SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Die andere Moderne Epater l'Avantgarde: der Fortschrittsschreck (4) Von Bernd Künzig Sendung: Freitag, 20. Mai 2016 Redaktion: Bettina Winkler 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 SWR2 Musikstunde mit Bernd Künzig Die andere Moderne Epater l'Avantgarde: der Fortschrittsschreck Teil 4 Signet Musikstunde mit der letzten Folge unserer Reihe zur anderen Moderne mit Bernd Künzig am Mikrophon. In der letzten Folge provozieren wir die Avantgarde: Epater l„Avantgarde. Musikstunden-Indikativ ca. 0„20 Skandale gehören zur Geschichte der modernen Musik wie die Soße zum Braten. Man denke an die Saalschlachten bei der Pariser Uraufführung von Igor Strawinskys Ballett „Le sacre du printemps“ im Jahr 1913 oder an das Wiener Watschenkonzert im gleichen Jahr, als bei der Aufführung der Werke von Arnold Schönberg, Alexander Zemlinsky und Alban Berg nicht nur Ohrfeigen verteilt, sondern auch Duellforderungen ausgesprochen wurden. Der bürgerliche Musikgeschmack fühlte sich beleidigt und zutiefst in seiner Ehre gekränkt. Doch um diese Skandale soll es heute gar nicht gehen. Wir beginnen mit einem ganz anders gearteten Skandalstück von Hans Werner Henze. 1957 wurden bei den Donaueschinger Musiktagen seine „Nachtstücke und Arien“ mit zwei Gedichten von Ingeborg Bachmann uraufgeführt. Wir hören die Aria I mit der Sopranistin Claudia Barainsky und dem Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung von Markus Stenz. Musik: Hans Werner Henze: Aria I aus "Nachtstücke und Arien" Claudia Barainsky, Sopran; Gürzenich Orchester Köln; Markus Stenz, Dirigent Capriccio 71 134 LC08748 (3:35) Von dieser lyrisch-sinnlichen Musik fühlte sich nun weniger das gut bildungsbürgerliche Publikum schockiert und empört, sondern die Vertreter der Avantgarde. Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und der mit Henze befreundete Luigi Nono verließen türschlagend bei dieser ersten Arie den Saal. Henze war in ihren Augen ein Verräter: er hatte nicht streng seriell komponiert, sondern schrieb an einem lyrischen Expressionismus mit grandios gehandhabter Instrumentationskunst weiter. Für die Vertreter der Avantgarde war das eine muffige, längst abgestandene Moderne. Und so setzte sich dieser Vertreter einer modernen Musik zwischen die Stühle: dem Establishment war er zu radikal, der 3 Avantgarde zu konservativ. Und provozierte mit der im gleichen Jahr vollendeten Ballettmusik „Undine“ weiter. Henze hatte der für ihn unerträglichen Bundesrepublik bereits den Rücken gekehrt und sich in Italien angesiedelt. In Neapel entdeckte er die Kanzone und die neapolitanische Oper, die Lieder der Straßensänger und Seemänner. All das war in sein auf der romantischen Erzählung Friedrich de la Motte-Fouqués basierendes Ballett eingeflossen. Im letzten Akt wartet Henze mit einem eruptiven Divertissement auf, einer Variationenfolge auf die Katzenfuge von Domenico Scarlatti. Sie durchmischt verschiedene Stile auf hedonistische Art und Weise, bis hin zu Jazzeinflüssen. Das Heterogene dieser wild wuchernden Musik wäre ohne die Moderne nicht denkbar, sie denkt sich nur nicht in jenen Konsequenzen der Nachkriegsavantgarde à la Darmstadt oder Donaueschingen und will damit die Fortschrittsapologeten ganz bewusst provozieren. Die Musikgeschichte ist als totale vorhanden und verwendbar. So will diese Musik keinem Lager mehr zugehören und nur eines sein: unverhohlen hedonistisch. Musik: Hans Werner Henze: Undine – 3. Akt V. Divertissement (London Sinfonietta; Oliver Knussen, Dirigent – Deutsche Grammophon 453 467-2 LC 0173) (10:19) Oliver Knussen dirigierte die London Sinfonietta mit dem Divertissement aus Hans Werner Henzes Ballett „Undine“. In den späten 1950ger Jahren konnte sich der Avantgardist Pierre Boulez über das Etablierte empören und bei Henzes Hedonismus türknallend den Saal verlassen. Als Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker zu Beginn der siebziger Jahre musste er sich aber angepasster geben. Dennoch versuchte er auch in New York die Avantgarde und ihre Vorläufer zu etablieren. Was ihm den Zorn manch amerikanischer Komponisten eintrug, für die er sich nicht zu interessieren schien. Zu ihnen zählte auch Morton Feldman. Die meditative Zeitentrücktheit der Musik des amerikanischen Komponisten schien Boulez geradezu gegen den Geist der Moderne gedacht zu sein. Wenn wir die Entwicklung der Moderne auch als eine der Beschleunigung begreifen – die zahlreichen, schnell aufeinander folgenden –Ismen des 20. Jahrhunderts belegen diese Vorstellung recht eindeutig – dann vertritt Feldman mit seiner Tendenz der Entschleunigung weniger eine antimodernistische Haltung, als vielmehr eine des dialektischen Gegenübers. Ohne Entschleunigung kein Geschwindigkeitsrausch und umgekehrt – wir würden ihn ansonsten gar nicht mehr wahrnehmen können. Auch die auffällige Formlosigkeit der Feldmanschen Klanggebilde hat sicherlich wenig mit der europäischen Musiktradition zu tun. Von all dem erzählt auch der ins Private und Intime gedachte Zyklus „The Viola in my life“. Dieses Leben ist sicher keines des vorgeführten Virtuosentums. Dennoch verlangt dieses Werk sowohl vom Interpreten als auch vom Zuhörer ein Höchstmaß an Konzentration. Ein solches, das wir gewöhnlich zur Bewältigung 4 unserer Wahrnehmungsüberforderung durch tempogesättigte Komplexität benötigen. Hier ist nur scheinbar alles einfacher. Der Pianist Marek Konstantynowicz und der Bratschist Kenneth Karlsson spielen den dritten Teil aus „The Viola in my life“ von Morton Feldman. Musik: Morton Feldman: The Viola in my life Part III for Viola and Piano M0090373 (5:07) Morton Feldmans Zeitentrücktheit kennt zwar Zeitumstände, doch politisch waren sie meist nicht gedacht. Der amerikanische Komponist Frederic Rzewski kann sicher nicht in gleichem Maße als zeitentrückt gelten. Gerade die politischen Implikationen von Musik waren ihm wichtiger. Seine Lehrer Milton Babitt, Roger Sessions und Luigi Dallapiccola vertraten alle Prinzipien der europäischen Moderne in Amerika. Doch Rzewski verstand sich rasch als Einzelgänger, Visionär und Sonderling zugleich. Ein Höhepunkt des eigenbrötlerischen Virtuosentums stellt Rzewskis 1975 komponierter Klavierzyklus „The people united will never be defeated“ dar. Gedacht war er als Konzertergänzung zu Beethovens nicht abendfüllenden Diabelli-Variationen. Im Gegensatz jedoch zum Wiener Klassiker, wählte Rzewski kein seichtes Unterhaltungsstückchen als Ausgangspunkt virtuoser Übersteigerung, sondern das chilenische Protestlied „ El pueblo unido“. L‟art pour l‟art ist der Variationenzyklus also sicherlich nicht. Dennoch liegen ihm serielle Techniken zugrunde. Wie für Henze gilt auch bei Rzewski das Fortschrittsideal wenig, ohne deshalb reaktionär zu werden: Tonales steht neben Atonalem, Kontrapunktische Strenge neben Lockerungsübungen, Jazz neben Minimalismus. Und so wirkt „The people united“ modern, ohne in diese Schublade eigentlich passen zu wollen. Es bleibt ein anderes. Igor Levit spielt das Thema und die ersten vier Variationen. Musik: Frederic Rzewski: The people united will never be defeated Igor Levit, Klavier Sony Classical 88875060962 LC 06868 (5:39) Etwa zur gleichen Zeit als Frederic Rzewski an seinem Klavierzyklus “The people united will never be defeated” arbeitete, träumte sich der Engländer Oliver Knussen 1973 in den Manierismus William Shakespeares zurück. Die Klangsprache der Moderne war ihm aber nicht weniger als dirigierender Interpret durch und durch vertraut. Wir konnten ihn zu Beginn unserer Musikstunde mit Henzes „Undine“-Musik hören. Was allerdings zum damaligen Zeitpunkt nur mit hochgezogenen Augenbrauen wahrgenommen wurde, schien für Knussen das Selbstverständlichste: eine sinfonische Dichtung über die Figur der Ophelia aus Shakespeares „Hamlet“. Ein abstraktes Materialverständnis kann man dieser duftenden Orchidee kaum unterstellen. Die Behandlung des Orchesters durch 5 den damals erst einundzwanzigjährigen Komponisten ist nicht nur souverän, sondern hat auch einiges mit jener Haltung Hans Werner Henzes zu tun, mit der man die Avantgarde schockiert und doch genau weiß, wie ein modernes Orchester klingen kann. Michael Tilson Thomas dirigiert den 2. Satz aus Oliver Knussens der Ophelia-Figur gewidmeten 3. Sinfonie mit dem Philharmonia Orchestra. Musik: Oliver Knussen: Symphony Nr. 3 - 2. Satz Philharmonia Orchestra; Michael Tilson Thomas, Dirigent NMC D 175 LC 03128 (4:58) Oliver Knussens 1973 begonnene Shakespeare-Sinfonie ist sicherlich nicht das letzte Beispiel einer anderen Moderne. Auch in unserer Gegenwart nach der Jahrtausendwende tauchen Komponisten auf, die nicht in jene offizielle Leitlinie des fortschrittlichen Gänsemarschs von Avantgarde und Moderne zu passen scheinen. Zu ihnen gehört auch der tschechische Komponist Martin Smolka. Mit seinem ersten Auftritt bei den Donaueschinger Musiktagen 1992 schien er ein typisches Beispiel für die Öffnung des eisernen Vorhangs zu sein. Unbeleckt von den westlichen Strömungen, sich gleichzeitig aber auch jedem östlichen Folklorismus und jeder staatlich verordneten Kulturdoktrin entziehend, strahlte seine Musik damals schon eine erzählerische Naivität aus. Normalerweise wird das vom Publikum des Club Moderne nicht unbedingt goutiert. Man fordert lieber eine deutliche Reflexion des klanglichen Materials ein. Doch Smolkas Musik ist in ihrer scheinbaren Einfachheit schlicht und ergreifend überwältigend und man kann sich ihrem eigentümlichen Sog nur schwer entziehen. Das gilt auch für das 2008 entstandene Chorstück „Poema de Balcones“ nach einem Gedicht Federico Garcia Lorcas. Von dem im Text geschilderten Blick vom Balkon aufs Meer ist eigentlich nichts zu verstehen. Es geht mehr ums Atmosphärische. Das ist aber so subtil durch den Doppelchor gestaltet, dass man im Anschwellen und Abebben, im Pfeifen der Männerstimmen von dieser Meerlandschaft mit ihren sanft rollenden Wellen und dem Sausen des Windes etwas erahnen kann. Man muss es aber nicht. Denn es kann auch eine reine, zu Tränen rührende Schönheit des Klangs sein. Jedenfalls hat ein Chor so noch nie geklungen. Es ist Musik aus einer anderen Welt und vielleicht sogar für eine andere. Darin realisiert sich dann doch noch einmal jener utopische Anspruch der Moderne, die nun wirklich das Andere meint. Wir hören zum Schluss das SWR Vokalensemble Stuttgart unter der Leitung von Marcus Creed mit Martin Smolkas „Poema de Balcones“ für gemischten Doppelchor. Musik: Martin Smolka: Poema de Balcones M0425287(AMS) (14:15) 6 Die letzte Folge der anderen Moderne „Epater l‟Avantgarde“ ging zu Ende mit „Poema de Balcones“ von Martin Smolka. Es sang das SWR Vokalensemble Stuttgart unter der Leitung von Marcus Creed. Sie können die Folgen der Musikstunde zur „anderen Moderne“ eine Woche lang im Internet nachhören und die Sendungsmanuskripte stehen online als Download zur Verfügung. Am Mikrophon verabschiedet sich für diese Woche Bernd Künzig.
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