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ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Die andere Moderne
Epater l'Avantgarde:
der Fortschrittsschreck (4)
Von Bernd Künzig
Sendung:
Freitag, 20. Mai 2016
Redaktion:
Bettina Winkler
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
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SWR2 Musikstunde mit Bernd Künzig
Die andere Moderne
Epater l'Avantgarde: der Fortschrittsschreck Teil 4
Signet Musikstunde
mit der letzten Folge unserer Reihe zur anderen Moderne mit Bernd Künzig am
Mikrophon. In der letzten Folge provozieren wir die Avantgarde: Epater
l„Avantgarde.
Musikstunden-Indikativ ca. 0„20
Skandale gehören zur Geschichte der modernen Musik wie die Soße zum Braten.
Man denke an die Saalschlachten bei der Pariser Uraufführung von Igor
Strawinskys Ballett „Le sacre du printemps“ im Jahr 1913 oder an das Wiener
Watschenkonzert im gleichen Jahr, als bei der Aufführung der Werke von Arnold
Schönberg, Alexander Zemlinsky und Alban Berg nicht nur Ohrfeigen verteilt,
sondern auch Duellforderungen ausgesprochen wurden. Der bürgerliche
Musikgeschmack fühlte sich beleidigt und zutiefst in seiner Ehre gekränkt. Doch
um diese Skandale soll es heute gar nicht gehen. Wir beginnen mit einem ganz
anders gearteten Skandalstück von Hans Werner Henze. 1957 wurden bei den
Donaueschinger Musiktagen seine „Nachtstücke und Arien“ mit zwei Gedichten
von Ingeborg Bachmann uraufgeführt. Wir hören die Aria I mit der Sopranistin
Claudia Barainsky und dem Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung von
Markus Stenz.
Musik: Hans Werner Henze: Aria I aus "Nachtstücke und Arien"
Claudia Barainsky, Sopran; Gürzenich Orchester Köln;
Markus Stenz, Dirigent
Capriccio 71 134 LC08748 (3:35)
Von dieser lyrisch-sinnlichen Musik fühlte sich nun weniger das gut
bildungsbürgerliche Publikum schockiert und empört, sondern die Vertreter der
Avantgarde. Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und der mit Henze befreundete
Luigi Nono verließen türschlagend bei dieser ersten Arie den Saal. Henze war in
ihren Augen ein Verräter: er hatte nicht streng seriell komponiert, sondern schrieb
an einem lyrischen Expressionismus mit grandios gehandhabter
Instrumentationskunst weiter. Für die Vertreter der Avantgarde war das eine
muffige, längst abgestandene Moderne. Und so setzte sich dieser Vertreter einer
modernen Musik zwischen die Stühle: dem Establishment war er zu radikal, der
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Avantgarde zu konservativ. Und provozierte mit der im gleichen Jahr vollendeten
Ballettmusik „Undine“ weiter.
Henze hatte der für ihn unerträglichen Bundesrepublik bereits den Rücken
gekehrt und sich in Italien angesiedelt. In Neapel entdeckte er die Kanzone und
die neapolitanische Oper, die Lieder der Straßensänger und Seemänner. All das
war in sein auf der romantischen Erzählung Friedrich de la Motte-Fouqués
basierendes Ballett eingeflossen. Im letzten Akt wartet Henze mit einem eruptiven
Divertissement auf, einer Variationenfolge auf die Katzenfuge von Domenico
Scarlatti. Sie durchmischt verschiedene Stile auf hedonistische Art und Weise, bis
hin zu Jazzeinflüssen. Das Heterogene dieser wild wuchernden Musik wäre ohne
die Moderne nicht denkbar, sie denkt sich nur nicht in jenen Konsequenzen der
Nachkriegsavantgarde à la Darmstadt oder Donaueschingen und will damit die
Fortschrittsapologeten ganz bewusst provozieren. Die Musikgeschichte ist als
totale vorhanden und verwendbar. So will diese Musik keinem Lager mehr
zugehören und nur eines sein: unverhohlen hedonistisch.
Musik: Hans Werner Henze: Undine – 3. Akt V. Divertissement
(London Sinfonietta; Oliver Knussen, Dirigent –
Deutsche Grammophon 453 467-2 LC 0173) (10:19)
Oliver Knussen dirigierte die London Sinfonietta mit dem Divertissement aus Hans
Werner Henzes Ballett „Undine“. In den späten 1950ger Jahren konnte sich der
Avantgardist Pierre Boulez über das Etablierte empören und bei Henzes
Hedonismus türknallend den Saal verlassen. Als Chefdirigent der New Yorker
Philharmoniker zu Beginn der siebziger Jahre musste er sich aber angepasster
geben. Dennoch versuchte er auch in New York die Avantgarde und ihre
Vorläufer zu etablieren. Was ihm den Zorn manch amerikanischer Komponisten
eintrug, für die er sich nicht zu interessieren schien. Zu ihnen zählte auch Morton
Feldman. Die meditative Zeitentrücktheit der Musik des amerikanischen
Komponisten schien Boulez geradezu gegen den Geist der Moderne gedacht zu
sein. Wenn wir die Entwicklung der Moderne auch als eine der Beschleunigung
begreifen – die zahlreichen, schnell aufeinander folgenden –Ismen des 20.
Jahrhunderts belegen diese Vorstellung recht eindeutig – dann vertritt Feldman
mit seiner Tendenz der Entschleunigung weniger eine antimodernistische Haltung,
als vielmehr eine des dialektischen Gegenübers. Ohne Entschleunigung kein
Geschwindigkeitsrausch und umgekehrt – wir würden ihn ansonsten gar nicht
mehr wahrnehmen können. Auch die auffällige Formlosigkeit der Feldmanschen
Klanggebilde hat sicherlich wenig mit der europäischen Musiktradition zu tun.
Von all dem erzählt auch der ins Private und Intime gedachte Zyklus „The Viola in
my life“. Dieses Leben ist sicher keines des vorgeführten Virtuosentums. Dennoch
verlangt dieses Werk sowohl vom Interpreten als auch vom Zuhörer ein
Höchstmaß an Konzentration. Ein solches, das wir gewöhnlich zur Bewältigung
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unserer Wahrnehmungsüberforderung durch tempogesättigte Komplexität
benötigen. Hier ist nur scheinbar alles einfacher. Der Pianist Marek
Konstantynowicz und der Bratschist Kenneth Karlsson spielen den dritten Teil aus
„The Viola in my life“ von Morton Feldman.
Musik: Morton Feldman: The Viola in my life Part III for Viola and Piano
M0090373 (5:07)
Morton Feldmans Zeitentrücktheit kennt zwar Zeitumstände, doch politisch waren
sie meist nicht gedacht. Der amerikanische Komponist Frederic Rzewski kann
sicher nicht in gleichem Maße als zeitentrückt gelten. Gerade die politischen
Implikationen von Musik waren ihm wichtiger. Seine Lehrer Milton Babitt, Roger
Sessions und Luigi Dallapiccola vertraten alle Prinzipien der europäischen
Moderne in Amerika. Doch Rzewski verstand sich rasch als Einzelgänger, Visionär
und Sonderling zugleich. Ein Höhepunkt des eigenbrötlerischen Virtuosentums
stellt Rzewskis 1975 komponierter Klavierzyklus „The people united will never be
defeated“ dar. Gedacht war er als Konzertergänzung zu Beethovens nicht
abendfüllenden Diabelli-Variationen. Im Gegensatz jedoch zum Wiener Klassiker,
wählte Rzewski kein seichtes Unterhaltungsstückchen als Ausgangspunkt virtuoser
Übersteigerung, sondern das chilenische Protestlied „ El pueblo unido“. L‟art pour
l‟art ist der Variationenzyklus also sicherlich nicht. Dennoch liegen ihm serielle
Techniken zugrunde. Wie für Henze gilt auch bei Rzewski das Fortschrittsideal
wenig, ohne deshalb reaktionär zu werden: Tonales steht neben Atonalem,
Kontrapunktische Strenge neben Lockerungsübungen, Jazz neben Minimalismus.
Und so wirkt „The people united“ modern, ohne in diese Schublade eigentlich
passen zu wollen. Es bleibt ein anderes. Igor Levit spielt das Thema und die ersten
vier Variationen.
Musik: Frederic Rzewski: The people united will never be defeated
Igor Levit, Klavier
Sony Classical 88875060962 LC 06868 (5:39)
Etwa zur gleichen Zeit als Frederic Rzewski an seinem Klavierzyklus “The people
united will never be defeated” arbeitete, träumte sich der Engländer Oliver
Knussen 1973 in den Manierismus William Shakespeares zurück. Die Klangsprache
der Moderne war ihm aber nicht weniger als dirigierender Interpret durch und
durch vertraut. Wir konnten ihn zu Beginn unserer Musikstunde mit Henzes
„Undine“-Musik hören. Was allerdings zum damaligen Zeitpunkt nur mit
hochgezogenen Augenbrauen wahrgenommen wurde, schien für Knussen das
Selbstverständlichste: eine sinfonische Dichtung über die Figur der Ophelia aus
Shakespeares „Hamlet“. Ein abstraktes Materialverständnis kann man dieser
duftenden Orchidee kaum unterstellen. Die Behandlung des Orchesters durch
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den damals erst einundzwanzigjährigen Komponisten ist nicht nur souverän,
sondern hat auch einiges mit jener Haltung Hans Werner Henzes zu tun, mit der
man die Avantgarde schockiert und doch genau weiß, wie ein modernes
Orchester klingen kann. Michael Tilson Thomas dirigiert den 2. Satz aus Oliver
Knussens der Ophelia-Figur gewidmeten 3. Sinfonie mit dem Philharmonia
Orchestra.
Musik: Oliver Knussen: Symphony Nr. 3 - 2. Satz
Philharmonia Orchestra; Michael Tilson Thomas, Dirigent
NMC D 175 LC 03128 (4:58)
Oliver Knussens 1973 begonnene Shakespeare-Sinfonie ist sicherlich nicht das
letzte Beispiel einer anderen Moderne. Auch in unserer Gegenwart nach der
Jahrtausendwende tauchen Komponisten auf, die nicht in jene offizielle Leitlinie
des fortschrittlichen Gänsemarschs von Avantgarde und Moderne zu passen
scheinen. Zu ihnen gehört auch der tschechische Komponist Martin Smolka. Mit
seinem ersten Auftritt bei den Donaueschinger Musiktagen 1992 schien er ein
typisches Beispiel für die Öffnung des eisernen Vorhangs zu sein. Unbeleckt von
den westlichen Strömungen, sich gleichzeitig aber auch jedem östlichen
Folklorismus und jeder staatlich verordneten Kulturdoktrin entziehend, strahlte
seine Musik damals schon eine erzählerische Naivität aus. Normalerweise wird
das vom Publikum des Club Moderne nicht unbedingt goutiert. Man fordert lieber
eine deutliche Reflexion des klanglichen Materials ein. Doch Smolkas Musik ist in
ihrer scheinbaren Einfachheit schlicht und ergreifend überwältigend und man
kann sich ihrem eigentümlichen Sog nur schwer entziehen. Das gilt auch für das
2008 entstandene Chorstück „Poema de Balcones“ nach einem Gedicht
Federico Garcia Lorcas. Von dem im Text geschilderten Blick vom Balkon aufs
Meer ist eigentlich nichts zu verstehen. Es geht mehr ums Atmosphärische. Das ist
aber so subtil durch den Doppelchor gestaltet, dass man im Anschwellen und
Abebben, im Pfeifen der Männerstimmen von dieser Meerlandschaft mit ihren
sanft rollenden Wellen und dem Sausen des Windes etwas erahnen kann. Man
muss es aber nicht. Denn es kann auch eine reine, zu Tränen rührende Schönheit
des Klangs sein. Jedenfalls hat ein Chor so noch nie geklungen. Es ist Musik aus
einer anderen Welt und vielleicht sogar für eine andere. Darin realisiert sich dann
doch noch einmal jener utopische Anspruch der Moderne, die nun wirklich das
Andere meint. Wir hören zum Schluss das SWR Vokalensemble Stuttgart unter der
Leitung von Marcus Creed mit Martin Smolkas „Poema de Balcones“ für
gemischten Doppelchor.
Musik: Martin Smolka: Poema de Balcones M0425287(AMS) (14:15)
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Die letzte Folge der anderen Moderne „Epater l‟Avantgarde“ ging zu Ende mit
„Poema de Balcones“ von Martin Smolka. Es sang das SWR Vokalensemble
Stuttgart unter der Leitung von Marcus Creed. Sie können die Folgen der
Musikstunde zur „anderen Moderne“ eine Woche lang im Internet nachhören
und die Sendungsmanuskripte stehen online als Download zur Verfügung. Am
Mikrophon verabschiedet sich für diese Woche Bernd Künzig.