Ermessen im Steuerrecht, § 5 AO

Dr. Matthias Leist
Ermessen im Steuerrecht, § 5 AO
I. Bedeutung des Ermessens
Die Finanzverwaltung ist gem. Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebunden. So besteht eine rechtlich gebundene Verwaltung, wenn das Gesetz in Tatbestand und Rechtsfolgen die Voraussetzungen und den Inhalt des
Verwaltungshandelns festlegt. Dann ist grundsätzlich nur eine Entscheidung der Behörde zulässig. Ermessensverwaltung liegt vor, wenn das Gesetz der Behörde eine Entscheidungsfreiheit einräumt und sie zwischen mehreren zulässigen Handlungsalternativen wählen lässt.
§ 5 AO bestimmt, dass wenn die Finanzbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, sie dieses
entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten hat.
Das Ermessen dient primär der Einzelfallgerechtigkeit. So wird die Behörde in die Lage versetzt, unter Berücksichtigung der gesetzlichen Zielvorstellungen einerseits und der konkreten Umstände andererseits eine dem
Einzelfall angemessene und sachgerechte Lösung zu finden.
II. Gesetzlich geregelte Ermessensvorschriften
Die eigentlichen Steuertatbestände, welche bestimmen unter welchen Voraussetzungen eine Steuerpflicht begründet wird bzw. in welcher Höhe die Steuer festzusetzen ist, enthalten grundsätzlich keine Ermessenermächtigungen. Die Abgabenordnung (AO) enthält jedoch zahlreiche Normen, in denen der Verwaltung ein bestimmtes
Ermessen eingeräumt wird. Bei welchen Normen dies der Fall ist, ergibt sich aus dem Gesetzeswortlaut. So
„kann“ beispielsweise eine Steuer gestundet (§ 222 AO) oder erlassen (§ 227) werden bzw. ein Verspätungszuschlag (§ 152 AO) festgesetzt werden. Weiterhin bestimmt § 193 AO, dass eine Außenprüfung „zulässig ist“ bzw.
der Vollziehungsbeamte gem. § 287 AO „befugt ist“, Wohnungen und Geschäftsräume zu betreten. Gem. § 93
Abs. 1 Satz 3 AO „sollen“ andere als die beteiligten Personen erst dann zur Auskunft angehalten werden, wenn
die Sachverhaltsaufklärung durch die Beteiligten nicht zum Ziel führt oder keinen Erfolg verspricht.
III. „Unbestimmter Rechtsbegriff“ ist kein Ermessen
Von der Ermessensermächtigung ist der unbestimmte Rechtsbegriff zu unterscheiden: Während sich das Ermessen auf die Rechtsfolgenseite einer Norm bezieht, finden sich unbestimmte Rechtsbegriffe auf der Tatbestandsseite. Es handelt sich bei ihnen im Regelfall um abstrakte Begriffe, welche im Einzelfall durch Auslegung konkretisiert werden müssen. Während der Gesetzgeber der Verwaltung beim Ermessen einen Entscheidungsspielraum
einräumt, besteht für die Verwaltung bei der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen grundsätzlich kein
Beurteilungsspielraum.
Beispiele für unbestimmte Rechtsbegriffe: „erhebliche Härte“ (§ 222 S. 1 AO); „öffentliches Interesse“ (§§ 30 Abs.
4 Nr. 5, 361 Abs. 4 S. 2 AO); „wichtiger Grund“ (§ 363 Abs. 2 AO).
IV. Grenzen der Ermessensausübung und Ermessensfehler
Zunächst hat die Finanzbehörde zu entscheiden, ob sie überhaupt eine Maßnahme treffen will (Entschließungsermessen). Erst wenn dies bejaht wurde, stellt sich die Frage, welche der möglichen Maßnahme sie treffen will
(Auswahlermessen). Da die Ermessensentscheidung keine Entscheidung nach Belieben ist, muss die Finanzbehörde ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermessensermächtigung ausüben (sog. innere Ermessensgrenze) und die ihr gesetzten gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhalten (sog. äußere Ermessensgrenze).
Als sog. Ermessensfehler kommen die Ermessensüberschreitung, ein Ermessensnichtgebrauch/eine Ermessensunterschreitung sowie ein Ermessensfehlgebrauch in Betracht.
(1) Eine Ermessensüberschreitung liegt vor, wenn die Finanzbehörde sich bei der Ausübung des Ermessens
nicht an den durch das Gesetz bestimmten Rahmen hält, z.B. Festsetzung eines Verspätungszuschlages welcher
höher ist als 10 % der festgesetzten Steuer (vgl. § 152 Abs. 1 Satz 1 AO).
(2) Ermessensnichtgebrauch bedeutet, dass die Finanzbehörde nicht erkennt, dass sie eine Ermessensentscheidung zu treffen hat, während sie im Falle der Ermessensunterschreitung die Gründe für ein Ermessen nicht ausreichend abwägt.
(3) Ein Ermessenfehlgebrauch liegt dann vor, wenn die Finanzbehörde zwar innerhalb der gesetzlichen Ermessengrenzen entscheidet, sie jedoch nicht entsprechend dem Zweck der Ermächtigung handelt, indem sie beispielsweise sachfremde Erwägungen anstellt.
V. „Ermessensreduktion auf Null“
Im Einzelfall kann sich die Wahlmöglichkeit der Verwaltung auf eine Alternative reduzieren, wenn nur noch eine
Entscheidung ermessensfehlerfrei ist. Man spricht von einer Ermessensreduktion auf Null, welche sich insbesondere durch die Einwirkung von Grundrechten und sonstigen Verfassungssätzen (z.B. dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) ergeben kann.
VI. Überprüfung von Ermessensfehlern im gerichtlichen Verfahren
Im gerichtlichen Verfahren bestimmt sich die Überprüfung von Ermessensentscheidungen nach § 102 FGO. Im
Vergleich zum gebundenen Verwaltungsakt begrenzt § 102 FGO - entgegen seinem irreführenden Wortlaut - die
gerichtliche Prüfungs- und Entscheidungskompetenz auf die Ermittlung etwaiger Ermessensfehler. Das Finanzgericht ist jedoch nicht befugt, sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Finanzbehörde zu setzen.