Stichworte zur Anklageformulierung

Kanton Zürich
Staatsanwaltschaft III
Wirtschaftsdelikte
ref
Az
26. Dezember 2005
Stichworte zur Anklageformulierung
(Dezember 2005)
[Der folgende Text wurde am 17.05.2016 aus dem „Formular-Manager“ der Staatsanwaltschaften des Kantons Zürich heruntergeladen. Die Abkürzung „ref. Az“ weist alt
Oberstaatsanwalt lic.iur. Ulrich Arbenz als Verfasser aus. Seine Stichworte zur „Anklageformulierung“ gehen von der den Anforderungen der damals geltenden Zürcherischen Strafprozessordnug aus. Abgesehen von einigen Nebenbemerkungen – z.B.
Besonderheiten im Verfahren vor Geschworenengericht – ist bleibt der Text auch unter
dem Regime der Schweizerischen Strafprozessordnung aktuell.
M. Jean-Richard-dit-Bressel, Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich]
1. Einleitung
Das Formulieren von Anklagen gehört zum Kerngeschäft der STA und übrigen
Fallbearbeitenden. Die Meinungen darüber, ob dem Anklageprinzip Genüge getan
sei, können im Einzelfall verschieden sein. Die Prinzipien indes sind klar. Im Alltag
treten die Grundsätze der Anklageformulierung gelegentlich etwas in den Hintergrund. In Strafbefehlen schleicht sich mitunter ein erzählerischer Pragmatismus
ein. Es stellt sich die Frage, ob es unterschiedliche Qualitäten der Anlageformulierung für Strafbefehle und eigentliche Anklageschriften geben soll. Die Oberstaatsanwaltschaft lehnt dies ab. Einzig bei abstrakten Gefährdungsdelikten kann es zur
Belehrung der Angeschuldigten im Strafbefehl hilfreich sein, die Gefährdung in einem eigenen Absatz zu begründen, was in der Anklage weggelassen werden kann.
Besonders hinzuweisen ist in diesen Tipps auf Anklageformulierungen bei Delikten,
die sowohl vorsätzlich wie fahrlässig begangen werden können. Hier hat sich die
Praxis der Lehre und Rechtsprechung anzupassen (vgl. insb. Ziff. 8 und BGE 120
IV 348).
Zu den Tipps gehört eine Musteranklageschrift. Diese enthält Formulierungsvorschläge, an welchen im Sommer 2003 an Workshops gefeilt worden ist. Es handelt
sich dabei um Muster, nicht um Meisterwerke. Der Aufbau der Anklageschrift wurde
auch dem Kollegium der Bezirksgerichtspräsidenten vorgelegt. Die vorgeschlagene
Vereinheitlichung der Darstellung wird von den Gerichtspräsidenten begrüsst.
2. Anklageprinzip (Akkusationsprinzip)
Es geht um

Rollenteilung zwischen Ankläger und Richter.
Der Ankläger legt das Prozessthema fest, der Richter entscheidet über Schuld
und Strafe.

Gewährleistung der Unvoreingenommenheit des Richters.

Tatidentität: Umgrenzungs- und Informationsfunktion.
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Die Anklagebehörde legt das Thema fest; die angeklagte Person hat das Recht zu
wissen, wogegen sie sich verteidigen muss.
3. Immutabilitätsprinzip
Das Prinzip von der Unaberänderbarkeit der Anklageschrift hat folgende Bedeutung:

Von einem bestimmten Zeitpunkt an kann Anklage nicht mehr zurückgezogen
werden.

Das Thema der Anklage bleibt über alle Instanzen hinweg dasselbe und kann
nicht mehr geändert werden.

Die Einhaltung der Regel "Ne bis in idem" lässt sich überprüfen.
4. Rückweisung zur Anklageergänzung bzw. -änderung
Das Problem stellt sich bei Inkongruenz zwischen Anklage und gegenwärtiger Aktenlage.

Der Richter ist der Überzeugung, der strafbare Sachverhalt sei bewiesen aber
nicht richtig angeklagt.

Es geht um die Vermeidung eines - auch nach Meinung des Richters - falschen
Freispruchs.

Zulässig ist die Anklageergänzung nur, wenn diese den bereits angeklagten
Lebensbereich betrifft und die angeklagte Person sich damit im Rahmen der
Verteidigung ohnehin schon auseinandergesetzt hat.

Es geht nicht um eine Ergänzung der Untersuchung.
Anmerkung:
Unzulässig ist es, wenn der Richter darauf hinweist, was man auch noch hätte anklagen können. Unzulässig ist auch die Verbindung einer Aufforderung zur Anklagekorrektur mit einem Auftrag für eine Beweisergänzung.
5. Inhalt der Anklage
Die Anklage muss enthalten:

die verletzte Norm (in der für den Strafsachverhalt zutreffenden Variante, falls
in der Norm mehrere enthalten sind)

die Tatzeit (möglichst genau, damit sich der Angeklagte verteidigen, z.B. ein
Alibi geltend machen kann)

den Tatort (jenen Ort also, wo der Täter gehandelt hat oder hätte handeln sollen)

die Tathandlung (täterisches Vorgehen, das was der Täter tut oder hätte tun
oder unterlassen sollen)

kurze aber genaue Handlungsbeschreibung
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
alle objektiven und subjektiven Tatbestandselemente des angeklagten Straftatbestandes

genau umschriebene Tatobjekte (z.B. Kind mit Geburtsdatum, Waffe (bei Messern z.B. unter Angabe des Klingenlänge und des Schliffes oder der Art den
Bedienbarkeit), Geschädigte, welche wirklich Schaden erlitten haben unter Angabe der richtigen Personalien bzw. der korrekten Firma).
6. Elemente der Anklageschrift gemäss § 162 aStPO/ZH [entspricht
inhaltlich weitgehend dem heutigen Art. 325 Abs. 1 StPO/CH]

Absender, Ort, Datum

Adressat (d.h. das Gericht)

Geschädigte (und deren Vertretung) und deren Erklärungen betr. die adhäsionsweise geltend gemachten Zivilforderungen, den Antrag zur Vorladung zu
Hauptverhandlung und die Erklärung, ob sie sich am Strafverfahren beteiligen
wollen.

Angeklagte (und deren Verteidigung)

eigentliche Anklage

Anträge

Unterschrift
7. Einzelfragen zum Inhalt der Anklage
Es sind genau zu umschreiben:

Schuldform: Vorsatz oder Fahrlässigkeit
Eine genaue Umschreibung ist namentlich bei Delikten, die sowohl bei vorsätzlicher wie bei fahrlässiger Tatbegehung begangen werden können, unerlässlich.
Da die Art der Tatbegehung bei Vorsatz und Fahrlässigkeit unterschiedliche
Tatbestandselemente aufweist, muss sich die Anklagebehörde entscheiden, ob
vorsätzliche oder fahrlässige Tatbegehung anklagt wird. Allenfalls sind im Sinne
einer Alternativ- oder Eventualanklage beide Varianten anzuklagen. Wird Vorsatz angeklagt, kommt das Gericht aber zum Schluss, es liege Fahrlässigkeit
vor, könnte sonst ohne Verletzung des Anklageprinzips kein Schuldspruch erfolgen.
Zur Klarheit ist es deshalb ratsam, bereits beim gesetzlichen Tatbestand auch
die gesetzliche Formulierung von Vorsatz bzw. Fahrlässigkeit aufzuführen (vgl.
auch Ziffern 8 und 9).

Teilnahmeform: Mittäterschaft, Anstiftung, Gehilfenschaft

Erscheinungsform: vollendetes Delikt, Versuch

einfacher / qualifizierender / privilegierender Tatbestand

Konkurrenzen
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
Rechtfertigungsgründe, soweit diese zugebilligt werden, aber nicht zur Verfahrenseinstellung sondern nur zu Strafmilderung führen sollen
8. Formulierungsvorschlag zur Abgrenzung vorsätzlicher und fahrlässiger Tatbegehung
Nötig ist diese klare Abgrenzung nur bei Delikten, die sowohl vorsätzlich wie fahrlässig begangen werden können. Diese Abgrenzung ist also vor allem bei SVGDelikten und weiteren Delikten der Nebenstrafgesetzgebung erforderlich.
8.1 Vorsatzdelikt

vorsätzlich, d.h. mit Wissen und Willen,
in angetrunkenem Zustand mit einer qualifizierten Blutalkoholkonzentration ein
Motorfahrzeug geführt,
indem er Folgendes tat:
...
8.2 Fahrlässigkeitsdelikt

fahrlässig, d.h., weil er die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedacht oder darauf nicht Rücksicht genommen hat,
in angetrunkenem Zustand mit einer qualifizierten Blutalkoholkonzentration ein
Motorfahrzeug geführt,
indem er Folgendes tat:
...
9. Tatbestandselemente bei ausgewählten Fahrlässigkeitsdelikten
9.1 Das fahrlässige Erfolgsdelikt

ungewolltes Bewirken eines tatbestandsmässigen Erfolges

Missachtung einer Sorgfaltspflicht

Voraussehbarkeit des tatbestandsmässigen Erfolges


nach den konkreten Tatumständen und

nach dem persönlichen Wissen des Täters
Kausalverlauf, d.h. hohe Wahrscheinlichkeit der Vermeidbarkeit des tatbestandsmässigen Erfolges bei pflichtgemässem Verhalten
9.2 Das fahrlässige unechte Unterlassungsdelikt

Garantenstellung für ein bestimmtes Rechtsgut

Gefährdungssituation für das Rechtsgut

Tatmacht zur Gefahrenabwehr

Nichtvornahme einer Rettungshandlung durch Missachtung einer Sorgfaltspflicht
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


durch Nichterkennen der die Garantenstellung begründenden Gegebenheiten

durch Nichterkennen des drohenden Erfolgseintrittes

durch Ungeschick bei der Rettungshandlung
Voraussehbarkeit des tatbestandsmässigen Erfolges für das Rechtsgut

nach den konkreten Tatumständen und

nach dem persönlichen Wissen des Täters
Kausalverlauf, d.h. hohe Wahrscheinlichkeit der Vermeidbarkeit des tatbestandsmässigen Erfolges bei pflichtgemässem Verhalten
9.3 Das fahrlässige Tätigkeitsdelikt

wissentliche und willentliche Grundhandlung

ungewolltes Bewirken eines zusätzlichen Tatbestandsmerkmals in Missachtung einer Sorgfaltspflicht
Keine Tatbestandselemente und nicht erforderlich:

tatbestandsmässiger Erfolg

Voraussehbarkeit des tatbestandsmässigen Erfolges
10. Was nicht in die Anklage gehört

Verdachtsgründe

Beweismittel

Geschichten und Vorgeschichten (Ausnahmsweise kann es bei Anklagen in
geschworenengerichtlicher Kompetenz hilfreich sein, klar gekennzeichnet die
unbestrittene Vorgeschichte festzuhalten, damit die Geschworenen den Kontext der angeklagten Tat verstehen.)

was aus Opportunitätsgründen (§39a aStPO/ZH [entspricht inhaltlich weitgehend dem heutigen Art. 8 Abs. 2 StPO/CH]) weggelassen werden
kann/soll/muss
11. Tipps zur Sprache

Tatschilderung im Imperfekt [d.h. einfache Vergangenheit, Präteritum]

Kurze Hauptsätze (als Ideal)

aktive Form - weg vom Passiv

stets die Sicht und Handlung mit Blick auf den Angeklagten beschreiben (Beispiel: Der Täter schlägt und fügt damit dem Opfer Verletzungen zu. Sätze wie
„das Opfer zog sich durch den Schlag einen Jochbeinbruch zu“ sollten vermieden werden.)
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
Überflüssiges weglassen

Wenn erforderlich: Namen benennen (nicht: „der Angeklagte 1“)
Anmerkung
Die Praxis, einfache und kurze Sachverhalte in einem Satz zu formulieren
(„Einsatzanklage“), soll nicht unerwähnt bleiben. Es muss allerdings bei kurzen
Sätzen sein Bewenden haben. Kurz bedeutet: in einem Atemzug lesbar, was nur
bei wenigen Zeilen der Fall ist.
12. Adressaten der Anklage
Die Anklageschrift ist das Ergebnis der Untersuchung und der Beginn des gerichtlichen Verfahrens. Mit dem Erlass der Anklageschrift kommen neue Funktionen ins
Spiel und damit neue Personen, die sich mit dem Fall befassen müssen. Diese
Personen orientieren sich zunächst an der Anklageschrift, so wie die STA sich am
Polizeirapport über einen neu zugeteilten Fall orientieren. Dafür ist es notwendig,
dass die Anklageschriften eine einheitliche Struktur aufweisen. Die STA würden es
auch nicht schätzen, wenn jeder Polizeibeamte seinen eigenen Stil und seine eigene Darstellung pflegen würde.
Die Anklageschriften haben sich daher auf die Empfänger auszurichten:

Angeklagter

Verteidiger

Dolmetscher

Geschädigte

Gerichtspräsident (Anklagezulassung, Fallzuteilung)

Gericht

Kanzleien der Staatsanwaltschaft und des Gerichtes (für die korrekte Erfassung der Parteien und den richtigen Abschluss des Geschäftes, das Erkennen
als Haftfall, die Verwaltung der Asservate etc.

Leitung der Staatsanwaltschaft bzw. Fallverantwortlicher in der zweiten Instanz

Medien (welche von den Gerichten allenfalls eine Anklageschrift erhalten)
13. Checkliste bei Anklageerhebung
Jede Anklage ist vor der Unterschrift nochmals zu prüfen. Einerseits muss die Anklage formell richtig sein, andrerseits geht es auch darum, dass wirklich nur angeklagt wird, wer auch mit einer Verurteilung rechnen muss. Der Angeklagte ist vor
ungerechtfertigten, offensichtlich haltlosen Anklagen zu schützen (Prangerwirkung).
Andrerseits geht es auch darum, dass keine nutzlosen Verfahren vor Gericht gebracht werden, auch aus finanziellen Gründen. Die Untersuchungen sollen
schliesslich vollständig sein, d.h. für das, was angeklagt ist, liegen auch formell
verwertbare Beweismittel vor. Die Gerichte sollen nicht Untersuchungshandlungen
nachholen müssen, die der Untersuchungsbehörde oblegen hätten.
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13.1
Prüfung der Akten bei Anklageerhebung

Liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor und ist der Angeklagte verteidigt

Rechtliches Gehör zu allen Anklagepunkten gewährt, auch zu den qualifizierenden Tatbestandselementen (Bandenmässigkeit, grosse Menge Betäubungsmittel etc.)

Beweismittel formgerecht und vollständig vorhanden (Teilnahmerechte, Akteneinsicht vor der Möglichkeit, Ergänzungsfragen zu stellen)

Beschlagnahmen gemacht, Asservate beiliegend und im Aktenverzeichnis aufgeführt

Geschädigtenrechte gewahrt (Formular Zivilansprüche zugestellt, Teilnahmerechte)

Opferrechte gewahrt (Orientierung über den Verfahrensstand, Vertretung etc.)

Vorliegen der erforderlichen Strafanträge, Ermächtigungen, Zustimmungen,
Auslieferungs- oder Abtretungsentscheide

Vorakten beigezogen (ins. bei Zusatzstrafen und Delikten während der Probezeit)

Personalakten vollständig

Aktenverzeichnisse vollständig

alles unterschrieben
13.2
Formale Gesichtspunkte der Prüfung der Anklageschrift

Adressen aktuell

Geschädigtenverzeichnis vollständig

Haftzeiten vollständig und richtig

Gliederung logisch

eine Ziffer pro Delikt

Strafsachverhalte und Schulddispositiv übereinstimmend

Widerruf/Verlängerung beantragt und im Rubrum erwähnt

Anträge zu den Asservaten gestellt

Sicherheitshaft beantragt

übersetz- und vorlesbar
13.3

Inhaltliche Prüfung der Anklageschrift
Tatbestandselemente bei allen Strafsachverhalten genügend umschrieben,
zum Beispiel
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
Bereicherungsabsicht bei Diebstahl, Veruntreuung, Betrug etc.

Gewahrsamsbruch beim Diebstahl

örtliche Zuständigkeit ersichtlich und mit dem Adressaten der Anklage kompatibel?

keine Verjährung
14. Darstellung der Anklageschrift
In formaler Hinsicht ist zu beachten, dass die Anklageschrift die folgenden Elemente enthält:

Geschädigte (und deren Rechtsnachfolger wie Erben, Regressberechtigte)

Geschädigtenvertreter

Erklärungen betr. Prozessengagements

Angeklagte

Verteidiger

Haftzeit (en), ohne Aufteilung in PV/UH etc.); es geht darum, dass über die Anrechnung dieser Haftzeiten zu entscheiden ist

Betreffnis (schwerstes Delikt, Hinweis auf weitere Delikte mit etc., allfälliger
Widerruf)

allenfalls thematische Gliederung (I. bis X.)

Anklageziffern (1. bis ..) durchnummeriert

für jeden Strafsachverhalt eine Ziffer

Aktenverweise (HD, ND)

Anträge (zu allen Dispositiv Ziffern gemäss Richtlinien für die Untersuchungsführung)

Verteiler
15. Wichtige Quellen

BGE 120 IV 348

Jörg Rehberg, Der Anklagegrundsatz und das Fahrlässigkeitsdelikt, Festschrift
125 Jahre Kassationsgericht des Kantons Zürich, Zürich 2000

Jörg Rehberg et aliud, Tafeln zum Strafrecht (div.)