Ein Pragmatiker mit Linksdrall

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FREITAG, 13. MAI 2016 · PREIS: 2,50 EURO · NR. 20.862*** · DIEPRESSE.COM
Ein Pragmatiker mit Linksdrall
Porträt. Christian Kern (50)
wird der neunte SPÖVorsitzende und dreizehnte
Bundeskanzler der Zweiten
Republik. Wer ist er?
Und wo will er hin?
MODE
Der Sommer
könnte dann
kommen
Wir wären bereit für
warme Temperaturen – allein, das
Wetter spielt nicht
mit. Was man tragen kann, wenn es
jemals so weit ist,
im „Schaufenster“
VON OLIVER PINK
E
rster Mai 2016: Christian Kern, der
ÖBB-Chef, steht unten beim Fußvolk
eher am Rande des Rathausplatzes. Er
wirkt nachdenklich, fast ein wenig bedrückt
ob der Stimmung. Wenige Minuten zuvor ist
Werner Faymann ausgepfiffen worden, Linke
und Rechte unter den Genossen stehen sich
zum Teil aggressiv gegenüber. Kern sinniert
über das historische Mandat der Sozialdemokratie, ob dieses aufgebraucht oder
noch mit Leben zu erfüllen sei.
Am 1. Mai 2017 wird er aller Voraussicht
nach oben auf der Bühne stehen. Ganz vorn.
Seit gestern ist es fix: Christian Kern wird
Vorsitzender der SPÖ und Bundeskanzler.
Wer ist der Mann, der nun der größten
Partei des Landes und der Regierung vorsteht – ohne zuvor ein politisches Mandat
gehabt zu haben? Der als Manager eines
staatsnahen Betriebs Erinnerungen an Franz
Vranitzky weckt. Dessen Charakterisierung
in den Medien nicht ohne den Hinweis auf
teure, perfekt sitzende Anzüge und akkurates
Styling auskommt.
Christian Kern (50) wuchs in Wien Simmering auf, der Vater Elektriker, die Mutter
Sekretärin. Die Familie war nicht wirklich
politisch. Er selbst jedoch wurde das recht
bald. Über eine grün angehauchte Alternative Liste fand er zur Sozialdemokratie. Er
engagierte sich im VSStÖ und heuerte nach
Abschluss des Publizistikstudiums und einer
kurzen Zeit als Wirtschaftsjournalist als Sprecher bei Peter Kostelka an, damals Staatssekretär im Bundeskanzleramt, später SPÖKlubchef im Parlament. 1997 wechselte er
zum Verbund, wo er sich im Lauf der Jahre
zum Vorstand hocharbeitete. Seit 2010 ist er
Vorstandsvorsitzender der ÖBB-Holding.
Er hat drei Söhne aus erster Ehe mit
einer SPÖ-Kommunalpolitikerin und Anwältin – beim ersten Kind war er eine Zeit lang
alleinerziehend. Und in zweiter Ehe hat er
eine Tochter mit der früheren Siemens-Managerin Eveline Steinberger-Kern, die heute
selbstständige Unternehmensberaterin ist.
Personell ein linkerer Kurs
Die ersten durchgesickerten Personalentscheidungen deuten darauf hin – teure Anzüge hin, akkurates Styling her –, dass Kern
einen eher linkeren Kurs fahren will. Mit
Sonja Wehsely und Jörg Leichtfried sollen
zwei Exponenten des linken Flügels Minister
werden. Schon während der Flüchtlingskrise
ist Kern, dessen ÖBB Transport und Verpflegung der Flüchtlinge unbürokratisch in die
Hand genommen haben, zum Helden der
„Refugees welcome“-Gemeinde geworden.
Die darüber hinausgehende (Neu-)Ausrichtung der Partei kann man nur erahnen:
Christian Kern hat auf jeden Fall einen besseren Zugang zur Welt der Unternehmer und
Industriellen, als ihn Werner Faymann hatte.
Ein Klassenkämpfer in der Löwelstraße ist allerdings nicht zu erwarten. Sondern eher die
Umsetzung der alten Anton-Benya-Diktion,
dass man eine Kuh, die man melken wolle,
nicht schlachten dürfe.
Christian Kern, der stets höfliche Wiener
mit der sonoren Stimme und einem Faible
für Brit-Pop/-Rock, wird der elfte Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei seit Victor Adler. Er spricht ähnlich langsam wie Alfred Gusenbauer – und auch Bruno Kreisky.
Im Gegensatz zu diesen kommt er allerdings
als Quereinsteiger ins Amt. Und das gab es
PREIS: Italien € 3,90.
THEMEN
AUSLAND
Brasiliens
Präsidentin
suspendiert
Dilma Rousseff
spricht nach
dem Votum des
Senats von einem
„Putsch“.
S. 7
ECONOMIST
Abgase: Hat
auch Opel
manipuliert?
Neue Vorwürfe
gegen Opel: Medien
berichten von einer
Abschaltautomatik
ähnlich wie bei
Volkswagen. S. 14
Mehr zum Thema:
Leitartikel von Rainer
Nowak ........................ S. 2
Interview mit Gerhard
Zeiler ........................... S. 2
Regierung: Wer kommt,
wer gehen muss S. 4, 5
Wehsely, Leichtfried im
Porträt ................. S. 4, 5
„DIE PRESSE“, 1030 Wien, Hainburger Str. 33.
Ein neuer Stil im
Kanzleramt – nicht
nur modisch: Christian
Kern, Manager mit
Wurzeln in Wien
Simmering, übernimmt
die vormalige Arbeiterpartei SPÖ.
Veranstaltungen,
Radio & TV ......... S. 25
Sport .............. S. 18, 19
Impressum ......... S. 30
24 Stunden ........ S. 30
[ Michèle Pauty ]
[ Fotos: Andreas Waldschürz ]
NAVIGATOR
bisher noch nie. Selbst der vormalige Länderbank-Generaldirektor Franz Vranitzky
war Finanzminister gewesen, ehe er Bundeskanzler wurde. Wie Kern sammelte allerdings auch er seine ersten Erfahrungen als
politischer Sekretär in einem SPÖ-Kabinett.
Christian Kern hat nun die breitest mögliche Unterstützung in der SPÖ erhalten. Alle
Landesparteien, letztlich auch jene von
Wien, sprachen sich für ihn aus. Wie lang die
Anfangseuphorie anhält, wird sich zeigen. Es
spricht aber einiges dafür, dass Kern, seit
Langem Wunschkandidat vieler, sich leichter
tun wird als seine Vorgänger. Er hat mehr soziale Intelligenz als Alfred Gusenbauer, ohne
dass es so anbiedernd wie bei Werner Faymann wirken würde.
Und da die SPÖ ohnehin keine echte Arbeiterpartei mehr ist, sondern eher eine des
Mittelstands, ist auch ein Manager als Parteichef nicht wirklich abwegig. Kern ist ein Vorsitzender auf der Höhe der Zeit, vertraut mit
den ökonomischen und technologischen
Anforderungen. Die Frage ist freilich, wie viel
Spielraum ihm seine eigenen Genossen aus
der noch immer etwas verstaubt anmutenden SPÖ lassen werden, jene aus den Gewerkschaften, aus den Ländern, aus der
Stadt Wien mit ihren Flügelkämpfen.
Die ÖBB führte Christian Kern unideologisch und pragmatisch, verpasste ihr ein –
halbwegs – modernes Image. Über seinen
Arbeitsstil sagte er einmal im Magazin „Datum“: „Cholerische Anfälle verachte ich zutiefst.“ Man darf gespannt sein, ob ihm diese
in der SPÖ und der rot-schwarzen Bundesregierung erspart bleiben.
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