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DIEZEIT
15.01.16 09:12
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
Titelfoto [M]: Charlotte Schreiber; Styling: Sayuristyling, Nina Klein Agency; Model: Sveta Utkina/Core Management
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19. MAI 2016 No 22
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Ihr Film ist
eine Sensation!
Mit dem deutschen
Kinostar Maren Ade
unterwegs in Cannes
Feuilleton, Seite 43
Erfolg und Gesundheit,
ja sogar Herzschlag und Gewicht
hängen vom Selbstverständnis ab.
Was Menschen zu sein glauben,
das werden sie auch.
Im Guten wie im Schlechten
Noch mehr Geld
fürs Fernsehen?
Ein Streitgespräch
mit Ulrich Wilhelm,
Intendant des
Bayerischen Rundfunks Wirtschaft, Seite 22
ZEITMAGAZIN
GIFT AUF DEM ACKER
WAHL DES BUNDESPRÄSIDENTEN
Ein Bauernopfer
Leitwolf Österreich
I
D
Der Streit um Glyphosat ist vorgeschoben. Die Frage ist: Sind wir
bereit, für unser Essen mehr zu bezahlen? VON ANDREAS SENTKER
st das meistverbreitete Unkrautvernichtungsmittel der Welt, ist Glyphosat krebserregend? Die Antwort ist Ja! Und Nein!
Ja, sagte die Weltgesundheitsorganisation
im März 2015. Nein, sagte das deutsche
Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR)
im September 2015. Nein, urteilt jetzt auch ein
gemeinsames Expertengremium von Weltgesundheits- und Welternährungsorganisation: Für den
Verbraucher gehe von den Glyphosatrückständen
in Lebensmitteln kein Gesundheitsrisiko aus.
Über Monate wurden die scheinbar widersprüchlichen Aussagen der Experten von Lobbyorganisationen und Medien genutzt, um einen
Schaukampf zu inszenieren. Hier die Chemiekonzerne, dort die Umwelt- und Verbraucherschützer. Hier die industrialisierte, dort die bäuerliche Landwirtschaft. »Wir machen euch satt!«
gegen »Wir haben es satt!«.
Bald ging es gar nicht mehr um das Glyphosat selbst, sondern um die wirtschaftlichen und
ökologischen Strukturen, in denen es zum Einsatz kommt: Denn ein Verbot von Glyphosat
bedeutete eine endgültige Abkehr vom US-Agrar­
chemieriesen Monsanto mit seinem gentechnisch an das Pflanzengift angepassten Saatgut.
Ein Verbot bedeutete vielerorts eine Rückkehr zu
Pflug und Egge. Ein Verbot bedeutete aber auch
den Einsatz von anderen, zum Teil deutlich giftigeren Agrochemikalien.
Die hitzige Debatte lenkt von einer simplen
Wahrheit ab: Ja und Nein, das sind gar nicht
zwei widersprüchliche Antworten auf eine Frage.
Es sind zwei recht gut begründete Antworten auf
zwei verschiedene Fragen. Die Krebsforscher
hatten die Frage beantwortet, ob das Molekül
prinzipiell Krebs auslösen kann: Wahrscheinlich!
Wie auch Salami oder Schinken! Die Risikoforscher und Ernährungsexperten hatten sich die
Frage gestellt, ob Glyphosatrückstände aus vorschriftsgemäßem Einsatz in der Landwirtschaft
Krebs auslösen werden. Unwahrscheinlich!
So gesehen, ist Glyphosat mit Lakritze zu vergleichen. Schon 100 Gramm Lakritze pro Tag
können neurologische Ausfälle, Bluthochdruck
und sogar tödliche Infarkte verursachen. Muss
Lakritze deshalb verboten werden? Die Empfehlung des BfR ist pragmatisch: Konsumieren Sie
weniger als 100 Gramm Lakritze pro Tag.
Muss Glyphosat verboten werden? In dieser
Woche hat die EU-Kommission darüber befunden (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe).
DIE ZEIT im
Taschenformat.
Am Sonntag geht es nicht nur um Innenpolitik. Es geht um ein
Nein zum autoritären Nationalismus in Europa VON BERND ULRICH
Die deutsche Regierungskoalition hatte sich
as klingt jetzt vielleicht komisch,
über diese Frage im letzten Moment entzweit.
stimmt aber doch: Am komÄhnlich wie bei den Experten ergeben sich die
menden Sonntag wird Europa
widersprüchlichen Antworten aus unterschied­
wieder ein wenig enger zusamlichen Perspektiven. CSU-Agrarminister Chrismenrücken. Denn dann wird in
tian Schmidt plädierte mit Blick auf die Bauern
Österreich ein neuer Bundespräfür eine Wiederzulassung. Die SPD-geführten
sident gewählt, der entweder ein Grüner ist oder
Ministerien hatten die kritischen Konsumenten
ein Blauer, ein Europäer oder ein Anti­europäer. Und
im Auge – und plädierten für ein klares Verbot.
bei dieser Wahl wird ganz Europa gebannt zuschauMit der Entscheidung in Brüssel ist der Streit
en, in London, Paris, Berlin und Budapest werden
längst nicht beendet. Im Gegenteil: Dringender
Bürger und Politiker vor den Fernsehern sitzen.
denn je brauchen wir eine Debatte darüber, wie
Warum ist das so, wo es vordergründig doch
die Landwirtschaft der Zukunft aussehen soll.
bloß um ein ziemlich repräsentatives Amt in eiWie versöhnen wir unseren Hunger nach
nem, sorry, nicht sehr großen Land geht?
Nahrungsmitteln, Energie und Rohstoffen vom
Das letzte Mal, dass sich Österreich der ungeAcker mit dem Schutz von Arten­
teilten europäischen Aufmerkvielfalt und Klima?
samkeit erfreuen durfte, ist sechWie sichern wir die Existenz
zehn Jahre her. Im Februar 2000
kleinbäuerlicher Familienbetriewurde die FPÖ mit Jörg Haider
be, wenn die Weltmarktpreise
an der Spitze zum ersten Mal­
für Weizen oder Schweinehälften
Regierungspartei. Woraufhin die
in Chicago, Neuseeland und
damals noch fünfzehn weiteren
der ZEIT erscheint wegen des
China bestimmt werden?
Mitglieder der EU Sanktionen
Feiertags Fronleichnam schon
Wie verhindern wir, dass Baugegen Österreich verhängten.
am Mittwoch, dem 25. Mai
ern die Bank mehr fürchten als
Diese österreichische Schande
das Wetter, weil sie auch auf dem
wollte eine bis zur Selbstgerechdeutschen Markt für ihre Protigkeit selbstgewisse EU einfach
dukte oft weniger bekommen, als die Produktion
nicht hinnehmen. Und schoss sich mit den
kostet?
Sanktionen selbst ins Knie.
Sind wir bereit, den Preis für jene LandwirtWie anders ist die Lage heute: Österreich
schaft zu bezahlen, von der wir träumen – die wir
droht am Sonntag nicht noch einmal zum schwaraber durch unser eigenes Konsumverhalten im
zen Schaf der EU zu werden, sondern – viel
Discounter zu verhindern wissen?
schlimmer – es droht zum Leitwolf einer BeweDie Antworten sind nicht so einfach, wie die
gung zu werden, die den ganzen Kontinent erfasst
Kontrahenten im aktuellen Streit vorgeben. Glyhat. Es geht um einen autoritären Nationalismus.
phosat – ja oder nein? Das ist nicht die richtige
Aggressiv gestimmt gegen Muslime, gegen
Frage. Glyphosat – in welcher Form, wann und
Schwule, gegen Feminismus, gegen die ganze libeunter welchen Bedingungen? Darüber müssen
rale Demokratie mit ihren schwerfälligen Instituwir streiten. Denn wer besonnen mit Chemie
tionen und mühsamen Kompromissen. Diese
umgeht, kann sich manchen Einsatz von Pflug
rechten Parteien sind entschlossen, die Systeme
und Traktor sparen. Die Struktur des Bodens wird
umzumodeln oder auch umzustürzen, hin zu präerhalten, das Klima geschont. Aber die Bauern
sidialen, plebiszitären und zentralisierten Staaten.
haben zu oft und zu leichtfertig zum Glyphosat
Diese autoritäre Bewegung hat zurzeit einen
gegriffen – auch um sich den Einsatz von Maschiungeheuren Schwung, sie freut sich auf den
nen zu ersparen, wo er sinnvoll gewesen wäre.
kommenden Sonntag sowie auf dann bald folJa oder nein? Das ist zu simpel. Wir müssen
gende Neuwahlen in Österreich, hernach auf
uns der anstrengenden Debatte über die Zuden möglichen Brexit im Juni, gefolgt von den
kunft der Landwirtschaft im Detail stellen. DaLandtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern,
mit nicht Weltmarkt und Banken darüber entwo die AfD stärkste Partei werden könnte. Als
scheiden, was wir in Zukunft essen.
Höhepunkt für das kommende Jahr werden der
Einzug der AfD in den Bundestag erwartet sowie
der Triumph von Marine Le Pen in Frankreich.
www.zeit.de/audio
Die nächste
Ausgabe
Herzliche Briefe
an Albert Speer
Wie Wolf Jobst
Siedler und
Joachim Fest den
NS-Verbrecher
hofierten Geschichte, Seite 19
PROMINENT IGNORIERT
Außerdem fühlt sich die Bewegung gestärkt vom
Gleichklang der Worte und Werte bei Donald
Trump und ermutigt durch eine andere große
Macht, in der ihr Programm schon voll realisiert
ist: Russland. Man könnte es auch so sagen: So
viel Einfluss auf die europäische Politik wie heute Moskaus Neo-Autoritarismus hatte die kommunistische Sowjetunion nie.
Wenn die Österreicher also am Sonntag zur
Wahl gehen, dann handelt es sich um europäische Vorwahlen, dann steht weit mehr auf dem
Spiel als nur Österreich. Aber was heißt »nur«?!
Selbstverständlich haben die Wählerinnen und
Wähler dort jedes Recht, mit ihrer Stimme gegen die in der Flüchtlingspolitik zwischen den
Extremen pendelnde »große« Koalition zu protestieren oder gegen deren selbstzufriedene Postenschacherei. Natürlich kann man den grünen
Kandidaten zu alt finden oder zu betulich oder
einfach zu grün. Und dennoch: Österreich trägt
an diesem Sonntag auch Verantwortung für
Europa, das Land entscheidet mit darüber, wie
stark die autoritäre, nationalistische Bewegung
auf dem ganzen Kontinent (und auf jener vorgelagerten Insel in der Nordsee) noch wird.
Denn Frauke Petry und Norbert Hofer, Boris
Johnson und Marine Le Pen, Geert Wilders und
Christoph Blocher leben nur zur Hälfte von der
Angst der Menschen, zur anderen Hälfte nähren sie sich von ihrem eigenen Aufschwung,
vom Erfolg der jeweils anderen. Längst schon
sind sie zu einer programmatischen und eben
auch emotionalen Internationale geworden.
Sind es ihre Gegner auch? Sind sich die liberalen
Europäer bewusst, in welcher historischen Situation sie sich gerade befinden? Das muss man
bezweifeln.
Nun mag es unfair sein, den Österreichern
eine solche Verantwortung aufzudrücken, wo sie
doch nur ihre österreichische Sache verfolgen
möchten. Diesen Einwand muss man akzeptieren.
Dennoch seien einige Gegenfragen erlaubt: Hat
der Blick nach innen das Land in den letzten Jahren froher, klüger, reicher gemacht? Haben zwei
Jahrzehnte FPÖ-Zentrierung die politische Kultur vorangebracht? Hat das An-sich-Denken den
einzelnen Österreicher gestärkt und bereichert?
Wir wissen es nicht, die Österreicher wissen
es. Wir können ihnen für Sonntag nur eines
wünschen: Viel Glück!
www.zeit.de/audio
»Casablanca«
Madeleine Lebeau, die letzte Überlebende der Schauspieler von Casablanca (1942), ist im Alter von 92
Jahren gestorben. Im Film spielt sie
Yvonne, die von Rick (Humphrey
Bogart) verschmähte Geliebte. Als
die Gäste in Rick’s Café die Marseillaise anstimmen, um die Nazis
zu übertönen, sieht man sie tränenüberströmt. Am Ende ruft sie:
»Vive la France!« Damals war sie 19
und hätte korrekterweise Madeleine Labelle heißen müssen. GRN.
Kleine Fotos (v.o.): Djamila Grossman/NYT/Redux/laif; Florian Jaenicke für DIE ZEIT; Everett
Collection/action press
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