1 13.05.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von

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13.05.2016
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Katharina Eickhoff
Gelungene Sammlung
ERIK SATIE
and Friends
Music by Satie
Chabrier | Debussy | Fauré | Françaix | Ibert
Milhaud | Poulenc | Ravel | Saint-Saëns
Original Albums Collection
SONY CLASSICAL 88875177492
Unbedingt anhörenswert
Strawinsky / Satie
PARIS JOYEUX & TRISTE
Piano Duets
Alexei Lubimov
Slava Poprugin
ALPHA CLASSICS 230
Unangestrengt, ohrschmeichlerisch
The High Road to Kilkenny
Gaelic Songs and Dances of the 17th and 18th Centuries
Les Musiciens de Saint-Julien
François Lazarevitch
ALPHA CLASSICS 234
Hypnotisch und meditativ
Sirius Quartet
PATHS BECOME LINES
autentico music 612524
Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CD“ … mit Katharina Eickhoff. Herzlich
willkommen! Lupfen wir erst mal schnell den Deckel und schauen, was für heute im
Körbchen ist an neuen CDs:
Grüner wird es nicht: Irisch-gälische Songs und Tänze des 17. und 18. Jahrhunderts haben
François Lazarevich und die Musiciens de Saint-Julien auf ihrer sehr schönen neuen CD
„The High Road to Kilkenny“ versammelt.
Die musikalischen Trampelpfade seiner einzelnen Mitglieder zeichnet das New Yorker Sirius
Quartet auf seiner neuen Platte nach – „Paths become lines“ heißt die, und die Stücke,
deren Einflüsse vom klassischen Streichquartett über Folklore und Minimal Music bis zum
Hardrock gehen, sind von den Musikern des Quartetts allesamt selbst komponiert.
Und dann gibt es da ja vor allem noch ein Jubiläum zu feiern – Erik Satie, der Mann mit dem
steifen Hut und dem schrägen Humor, ist am 17. Mai vor 150 Jahren als Sohn eines
Versicherungsmaklers in Honfleur zur Welt gekommen, und dass das ein für die
Kulturgeschichte sehr bedeutendes Ereignis war, darauf machen in diesen Tagen gleich
mehrere Satie-Veröffentlichungen aufmerksam, mal mehr, mal weniger gelungen – wir reden
hier natürlich vor allem über das Gelungene. – Fangen wir also mal ganz gemächlich mit
etwas scheinbar Altbekanntem an:
Erik Satie: „Gymnopédie Nr. 1“ (Ausschnitt)
1:00
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Schon ein kleiner Appetithappen aus der jetzt zu besprechenden Satie-Sammlung: Das
Royal Philharmonic Orchestra schwingt sich da unter Philippe Entremont in Saties
„Gymnopédie Nr. 1“ ein.
Wie sagte John Cage so schön: „It’s not a question of Satie’s relevance. He’s indispensable.“
(Es geht nicht um die Relevanz von Satie. Er ist schlichtweg unverzichtbar.) – Das trifft es
ziemlich gut: Wenn man sich mit Saties seltsamer, mal charmanter, mal banaler Musik
beschäftigt, weiß man nie so recht, was man nun davon halten soll, und inwiefern diese oft
unzugänglichen Stücke zur bedeutenden Musik des 20. Jahrhunderts gehören könnten. Aber
man muss eben das Gesamtpaket Satie betrachten:
Er war der unverzichtbare Ideengeber für Picasso und Diaghilev, Cocteau hätte ohne ihn alt
ausgesehen; Satie hat Debussy, Ravel und vor allem Poulenc enorm beeinflusst, er hat
Wagner für Frankreich ad acta gelegt und mit seinen Stücktiteln – „Schlaffe Präludien für
einen Hund“ und wie sie alle heißen – den Surrealismus eingeläutet. Satie, der Einzelgänger
und Sturkopf, war eine Ein-Mann-Armee, die vorausmarschierte, die Avantgarde der
Avantgarde; er hat die Ironie, die Collage, die Parodie in die Musik gebracht und DenkKanäle fürs 20. Jahrhundert eröffnet – und zwar für alle Kunstrichtungen, nicht nur die Musik.
Sein „Socrate“ wurde gespielt, als in Sylvia Beachs Pariser Buchladen „Shakespeare &
Company“ Joyce zum ersten Mal aus dem Ulysses las, sein Ballett „Parade“ mit Cocteau
und Picasso war der große Pariser Skandalknüller nach Strawinskys „Sacre“, sein Film
„Entr’acte“, zusammen mit René Clair und Francis Picabia, war stilbildend in der Filmkunst,
seine „Musique d’Ameublement“ hat als ironisches Konzept philosophische Qualität und hat
die spätere Gebrauchsmusik in Fahrstühlen oder Supermärkten vorweggenommen.
Satie, nicht Cage, hat das präparierte Klavier erfunden, Satie ist der Vater der Minimal
Music, seine Vexations sind nach wie vor das längste und gleichförmigste Klavierstück der
Geschichte; Satie hat die Aleatorik entdeckt und so weiter und so fort, ach, man könnte
aufzählen, bis einem die Luft wegbleibt, was dieser Typ mit steifem Hut und schwarzem
Paletot mit seinem notorischen Spazierstockschirm damals alles angestoßen hat.
Erik Satie: „Parade“ (Ausschnitt)
0:55
Noch ein kleiner Vorschuss-Schnipsel – das hier war jetzt ein kurzer Exkurs zu Saties
Ballettmusik „Parade“. – Nun hat er also 150. Geburtstag, dieser Erik Satie, und alle wissen,
scheint es, nicht nicht so recht, wie sie damit umgehen sollen.
Bei der EMI, inzwischen im Warner Konzern aufgegangen, hat man sich denkbar schlicht
aus der womöglich ungeliebten Affäre gezogen, indem man einfach alle Satie-Pianisten, die
man über die Zeit so im Programm gehabt hat – von Aldo Ciccolini über Anne Queffélec bis
Alexandre Tharaud –, auf eine Platte gepackt und wiederveröffentlicht hat. Nun ist aber, bei
aller Verehrung für den genialen Nichtmusiker Satie, sein Klavierwerk in der Gesamtheit
dann halt doch reichlich einförmig, sobald die Freude über Titel wie „Drei Stücke in
Birnenform“ oder „Vertrocknete Embryos“ oder „Präludien für einen Hund“ etwas
nachgelassen hat ...
Deutlich mehr Hirnschmalz und Inspiration hat man bei SONY zu Saties 150. Geburtstag
investiert – die Box „ERIK SATIE and Friends“ ist eine stolze Sammlung von 13 CDs,
Originalaufnahmen aus verschiedenen langvergangenen Jahrzehnten, die zusammen
genommen ganz schön umreißen, was Satie so besonders und so besonders wichtig
machte, und wen er alles grundlegend beeinflusst hat.
Außerdem gönnt uns die Sammlung Begegnungen mit ein paar ganz großen Interpreten! Ein
Highlight ist gleich die erste CD, die sich um Saties vielleicht größten Fan dreht, um Francis
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Poulenc – Poulenc war ja ein absolut hinreißender Pianist, seine Satie-Einspielungen sind
schlichtweg exquisit, und, das vor allem, immer überraschend, sogar die altbekannten
„Gymnopédies“ klingen bei ihm irgendwie anders, lebendiger, als bei allen anderen, und das
ist wohl ganz schlicht zu erklären: Poulenc nimmt Satie einfach ausnahmsweise mal ernst ...
Erik Satie: „Gymnopédie Nr. 1“
2:50
So, erstaunlich unsentimental, spielte also Francis Poulenc Saties „Gymnopédie“, zu finden
ist das Recital mit Poulenc am Klavier in der Sammlung „ERIK SATIE and Friends“, die jetzt
bei SONY herausgekommen ist. Es handelt sich bei dieser Sammlung rund um Satie
übrigens um Neuauflagen alter Columbia-Langspielplatten von den 50ern bis in die 80er
Jahre, sie haben auch allesamt ihre original-Plattencover wiederbekommen, allein das ist
schon sehr hübsch, da kommt altes LP-Feeling auf, zumal sogar die CD-Silberlinge
aussehen wie kleine Original-Platten, komplett mit Rillen und Titelaufdruck.
Auf CD Nummer zwei, „Soirée Française“ hieß sie damals 1952, unternimmt Poulenc
zusammen mit seinem Freund und Lieblingssänger, dem Bariton Pierre Bernac, eine Tour
d’horizon zu seinen drei größten Vorbildern – als da sind Claude Debussy und Erik Satie,
aber vor allem auch Emmanuel Chabrier, den alle jungen französischen Komponisten nach
der Jahrhundertwende verehrt haben, den aber Erik Satie zuerst entdeckt hat!
Emmanuel Chabrier: „Villanelle des petits canards“
1:50
Kleine Entchen im Gänsemarsch – „Villanelle des petits canards“ von Emmanuel Chabrier,
mit Pierre Bernac, am Klavier Saties musikalischer Ziehsohn Francis Poulenc. Dass Poulenc
und Bernac für solche charmanten Clownerien – die bitteschön nie ins Alberne abdriften
dürfen! – genau die richtige Besetzung sind, darüber muss man nicht diskutieren. „Soirée
Française“, so hieß die Platte damals, ist aufnahmetechnisch zwar leider ein bisschen hart
und unausgewogen geraten, aber bei so einem historischen Dokument kann man gut
darüber hinweghören.
Auf der dritten Platte in unserem beachtlichen „SATIE and Friends“-Stapel von SONY lernen
wir dann das Klavierduo Arthur Gold und Robert Fizdale kennen – falls wir sie nicht schon
kannten; die zwei, die auch im Privatleben ein Paar waren, sind das wohl wichtigste,
jedenfalls das berühmteste Klavierduo ihrer Zeit gewesen, Milhaud und Poulenc haben für
sie komponiert, aber Gold und Fizdale haben auch amerikanische Moderne uraufgeführt, von
John Cage oder Ned Rorem.
„The Boyz“ hat Poulenc die zwei neckisch genannt, und sie haben seine Musik gespielt –
aber eben auch die von Poulencs großem Idol Erik Satie und von Poulencs Freund seit
Jugendzeiten und Groupe-des-Six-Kumpanen, Darius Milhaud, auch der ein großer SatieJünger. Der freundliche, gutmütige Milhaud war so ziemlich der einzige, mit dem Satie sich
im Lauf seines Lebens NICHT zerstritten hat – Milhaud hat dem notorisch klammen Satie
immer wieder finanziell unter die Arme gegriffen, und er und seine Frau haben Satie in den
letzten Monaten seines Lebens liebevoll gepflegt und sich nach seinem Tod um den
Nachlass gekümmert. – Schön, dass man bei „SATIE and Friends“ auch dem „Concerto
d’automne“ für zwei Klaviere von Milhaud wiederbegegnet – dem Duo Gold und Fizdale sei
Dank!
Darius Milhaud: „Concerto d’automne“ (Ausschnitt)
2:40
Der Schluss von Darius Milhauds „Concerto d’automne“ mit dem Klavierduo Gold und
Fizdale. „SATIE and Friends“, die Satie-Wundertüte von SONY zu Saties 150. Geburtstag,
ist tatsächlich unerschöpflich und hat noch jede Menge Musik- und Aufführungsgeschichte
auf Lager, zum Beispiel die große französische Diva Régine Crespin – die gibt, begleitet von
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Philippe Entremont, ein Recital mit Liedern von Satie und Ravel; die Aufnahme stammt von
1980, und das ist insofern ein bisschen schade, als die große Régine Crespin zu der Zeit
schon hörbar über ihren sängerischen Zenit hinaus ist – sie war eine wunderbare Marschallin
und Mozart-Gräfin, aber sie hatte nun mal schon immer zu viel Luft auf der Stimme, das hat
sich dann in der Spätphase ihrer Karriere doch ein bisschen gerächt. Und so wirkt sie bei
diesen Aufnahmen hier abgesungen, einerseits, aber andererseits bleibt ja eben eine große
Sängerin immer eine große Sängerin, und gerade bei den teilweise so schön grotesken,
jedenfalls nie ganz ernst gemeinten Satie-Chansons hat das dann irgendwie einen schrägen
Charme, zumal die Crespin keine Gefangenen macht – und so war ein Stück wie „La diva de
l’Empire“, das an Saties Kabarett-Vergangenheit erinnert, dann doch auch im Herbst ihrer
Stimme wie für sie gemacht...
Erik Satie: „La diva de l’Empire“
3:00
Régine Crespin und Philippe Entremont mit Erik Saties Kabarett-Schlager „La diva de
L’Empire“.
Wenn wir uns weiter durch die SONY-Sammlung alter Platten zu Saties 150. Geburtstag
wühlen, stoßen wir im Vorbeigehen immer wieder auf Interessantes: Wir begegnen dem
Pianisten-Ehepaar Robert und Gaby Casadesus, das die „Morceaux en forme de Poire“ und
anderes Einschlägige spielt, ein noch junger André Previn führt mustergültig Debussys
Orchesterfassung von Saties „Gymnopédies“ vor; der heute kaum mehr bekannte, aber von
vielen großen Dirigenten geschätzte Pianist William Masselos spielt sich durch Saties SoloKlavierwerk, und für Saties Orchesterstücke ist dann wieder vor allem Philippe Entremont
zuständig; der Pianist und Dirigent gehört zu den wenigen Orchesterleitern, die sich ihr
ganzes Leben lang flammend für Saties wunderliche Musik eingesetzt haben. Zum Beispiel
für „Parade“, dereinst DER Aufreger im Théâtre des Champs-Elysées in Paris ...
Erik Satie: „Parade“ (Ausschnitt)
1:05
Die Produktion von „Parade“ hat damals im Jahr 1917 die entscheidenden Leute der Pariser
Künstlerszene zusammengeführt. Das Szenario um mehrere durcheinander wuselnde
Zirkustruppen kam von Jean Cocteau, die Musik, eine verrückt-gräuschhafte Mixtur aus
Tanzrhythmen, Zirkus-Umtata und Schreibmaschinengeklapper, hat Erik Satie geschrieben,
das Bühnenbild stammte von Pablo Picasso, und die Choreographie besorgte Leonide
Massine, der neue Tanzmeister der Ballets Russes und aktuelle Geliebte von Serge
Diaghilew.
„Die Zusammenarbeit, beinahe hätte ich gesagt: die Verschwörung zwischen Cocteau, Satie
und Picasso war ein Meilenstein in der Geschichte der Kunst.“ – Das hat Francis Poulenc
später über „Parade“ gesagt. Die Premiere dieses Meilensteins im Theatre du Châtelet war
ein Riesenskandal von der Art, wie Paris ihn seit den seligen Zeiten des „Sacre du
Printemps“ nicht mehr erlebt hatte. Alle, alle waren da, und der russische Exildichter Ilja
Ehrenburg hat sich später erinnert: „Die Musik gab sich modern, das Bühnenbild war halb
kubistisch. Die Parterregäste rannten zur Bühne und schrien markdurchdringend: ‚Vorhang!‘
Und als ein Pferd mit kubistischer Schnauze Zirkusnummern vorführte, verloren sie endgültig
die Geduld ...“.
Erik Satie: „Parade“ (Ausschnitt)
3:05
Übrigens gab es dann noch ein Nachspiel vor Gericht zum Bühnenskandal von „Parade“: Ein
Pariser Kritiker hat die Aufführung auf ziemlich dumme Art verrissen, worauf Satie ihm eine
Postkarte schrieb, auf der stand: „Monsieur, Sie sind ein Arsch. Ein Arsch ohne Musik.“ Der
Kritiker ist vor Gericht gezogen, und weil Satie in der Verhandlung partout nicht aufhörte, den
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armen Mann einen Arsch zu nennen, wurde er zu acht Tagen Gefängnis verurteilt – die er
dann allerdings nicht hat absitzen müssen.
Ein bisschen mehr Aufführungs- und Wirkungsgeschichte rund um die versammelten
Werke – das ist das Einzige, was dieser ansonsten wirklich liebenswürdigen SatieSammlung fehlt, aber in Zeiten, wo viele Plattenfirmen ihren CDs gar keine informativen
Booklets mehr gönnen, wird man ja bescheiden und ist dankbar, dass es hier immerhin eine
ordentlich geschriebene, in drei Sprachen übersetzte Einführung und alle Aufnahmedaten
gibt. Insgesamt also eine richtig gelungene 150-Jahr-Feier – danke, SONY!
Wie das geht, ein in sich stimmiges und auch mit guten Texten unterfüttertes Konzeptalbum
aufzunehmen, das zeigt ausnahmsweise mal das Label ALPHA. Dort gratuliert nämlich ein
Pianist Satie zum Geburtstag, den man für die französische Musik gar nicht so auf dem
Schirm hat, der aber schon lange einer der Allerbesten ist, wenn es um Debussy und Co
geht: Der geniale russische Einzelgänger Alexei Lubimov. „PARIS JOYEUX & TRISTE“ heißt
die CD, die Lubimov zusammen mit seinem Schüler und Freund Slava Poprugin
herausgebracht hat – Musik für zwei Klaviere, und zwar Musik von Erik Satie und Igor
Strawinsky.
„Die Werke Strawinskys und Saties“, schreibt Alexei Lubimov, „sind im Paris der 1920er,
1930er Jahre entstanden, und wir wollten die Atmosphäre, den Stil, den „Gout“ dieser so
facettenreichen Musik, ihre Dynamik, ihre konstruktive Schönheit und ihre emotionale
Klarheit wieder aufleben lassen.“
Erik Satie: „Socrate“ (Ausschnitt)
2:10
Erik Saties seltsame Ballettmusik „Socrate“ ist das hier, gespielt in der Fassung für zwei
Klaviere von Alexei Lubimov und Slava Poprugin.
Alexei Lubimov ist ja nie der klassische russische Tastentiger gewesen, der in Frack und
Fliege zusammen mit dem russischen Staatsorchester Tschaikowsky donnert. Lubimov war
als junger Mann einer der sehr Wenigen, die in Russland Stockhausen oder Boulez
aufgeführt haben – politisch kam so viel Kosmopolitentum damals nicht so gut, Lubimov ist
ausspioniert und schikaniert worden – irgendwann hat er dann einen Haken geschlagen und
begonnen, sich vor allem mit historischer Aufführungspraxis zu befassen, an sich auch keine
klassische Beschäftigung für russische Pianisten ...
Allerdings sollte man ihn weder auf das eine noch auf das andere, nicht auf die neue und
nicht auf die alte Musik festlegen, Lubimov ist bei allem, was er spielt, ein Musiker mit einem
sehr eigenen Kopf und dementsprechend eigenen Klang, der sich egal zu welcher Epoche
gern intensive Gedanken über angemessene Aufführungspraxis macht.
Und die ist für ihn vor allem auch eine Frage des richtigen Instruments – Lubimov ist ein
fanatischer Instrumente-Sammler und -Finder, bei seiner Aufnahme von Debussys Préludes
zum Beispiel hat er sich für einen Bechstein-Flügel entschieden, weil Debussy selber auch
immer am liebsten deutsche Klaviere gespielt hat; und hier, auf dieser Satie-Strawinsky-CD,
sind es ein Bechstein von 1909, ein Pleyel von 1920 und ein Gaveau von 1906, Instrumente
also, die auch Strawinsky und Satie gespielt haben könnten – wenn sich denn Satie je ein so
teures Klavier hätte leisten können, was er nicht konnte, er ist ja immer sonntags bei
Debussy spielen gegangen. Diese besonderen Flügel werden ausführlich im Booklet
vorgestellt, und in Saties „Socrate“ kann man den spezifisch „französischen“ Klang der
Instrumente von Pleyel und Gaveau auch sehr schön hören ...
Erik Satie: „Socrate“ (Ausschnitt)
2:00
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Eine „weiße Musik“ habe er schreiben wollen, hat Satie zu seinem „Socrate“ gesagt ...
Diese Bearbeitung für zwei Klaviere von „Socrate“ stammt übrigens von John Cage, einem
ganz großen Satie-Fan, und Alexei Lubimov erzählt in seinem Begleittext, dass er überhaupt
erst über Cage zu Satie gekommen ist. Das erklärt dann auch, wie die wirklich kongeniale
Bearbeitung von Saties Filmmusik zum Ballett „Relâche“ zustandegekommen ist. Vielleicht
erst mal kurz zum Stück selber:
„Relâche“, das war eine Koproduktion von Erik Satie und dem – heute würde man sagen:
Konzeptkünstler Francis Picabia, dem kreativen Kopf der Dada-Bewegung. „Relâche“ war,
so der Untertitel, ein Stück mit zwei Akten, einer kinematographischen Unterbrechung und
dem Schwanz von Picabias Hund. Dass zwischendrin ein Film gezeigt wurde, das war
bahnbrechend für Spektakel dieser Art, und dieser Film, gedreht vom späteren Kultregisseur
René Clair, ist ein ziemlich turbulentes Ding, in dem ein Wagen mit einem Sarg sich
selbstständig macht, alle hinterherrennen und Erik Satie auf dem Dach von Notre Dame
herumturnt – sehr drollig, das Ganze, und ganz schön dada. – Alexei Lubimov und Slava
Poprugin spielen Saties Musik dazu vierhändig auf einem Bechstein von 1909, den Lubimov
nach Art der präparierten Klaviere von John Cage vorbehandelt hat, und diese
geräuschhafte Klapprigkeit, die oft klingt wie direkt aus dem Comic-Heft, ist irgendwie
tatsächlich genau das, was Saties leicht irrer Nichtmusik gerade noch gefehlt hat ...
Erik Satie: „Cinéma“ (Ausschnitt)
3:05
Hiermit hat Erik Satie die Filmmusik als Kunstform erfunden: Die Musik zu „Entr’acte“, dem
filmischen Zwischenspiel des Balletts „Relâche“, das Satie 1924 zusammen mit Francis
Picabia und René Clair herausgebracht hat – Alexei Lubimov und Slava Poprugin spielen da
einen Bechstein-Flügel, den Lubimov, inspiriert vom wiederum stets von Satie inspirierten
John Cage, mit Fremdkörpern aller Art präpariert hat ... „PARIS JOYEUX & TRISTE“ heißt
diese sehr gelungene CD, die das Label ALPHA jetzt als Hommage zu Saties 150. Geburtstag veröffentlicht hat, wobei Satie eben nur die eine Hälfte belegt, die andere gehört
Strawinsky; die zwei Pianisten spielen in schöner künstlerischer Einigkeit zwischen Lehrer
und Schüler Strawinskys Konzert für zwei Klaviere von 1935 und eine Transkription seines
klassizistisch angehauchten Konzerts „Dumbarton Oaks“, auch das unbedingt anhörenswert!
Und damit aber jetzt mal genug von Satie, zumindest für heute, spätestens am 17. Mai,
seinem 150. Geburtstag, wird dann nächste Woche weitergefeiert. – Wir inszenieren in
Treffpunkt Klassik – Neue CDs jetzt eine kleine Alltagsflucht auf die Grüne Insel ... mit dieser
Musik hier klappt das sogar ohne Flugticket:
Anonymus: „The banks of Barrow“ (Ausschnitt)
1:00
Der hier so schön, und zugegeben hart am Kitsch entlang, die Flöte bläst, das ist der
französische Flötist François Lazarevitch. „The banks of Barrow“ heißt dieses Stück – es
besingt den irischen Fluss Barrow, nach dem Shannon der zweitlängste Fluss Irlands. Folgt
man dem Vorwort von François Lazarevich, dann hat diese wunderschöne CD „The High
Road to Kilkenny“ mit Musik aus dem Irland des 17. und 18. Jahrhunderts ihre Wurzeln in
einer Rucksacktour, die Lazarevich Ende der 90er Jahre über die Grüne Insel Irland
unternommen, und bei der er die alte Musik und die überlieferten Spieltechniken Irlands
direkt an der Quelle, über Land bei den traditionellen irischen Musikern kennengelernt und
nicht mehr aus dem Kopf bekommen hat – seitdem spielt der ganz klassisch bei Barthold
Kuijken ausgebildete Lazarevich neben vielen anderen flötenartigen Blasrohren auch die
irische Flöte, die Tin Whistle.
Vor zehn Jahren hat Lazarevich sein eigenes Ensemble gegründet, die Musiciens de SaintJulien, die sind mittlerweile eines der interessantesten Alte-Musik-Ensembles in Frankreich
und mitnichten auf Folkloristisches abonniert, zuletzt haben sie eine hochgepriesene
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Aufnahme von Bachs sämtlichen Flötensonaten herausgebracht, und zum Verbund gehören,
ganz nach barockem französischem Compagnien-Vorbild, nicht nur Instrumentalisten,
sondern auch Sänger und Tänzer.
Und nachdem sie vor ein paar Jahren schon eine CD mit schottischer Musik des 18. Jahrhunderts aufgenommen hatten, hat sich François Lazarevich für das neue Programm wieder
an seine magische Irland-Tour von einst erinnert, bei der er nicht nur märchenhaft schöne
Landschaften, sondern auch die irische Musik und ihre Aufführungspraxis kennengelernt hat:
Volksmusik einerseits, aber auch die kunstvoll komponierten Lieder und Tänze, die
Harfenisten und Dichter wie der in Irland hochberühmte Turlough O’Carolan für
aristokratische Mäzene geschrieben haben.
Das hier sind gleich vier von O’Carolans Liedern auf einmal, mit denen der herumziehende
Barde sich in irischen Adelshäusern Anfang des 18. Jahrhunderts einen ziemlich strahlenden
Namen gemacht hat – die Musiciens de Saint-Julien haben daraus ganz ohne Worte eine
mitreißende Ensemble-Fantasie gezaubert:
Turlough O’Carolan: „Sir Arthur Shaen“, „Colonel Irwin“, „Clonmell lassies“,
„The scolding wife“
5:05
Die Musiciens de Saint-Julien mit einer Art Medley aus Liedern des irischen Barden
Tourlough Carolan. „The High Road to Kilkenny“ ist aber keine wortlose Platte – es sollen ja
schließlich auch die gälischen Dichter des 17. und 18. Jahrhunderts geehrt werden, gerade
zum Beispiel jener Turlough O’Carolan, der bis heute als Irlands Nationaldichter Nummer
eins gilt, und der tatsächlich das alte Klischee vom blinden Barden erfüllt hat – O’Carolan hat
als Bub die Pocken gehabt und war seitdem blind.
Und zu seiner Ode auf „Sir Ulick Burke“, seinen Mäzen und Freund, gibt es die Geschichte,
dass der blinde Sänger im Hause Sir Ulicks ankam und sich ihm keiner zu sagen getraute,
dass Burke, der alte Kämpe, verstorben war – O’Carolan stimmt sein Preislied auf den
Hausherren an, und prompt fängt die ganze Zuhörer-Runde zu weinen an. Da hat die alte
Lady ihn aufgeklärt, und der Barde hat die letzte Strophe dann dem Toten als Elegie
hinterhergeschickt ...
Turlough O’Carolan: „Sir Ulick Burke“
4:40
„Sir Ulick Burke“ von Turlough O’Carolan. Der Sänger, der da zusammen mit den Musiciens
de Saint-Julien die „High road to Kilkenny“ bewandert, ist der Tenor Robert Getchell. Der
stammt aus den USA, ist aber in Frankreich ausgebildet und ganz im Schoß der
französischen historischen Aufführungspraxis zum Sänger geworden, der sich aber auch viel
mit gälischer Musik beschäftigt.
François Lazarevich wiederum, der Kopf der Musiciens de Saint-Julien, ist nicht bloß ein
flammender Musiker, sondern gleichzeitig auch ein manischer Jäger und Sammler in
Archiven und Musikbibliotheken, und von da bringt er immer wieder Ideen und Inspiration
mit, neue Stücke, neue Komponisten, neue Erkenntnisse über Spieltechniken. Ein
„musikalisches Archipel“ nennt sich das Ensemble, vereint im gleichen Sinn für Farben, für
die sprudelnde Energie der getanzten Bewegung, dem gleichen Sinn für Poesie. Und das ist
ansteckend.
„The High Road to Kilkenny“ mit den Musiciens de Saint-Julien, erschienen bei ALPHA, ist
einfach ein großes Hörvergnügen, unangestrengt, ohrschmeichlerisch, aber gespielt auf
höchstem Niveau und mit viel tänzerischem Swing – es juckt einen in den Zehen, und man
würde am liebsten aufspringen und einen Reel oder Jig mittanzen, wenn man es denn bloß
könnte!
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Sie hören SWR2 Treffpunkt Klassik am Freitag mit neuen CDs.
Und jetzt werde ich zum Wiederholungstäter:
Jeremy Harman: „Paths become lines“ (Ausschnitt)
1:10
Als ich im letzten Jahr, unter anderem hier in Treffpunkt Klassik – Neue CDs, die damals
neueste Platte des in New York stationierten Sirius Quartet vorgestellt habe, gab es jede
Menge begeisterte Rückmeldungen, von Hörern, von den Technikern hinter der Scheibe, von
Kollegen – das, hieß es ziemlich einhellig, sei ja mal richtig spannende neue
Streichquartettmusik.
Fand ich auch, zumal ja Musik aus den USA, erst recht die zeitgenössische, bei uns nach
wie vor ziemlich unterrepräsentiert ist. Man kriegt sie oft einfach nicht in irgendeine unserer
Schubladen für die Moderne gequetscht, das ist nicht atonal, nicht dekonstruktivistisch
genug, da gibt es zu wenig Konzeptcharakter, zu wenig Einzelereignisse, zu wenig
Multimediakram, einfach zu Weniges, was nach „Neuer Musik“ klingt, wie sie bei unseren
dafür reservierten Festivals so aufgeführt wird.
Und nein, das Sirius Quartet wird wohl weiterhin nicht bei Eclat in Stuttgart, bei Ultraschall in
Berlin oder in Donaueschingen eingeladen werden, weil es sich in einer anderen
Konzertszene bewegt; seine Mitglieder spielen manchmal in Konzertsälen, aber öfter in
kleineren Clubs, auf Festivals, in Museen, wie das in Amerika eben so ist in der freien
Musikszene, und die vier Musiker sind jenseits ihrer Ensemblearbeit mit sehr
unterschiedlichen Musikprojekten unterwegs, sie spielen mit Uri Caine und anderen
klassikaffinen Promis, aber auch mit Mary J. Blige, Peter Gabriel oder Lady Gaga.
Diese Platte ist ein Portrait, das Portrait dieses Ensembles. Die Stücke des Programms
stammen durchweg von Sirius-Musikern: Jeremy Harman zum Beispiel, der Cellist aus
Boston, ist nicht „nur“ ein Cellist, er ist auch Gitarrist und Songwriter, befasst sich mit MetalMusik und Post-Rock genauso wie mit Folksongs und Jazz-Improvisationen; und Harman
schreibt in seiner Kurzbio, dass ihn seine musikalischen Pfade über die ganze Welt geführt
haben – in Konzerthallen und Kunstgalerien, an Straßenecken, auf Volksfesten, in Bars oder
Clubs hat Harman schon Musik gemacht, und so ist sein Stil entstanden; „Paths become
lines“ heißt sein Stück, das der Platte ihren Titel gibt, und Harman schreibt dazu: „Ich bin
aufgewachsen als klassischer Cellist einerseits und habe gleichzeitig Gitarre in Metal- und
Hardrockbands gespielt. Ich schätze, dieses Stück ist ein Versuch, eine Brücke zwischen
beidem zu schlagen.“
Jeremy Harman: „Paths become lines“ (Ausschnitt)
3:15
„Paths become lines“ von Jeremy Harman mit dem Sirius Quartet. „Sanfte Extremisten“, so
nennt der Pressetext zur CD die vier vom Sirius Quartet, und da könnte was dran sein:
Hypnotisches und Meditatives, rhythmusbetonte Patterns und Figuren aus ganz
verschiedenen Musikgenres bestimmen die Stücke der vier New Yorker, es gibt Free JazzMomente und Stellen, die geradewegs nach Heavy Metal klingen, und es ist ganz und gar
ihres, was die Musiker da vorführen – zu hören ist eine Vielstimmigkeit, die sich aus den
unterschiedlichen Lebenswegen der einzelnen Musiker entwickelt, in der man sich aber, bei
aller Pluralität, über ein paar Grundeinstellungen absolut einig ist, vor allem über die zentrale
Rolle, die die Improvisation bei ihrer Musik spielt.
Und doch ist jedes dieser Stücke sehr persönlich – „Ceili“ zum Beispiel, geschrieben vom
ersten Geiger Fung Chern Hwei. Der stammt aus Kuala Lumpur in Malaysia, und das ferne
Echo von fernöstlicher Musik klingt bei ihm unüberhörbar mit, nur um sich dann, ohne die
meditative Stimmung zu verlieren, in bluesiger Improvisation aufzulösen ...
9
Fung Chern Hwei: „Ceili“ (Ausschnitt)
4:05
„Ceili“ von Fung Chern Hwei, dem ersten Geiger des Sirius Quartets. Im Vergleich dazu ist
dann Gregor Hübners Streichquartett (sein viertes) doch nochmal eine andere Hausnummer.
Gregor Hübner ist der andere Geiger des Sirius Quartet, er stammt aus Oberschwaben, hat
in Stuttgart studiert, lebt schon lange in New York und stellt in seiner Musik immer wieder
Bezüge zu zeitgenössischen Kompositions- und Spieltechniken her. Seine Stücke sind noch
am deutlichsten von den europäischen Klassikern der Moderne beeinflusst.
Der sehr meditative zweite Satz seines Quartetts hat als einziger der vier Sätze eine
Überschrift: „Shir La Shalom“ heißt er – „Shir La Shalom“ ist die heimliche Hymne der
Friedensbewegung in Israel, die ja zur Zeit nicht all zuviel Zulauf hat dort, die aber in
früheren Jahrzehnten eine große Kraft im Land gewesen ist.
In Gregor Hübners Streichquartett braucht es lange, fast den ganzen Satz, bis das Thema
des Songs erkennbar wird, bis das „Shir La Shalom“ sich aus dem Ungewissen schält, so,
als sei es vorher einfach nicht zu finden gewesen – vier Musiker auf der Suche nach der
Melodie des Friedens. Und daran schließt dann attacca der nächste Satz an – mit einem
langen rezitativischen Cellosolo, das wie der Synagogengesang eines Chazan anmutet ...
Gregor Hübner: String Quartet No. 4 op. 44, „The Wollheim Quartet“,
2. Satz und Anfang 3. Satz
6:25
Gregor Hübner hat sein viertes Streichquartett „The Wollheim Quartet“ genannt, nach der
New Yorker Musikjournalistin Corinna Fonseca-Wollheim, die selbst vor Jahren zum
Judentum konvertiert und Nachfahrin einer alteingesessenen deutsch-jüdischen Familie ist;
sie hat ihm den Kompositionsauftrag erteilt, und das Quartett ist neben manchem anderem
schon auch der Versuch, ihre Persönlichkeit in der Musik einzufangen.
Dem Prinzip der Repetition huldigen alle drei Komponisten auf „Paths become lines“ mal
mehr, mal weniger eindringlich in ihren Stücken; manchen, der jedes wiederholte Pattern
gleich als Minimal Music abtut, mag das nerven, aber die CD im Ganzen entwickelt an vielen
Stellen einen fast hypnotischen, rhythmischen Sog, und an anderen, dann, wenn die
Persönlichkeiten dahinter spür- und greifbar werden, ist sie so unmittelbar und aufregend,
wie man sich das von zeitgenössischer Musik immer wünscht und nur selten bekommt.
Gregor Hübner: String Quartet No. 4 op. 44, „The Wollheim Quartet“,
4. Satz (Ausschnitt)
6:25
So endet Gregor Hübners viertes Streichquartett – zu finden auf „Paths become Lines“ von
und mit dem Sirius Quartet: Die CD ist erschienen bei Autentico Music und wird hierzulande
vertrieben von Naxos.
Und das war’s in Treffpunkt Klassik am Freitag mit den neuen CDs. Eine Liste der heute hier
besprochenen Platten gibt es im Internet bei swr2.de, Abteilung Musik, da können Sie die
Sendung auch noch eine Woche lang nachhören. Gleich folgen die Nachrichten, und für jetzt
sagt tschüss und schönen Freitag: Katharina Eickhoff.