstein aber deutlich unter dem Risiko, wenn wir das Übergewicht mit den beschriebenen gravierenden Begleit- und Folgeerkrankungen unbehandelt ließen. Stimmt es, dass ein Magenbypass auch die Zuckererkrankung von Frau Holstein beeinflussen wird? Ja. Dies ist mit ein Grund, warum wir uns für diese Eingriffsart entschieden haben. In allen Fällen kann der Diabetes gut beeinflusst werden. Bei gut 75% aller operierten Patienten verschwindet der Diabetes Mellitus, Typ II – und nur der – sogar gänzlich. Frau Holstein, der Eingriff und das Programm wurden dann bei Ihrer gesetzlichen Krankenversicherung beantragt. Wie wurde entschieden? Der Antrag wurde leider abgelehnt. Wurden Ihnen von der Krankenkasse stattdessen Alternativen angeboten? Nein. Keine. Ich erhielt darüber hinaus auch keine Zustimmung zu einem anderen ärztlich begleiteten, nicht operativen Verfahren. Mit anderen Worten: Man lässt Sie mit Ihren Problemen alleine? Ja, derzeit leider vollständig. Herr Dr. Krause, als medizinischer Laie ist dies jetzt für mich sehr überraschend. Erfüllt Frau Holstein irgendwelche Kriterien nicht? Folgt man den Leitlinien der Fachverbände, werden eindeutig alle Kriterien erfüllt! Diese Leitlinien empfehlen für einen Patienten mit einem BMI über 50 und den wie bei Frau Holstein vorliegenden Begleit- und Folgeerkrankungen eindeutig eine Magenoperation – sogar eindeutig das Magenbypass-Verfahren. Eigentlich eine ganz klare Sache. Frau Holstein, nun bestünde die Möglichkeit, dass Sie nicht ein langwieriges Verfahren – letztendlich auch vor dem Sozialgericht – abwarten und den Eingriff selbst bezahlen. Könnten Sie dies? Nein, leider nicht. Dafür fehlt mir und meiner Familie einfach das Geld. Herr Dr. Krause, wie würde denn jetzt eigentlich weiter verfahren? Wir würden jetzt medizinisch begründete Widersprüche einlegen. In einer nächsten Stufe müsste Frau Holstein einen Rechtsanwalt einschalten und eine Klage vor dem Sozialgericht vorbereiten. Mit einer Entscheidung in … … wenn es schlecht läuft in 4-5 Jahren. Frau Holstein, Sie haben jetzt aber einen OP-Termin erhalten? Ja. Ich werde in Kürze operiert und erhalte den Magenbypass. Das Klinikum wird mich im Rahmen des europaweiten Kampagnentages des Fachverbandes operieren und dann die Kosten bei meiner Krankenkasse geltend machen. Herr Dr. Krause, warum hat das Klinikum Frau Holstein ausgewählt? Einerseits, weil ihr sehr dringend geholfen werden muss; die Gefahr einer gravierenden, noch weitergehenden gesundheitlichen Beeinträchtigung ist enorm groß. Andererseits, weil Frau Holstein – orientiert an der Leitlinie – eindeutig alle Voraussetzungen erfüllt und damit ein sehr gutes Beispiel ist. Unter „gravierender Beeinträchtigung“ verstehen Sie was? Zum Beispiel einen Herzinfarkt, einen Schlaganfall oder eine Lungenembolie. Frau Holstein, was erhoffen Sie sich von der Operation? Vor allem, die Möglichkeit, dann auch meine Gelenkprobleme erfolgreich behandeln lassen zu können. Um dann endlich wieder ohne Schmerzen leben zu können. Dann wünsche ich mir, wieder Auto- und Fahrradfahren zu können und vor allem mit meinen Enkelkindern wieder gemeinsam spielen zu können. Eigentlich ein Leben wie früher… Und wir, die Familie, wünschen uns sehnlichst und dringendst, wieder ohne Angst um unsere Mutter sein zu können, fügt Tochter Tatjana Weizel an. Frau Holstein, haben Sie noch eine Empfehlung an andere Betroffene? Unbedingt! Geben Sie nicht auf! Dick sein, das ist kein unabwendbares Schicksal. Es gibt sehr gute und wirksame Methoden, sein Leben wieder in Griff zu bekommen. Auch wenn es Hürden dabei gibt. Seien Sie mutig und suchen Sie sich Hilfe! Es gibt sie – z.B. bei Dr. Krause und seinem Team. Frau Holstein, ich danke Ihnen sehr herzlich für das Gespräch und vor allem für Ihre Offenheit. Für die Operation wünsche ich Ihnen alles Gute! Julia Holstein mit ihrer Tochter Tatjana Weizel im Mai 2016 kurz vor der Magenbypass-Operation. Interview mit Dr. Steffen Krause zum Aktionstag „Schweres Übergewicht“ Unser Interview-Partner ist ärztlicher Leiter des Adipositas Zentrums Nord im Klinikum Nordfriesland. Das Zentrum behandelt seit 15 Jahren in einem fachübergreifenden Team sehr erfolgreich übergewichtige Patienten. Dabei kommen nicht-operative Verfahren wie das OPTIFAST-Programm und operative Verfahren wie Magenband, Magenbypass und Schlauchmagen-Operationen zur Anwendung. Der Patient wird bereits im Vorfeld eng durch das Team aus Ärzten, Pflegekräften, Psychologen, Ernährungsfachleuten und Physiotherapeuten betreut. Dr. Steffen Krause erläutert im Interview die Vielschichtigkeit der „Volkskrankheit Übergewicht“. Ebenso gibt es Anschluss-Programme, die die Patienten in der Phase nach dem Ende der eigentlichen Gewichts-Reduktionsprogramme weiter begleiten, um das neu gewonnene Gewicht besser halten zu können. Die Therapie wird eng mit dem Patienten abgestimmt und das Antragsverfahren bei den Krankenkassen begleitet. Dr. Steffen Krause selbst ist Facharzt für Chirurgie und Bauchchirurgie sowie Ernährungsmediziner und damit auch ein erfahrener Spezialist für Magen-Operationen bei schwer übergewichtigen Patienten, der sog. „Adipositas-Chirurgie“. Herr Dr. Krause, ab wann gilt ein Übergewicht als „schweres Übergewicht“ oder auch „Adipositas“? Die Adipositas kennt mehrere Stufen. Diese beginnen bei einem BMI von mehr als (>) 30. Eine Adipositas gilt als krankhaft, wenn bei einem Patienten mit einem BMI >35 Begleiterkrankungen wie z.B. eine Zuckerkrankheit und/oder Herz/Kreislauf-Erkrankungen bestehen. Ab einem BMI >40 gilt das Übergewicht generell als krankhaft – auch wenn noch keine Begleiterkrankungen bestehen sollten. Können Sie den Begriff „BMI“ anhand eines Beispiels erläutern? Die Abkürzung steht für „Body Mass Index“. Er setzt das Körpergewicht zur Körpergröße ins Verhältnis. Bei einem BMI von 40 wiegt eine Frau bei einer durchschnittlichen Körpergröße von 171 cm 120 kg; ein Mann würde es bei einer durchschnittlichen Körpergröße von 180 cm auf 133 kg bringen. Welche Begleiterkrankungen sind typisch für das schwere Übergewicht? Besonders häufig sind Herz/Kreislauferkrankungen und die Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus, Typ 2). Ähnlich häufig sind Gelenkprobleme an Hüften und Knien sowie Venenprobleme in den Beinen. Es kommt auch vermehrt zu Thrombosen und Embolien – also zu Gerinnseln in Blutgefäßen, die erhebliche Auswirkungen haben können; gerade wenn sie in der Lunge, in den Herzkranzgefäßen oder in den gehirnversorgenden Gefäßen auftreten. Ebenso ist eine erhöhte Betroffenheit durch bestimmte Krebsarten nachgewiesen. Das schwere Übergewicht führt zu einer höheren Krebsgefahr? Wie entsteht dieser Effekt? Dieser Effekt ist wissenschaftlich nachgewiesen. Er entsteht – verkürzt gesagt – dadurch, dass der bei einem übergewichtigen Patienten gestörte Fettstoffwechsel einhergeht mit parallelen Störungen des Entzündungsstoffwechsels und des Tumorstoffwechsels. Dadurch werden bei Übergewichtigen mehr Krebsgeschwüre z.B. am Dick- und Enddarm, an den Gallenwegen oder teilweise auch an den weiblichen Geschlechtsorganen ausgelöst. Dies alles sind sehr schwerwiegende Begleit- und Folgeerkrankungen. Ist die Lebenserwartung der Übergewichtigen reduziert? Das ist richtig. Statistisch gesehen, liegt die Lebenserwartung deutlich unter der von Normalgewichtigen. Bei sehr übergewichtigen Patienten kann sie um 10 bis 15 Jahre verkürzt sein. Dies geht vor allem auf das Konto von Todesfällen durch eben jene Krebserkrankungen, an zweiter Stelle der Sterbe-Ursachen schwerst übergewichtiger Menschen stehen dann natürlich Herz/Kreislauf-Erkrankungen. Es geht bei diesen Patienten wirklich oft um „Leben oder Tod“. Im Zusammenhang mit der Adipositas wird inzwischen von einer Epidemie gesprochen. Das ist ja eher ein Begriff, den man mit der Grippe in Verbindung bringt. Ist der Begriff gerechtfertigt? Unbedingt. Inzwischen ist die Bevölkerung insgesamt betroffen; jeder zweite Deutsche gilt als übergewichtig. Noch nicht schwer übergewichtig – aber übergewichtig! Zudem verläuft die Zunahme des krankhaften, chronischen Übergewichts unkontrolliert und flächendeckend, was übrigens auch für Kinder und Jugendliche gilt. Alles eindeutige Indizien für eine Epidemie. Und parallel dazu entwickelt sich eine Diabetes-Epidemie. Was sind die Folgen der Ausbreitung dieser Krankheiten? Zum einen steigen die direkten Behandlungskosten für die Krankenkassen. Zum anderen kommt es zu vermehrter Arbeitsunfähigkeit, auch aus psychischen Gründen, und zu Frühverrentungen einschliesslich eines vermehrten Bezuges von Sozialhilfe und Hartz IV. Die Kosten für die Sozialsysteme werden deutlich steigen. Viele der betroffenen Patienten reduzieren ihre Sozialkontakte und geraten in eine Isolation. Können Sie diesen Effekt bestätigen? Eindeutig ja. Viele Betroffene mögen sich mit ihrer Leibesfülle nicht mehr gerne zeigen. Sehr viele spüren zudem die geringschätzigen Blicke Anderer und sehen deren Tuscheleien. Darum ziehen sich viele Patienten noch weiter zurück. Oft soweit, dass sie auch die vorhandenen Hilfsangebote nicht mehr wahrnehmen. Viele geben auf und geraten in eine Endlos-Spirale aus Frustessen und noch höherem Gewicht – mit allen Folgen. Eine offen gezeigte Geringschätzung von sehr übergewichtigen Menschen scheint weit verbreitet. Ist das so? Und wenn ja warum? Nahezu alle Patienten berichten uns in unserer Sprechstunde davon. Und nur sehr wenige bleiben davon unbeeindruckt. Die Ursache dafür liegt sicher darin, dass starkes Übergewicht immer noch mit einem geringeren Intelligenzquotienten und einer „geringeren Produktivität“ in Verbindung gebracht wird. Ebenso sehen viele die Lösung im salopp gesagt „FDH = Friss die Hälfte“. All diese Vorurteile und Gemeinplätze gelten leider immer noch in unserer Gesellschaft– und das, obwohl statistisch jeder Zweite inzwischen selbst mehr oder weniger betroffen ist. Schematische Darstellung einer Magenbypass-Operation. Die Ursachen für das schwere Übergewicht liegen tiefer? Grundsätzlich liegen die Ursachen einerseits in den Erbanlagen und andererseits in den Folgen unseres heutigen Lebens: zu wenig Bewegung, zu viel Essen und viel zu energiereiches Essen führen zu den derzeitigen Epidemien „Übergewicht“ und „Diabetes“. Allerdings sind Kausalketten – also wenn dieses oder jenes eintritt, folgt zwingend Übergewicht – nicht so einfach darstellbar. In die Fragestellung „Bei wem tritt wann Übergewicht auf“ fließen mehrere 100 Faktoren ein. Dabei sind Psychofaktoren, wie z.B. Belastungsstörungen oder traumatische Erlebnisse, nur einige wenige. Das Zusammenspiel der einzelnen Faktoren ist das Entscheidende. Und darüber ist immer noch relativ wenig bekannt. Was kann ein Betroffener tun? Der erste Schritt ist, die Kraft und den Mut zu finden, den Weg aus der Isolation zu wählen. Dieser Weg kann ihn zum Hausarzt führen, um gemeinsam zu beraten, in welcher strukturierten Weise eine Behandlung erfolgen kann. Es kann auch der Weg zu einer Selbsthilfegruppe sein. Oder der Weg führt ihn direkt zu uns in unsere Spezialsprechstunde in Tönning. Informationen über unsere Leistungsfähigkeit finden Interessierte im Internet oder wir können auch gerne Informationen verschicken. Ihre Therapieempfehlungen stoßen aber nicht überall auf Gegenliebe? Wo liegen die Probleme? Nehmen wir das Beispiel von Julia Holstein. Frau Holstein ist mit einem BMI 53 eindeutig eine Kandidatin für eine Magenbypass-Operation. Gemeinsam mit Frau Holstein haben wir diesen Eingriff bei ihrer Krankenversicherung beantragt. Dieser Antrag wurde abgelehnt – ohne Nennung einer Alternative. Derweil alle anderen chronischen Erkrankungen ohne Genehmigung therapiert werden dürfen, dazu zählen z.B. auch kostspielige Operationen bei einem Gelenkverschleiß, müssen wir bei der chronischen und sehr risikobehafteten Adipositas-Erkrankung immer noch den Genehmigungsweg in jedem Einzelfall einschlagen. Und dies, obwohl es anerkannte, erprobte und wissenschaftlich belegte Leitlinien gibt, die im Falle eines BMI>50 eine Magen-OP empfehlen. Eine strukturierte und nachhaltige Gewichtsreduzierung hat nachweislich sehr positive Auswirkungen auf das gesundheitliche Gesamtrisiko. Normalerweise fordern die Krankenkassen doch immer eine möglichst hohe Qualität. Gibt es noch andere sinnvolle Qualitätskriterien als anerkannte Leitlinien der Fachverbände? In den Bereichen, in denen es keine gesetzlichen Vorgaben gibt: nein. Wie gesagt, es ist hochgradig unverständlich, dass alle anderen chronischen Erkrankungen weitgehend ohne Genehmigungen behandelt werden dürfen, aber Adipositas-Therapien werden im Einzelfall entschieden. Und dies obwohl sehr oft eine hohe Patientengefährdung vorliegt und die Risiken der Magenoperationen sogar nachweislich nicht über den Risiken einer Gelenkersatz-Operation liegen. Und die Wirksamkeit der Adipositas-chirurgischen Eingriffe ist zudem wissenschaftlich klar belegt. Die Datenlage ist sogar so gut wie bei der „Endoprothetik“, also der Implantation von Gelenkprothesen. Dies sollten die Krankenkassen und der „Medizinische Dienst der Krankenkassen“ endlich akzeptieren. Haben Sie erlebt, dass Patienten während des Genehmigungsverfahrens verstorben sind? Ja. In den letzten Jahren sind drei unserer Patienten während des Antrags-Verfahrens - also vor der geplanten OP - an Lungenembolien verstorben. Zwei andere sind einer Krebserkrankung erlegen. Was wäre in diesem Zusammenhang Ihr dringlichster Wunsch an die Gesundheitspolitik und die Krankenkassen? Um eine eindeutige Grundlage für eine Kostenübernahme durch die Krankenkassen zu ermöglichen, muss das Sozialgesetzbuch in der Form geändert werden, dass Adipositas als Krankheit anerkannt wird und somit auch in das Leistungsspektrum der Krankenkassen fällt. Dies ist derzeit nicht der Fall. Daher ziehen sich in vielen Fällen die Krankenkassen auf eindeutig veraltete Normen zurück. Angesichts der bestehenden Volkskrankheit „Übergewicht“ muss diese rechtliche Grundlage unbedingt angepasst werden. Die Weltgesundheitsorganisation WHO sieht die Adipositas eindeutig als Krankheit. Warum aber die deutschen Gremien nicht? An die Krankenkassen und den „Medizinischen Dienst der Krankenkassen“ appelliere ich, vor allem die in der Fachliteratur fixierte Datenlage zu akzeptieren. Die Verfahren greifen nachweislich und dies bei einem absolut vertret baren Risiko. Seit knapp 15 Jahren kommen operative Verfahren im Adipositas Zentrum Nord erfolgreich zum Einsatz. Wichtig ist zudem zu erkennen, dass die betroffenen Patienten mit einem BMI>40 wirklich ein hohes spontanes Sterbe-Risiko in sich tragen. Die regelmäßig stattfindenden AdipositasNachmittage ermöglichen es den Betroffenen, das Behandlungsteam und auch andere Betroffene kennen zu lernen. Wie geht es nun mit Ihrer Patientin, Frau Holstein, weiter? Wir werden Frau Holstein am Aktionstag unseres Fachverbandes auch ohne Kostenzusage der Krankenkasse operieren, der Krankenkasse diese Behandlung in Rechnung stellen und gegebenenfalls einen Rechtsstreit eingehen. An diesem Tag werden übrigens rund 40 andere Adipositas-Zentren in Deutschland in gleicher Weise beispielhaft einen Patienten operieren und die Kosten einfordern. An dieser Stelle sei noch ein Blick über die Ländergrenzen erlaubt. Deutschland bildet in der Adipositas-Chirurgie das Schlusslicht in Europa. In unserem Land wird nur maximal 1% der Patienten, die unter die Leitlinie fallen und operiert werden müssten, auch tatsächlich operiert – sehr oft auf eigene Kosten. In Belgien, Skandinavien und auch in den südeuropäischen Staaten liegt diese Quote bedeutend höher. Abschließend Ihr Rat an alle anderen Betroffenen? Schweres Übergewicht ist kein unabwendbares Schicksal. Es ist zwar nicht heilbar aber sehr gut zu behandeln. Die Betroffenen sollten – wie schon gesagt – ihr Schicksal in die Hand nehmen und einen Arzt aufsuchen und ihn nach strukturierten Verfahren befragen, die der Betroffene nutzen kann. Nicht strukturierte und nicht fachgebietsübergreifende Programme – wie FDH oder Diäten – führen dabei ganz oft nur zum berüchtigten JoJo-Effekt und sind daher keine Lösung. Und eines noch: Die Betroffenen sollen sich nicht von den beschriebenen bürokratischen Hürden abhalten lassen. Gemeinsam wird man eine Lösung finden. Impressum Klinikum Nordfriesland gGmbH - Der Geschäftsführer, Erichsenweg 16, 25813 Husum Texte: Michael Mittendorf, Dr. Steffen Krause Bildquellen: Uwe Gosch, Bärbel Sommer, Klinikum Nordfriesland, Sonja Wenzel und Nestlé Healthcare. 1. Auflage Mai 2016, 2.000 Druckexemplare Mit uns gehen Sie leichter durchs Leben Gemeinsam - Erfolgreich - Dauerhaft Adipositas Zentrum Nord ● ● ● ● Erfolgreiche fachübergreifende Therapiekonzepte gegen starkes Übergewicht Ernährungswissenschaftliche und psychologische Patientenbegleitung ● ● Implantation von Magenbändern und Magenballons Magenbypass- und Schlauchmagen-OPs ● Hautstraffungsoperationen ● Bauchdeckenreduktionen Durchführung der konservativen ambulanten OPTIFAST®-Programme NEU: ambulantes Nachsorgeprogramm T A N G Adipositas Zentrum Nord - Klinik Tönning Dr. Steffen Krause - Dr. Alfonso Grande Selckstraße 13 | 25832 Tönning Tel. 04861 611-3310 [email protected] www.klinikum-nf.de www.adipositas-nord.de
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