SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Du musst tapfer sein Eine

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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Du musst tapfer sein
Eine wiederentdeckte Studie aus den 50er Jahren über Nachkriegskinder
AutorIn:
Ines Molfenter
Redaktion:
Petra Mallwitz
Regie:
Günter Maurer
Sendung:
Donnerstag, 19.05.16 um 10.05 Uhr in SWR2
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MANUSKRIPT
Sprecherin: (Wie mit Schreibmaschine alt schreibend)
“Gerda Hunger Geboren am 5.10.1945 Aktennummer: 4992/ Aufsatz:
Kinderstimme:
“ Mitten in der Nacht wachte ich auf. Ich spürte nur die Tiefe und Schwärze des Dunkels
um mich her. Mir war, als hörte ich ein Geräusch. Ich setzte mich hoch und lauschte
angestrengt in die Dunkelheit. Nichts. Ich schmiss mich aufs Kissen zurück und zog die
Decke über die Ohren.
1. O-Ton: (Gerda Kraus übernimmt und liest ihren Text aus Kindertagen weiter):
Da, da war das Kratzen wieder. Plötzlich kam es wie eine Erleuchtung über mich: das
Fenster. Ich stürzte hin, riss den Vorhang beiseite und... lachte laut darüber, dass so ein
dummer Zweig mir solche Angst eingejagd hatte.”
2. O-Ton, Atmo: Die Uhr klingelt im Wohnzimmer “Atmo”, Kaffeetassen werden
hingestellt. (Atmo im Laufe des Erzählerinnentextes einsetzen)
Erzählerin:
Gerda Kraus, geborene Hunger war acht Jahre alt, als sie diesen Aufsatz schrieb. Heute
ist sie 70. Sie hat Kaffee gekocht und sitzt im Wohnzimmer ihres Hauses am Stadtrand
von Bonn. Hier lebt sie mit ihrem Mann. Hier sind auch ihre zwei Kinder erwachsen
geworden. In ihren Händen hält sie eine verblichene grüne Din a 5 Kladde mit losen
Blättern. Darunter nicht nur dieser Aufsatz, sondern noch viele andere Texte von ihr und
Beschreibungen ÜBER sie.
3. O-Ton, Atmo: Murmeln und Blättern in der Akte und deutliches Erinnern: Ja,
wurde alles aufgeschrieben, auch in welchem Zustand ich dort ankam, ob ich alleine
kam oder gebracht werden musste, nachher stand da: Gerda kommt jetzt alleine (ab
hier in den nächsten O-Ton unterlegen)
Erzählerin:
Gerda war eines von 4400 Kindern, die nach dem zweiten Weltkrieg, im Rahmen einer
amerikanischen Studie untersucht wurden. Elf Jahre lang, von 1951 bis 1962, an sechs
Standorten in Deutschland.
3B. O-Ton, Atmo: … oder sie ist ein sehr schmales wohlerzogenes blasses Mädchen,
also es wurde immer auch der äußere Eindruck beschrieben wird abgelöst von
nächster Atmo in die Vergangenheit:
-Atmo: Schreibmaschine klappern. (alt)
Sprecherin: (dokumentierende Ärztin mit der Schreibmaschine, als würde sie
schreiben)
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„15.10.1953
Gerda Hunger: Sehr gute Intelligenzleistungen sicher gewandt und flink. Sehr gut
orientiert.
Umwelt: Familie stammt aus Westfalen, seit 1939 in Bonn. Vater noch an derselben
Arbeitsstelle, war bis 1947 in russischer Gefangenschaft. Er war nicht begeistert noch
eine Tochter (Gerda) vorzufinden. Raucher, braucht viel Geld für sich, er hat sein
eigenes Motorrad. Gerda wird oft in den Hort geschickt.
4. O-Ton, Atmo sehr deutlich mit Gerda Hunger, die in der Kladde blättert (fast OTon):
Vater gibt wenig Geld ab... Ja war so, war noch viel schlimmer....
Erzählerin:
Gerda Kraus stellt die Kaffeetasse ab und erzählt, wie sie regelmäßig einmal im Jahr in
das Gesundheitsamt in Bonn gegangen sind, um an der amerikanischen Studie
teilzunehmen. Intelligenztests, Gesundheitsuntersuchungen, sie musste dort u.a. malen,
Aufgaben lösen, erzählen, Aufsätze schreiben. Finanziert von den Geldern des
Marshallplans. Als die Studie begann war sie 6 Jahre alt. Am Ende der Studie 17.
5. O-Ton, : Sascha Förster:
Im Kern ging es darum, zu untersuchen, wie es den Nachkriegskindern ging? Und zwar
aus medizinischer Sicht und aus psychologischer Sicht.
Erzählerin:
Sascha Förster, Psychologe und Historiker, hat sich jahrelang dafür eingesetzt, dass die
damaligen Kriegskinder heute wiedergefunden werden.
6. O-Ton, Sascha Förster:
Der zweite Weltkrieg war gerade vorbei, die Kinder waren auch entweder im zweiten
Weltkrieg, kurz vorher oder am Ende des zweiten Weltkriegs geboren.
Und da stand die Frage einfach im Raum: Wie geht es den Nachkriegskindern, können
die, haben die das einfach gut verkraftet? Sind die gesundheitlich in Ordnung? Oder
haben die immer noch Folgeschäden - auf irgendeine Art und Weise, seelisch als auch
körperlich.
Sprecherin: 12.3.1952: Gewicht: 20,8 Körperhöhe 114,8, Akromialhöhe 109,5,
Spinahohe 74, Mittelfingerhöhe 51,6, Schulterbreite 29 , (wird wieder leiser und von
nächstem O-Ton abgelöst). Beckentbreite 21, Kopfumfang 51 (O-Ton wird leiser)
Thoraxtiefe, Handumfang.
7. O-Ton Gerda Kraus:
„Muss häufig Wasser lassen“ – so was schreiben die da alles rein. Lacht. ... Blättert, ...
Sucht... „Erste Zahnung - Mein Gott).
8. O-Ton: Sascha Förster:
Und es wurde aber auch im Sinne der amerikanischen Studien noch ganz viele
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soziologische Daten auch gefragt. Also welches Einkommen haben die Eltern? Wieviele
Zimmer hat die Wohnung? Ist der Vater noch da? wurde wirklich versucht n ganz
umfassendes Bild dieser Kinder zu erstellen und den gesamten Kontext auch zu sehen.
Sprecherin (Schreibmaschine): Die häusliche Atmosphäre scheint sehr schnell
gespannt zu sein. Mutter leicht erregbar. Sie gibt ihre Tochter unter keinen Umständen
aus dem Haus, nicht zur Erholung und nicht ins Krankenhaus.
9. O-Ton, Gerda Kraus im Gespräch
Autorin: Es war im Grunde genommen so ne Angstgestimmtheit, die einen begleitet hat
in diesen ganzen jungen Jahren?
Gerda Kraus: Ja genau und durch die Erzählungen. Der Vater kam 1947 aus dem
Krieg. Der war in Gefangenschaft gewesen. Die Männer aus dieser Generation hatten
nur ein Thema, wahrscheinlich mussten sie ihre schlechten Erfahrungen auf diese Art
verarbeiten. Und die Mütter und Kinder, die das ständig erzählt bekamen, die wurden
dadurch auch traumatisiert. Die Väter vielleicht konnten sich damit helfen, aber für die
restliche Familie war das nicht so einfach. Und ich denke mal, da hat sich dann auch so
eine Angst festgesetzt.
Erzählerin:
Was Gerda beschreibt, lässt sich in den Dokumentationen der Kriegskinder-Studie meist
nur zwischen den Zeilen herauslesen, sagt Sascha Förster. Er findet es unglaublich,
dass diese Studie, die umfangreich ist wie keine andere, so lange in den Kellern der
Universität Bonn schlummerte. Der Findungsprozess muss irgendwann 1988 begonnen
haben. Er selbst ist erst vor 9 Jahren als studentische Hilfskraft dazugekommen und
beschreibt begeistert, wie ihn die Begegnung mit der Vergangenheit berührt hat.
10. O-Ton, Sascha Förster:
Der für mich emotionale Moment war dann, wo ich in dem Raum war. Wir ham die Akten
ausgepackt, und ähm, irgendwann hatte ich dann etwas mehr Zeit, mich auch mit den
Akten und den Inhalten zu befassen und da reinzuschauen und diese Geschichten zu
lesen. Und zu merken, dass sind nicht nur einfach Papierakten oder alte verstaubte
Dokumente, sondern das sind Dokumentationen von Kindheiten und von Leben. Und
diese Menschen leben immer noch. Die laufen irgendwo hier durch die Gegend rum und
seitdem, wenn ich Menschen sehe, die um die 70 sind, dann frage ich mich ganz oft, ist
das jetzt eines dieser Nachkriegskinder von damals? Und ob dieser Mensch noch weiß,
was für Geschichten er damals erlebt hat?
Erzählerin:
Nun begann die Suche nach den Nachkriegskindern von damals. Parallel dazu wurden
Fragen rund um die Finanzierung und Datenschutz gewälzt. Sascha Förster hat eine
umfangreiche Datenbank aufgebaut, Einwohnermeldeämter per Post angeschrieben und Artikel in der Zeitung veröffentlicht.
11. O-Ton, Gerda Kraus:
In der hiesigen Tageszeitung war ein Artikel. Ich las Nachkriegskinder und als ich dann
merkte, dass genau das mein Thema war und dass das diese Studie war, wo ich dran
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teilgenommen hatte.
12. O-Ton, Sascha Förster:
“Das hat mich einfach auch interessiert deren Lebensgeschichten dann zu hören, Diese
Neugier in Berührung mit der Akte. So das war das Kind damals und dann hat man
plötzlich jemanden am Telefon und der erzählt dann: „Ja ich bin übrigens die Frau in der
und der Akte, ja und ich hab damals an der Studie teilgenommen. Ja heute mach ich
das und das.“
13. O-Ton, Gerda K:
Da habe ich mich an die Zeitung gewandt. Und die hat mich dann an den jungen
studentischen Mitarbeiter verwiesen und wir haben dann gleich Kontakt aufgenommen
und er war sehr froh, dass er endlich jemanden gefunden hat aus Fleisch und Blut, der
seine trockene Akten Leben einhauchte...lacht.
Erzählerin:
Mit den Menschen von damals zu sprechen könnte für die Wissenschaft ein großer
Fundus an Erkenntnissen sein, erklärt Sascha Förster. Wenn man diese Menschen
heute erneut untersucht und befragt, könnte man daran Entwicklungen aufzeigen: Die
Ausgangssituation in der Herkunftsfamilie, den Berufsweg, die politische Einstellung, die
soziale, psychische Gesundheit damals und heute, die Ernährung. Die Adressen von
2258 ehemalige Kriegskindern wurden bereits ermittelt, davon waren 534 verstorben
und 90 Personen ausgewandert. Die ersten Interviews hat Sascha Förster bereits
geführt. Für einen erfolgreichen Abschluss jedoch, fehlt das Geld.
14. O-Ton, Hanna:
Als ich von der Studie las dachte ich, dass da eine große Chance liegt, endlich einmal
umfassend zu erforschen, wie hat sich der Krieg auf die Leben ausgewirkt. Damals und
heute. Und ich dachte noch, dass die sich jetzt beeilen müssen, denn das sind ja alles
nicht mehr die Jüngsten.
Erzählerin:
Hanna ist 55 Jahre alt. Der noch warme Apfelkuchen steht duftend auf dem großen
Bauerntisch in der Küche. Eine Wendeltreppe führt in ihr Arbeitszimmer – dort hängen
die Bilder von ihrem Mann und ihren Töchtern. Schon früh hat sie gespürt, dass
irgendetwas in ihrem Leben nicht gut läuft. Heute weiß sie, dass die Vergangenheit ihrer
Mutter weit mehr in ihr Leben hineingeragt hat, als sie es für möglich gehalten hätte.
15. O-Ton, Hanna: Ich habe zwei Töchter und immer wenn sie nicht in meiner Nähe
waren oder draußen waren, hatte ich eine riesige Angst, dass ihnen etwas passieren
könnte. Das hat gleich nach der Geburt angefangen und meine Ehe sehr belastet. Ich
stand manchmal stundenlang am Fenster und habe geschaut, wie sie auf der Straße
spielten. Da waren sie klein. Und auch später. Da waren sie schon in der Pubertät, also
so 12. Ich hatte dann sogar das Gefühl, dass, wenn ich weg bin, dass dann was
passiert. Ich dachte anfangs, dass es allen so geht. Also auch den anderen Müttern,
aber das war nicht so. Im Gegenteil. Durch meine Angst habe ich mich eher von den
anderen abgehoben, ich war nie entspannt. Im Laufe der Jahre war ich kurz vorm Burn
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out und meine große Tochter entwickelte eine Magersucht, meine kleine Tochter fing an
zu kiffen. Das war ein Kreislauf. Meine Töchter wurden immer ...ja... unkontrollierbarerunglücklich. Und ich war sooo hilflos. Ja – hilflos.
Erzählerin:
Hanna sitzt auf einem breiten bordeauxroten Sofa. Auf ihrem Schoß ein Album mit
Fotografien ihrer Eltern und Großeltern. Gut sehen sie aus, auch für heutige
Verhältnisse. Wie Filmstars aus einem Hochglanzmagazin, sogar die Einrichtung wirkt
wie ein Ausschnitt aus „Schöner Wohnen“ – eine perfekte Familie, zumindest nach
außen. „So wollte es die Mutter“, erklärt Hanna.
16. O-Ton, Hanna:
Also ich hab immer gedacht, dass ich eine Art Opfer für sie war. Und das sie mich nie
wollte. Lieber wollte sie frei sein.
Das ich Angst hatte, solche Angst um meine Kinder, hat damals niemand mitbekommen,
schon gar nicht meine Mutter. Oder erst ganz spät. Freunde haben später zu mir gesagt,
dass ich immer glücklich gewirkt hätte als die Kinder klein waren. Was in mir los war, hat
niemand gemerkt und ich hab es wohl auch aus Scham nicht gesagt. Es wäre so ein
Eingeständnis von Schwäche gewesen.
17. O-Ton, Cora Kepka:
Es sind so die zwei Linien, einmal das Funktionieren-müssen, was einem ja damals
auch sehr eingetrichtert worden ist und darauf achten, was sagen die Nachbarn. Das ist
ja sogar ein Spruch, den ich sogar heute noch in Familien höre: „Was sagen die
Nachbarn“. Man muss sich ja vorstellen: in einer Diktatur musste man aufpassen, was
die Nachbarn sagen. Aber das diese Sprüche heute noch wirken. Da sieht man doch
wie Dinge weiter gegeben werden, von Familie zu Familie weiter tradiert.
Erzählerin:
Cora Kepka arbeitet als Psychologin in Bonn, und hat sich ebenfalls dafür eingesetzt,
dass die Nachkriegskinder aus der Studie gefunden werden. Sie arbeitet seit Jahren mit
Menschen an den Folgen der Nachkriegszeit.
18. O-Ton, Cora Kepka:
Und das Funktionieren müssen stammt natürlich aus damaliger Zeit und natürlich auch
der Umgang mit den Traumata. Die dürfen ja nicht sein, da redet man nicht drüber - das
versucht man zu verdrängen, aber die Verletzungen sind natürlich spürbar. Und Kinder
reagieren darauf.
19. O-Ton, Hanna:
Meine Eltern sind getrennt und ich habe keinen Kontakt mehr zu meiner Mutter gehabt –
über Jahre. Also ich weiß noch dass ich mal die Hausaufgaben nicht gemacht hatte.
Meine Lehrerin hatte angerufen und als ich aus der Schule kam und die Tür aufging,
schlug mir meine Mutter erstmal ins Gesicht. Das war so typisch. Von Null auf Hundert.
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20. O-Ton: Kepka:
Kriegskinder, die in den letzten Jahren des Kriegs geboren worden sind oder am
Kriegsende äh die wissen das nicht mehr auf Grund des Gedächtnisses ja? Aber es gibt
ja ein Körperwissen und Traumata schlagen sich auch in Körpererinnerung nieder.
21. O-Ton, Hanna:
Ich wusste nicht z.B., dass meine Mutter. Sie hat das nie erwähnt, dass ihre Mutter
vergewaltigt worden war. Bei der Befreiung, damals hat meine Familie in Berlin gelebt,
dass sie von den Russen vergewaltigt worden war und man die Kinder – also meiner
Mutter und ihre Schwester festgehalten hat. Da war meine Mutter drei.
Erzählerin:
Während Hanna Stück für Stück die Geschichte ihrer Familie ausgräbt und dabei den
Ursprung ihrer eigenen Angst findet, hat Gerda zwar vieles hautnah miterlebt. Aber es
kam ihr nicht in den Sinn, Krisen in ihrem Leben mit ihrer Nachkriegskindheit in
Verbindung zu bringen. Den Schmerz, den sie als Kind empfand, wenn sie an ihren
Vater dachte, hat sie hinter sich gelassen. Denn dass es da eine kleine Gerda gab,
erfuhr er erst, als er nach zwei Jahren aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam.
22. O-Ton, Gerda Kraus:
Meine Mutter war sehr kinderlieb. Und als er zur Tür reinkam, hat er gesagt: Was is’n
das denn wieder für’n Kind hier und dann hat sie gesagt: Deins. Lacht. Und dann hat
das da wohl Probleme gegeben. Also so wie ich das hier entnehme und.... Und das
spezielle Verhältnis zu mir, das lief so ab. Wenn ich als Kleinkind auf seinen Schoß
krabbeln wollte, machte er die Beine auseinander und dann saß ich auf der Erde und n
kleines Kind versucht das zwei, dreimal und dann ist die Nähe zum Vater in der Hinsicht
auf jeden Fall schon mal gestört....
Sprecherin (Schreibmaschine) : Körperlich: kleines, zierliches aufgewecktes,
unruhiges Mädchen. Frischrote Backen aber blasse Schleimhäute. Gerade gewachsen.
23. O-Ton, Gerda: (Atmo, die zu jeder Zeit ausgeblendet und unterlegt werden kann)
Sie liest aus Akte und kommentiert: „Das Kind ist lebhaft, fröhlich, aber gut erzogen.
Aber gut erzogen, das war wohl ein Gegensatz. Wenn ich schlecht gelaunt wäre, habe
ich mal gesagt, dann würde ich mir das nicht anmerken lassen. Das fand diese
Beurteilerin wohl ganz toll oder ich würde nicht über andere triumphieren. Dann habe ich
das wohl so kommentiert, dann würde ich nicht geliebt. Hatte ich wohl Angst, dass ich
nicht geliebt würde. Und beim Allgemeinwissen wäre ich besser als die anderen
Gleichaltrigen und bei praktischen Aufgaben schneidet sie hervorragend gut ab und ich
bin gut über dem Klassendurchschnitt, stehende Schülerin, charakterlich einwandfrei.
(sarkastisch) charakterliches einwandfreies Kind. Toll ?
24. O-Ton - Erzählerin: Sie haben sich trotzdem nicht so positiv gesehen
Gerda Kraus: Weil mein Selbstbewusstsein sehr angeknackst war. Ich kriegte von
meinem Vater überhaupt kein Lob - nie und von meiner Mutter überschwängliches Lob
und dann ist das ganz schwer für’n Kind da zu differenzieren. von meinem Vater kam
nur Lob, was aber nur aus der Hinterhand erschien, wenn mein Zeugnis auf dem Tisch
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lag, war es verschwunden, dann hatte er das auf seine Arbeitsstelle mitgenommen, um
zu zeigen, was für eine gute Tochter er hat in Anführungsstrichen. Das war das einzige,
das einzige, das einzige wo ich jemals erfahren habe, dass er stolz auf mich war.
Schrecklich ne?
25. O-Ton, Cora Kepka:
Also was ich oft sehe, dass ich Personen hier sitzen habe, die sehr leistungsorientiert
sind, die ein hohes Leistungsdenken haben und die im Grunde nicht auf ihre eigenen
Gefühle und Bedürfnisse achten. Die im Grunde ihre eigene Person immer in den
Hintergrund stellen und versuchen für andere da zu sein und zu leisten. Ja- und ich
denke, dass hat seine Wurzeln natürlich in Erziehungsmethoden, einerseits,
andererseits wo es drum ging die Traumata der Eltern auch irgendwie zu verarbeiten.
Erzählerin:
Leistung und Anpassung! Worte, die auch Hanna auf ihre Herkunft mühelos anwenden
kann. Die Scheinwelt, die sich bei ihrer Mutter in teuren Kleidern ausgedrückt hat, in
einer perfekt kreierten Umgebung, bis hin zum Aschenbecher neben der teuren
Ledercouch, der aus Chrom war und nicht benutzt werden durfte. Es hat was mit
Kontrolle über das Grauen zu tun - so erklärt es sich Hanna heute. Damals dachte sie,
sie würde nicht geliebt.
26. O-Ton, Hanna:
Meine Oma wollte meine Mutter nicht bekommen. Sie hat ihr das ihr ganzes Leben
vorgeworfen, dass sie in so einer schweren Zeit zur Welt kam. Hunger, Bomben – völlig
irrational. Bei Familientreffen herrschte immer eine hysterische Grundstimmung. Mein
Opa schwieg und meine Oma duldete keine helfende Hand, keine Einmischung. Sie
wollte immer den Ablauf bestimmen. Zurückblickend war meine Mutter da auch noch wie
ein unmündiges Kind.
27. O-Ton, Cora Kepka:
Wenn Eltern traumarisiert sind geben sie das ja an ihre Kinder indirekt weiter. Die Kinder
spüren, dass ihre Eltern verletzt sind in irgendeiner Form. Kinder versuchen sich
anzustrengen äh sich so zu verhalten, dass sie den Eltern nicht noch ne zusätzliche
Belastung sind, ne? Sie versuchen zu funktionieren, sie versuchen zu leisten und sie
versuchen gut zu sein? Und den Eltern nicht noch ne zusätzliche Mühe zu sein und ich
denke das ist was ganz Entscheidendes, was sich dann auch im eigenen Verhalten
niederschlägt.
28. O-Ton, Hanna:
Vielleicht hat sich meine Mutter von mir den Ausgleich gewünscht, einen Schutz vor
ihrer eigenen Sippe. Sie war dauernd auf 180. Ich wurde fett. Den Stress hab ich damals
mit Essen kompensiert. Die Frauen meiner Familie hatten dauernd Gewichtsprobleme.
(lacht) Ich habe Diäten mit der Muttermilch eingesogen. Alles Kontrolle. Von Urvertrauen
keine Spur. Und das hatte ich dann natürlich auch nicht bei meinen Töchtern.
29. O-Ton, Gerda Kraus: Am Ende der Studie musste ich einen Aufsatz schreiben:
„Mein Leben bis zum Jahr 2000“. (liest ihren Aufsatz vor)
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Im Jahr 2000 werde ich 55 Jahre alt sein, bis dahin ist ein langer Zeitabschnitt. ((Der
Aufbau meines Lebens, sozusagen das Ziel, wird dann erreicht sein. Einiges wird in
meiner Hand liegen, der Hauptteil kann aber wahrscheinlich nicht von mir bestimmt
werden.)) Ich denke, dass mein Leben doch ziemlich ruhige Wege läuft, einige Jahre, so
zwei bis vier, werde ich wohl in meinem Beruf noch weiter arbeiten müssen,
unterbrochen von den wenigen angenehmen Urlaubswochen im Jahr( muss lachen),
soweit ich es übersehen kann, werden wir mein jetziger Freund und ich dann heiraten
bis zum ersten Kind, das aber erst bis zu eins-bis zwei Ehejahren kommen sollte, werde
ich noch mitarbeiten, dann aber nur noch im Haushalt tätig sein.“ Eventuell aber auch
noch im Betrieb meines Mannes bei den kaufmännischen Tätigkeiten mithelfen. Das
weitere Leben wird dann wohl in dieser Art weiter gehen. Jedes Jahr Urlaub, ab und an
ausgehen und so weiter. Wenn meine Kinder dann alt genug sind sollten sie einen
Beruf, der ihnen Freude macht ausüben und dann ziemlich nah, zum Jahr 2000 werde
ich wohl Großmutter werden. Ich hoffe, dass es im meinem Leben keine bösen
Zwischenfälle geben wird, sei es durch Krankheit, Krieg oder Ärger in der Familie.
30. O-Ton, Gerda im Gespräch:: Sehen Sie? Keine großen Ziele, keine großen Ziele!!!
Vorhanden. Keine großen Ziele.
Erzählerin: Ich denke die ganze Zeit: Sie waren ja auch so sehr mit Kompensieren
beschäftigt.
Gerda Kraus.: Einfach weil ich wahrscheinlich meiner Mutter nicht noch mehr Sorgen
machen wollte, diese Aufmüpfigkeit, die ich bei anderen erlebt habe oder diese
Durchsetzungskraft oder diesen Widerstand gegen ihre Eltern habe ich nie, hab ich nie
- ... steht auch in einem dieser Berichte hier drin .....
Erzählerin:
Je länger Gerda aus der Kriegskinderstudie vorliest, umso nachdenklicher wird sie.
Dass sie als ein so waches intelligentes und interessiertes Kind beschrieben wird,
berührt sie sichtlich. In ihrer Akte ist ein IQ von 124 vermerkt, ein hohes soziales
Engagement und nach und nach entsteht eine Ahnung, wofür sich Gerda Krauss in
ihrem Leben noch entschieden hätte, wenn es nicht so sehr darauf angekommen wäre,
der Mutter keinen Ärger zu machen, immer brav und belastbar zu sein. Eine
Anspannung, die sich schon früh bemerkbar gemacht hat.
31. O-Ton, Gerda Kraus im Gespräch:
Ich hatte offensichtlich so’n Tick entwickelt, dass ich immer mit dem Auge zuckte. Und
ich ertappe mich heute noch manchmal, dass ich das heute noch mache. Das haben
viele Kinder oder auch Erwachsene, dass sie sich an einer bestimmten Stelle immer
zucken oder Kratzen oder so. Gerade so Kinder, die in solchen Lebensumständen
aufwachsen, wo ständig schlechte Stimmung ist und Vater und Mutter nicht miteinander
reden und wenn man am Tisch sitzt, man traute sich ja gar nicht irgendwas zu sagen,
dann war ja direkt wieder explosive Stimmung – das man dann vielleicht vor lauter Angst
wieder was falsch zu machen, sowas entwickelte –
Erzählerin: ne Anspannung?Gerda Kraus: Jaaaa ne Anspannung. Und das war aufgefallen und dann ist meine
Mutter mit mir zu so einem Nervenarzt gegangen und das war eine ganz beängstigende
Angelegenheit. Hier am Bonner Bahnhof waren alle so herrschaftliche Gebäude mit
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dunklen Räumen und da war dann so ein Nervenarzt so ein dunkles Etwas und der hat
mich dann untersucht und hat gesagt: Ich hätte Feitstanz ... Keiner von uns hatte dieses
Wort jemals gehört in seinem Leben. Ich hatte jetzt also Feitstanz
Sprecherin (schreibmaschine):Somatische: Notorisch unruhig, lichtempfindlich ,
Dermorgraph und Facialis positive, dabei aber freundlich aufgeschlossen. Blasse
Schleimhäute, Gebiss saniert, Muskeln und Bindegewebe zart....
32. O-Ton, Gerda: Und es wurde verordnet, dass ich zwei Wochen in einem dunklen
Raum still gehalten wurde. Wurde nur Essen reingebracht. Es durfte sich keiner mit mir
beschäftigen. Das Kind, weil das nämlich schon mal zuckte mit dem Auge, musste jetzt
ruhig gestellt werden, stellen sie sich das mal vor. Das hab ich auch nie vergessen nie.
(darunter Schreibmaschine)
Sprecherin: (Schreibmaschine) Die erwartete Beruhigung nach drei Tagen trat nicht
schreien, weinen, Nägelkauen, Kopfschlagen hielten an.
Erzählerin:
Gerda Krauss sagt, dass es zwar einige Krisen in ihrem Leben gab, aber sie heute
glücklich sei. Nachdem ihr Kinderwunsch im zweiten Anlauf geklappt hat, ist sie heute
Großmutter von einem Enkelkind. „Aber wenn ich gewusst hätte“ flüstert sie, mit einem
ernsten Blick auf die Akte in ihrer Hand „wenn ich gewußt hätte, wie gut ich damals war,
dann wäre vielleicht etwas anderes aus mir geworden und ich hätte meine Krisen
selbstbewusster gemeistert.“ –
33. O-Ton, Hanna: Ich frage mich, wieviele Menschen unbewusst mit diesem vererbten
Trauma leben.
Erzählerin:
Hanna, die die Belastungen aus der Vergangenheit immer sehr deutlich gespürt hat,
geht es inzwischen dank einer Psychotherapie besser. Am wichtigsten war es dabei,
das Päckchen, das ihre Mutter zu tragen hatte, der Mutter symbolisch zurück zu geben.
Und ohne, dass ihre Mutter davon weiß, hat es gewirkt.
34. O-Ton, Hanna: Ich sage mir dann immer: Das hat mit mir nichts zu tun. Nicht heute
und auch nicht damals. Diese Erkenntnis war pure Heilung, auch in der Beziehung zu
meiner Mutter. Heute weiß ich, dass sie mich liebt. So wie sie es vermag. Das ist ein
Rückhalt und den spüren auch meine Kinder. Diese Änderung wirkt sich auf alles aus.
Wenn man sich selbst spürt und sich nicht immerzu hilflos und schuldig fühlt.
35. O-Ton, Kepka: Es macht auf jeden Fall Sinn diese Daten auszuwerten, weil wir ja
aktuell immer wieder Kriege haben und es geht ja nicht nur um den damaligen zweiten
Weltkrieg, sondern wir haben ja heute hier ein Problem. Ja, wir haben jede Menge
Flüchtlinge, die auch Traumata erlebt haben und ich denke solche Studien sind wichtig,
um überhaupt daraus abzuleiten, wie gehen wir mit solchen Problemen um? Oder wie
können wir sie verhindern? Das sind natürlich Erkenntnisse, die wir brauchen, die wir
auch aktuell brauchen.
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