Manuskript Beitrag: Arme Privatpatienten – Versicherungen lassen Kunden im Stich Sendung vom 10. Mai 2016 von Werner Doyé und Jonas Mayer Anmoderation: Wer privat krankenversichert ist, gilt als Besserverdiener oder zumindest als Besserbehandelter. Denkste! Denn es gibt immer mehr Privatversicherte, die in den sogenannten Sozialtarifen landen. Die hatte der Gesetzgeber vor einigen Jahren eingeführt, um ärmeren und älteren Versicherten zu bezahlbaren Prämien zu verhelfen. Nur scheint „ärmer“, „älter“ und erst recht „sozial“ nicht so ganz zum Geschäftsmodell der PKV zu passen. Jedenfalls haben Werner Doyé und Jonas Mayer Kunden getroffen, die für ihre Kasse offenbar nicht König, sondern Bettler sind – und lästig. Text: O-Ton Ulla Schmidt, SPD, ehemalige Bundesgesundheitsministerin, am 2.2.2007: Jeder und jede ist künftig gegen das Krankheitsrisiko versichert. Für Menschen ohne Schutz heißt es jetzt: Willkommen in der Solidarität. Neun Jahre später treffen wir Heinz Jürgen Außmann. 2015 hat er sich bei einem Unfall die Rippen gebrochen. Schmerzmittel aus der Apotheke konnte er nicht bezahlen. Der privat Versicherte war auf private Solidarität angewiesen. O-Ton Heinz Jürgen Außmann, Privatpatient: Aus Polen hab ich mir dann welche mitgebracht. Ich hab jeden angehauen - von meiner Schwester oder Bekannte, ob sie Schmerztabletten haben oder Schlaftabletten. Und was die über hatten, hab ich dann mitgenommen. Und davon hab ich jetzt ein ganzes Jahr gelebt. Heinz Jürgen Außmann hat 40 Jahre als Zaunbauer gearbeitet, lange Zeit selbständig. Irgendwann lief das Geschäft nicht mehr und er konnte sich die Beiträge für seine private Krankenversicherung bei der HanseMerkur nicht mehr leisten. Es häufen sich Beitragsschulden an. 2014 geht er aufs Amt, beantragt Grundsicherung im Alter. Damit hat er nun das Recht, in den sogenannten Basistarif zu wechseln. Den Tarif, der seit Ulla Schmidts Reform von 2007 für privat Versicherte angeboten werden muss. Die HanseMerkur antwortet, sie freue sich, benötige aber noch einige Auskünfte. Außmann soll einen Fragebogen ausfüllen - acht Seiten lang. O-Ton Heinz Jürgen Außmann, Privatpatient: Den hab ich ausgefüllt und dann hab ich gedacht, ich wär in dem Basistarif drin. War er aber nicht. Das Sozialamt zahlt weiterhin für seinen alten, teureren PKV-Tarif. Die Folge: Als Außmann nach seinem Rippenbruch Arztrechnungen einreicht, erstattet ihm die HanseMerkur das geforderte Geld nur zum Teil, den Rest verrechnet sie mit seinen Schulden. Im normalen PKV-Tarif ist das üblich, im Basistarif bei Hilfebedürftigkeit ist es ausgeschlossen. Wir wollen von der HanseMerkur wissen, warum sie nicht noch einmal nach den fehlenden Unterlagen gefragt hat. Schriftlich erklärt sie, Zitat: „Aus unserer Sicht gibt es keine Verpflichtung im Rahmen einer Beratungspflicht seitens des Versicherers, den Kunden in einem zeitlichen Abstand an die Erledigung zu erinnern.“ O-Ton Thorulf Müller, Versicherungsberater, der KVProfi: Das steht eindeutig im Versicherungsvertragsgesetz, dass der Versicherer eine Beratungspflicht hat. Und wenn ich meine Beiträge nicht zahlen kann oder wenn ich Sozialhilfeempfänger werde, das ist nun wahrlich ein Anlass für eine Beratung, die der Versicherer durchzuführen hat. Doch das geschieht zunächst nicht und Außmann macht etwas, was viele Menschen in so einer Situation machen: Er geht nicht zum Arzt, weil er Angst hat, nicht mehr zahlen zu können. Beim Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“, bei dem Menschen ohne Krankenversicherung beraten und behandelt werden, kennen sie viele solcher Fälle. O-Ton Dr. Gerhard Trabert, Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“: Es ist verheerend, wir haben sehr viele Patienten in den letzten Jahren gehabt, die zu uns kommen, dann wenn es gar nicht mehr geht - also, sehr viele Menschen mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen, mit chronischen Erkrankungen, Bluthochdruck, Diabetes, der lange Zeit nicht mehr adäquat versorgt wurde. Also, das Ganze hat existentiell bedrohliche Facetten. In der Ambulanz des Vereins melden sich immer häufiger Privatpatienten. Oft anonym, denn viele wollen nicht öffentlich machen, dass sie auf Hilfe angewiesen sind. O-Ton Privatpatient: Die Krankenkasse hat mir gekündigt. Ich hab ohne Krankenversicherung da gestanden. Das ist jeden Tag präsent und immer präsent, wenn irgendwas anliegt, was in absehbarer Zeit akut wird oder akut werden könnte. Es durfte nichts passieren. Lange Zeit ging das gut. Doch dann brauchte er eine Operation und wandte sich an seine ehemalige Versicherung. Diese lehnte eine Aufnahme in den Basistarif zunächst ab. O-Ton Privatpatient: Da waren Unterlagen angeblich nicht da und sie müssten mich nicht nehmen. Die Begründung war hauptsächlich, ich sei bei ihnen noch nie versichert gewesen. Das war die erste Begründung. Erst mit massivem Druck, hier des Vereins, ist das dann auf einmal doch gegangen. Rechtsanwälte machen die Erfahrung, erst wenn sie, Ärzte oder Sozialarbeiter, die privaten Versicherer unter Druck setzen, lenken die ein. O-Ton Sven Jürgens, Fachanwalt für Versicherungsrecht: Die Strategie der Versicherer ist durch die Ablehnung einfach vollendete Tatsachen zu schaffen. Und wenn hundertmal abgelehnt wird und wenn sich 30 oder 40 Menschen wehren, dann haben die natürlich bei 60, 70 Leuten gespart, ja, und müssen sich mit denen nicht weiter auseinandersetzen. Die privaten Versicherer weisen das zurück: Alle gesetzlichen Vorgaben würden eingehalten. Schriftlich erklärt der Verband, Zitat: „Eine gründliche Prüfung des Antrages ist im Sinne der Versichertengemeinschaft notwendig und aufsichtsrechtlich geboten.“ Fest steht: Die privaten Versicherer haben viele Kunden, die sie wohl besser nicht genommen hätten - etwa jene Arbeitslosen, aus denen die Politik Ich-AGler machte. Diese galten plötzlich als selbständig und durften sich privat versichern. Versicherungsvertreter lockten mit günstigen Tarifen. Dass ein Teil dieser Neukunden steigende Beiträge später möglicherweise nicht würde zahlen können - nicht das Problem der Versicherer. Denn wer nicht zahlte, dem wurde gekündigt, die Kosten dem Steuerzahler auferlegt. Das geht seit Ulla Schmidt und dem Basistarif nicht mehr. Im Geschäftsmodell war das nicht vorgesehen. Kritiker werfen den Versicherungsunternehmen vor, dass die sich aus der Verantwortung stehlen. O-Ton Thorulf Müller, Versicherungsberater der KVProfi: Ich kann nicht die guten Seiten vom Markt nehmen. Und wenn die Gesellschaft sagt, das bedingt dann auch Pflichten, einfach sagen: Nö, die nehme ich nicht. 2013 steuert die Politik nach. Ein neuer Notlagentarif soll verhindern, dass Menschen hohe Beitragsschulden anhäufen. Wer nicht zahlen kann, rutscht automatisch hinein. O-Ton Daniel Bahr, FDP, ehemaliger Gesundheitsminister, am 14.6.2013: Gerade für privat Krankenversicherte haben wir mit dem Notlagentarif einen Weg aufgezeigt, wie auch privat Krankenversicherte einen bezahlbaren Krankenversicherungsschutz haben. Klingt gut, nur: Auch Menschen im Notlagentarif sind angewiesen auf Praxen wie die des Vereins „Armut und Gesundheit“. Denn der Notlagentarif kostet zwar wenig, aber leistet noch weniger. Die Versicherung zahlt Behandlungskosten nur sehr eingeschränkt, zum Beispiel in akuten Fällen. O-Ton Dr. Gerhard Trabert, Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“ Was bedeutet das, wenn jetzt jemand Diabetiker ist? Also, dann muss ich ihm ja die kontinuierliche Therapie verordnen. Darf ich das? Oder muss ich warten bis er in einem Zuckerschock ist und dann ist es eine akute Erkrankung und dann kann ich intervenieren. Muss ich warten, bis ein Hypertoniker, jemand, der an einem Bluthochdruck leidet, einen Schlaganfall bekommt - und dann ist es was Akutes? Die Zahl der Versicherten im Basistarif hat sich seit Einführung mehr als verdoppelt - auf 29.400. Im 2013 beschlossenen Notlagentarif stieg die Zahl von 93.600 auf 115.800. Die Sozialtarife verschärfen Probleme der Branche, sagen Kenner. O-Ton Gerd Güssler, Branchendienst KVpro.de: Man muss fairerweise sagen, dass die ganzen Krankenversicherer extrem unter Druck stehen. Einmal was das Thema Demographie angeht, wir werden immer älter, die müssen das alles entsprechend finanzieren. Oder ganz aktuelles Beispiel: Niedrigzins, kennt jeder, Sparbuch gibt’s keine Zinsen, Versicherer nehmen Zinsen ein, um Beiträge zu drücken. Die müssen damit klarkommen, ist nicht einfach. Dann müssen sie die ganzen Gesetze, die auf die einprasseln, umsetzen. Sie müssen für diese ganzen Dinge, Basistarif, Notlagentarif, Tarifwechsel, Strukturen aufbauen. Die müssen Aufgaben auf einmal übernehmen, die kannten die vorher gar nicht. Der Verband der privaten Krankenversicherungen teilt dazu mit, Zitat: „Die Versichertenzahlen im Notlagen-, Basis- und Standardtarif beeinträchtigen das PKV-Geschäftsmodell nicht.“ Für den sozialdemokratischen Teil der Großen Koalition in Berlin sind die gestiegenen Zahlen in den Sozialtarifen sehr wohl ein Problem. O-Ton Hilde Mattheis, SPD, gesundheitspolitische Sprecherin: Ein ganz deutliches Zeichen, dass in dieses Sozialversicherungssystem eine Reform gehört. Eine Reform, die bedeutet, alle zahlen ein und alle Einkommen werden bebeitragt. Und nach diesem einfachen Grundsatz bedeutet das dann auch, dass die Solidarität innerhalb der Versicherten ausgeweitet wird. Ein ewig schwelender Streit. Ist die private Krankenversicherung ein Auslaufmodell? Nachfrage beim Koalitionspartner: O-Ton Hermann Gröhe, CDU, Bundesgesundheitsminister: Nein, es gibt immer wieder Weiterentwicklungsbedarf, auch Herausforderungen in unterschiedlichen Versicherungssystemen, aber das stellt die Zweigleisigkeit, die zwei Säulen in der Versicherung meiner Überzeugung nach nicht in Frage. Heinz Jürgen Außmann hat es nach anderthalb Jahren mit Hilfe der Caritas und eines Anwalts übrigens geschafft. Seit dem 1.1.2016 ist er im Basistarif - bis August fürs Erste. Dann muss er die nächsten Nachweise einreichen. O-Ton Ulla Schmidt, SPD, ehemalige Bundesgesundheitsministerin, am 2.2.2007: Willkommen in der Solidarität. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. 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